Marx für Eilige - Robert Misik - E-Book

Marx für Eilige E-Book

Robert Misik

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Beschreibung

Der Marxismus ist tot, aber Marx lebt Marx ist verblüffend aktuell. »Das Kapital« und das »Kommunistische Manifest« stehen für Revolutionen in der Weltbetrachtung. Robert Misik stellt die wichtigsten Marxschen Ideen vor und skizziert ein lebendiges Porträt des herrschsüchtigen Menschen, der immer über seine Verhältnisse lebte. Das Buch zeigt, welche seiner Gedanken im Müll der Ideengeschichte gelandet sind und was Marx den Akteuren des globalen Kapitalismus voraus hat. Robert Misik erhielt bereits zweimal den Förderpreis des »Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch«.

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Robert Misik

Marx für Eilige

Aufbau-Verlag

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Impressum

ISBN 978-3-8412-0041-9

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Januar 2011© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinDie Erstausgabe erschien 2003 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke derAufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung und Illustrationmorgen, Kai Dieterich

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

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Inhaltsübersicht

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Inhaltsübersicht

»Die ganze alte Scheiße ist im Arsch«

Frankenstein. Oder: Der entfremdete Mensch.

Gegen das »gute Alte«. Oder: Die Geburt des Proletariats aus dem Geist der Philosophie.

Die Anti-Utopie. Oder: Im ehernen Gehäuse der historischen Notwendigkeit.

In Karls Welt. Oder: Nie gab es eine famosere Zeit.

Die automatische Welt. Oder: Der Kapitalismus, ein Theater ohne Autor.

Camera Obscura. Oder: Sind die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden?

Da es so ist, bleibt es nicht so. Oder: Mit Marx denken lernen

ANHANG

Leseempfehlung

Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung

Abschweifung (über produktive Arbeit)

Anmerkungen

Chronik

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|5|Für Moritz und Noah

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|9|»Die ganze alte Scheiße ist im Arsch«

Was Karl Marx über die Dödelbanker und das Hedgefonds-Gesindel nach der Finanzkrise 2008 gesagt hätte.

Als der amerikanische Historiker Robert Conquest 1968 sein bahnbrechendes Werk über den stalinistischen Terror und die Entartungen des sowjetischen Pseudo-Kommunismus veröffentlichte (»The Great Terror«), wurde er von vielen Linken noch angegriffen. Als dann Jahre später, nach dem Kollaps der osteuropäischen Regimes, eine Neuauflage seines Buches vorbereitet wurde, fragte ihn sein Verleger, ob er sich denn nicht auch einen zeitgemäßeren Titel vorstellen könnte. Conquest dachte kurz nach und schlug dann vor: »I told you so, you fucking fools« – »Ich hab es euch ja gesagt, ihr Dummköpfe«. Das war natürlich sarkastisch gemeint.

Dieses Buch, dessen Neuauflage sie in den Händen halten, ist erstmals im Jahr 2003 erschienen. Dazwischen lagen die gefährlichsten Krisentage, die der Kapitalismus in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Ob der Beinahe-Zusammenbruch unserer Wirtschaftsordnung, die nur durch das entschlossene Eingreifen der Regierungen im allerletzten Moment verhindert wurde, Marx’ Analyse des Kapitalismus vollauf und in jedem Detail bestätigt hat, darüber kann man jetzt natürlich diskutieren. Aber außer Zweifel steht, dass er noch immer etwas über unsere Gesellschaft zu sagen hat. Marx ist auch nach seinem Tod |10|lebendig, habe ich hier 2003 geschrieben. Ich könnte mich 2010 auf ein ironisches »I told you so« beschränken.

