Das große Gold - Richard Stark - E-Book

Das große Gold E-Book

Richard Stark

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Beschreibung

Parker muss bei einem Plan mitmachen, der ihm von Anfang an missfällt, obwohl er todsicher scheint. Seine Gefängniskumpane brechen mit seiner Hilfe bei einem Juweliergroßhändler ein und holen sich die Klunker, doch auf dem Rückweg kommen nur noch drei von ihnen knapp davon. Vor dem einzigen Ausgang aus dem Warenlager wird bald die Polizei aufkreuzen, und Parker muss für die Flucht seinen ganzen Scharfsinn aufbieten. Dann begeht aber ausgerechnet Brenda, Ganovenbraut und eigentlich Profi, eine Dummheit ... Mit dem Thriller "Fragen Sie den Papagei" wurde 2008 das Comeback des faszinierend coolen Helden Parker eingeleitet. Viele Parker-Romane wurden in den USA verfilmt, darunter "Point Blank" mit Lee Marvin in der Hauptrolle.

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Über das Buch

Diesmal haben sie Parker doch erwischt und eingelocht. Er tut sich mit zwei Gefängnisinsassen zusammen, und es gelingt ihnen nach sorgfältiger Vorbereitung die Flucht. Doch die Freiheit hat einen Preis: Parker muss bei einem Plan mitmachen, der ihm von Anfang an missfällt, obwohl er todsicher scheint. Die ortsansässigen Ganoven wollen in einem Juweliergroßhandel einbrechen, sie kennen den seit Jahrzehnten unbenutzten Geheimgang, der direkt dorthin führt. Allerdings erweist sich nicht der Hinweg, sondern der Rückweg als gefährlich, und auf einmal geht es für alle nur noch darum, die nackte Haut zu retten. Der einzige Ausgang aus dem Warenlager ist der, vor dem bald die Polizei aufkreuzen wird, und Parker muss seinen ganzen Scharfsinn aufbieten, um das knifflige Problem des Fluchtwegs zu lösen. Doch dann begeht ausgerechnet Brenda, Ganovenbraut und eigentlich ein Profi, eine Dummheit, und es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit.

Richard Stark

Das große Gold

Roman

Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein

Paul Zsolnay Verlag

Zsolnay E-Book

Teil Eins

Eins

Als der Alarm losging, waren Parker und Armiston im hintersten Teil des Lagerhauses. Armiston hakte auf dem Klemmbrett die Kartons ab, die sie mitnehmen wollten. Die weißen Kartons waren fast zwei Meter hoch gestapelt, und zwischen ihnen verliefen Gänge bis zu den Seitenwänden aus nacktem Beton. Ein breiterer Mittelgang führte direkt zur Laderampe, über die sie hereingekommen waren, nachdem sie die Alarmanlagen abmontiert und das Rolltor geöffnet hatten.

Wieso also dieser Alarm, fünf Minuten nachdem sie eingedrungen waren? »Bruhl, dieser Idiot«, sagte Armiston und warf wütend das Klemmbrett weg. »Er ist ins Büro gegangen.«

Parker lief bereits mit langen Schritten zum Mittelgang. Hinter ihm schrie Armiston: »Verflucht! Fingerabdrücke!« und rannte zurück, um das Klemmbrett aufzuheben.

Parker lief in den Mittelgang. In der Ferne sah er das große Tor, noch immer offen, davor den leeren Lkw mit dem Heck zur Rampe. George Walheim, der Schlösserspezialist, der sie hereingebracht hatte, stand am Tor und machte ruckartige Bewegungen, ohne tatsächlich wegzulaufen.

Das waren alles Generika hier drin, und Armiston hatte einen Abnehmer auf einem Flugplatz eine halbe Stunde Richtung Norden. Geplant war, die Arzneimittel bis morgen außer Landes zu schaffen; dort waren sie mehr wert als in den Staaten, und die vier würden mit ihrem Bruch einen hübschen Schnitt machen.