Die »gamblers an der Bourse«, schrieb Karl Marx schon 1857 in einem Brief an seinen Freund Friedrich Engels, brachten »die Eisenbahnen to a deadlock«. Und weiter: »Die ganze alte Scheiße ist im Arsch, und der bisher lächerlich-kühne Schwung, den der security market in England etc. genommen, wird auch ein Ende mit Schrecken nehmen.« Dass die Kapitalisten, die sich ansonsten die Einmischung des Staates und jede sozialpolitische Maßnahme entschieden verbaten, »nun überall von den Regierungen ›öffentliche Unterstützung‹ verlangen, (…) ist schön«, amüsierte sich Marx. Damals, 1857, war gerade die erste moderne Weltwirtschaftskrise ausgebrochen. Was Marx zeigte, ist die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Während die klassische Wirtschaftstheorie davon ausging, dass die kapitalistische Ökonomie prinzipiell Gleichgewicht, Stabilität und stetiges Wachstum produziere, wenn man sie nur ungehindert tun ließe, hat Marx erkannt, dass der Kapitalismus immer wieder aus sich heraus Krisen, Eruptionen, Verwüstungen hervorbringt. Und er war ein Meister des Zusammendenkens, er zeigte, wie alles miteinander zusammenhängt: Weizenpreise und Technisierung, Löhne und Konsumnachfrage, Irrationalität und Vernunft, Gier und kühle Berechnung, Profit und Zins, und wie aus diesem Zusammenspiel eine systemische Struktur entsteht, die rational und verrückt zugleich ist. Wie hätte er gelacht über die Phantasieökonomie der Neoliberalen, die uns vor zehn Jahren mit ihrer Formel für die »krisenfreie Ökonomie« kamen, und nichts als Spott hätte er übrig für diejenigen, die bis gestern |11|noch hofften, der Krach der Finanzmärkte würde keine Auswirkungen auf die »Realökonomie« haben. Wie das läuft mit Kreditaufblähung, wie die gesamte Geschäftswelt von »solchem Schwindel ergriffen« werden kann, bis die Panik einsetzt und sich im Krach ein »allgemeines ›Rette sich, wer kann‹« durchsetzt, das kann man sehr schön im dritten Band des »Kapital« nachlesen.

Im Vorwort zum ersten Band des »Kapital« schrieb Marx schon, die Kapitalisten seien nur »Personifikation ökonomischer Kategorien«. Er war Kapitalismuskritiker, nicht Kapitalistenkritiker und hätte wohl auch nicht der Gier von Ego-Bankern die Schuld an unserem Palawatsch gegeben. Im Großen und Ganzen nämlich hänge der Kapitalismus eben nicht »vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten« ab, meinte Marx in einem Brief an seinen Freund Louis Kugelmann. Er bekämpfte nicht die Raffgierigen, sondern ein System, dessen Anreizstruktur die Raffgier belohne. Insofern, aber nur insofern, hätte Marx gewettert gegen die Dödelbanker und das Hedgefonds-Gesindel, die jahrelang »Sozialstaat verschlanken« predigten, ihre Phantasiegewinne privat einsackten und sich danach ihre Verluste sozialisieren lassen.

Freilich, dass mit unserem Wirtschaftssystem »irgend etwas« nicht stimmt und dass wir einen Denker von der intellektuellen Wucht Karl Marx’ bräuchten, der das vielfach grassierende Unbehagen zu systematisieren versteht, das hatten viele schon seit Jahren gespürt. Ausgerechnet in seiner »Christmas-Special«-Ausgabe vom Dezember 2002 widmete sich der britische »Economist« – gleichsam das Zentralorgan der Freunde der kapitalistischen Produktionsweise |12|– der Frage »Marx nach dem Kommunismus« und kam zu dem erstaunlichen Schluß: »Als eine Regierungsform ist der Kommunismus tot. Aber als ein System von Ideen ist seine Zukunft gesichert.« Marx habe immer noch ungebrochenen Einfluß und der, so das unerwartete Urteil der britischen Radikalliberalen, komme ihm auch zu, trotz aller Fehler und Irrtümer, die sich in seinem Werk finden mögen. Kaum jemand habe derart vorhergesehen, wie der Kapitalismus die Welt verändern würde, und dies fordere »zumindest Respekt vor dem erstaunlichen Weitblick und der intellektuellen Ambition dieses Denkens«.1

Bereits zur Jahrtausendwende hatte eine Umfrage der BBC, wer denn der bedeutendste Mann oder die bedeutendste Frau des Millenniums sei, ein recht überraschendes Ergebnis erbracht. In der Kategorie »größter Denker« lag Marx klar vorne – gefolgt von Einstein, Newton und Darwin. Und das US-Magazin »New Yorker« hatte schon 1997 prophezeit, Karl Marx werde bald wieder ganz en vogue sein, ihn in einer Sonderausgabe gar zum »nächsten großen Denker« erklärt, da dessen Analyse des Kapitalismus so aktuell wie konkurrenzlos sei. »Je länger ich an der Wall Street bin, desto stärker wird meine Überzeugung, daß Marx Recht hatte«, urteilte ein reicher Investmentbanker und fügte hinzu: »Ich bin absolut sicher, daß Marx die beste Sicht auf den Kapitalismus hatte.«2

Ein Urteil, auf das sich auch der deutsche Universalgelehrte Hans Magnus Enzensberger mit dem einstigen Wirtschaftsressortleiter der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, dem überzeugten Neoliberalen Hans D. Barbier, schnell zu einigen vermochte. Daß wir einen Marx |13|für das einundzwanzigste Jahrhundert dringend bräuchten, war unter den beiden weisen alten Herren weitgehend unumstritten. »Über den alten Marx mag man denken, was man will, aber seine Analyse, seine Prognose der Globalisierung war genial. Wie ein großer Dekonstruktionskünstler hat er auseinandergenommen, was er vorgefunden hat«, formulierte Enzensberger und fügte hinzu: »Daß es heute niemanden zu geben scheint, der uns neu zu denken gibt, sei es anhand von Horrorvisionen oder Verheißungen, ist sehr schade. Ich spüre eine intellektuelle Lücke.«3 Mag auch allerorten Erleichterung über den Zusammenbruch eines doktrinären Marxismus herrschen, beschleicht die Klügeren unter den Marx-Kritikern doch eine Art tragisches Bewußtsein. So äußerte der britische Wirtschaftshistoriker und Keynes-Biograph Lord Robert Skidelsky, der Kollaps des Marxschen Systems »ist eine Befreiung, hinterläßt aber auch ein gewisses Verlustgefühl«.4

Kapitalisten empfehlen anderen Kapitalisten, Marx zu lesen, große Geister wünschen sich endlich eine Gesellschaftsanalyse, die es mit dem Marxschen Format aufzunehmen vermöchte – und gutsituierte junge Leute aus besten Verhältnissen rebellieren gegen einen zunehmend entgrenzten, beschleunigten, globalisierten Kapitalismus, reisen den Herren der Welt zu ihren Gipfeltreffen nach, legen Innenstädte in Trümmer oder versammeln sich in der brasilianischen Provinz zum »Weltsozialforum«. Die Braveren rufen, »eine andere Welt ist möglich«, die Radikaleren skandieren: »Capitalism Kills«; und dies, wohlgemerkt, zehn Jahre, nachdem der Kapitalismus zur konkurrenzlosen Gesellschaftsordnung wurde, alle Mauern |14|zum Einsturz gebracht und seine letzten Grenzen überwunden hat.

Es drängt sich also auf, die verstaubten Bände des brillantesten Analytikers und schärfsten Kritikers dieses Systems wieder aus den Regalen zu holen. Zwar würden sich nur wenige heute als Marxisten bezeichnen, doch die Marxschen oder besser: die von Marx inspirierten Theorien und Denksysteme sind in gewissem Sinne frischer denn je. Entschlackt von den vielen Ungenießbarkeiten, die dem Marxismus als Herrschaftsdoktrin bis zur Unerträglichkeit beigemengt wurden, kann man sich nun weitgehend vorurteilsfrei den Marxschen Gedanken annähern. »Der Tod ist gewissermaßen der Jungbrunnen des Marxismus«, schreiben die US-Theoretiker Michael Hardt und Kathi Weeks. »Jedesmal, wenn das Ableben des Marxismus bekanntgegeben wird, folgt eine Re-Interpretation von Marx’ Werk, eine Neubewertung dieser Tradition und, was das Wichtigste ist, wird die Doktrin durch neue Probleme ersetzt. Der Tod scheint dem Marxismus ein neues Leben zu eröffnen.«5