Doch daraus wurde nichts. Bruhl, den Armiston mitgebracht hatte, hätte einen Gabelstapler holen sollen, um damit durch den Mittelgang zu fahren und die von Parker und Armiston gekennzeichneten Kartons zu verladen. Statt dessen war er ins Büro gegangen, um zu sehen, was er mitgehen lassen konnte. Aber die Alarmanlage dort hatte Walheim nicht lahmgelegt.

Während Parker den langen Gang entlangrannte, Armiston ein paar Meter hinter ihm, kam Bruhl plötzlich aus dem ersten Seitengang geschossen. Walheim wollte ihn sich schnappen, doch Bruhl versetzte ihm mit dem Handrücken einen Schlag, und der dünnere Mann ging zu Boden.

Parker schrie: »Bruhl! Bleib stehen!«, doch Bruhl rannte weiter. Er sprang von der Laderampe neben den Lkw und rannte nach vorn zum Fahrerhaus. Ganz offensichtlich wollte er mit dem Lkw abhauen und die anderen ohne Fahrzeug zurücklassen.

Es war unmöglich, ihn aufzuhalten — keine Chance, den Lkw rechtzeitig zu erreichen. Walheim suchte noch immer auf allen vieren nach seiner Brille, als der Laster schon losratterte. Es war vier Uhr früh, und draußen herrschte noch Dunkelheit, gesprenkelt mit schwachen Lampen hoch oben an den Ecken anderer Gebäude in diesem Industriepark.

Mit schwerer Schlagseite und pendelnden Hintertüren donnerte der Lkw in die Rechtskurve am Ende der asphaltierten Strecke, und Bruhl gab noch mehr Gas. Der leere Lkw war kopflastig, er hatte keine Chance.

Walheim war wieder auf den Beinen und rückte seine Brille zurecht, als Parker an ihm vorbeilief. »Was machen wir —?« Doch Parker war schon weg, sprang von der Laderampe und rannte nach links davon, als der Lkw krachend umkippte und auf der Seite über den Asphalt schlitterte, bis er einen Strommast rammte und ihn abknickte. Die wenigen Lichter in der Gegend gingen aus.

Hier gab es nichts außer dem nachts menschenleeren Industriepark. Keine Häuser, keine Bars, keine Kirchen, keine Schulen. Zu dieser nachtschlafenden Zeit gab es auch keine Fußgänger und keine vorüberfahrenden Autos.

Parker war erst ein paar hundert Meter weit gekommen, da hörte er die Sirenen, noch weit hinter ihm, aber rasch näher kommend. Es gab nichts, wo er hätte in Deckung gehen können; in eines der anderen Gebäude einzubrechen war zwecklos. Hier und da standen ganze Lkw-Flotten hinter hohen Zäunen.

Parker lief weiter. Armiston und Walheim waren weiß Gott wo, und Parker setzte alles daran, seinen Vorsprung vor dem Sirenengeheul zu halten. Doch die Sirenen ertönten plötzlich von allen Seiten, waren links und rechts und dann überall, zerrissen die Nacht und teilten sie unter sich auf.

Parker rannte mitten auf einer leeren Straße, als Scheinwerfer um eine Ecke bogen und der Strahl eines grellen Suchscheinwerfers sich an ihm festhakte. Er blieb stehen. Er legte die Hände auf den Kopf.

Zwei

»Wollen Sie etwas dazu sagen?« fragte ihn der CID-Mann.

»Nein«, sagte Parker.