Sowohl die Fülle als auch die Unfertigkeit des Marxschen Œuvres erleichtern diese ewige Erneuerung. Abgesehen von der ökonomischen Analyse, die er noch zu seinen Lebzeiten abgeschlossen bzw. weitgehend zu einem System ausformuliert hatte, so daß Friedrich Engels nach Marx’ Tod die Bände zwei und drei des »Kapital« relativ mühelos aus den Manuskripten fertigstellen konnte, blieben viele Aspekte der Marxschen intellektuellen Revolution offen: seine Ideologietheorie, seine Geschichtsphilosophie, seine Staatstheorie und sein dialektisches Prinzip. Diese hatte er nie in einem endgültigen System dargelegt, |15|sondern nach und nach in polemischer Auseinandersetzung mit geistigen Strömungen seiner Zeit, oft in tagesaktuellen Schriften, entwickelt. Seine Texte waren reich an Gedanken, aber auch offen – für Mißinterpretationen, für geistige Geiselnahme, aber eben auch für neue Interpretationen. Diese Offenheit und Fähigkeit zur Erneuerung ist freilich nicht nur eine gleichsam unintendierte Folge von Marx’ frühem Tod, weil der ihn daran hinderte, seine Gedanken systematisch auszuformulieren, sondern sie ist im Marxschen Unternehmen immanent angelegt. Denn Marx’ Werk ist – um es mit Engels’ Worten zu sagen – im Kern von der Überzeugung geleitet, »daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen«.6 So ist die Unfertigkeit gewissermaßen ein notwendiges Resultat des Marxschen geistigen Abenteuers.

Die Erneuerbarkeit und Reanimierbarkeit von Marx Gedanken, deren Anschlußfähigkeit an neue Probleme, ist die Voraussetzung jeder Aktualisierung, die notwendige Bedingung einer jeden Marx-Renaissance. Sie reicht dafür freilich nicht aus. Herrschte in der Welt nicht das Bewußtsein vor, daß sie vor neuen Problemen steht, die schwer zu begreifen und noch schwerer zu lösen sind, wäre unsere Zeit mit sich völlig im reinen, dann würde das Interesse an Marx sich auf eine allein literarische, geistesgeschichtliche Lektüre bescheiden. Dann wäre Marx so lebendig wie Tutanchamun oder Thomas von Aquin – er wäre vielleicht ein Objekt bildungsbürgerlicher Beflissenheit, aber keine Herausforderung mehr: es wäre so absurd, sich einen neuen Marx zu wünschen, wie es grotesk |16|ist, von einem Tutanchamun für das einundzwanzigste Jahrhundert zu träumen.

Brisant ist die Marx’sche Hinterlassenschaft jedoch aufgrund des Epochenbruchs, in dem wir stehen, jener Zeitenwende, die alle spüren und die kaum jemand auf den Begriff zu bringen vermag, die aber eine erstaunliche Gier nach Weltdeutung zur Folge hat. Die zahllosen Studien und Bücher über den »Durchbruch zur Weltgesellschaft« und die »Krise der Arbeit«, das »globale Zeitalter« und die »Wissensökonomie«, über die »Ökonomisierung aller Lebensbereiche«, den globalisierten »Casinokapitalismus« und die »Krise der Nationalstaaten« füllen bereits ganze Bibliotheken, und es finden sich in diesem Fundus der neueren Gesellschaftsanalysen erstaunliche Arbeiten wie der im Jahr 2000 erschienene viel diskutierte Theorieband »Empire« von Michael Hardt und Antonio Negri und solch ambitionierte Großstudien wie das dreibändige Werk »Das Informationszeitalter« des spanischstämmigen Berkeleyprofessors Manuel Castells. Dieser beschreibt minutiös den neuen Innovationsschub, der keinen Stein auf dem anderen beläßt, Produktion in ein Netzwerk von Strömen verlagert und alle Menschen und Völker an einen Maschenraum anschließt, der Mega-Städte, Innovationszentren, Konglomerate umfaßt: »Die Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften«, schreibt er.7 Das Erstaunlichste an diesen intellektuellen Großversuchen sind aber gar nicht so sehr die Bücher selbst, sondern die bemerkenswerte Rezeption, die sie erfahren. Sie wären nichts ohne den Hunger des Publikums, den sie zu stillen versuchen. Es gibt ein Bedürfnis, das Funktionieren der Welt zu verstehen – |17|der ganzen Welt, nicht nur einzelner Aspekte oder Sub-Systeme.

Doch dieses Bewußtsein, an der Schwelle zu einer neuen Etappe in der Menschheitsgeschichte zu stehen, kontrastiert auf seltsame Weise mit einem Gefühl der geschichtlichen Leere. Wir leben in der Totalherrschaft der Gegenwart. Zukunft in einem eminenten Sinn ist – just zum Anbeginn eines neuen Jahrtausends – vom Horizont verschwunden. Alles was wir mit ihr verbinden, ist letztlich ein »mehr desselben«, ein »more of the same«, wie die Briten sagen. Das treibt oft paradoxe Blüten: So haben es die Ökologiebewegung und die Technologiekritik vermocht, für jeden ganz einsichtig zu machen, daß der Weltuntergang, eine atomare Apokalypse etwa, wenn schon nicht wahrscheinlich, dann doch zumindest eine mögliche, realistische Aussicht sei, die sich jeder vorstellen kann; gleichzeitig scheint den allermeisten völlig undenkbar, daß auch nur Details an der Funktionslogik des globalen Kapitalismus verändert werden können. Daß der Kapitalismus ewig ist, scheint unabweisbar; was die Erde betrifft, ist das nicht so sicher.

Kurzum: Eine gesellschaftliche Neuerung, wie sie Marx beschrieben hat, die dem Willen selbstbewußter Subjekte entspringen würde, ist heute ziemlich weitgehend aus dem gedanklichen Horizont der westlichen Gesellschaften entschwunden. Deshalb ist alle Analyse, noch die ambitionierteste, so seltsam lau, und jeder Versuch, sich auf die Höhe unserer Zeit aufzuschwingen, verstärkt den intellektuellen Phantomschmerz noch. Darum müssen förmlich alle Versuche, sich an Marx zu messen, scheitern. Denn dieser junge Mann aus einer frisch assimilierten |18|jüdischen Familie, der sich in den frühen vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts – gerade erst 25 Jahre alt – daran machte, die Philosophie und die ökonomische Wissenschaft seiner Zeit zu revolutionieren, und der in nicht viel mehr als den zweieinhalb Dekaden, die darauf folgten, dem Denken förmlich einen neuen Kontinent eroberte, lebte doch in einer anderen Art von Epoche: Sie hatte ein Bewußtsein davon, daß sie eine Wendezeit sei, die alle Brücken in die Vergangenheit abreißen würde, sie war aber auch beseelt von der Zuversicht, daß mit ihr die Vorgeschichte der Menschheit, die Zeit der Borniertheit, Unaufgeklärtheit, Unwissenheit und der Unfähigkeit der Menschen, ihre Geschicke selbst zu bestimmen, ein Ende nehmen würde. Diese frischfröhliche Zukunftszuversicht ist den Heutigen gründlich ausgetrieben worden. Mit ihr ist auch jenes eminente Beginnergefühl, die geistige Rücksichtslosigkeit, jenes revolutionäre Genie verlorengegangen, ohne die das Marxsche Abenteuer nicht denkbar gewesen wäre.