Der CID-Mann sah ihn an und nickte. Er war klein, aber vierschrötig, Mittelgewicht, Karottenkopf. Sagte, sein Name sei Turley. Inspector Turley. Vor sich auf dem Schreibtisch hatte er eine Akte liegen. Parker saß auf dem Holzstuhl ihm gegenüber, beobachtet von den beiden Uniformierten in den Ecken der schmucklos-funktionalen Amtsstube. Turley schlug die Akte auf und schaute darauf mit der Miene eines Mannes, der schon weiß, was drinsteht, mit der grimmigen Genugtuung von einem, dessen negative Vorhersage eingetroffen ist. »Ronald Kasper.« Er sah Parker düster an. »Das ist nicht Ihr richtiger Name, oder?«

Parker betrachtete ihn.

Turley blickte wieder in die Akte und pochte mit dem Knöchel seines rechten Mittelfingers auf die darin enthaltenen Informationen. »Das ist der Name zu ein paar Fingerabdrücken von einem, der vor ein paar Jahren aus einem Zuchthaus in Kalifornien getürmt ist. Hat dabei einen Aufseher umgebracht.« Er sah Parker an, die Augenbrauen hochgezogen. »Sie haben dieselben Fingerabdrücke.«

»Das System macht Fehler.«

Turleys Grinsen verflüchtigte sich, er fand das nicht komisch. »Und Menschen ebenso, mein Freund.« Wieder sah er in die Akte. »Es gib keinen Ronald Kasper, vorher nicht, nachher nicht. Rein ins Zuchthaus, raus, hinterlässt diese Abdrücke und einen toten Aufseher. Wollen Sie seinen Namen wissen?«

Parker schüttelte den Kopf. »Würde mir sowieso nichts sagen.«

»Nein, wohl kaum. Wir haben noch ein paar andere Namen für Sie.«

Parker wartete. Turley zog wieder die Augenbrauen hoch und sah ihn an. Auch er wartete, doch als er erkannte, dass Parker nichts zu sagen hatte, wandte er sich wieder der Akte zu. »Sagen Sie mir, welcher dieser Namen Ihnen am liebsten wäre. Edward Johnson. Charles Willis. Edward Lynch. Nein? Keiner? Dann hätte ich noch einen: Parker, Vorname unbekannt. Noch immer nichts?«

»Bleiben Sie bei Kasper.«

»Den haben wir ohnehin fest Ihren Fingern zugeordnet«, sagte Turley und lehnte sich zurück. »Wir haben euch nämlich alle. Ich nehme an, man wird euch gemeinsam den Prozess machen.« Turley brauchte seine Akte jetzt nicht mehr. »Armiston und Walheim sitzen auch hier ein«, sagte er. »Sie werden sie wahrscheinlich bis zum Prozess nicht zu Gesicht bekommen, aber sie sind da. Das hier ist ein großes Gefängnis.«

Das stimmte. Es hieß Stoneveldt Detention Center, und hier saßen vor und während ihres Prozesses alle ein, die eines Verbrechens beschuldigt wurden, das unter die Gerichtsbarkeit dieses Staates fiel. Es sei denn, sie stellten Kaution, was Parker, Armiston und Walheim nicht tun würden. Kein Richter, der ihre Vorgeschichten kannte, würde damit rechnen, dass sie sich ihre Kaution wieder abholen würden.

Wie das Gewerbegebiet, in dem in der vergangenen Nacht alles schiefgelaufen war, lag auch Stoneveldt am Rande der einzigen Großstadt dieses großen, leeren Staates im Mittleren Westen. Seit er letzte Nacht eingeliefert worden war, hatte Parker, wenn er einen Blick aus dem Fenster warf, da draußen kaum mehr gesehen als flache Prärie, schnurgerade Straßen, noch ein paar Gebäude im Industrie- oder Behördenstil und eine Stadt, die weit im Osten zu erkennen war. Wenn er zum Prozess noch hier war, würde das jeden Morgen eine vierzigminütige Busfahrt zum Gericht und jeden Abend dasselbe retour bedeuten, mit vergittertem Prärieblick.