Die Darstellung der Marxschen Gedanken- und Lebenswelt, die auf den folgenden Seiten versucht wird, erhebt darum auch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Wer genau wissen will, was Marx sich unter »Diktatur des Proletariats« vorstellte und welche Maßnahmen er vorschlug, die die siegreiche Arbeiterklasse sofort nach erfolgreicher Revolution durchzuführen habe, wird hier kaum fündig werden; warum Marx glaubte, daß schon in der kapitalistischen Dynamik – etwa durch die zunehmende Kooperation innerhalb des vielfach kombinierten Arbeitsprozesses – die Bedingungen geschaffen würden, die eine sozialistische Reorganisation des Gesellschaftslebens |19|förmlich erzwingen werden, wird auch nur kursorisch gestreift, ebenso die Vorhersage der notwendig zunehmenden »Verelendung« der Arbeiterklasse. Dafür versuche ich jene Aspekte der Marxschen Hinterlassenschaft zu entstauben, die frappierend aktuell für unsere Gegenwart sind. Was kann uns der Marxsche Begriff der Entfremdung über die seltsame Übellaunigkeit sagen, der wir allerorten in unseren Gesellschaften begegnen? Welche inneren Bewegungsgesetze zwingen den Kapitalismus, wie ein Wirbelwind über den Globus zu fegen und jede Grenze, an die er stößt, zu überwinden? Und was ist dieser Kapitalismus überhaupt? Keine oktroyierte Ordnung, sondern ein Zusammenhang, der sich aus den Verhältnissen, die die Menschen eingehen, gleichsam wie von selbst ergibt – ein Netzwerk aus Beziehungen von Beziehungen, ökonomischen und sozialen Wechselwirkungen, das, obwohl von Menschen gemacht, den Menschen als schier unveränderbares Äußeres gegenübertritt: als System, beseelt mit einem Eigensinn, an dem sich nicht nur die Macht der Schwachen, sondern letztlich auch die der Starken bricht. Und warum ist dieses System des Kapitalismus so erfolglos und erfolgreich zugleich? Warum schafft es Reichtum, während es viele ins Elend stürzt und Millionen in Lebensbedingungen beläßt, unter denen sie leiden? Und warum ist es dennoch auf kolossale Weise stabil und instabil zugleich? Krise, Kollaps und Katastrophe gehören zum Kapitalismus wie das Amen zum Gebet, gleichzeitig ist er schier nicht totzukriegen. Über lange Phasen segelt dieses Wirtschaftssystem, als wäre es auf Autopilot gestellt, durch die Zeit und die ihm immanenten Krisen und kann selbst noch darauf zählen, daß sich |20|die meisten der Ausgeschlossenen mit ihrer Lage abfinden, ja sogar in stillem Konsens diesem System zugetan sind und auf nichts mehr hoffen, als zum kapitalistischen Orbit Zugang zu erlangen?

Es sind diese Fragen, auf die uns der »lebendige« Marx immer noch die besten Antworten gibt – wenngleich natürlich nach Marx auch andere Jahrhundertdenker diese Fragen weitergesponnen haben, ohne deren Beiträge jeder Versuch, unsere Zeit in Worte zu fassen, sinnlos wäre. Zu denken ist dabei etwa an Max Webers Studien über die moderne Gesellschaft, an Sigmund Freuds Entdeckungen der Funktionsweise der menschlichen Psyche und an John Maynard Keynes Revolutionierung der Wirtschaftswissenschaften – um nur drei zu nennen.

Ohne Zweifel ist Marx eine außerordentliche, seltsame Gestalt. Kaum erwachsen, aber groß geworden in den Begriffen der Hegelschen Philosophie, hatte er sich im wesentlichen innerhalb von nur fünf Jahren – zwischen 1843 und 1848 – aus der bisherigen geistesgeschichtlichen Welt herausgearbeitet und die Basis seines neuen Denksystems gelegt. Damals stand Marx gerade in der zweiten Hälfte seiner Zwanziger. »Kein Denker des neunzehnten Jahrhunderts hat so unmittelbar … und machtvoll auf die Menschen gewirkt wie Karl Marx«, schrieb der liberale britische Philosoph Isaiah Berlin in seiner noch immer lesenswerten Marx-Studie.8 Und dies, obwohl er den Großteil seiner Lebenszeit weitgehend zurückgezogen in London, zwischen Manuskripten, Aktenstapel und Büchern im British Museum verbracht hat. Unter den Revolutionären seiner Zeit war er eine merkwürdig einsame Figur. Er hat jeden großen Weltverbesserergestus, der sich nur |21|von ethischen Idealen leiten ließ, jede romantische Utopistik – wie sie die sozialistischen und radikal-demokratischen Strömungen seiner Zeit prägte – böse verspottet. Zwar war auch Marx bewegt von einem starken moralischen Pathos. Aber für ihn war jeder Aktivismus, der sich nur auf den gefühlsgeleiteten Wunsch nach einer besseren Gesellschaft stützen konnte, reine Donquichotterie und kleinbürgerliche Schwärmerei. Er wollte die Wirklichkeit ernst nehmen, sich nicht gegen sie stemmen. So entwickelte er eine Methode sozialer Analysen, gewissermaßen mit kühlem Kopf und scharfem Blick, die heute noch unübertroffen sind und Verständlichkeit, Wirklichkeitssinn und Detailarbeit mit einer klaren moralischen Position und Gerechtigkeitssinn verbinden.

Jede Zeit setzt sich mit einem lange verstorbenen Autor auseinander, indem sie sich mit ihren eigenen Problemen auseinandersetzt. Die Philosophie überwindet eine ältere Philosophie, weil die Problemlagen überwunden sind, die diese Philosophie sich gestellt hat. Und jede Zeit liest Marx auch mit anderen, mit ihren eigenen Augen. Ich habe mich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder mit Marx beschäftigt, seine Bücher zeitweise beiseite gelegt, sie aber auch immer wieder aufs neue zur Hand genommen – und immer etwas anderes entdeckt. Auch das ist ein Hinweis auf die Lebendigkeit, auf den Facettenreichtum seines Werkes. Vor allem aber auf eines: Noch ist Marx nicht überwindbar. Ganz egal, ob einem das gefällt oder nicht: Die Verhältnisse, sie sind nicht danach.

Solange das so ist, wird Marx immer wieder aufs neue neu entdeckt werden.

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|22|Frankenstein Oder: Der entfremdete Mensch

Vom »frühen Marx« zur »Abrechnung« mit der Philosophie

Daß etwas faul ist in unserer Welt, wurde pünktlich zum jüngsten Millenniumswechsel fast wieder zum Gemeingut zwischen Berlin und Neu-Delhi, Davos und Porto Alegre, New York und Wien. Globalisierung und Informationszeitalter, die neuen technologisch-industriell-organisatorischen Revolutionen steigerten die Reichtümer und ebenso die allgemeine Wohlfahrt – wenngleich auch den Abstand zwischen Gewinnern und Verlierern im globalen kapitalistischen Casino –, doch mit der Ausbreitung der Warenwelt über alle bisher gekannten Grenzen hinaus wuchs die schlechte Stimmung. Und zwar nicht nur unter jenen, die aus den Palästen des Kommerzes ausgeschlossen sind, sondern auch unter der westlichen Mittelstandsjugend, unter Aufsteigern, unter den Heroen des neuen Zeitalters – den gut qualifizierten Wissensarbeitern, den globalisierten Eliten, den gewandten, schicken und emsigen Bewohnern der Metropolen. Mit feurigen Anklagen gegen den Kapitalismus schafft man es heute spielend in die Bestsellerlisten.

Die Kinder des Wohlstandes selbst wollen mehr sein als bloße Agenten der kommerziellen Apparatur. Wobei auch die Philippika zum Produkt wird und die No-Global-Bewegung zum Zirkus, mit ihren Jung-Stars und Celebrities: |23|so brachte es die kanadische Autorin Naomi Klein zu beinahe ebensolcher globaler Prominenz wie ihre Namensschwester Naomi Campbell und landete einen Publikumsrenner mit ihrem Buch »No Logo«, in dem sie Konsumwut und Markenterror, Kommerz und die neuen aggressiven »Branding«-Methoden der Werbung anprangert.

Wer sich umblickt in den Shopping-Malls und Edelstahl-Kneipen, sieht wunschlose Depression. Mitten in allem Überfluß tut sich eine Leere auf, in der sich der Mensch verliert. Noch der bewußtloseste Zeitgenosse empfindet ein Unglück im Glück.

Gewiß: Wenn diese mehr untergründige als bewußte Unlust Worte findet, endet das oft im Kitsch, bestenfalls in Radical Chic. Daß »der Mensch« doch mehr sei als Unternehmer seiner selbst und Konsument, um seine Langeweile zu narkotisieren, ist eine ebenso simple wie allgemein anerkannte Gewißheit, und wer es vermag, die Diskrepanz zwischen diesem metaphysischen menschlichen Wesen und der Realität der gegenwärtigen menschlichen Existenz in einige flotte Zeilen zu zwingen, der kann mit einem tollen Einkommen rechnen. »Mensch ist Mensch«, heißt es in dem eingängigen Song, der den kundigen Barden Herbert Grönemeyer Anfang 2003 in die Charts brachte, »weil er lacht«, »und weil er hofft«, und »weil er lebt«. Lachen, hoffen, leben, lieben – Charakterrelikte, die sich gegen Kommerzialisierung sträuben und die sich eben darum bestens vermarkten lassen.

Daß es neben der global organisierten Globalisierungsgegnerschaft eine »stille, private und gerade deshalb ernstzunehmende Verweigerung« unter ihren Altersgenossen |24|gibt, hat die junge Schriftstellerin Juli Zeh unlängst in einem »Spiegel«-Essay mitgeteilt und damit viel Aufsehen erregt. Darin hat sie von bestens ausgebildeten jungen Leuten berichtet, denen glanzvolle Karrieren winken und die dennoch überlegen, »zum Jahresende zu kündigen«. Sie zitiert ihre Freunde mit den Worten, »alles Wichtige ist unkäuflich«, und kommt zu dem Schluß, die junge Generation, »als Vorbote einer künftigen Gesellschaft gern mikroskopiert, wendet sich entgegen den Prognosen nicht einem immer oberflächlicheren, konsumorientierten und sinnentleerten Dasein zu«9. Es gibt ein ganz offenkundiges Unbehagen in der Konsumkultur.

Daß ein schwieriges, ebenso sperriges wie verworrenes Buch wie »Empire« von Michael Hardt und Antonio Negri einen wahren Theorie-Hype auslöste, ist auch zuvorderst einmal Indiz dieses Unbehagens. In studentischen Proseminaren zwischen Berkeley und Madrid, Rio und Berlin-Mitte wurde die avancierte Analyse des globalisierten Kapitalismus zum Schlager des Jahrzehntes. Changierend zwischen Theoriemix und Erweckungsprosa, schildern die Autoren den Selbstlauf des globalen Systems, wie dieses sich »den gesamten Bereich des Lebens«10 unterwirft und wie eine Revolte dagegen keimt – eine Revolte vieler rebellischer Subjekte, die nichts vereint, außer: daß sie nicht bloße Räder der kapitalistischen Maschinerie sein wollen.

Doch nicht nur in dieser seltsamen Mißstimmung, nicht nur in der stillen, angewiderten Abkehr der Verweigerer Juli Zehs, nicht nur in der von Zehntausenden gelesenen Beschwörung der Revolte, die Michael Hardt und Toni Negri beschreiben, wird eine menschliche Fülle gegen |25|