»Mit Steven Bruhl«, fuhr Turley fort, der seinen eigenen Gedankengang verfolgte, »ist es ein bisschen was anderes. Schon allein, weil er einer von hier ist.«

Armiston hatte Bruhl mitgebracht, weil er jemanden brauchte, der sich mit Geräten wie Gabelstaplern auskannte. Dass er ein Idiot war, hatte er nicht gewusst. Tja, jetzt wussten sie es alle. Und Turley hatte gesagt, dass die drei hier in Stoneveldt seien. Was war also aus Bruhl geworden? War er tot? Im Krankenhaus?

»Wenn Bruhl überlebt«, sagte Turley und beantwortete damit die Frage, »wird ihm später der Prozess gemacht, nach euch dreien. Im Gegensatz zu euch wird er also schon wissen, was die Zukunft bringt. Und im Gegensatz zu euch wird er auch nicht mehr singen können. Niemand mehr da zum Verpfeifen.«

Sie saßen da und sahen zu, wie der Gedanke durch den Raum kreiste. Die zwei Uniformierten scharrten mit den Füßen, rieben sich den Rücken an der Wand und beobachteten Parker gleichmütig; seinetwegen würden sie nicht unter Beweis stellen müssen, dass sie ihr Geld wert waren oder ihre Ausbildung etwas gefruchtet hatte.

»Sie allerdings«, sagte Turley, »haben es da leichter. Sie sind der erste. Kennen Sie die Spieltheorie, Ronald?«

»Mr. Kasper«, sagte Parker.

Turley schnaubte höhnisch. »Was macht das für einen Unterschied? Ist doch sowieso nicht Ihr Name.«

»Sie haben recht.« Parker breitete die Hände aus: Nennen Sie mich, wie Sie wollen.

»Die Spieltheorie«, sagte Turley, »behauptet, dass der, der als erster loslegt, auch gewinnt, weil es danach nichts mehr gibt, was ein anderer verkaufen könnte.«

»Hab davon gehört«, bestätigte Parker.

»Also, wir haben Sie, und wir haben die anderen«, sagte Turley, »und Sie wissen so gut wie ich, dass wir Sie richtig am Wickel haben. Was wollen wir mehr? Was könnten wir noch brauchen — so dringend, dass wir einen Deal mit Ihnen ins Auge fassen würden?«

»Dass ich nicht türme«, sagte Parker.

Turley schien überrascht. »Türmen? Von hier? Nein, Sie wissen, worauf ich hinauswill. Strafminderung, ein besseres Gefängnis. Einige unserer Gefängnisse sind nämlich besser als andere.«

»Wenn Sie’s sagen.«

»Was wiederum heißt«, fuhr Turley fort, »dass einige unserer Gefängnisse schlechter sein müssen, auch wenn das niemand zugeben würde. Vielleicht sogar viel schlechter.« Turley beugte sich über den Tisch und die Akte vor, um ihm eine vertrauliche Mitteilung zu machen. »Wir haben ein Dreckloch«, sagte er leise. »Ich wünschte, wir hätten es nicht, aber wir haben’s nun mal. Wer dort einsitzt, hat nur drei Dinge zur Auswahl.« Er zählte sie an den Fingern ab. »White Power, Black Power oder ins Gras beißen.«

»Da sollte der Staat aber was dagegen tun«, sagte Parker.

»Sparmaßnahmen«, erklärte ihm Turley. »Die Politiker wollen immer alle einsperren, aber zahlen wollen sie nicht dafür. Also machen die Leute in der Gefängnisverwaltung etwas, das sich Mittelzuweisung nennt. Das heißt, dass sich zumindest einige der Einrichtungen eine gewisse Hoffnung auf zivilisierte Zustände bewahren.« Turley lehnte sich zurück. »Einer von euch Jungs«, sagte er, »wird in einem Country Club landen. Bei den anderen beiden ist alles offen.«

Parker wartete.

Turley sah ihn an. Dass jegliche Reaktion ausblieb, irritierte ihn. »Sie denken wahrscheinlich«, sagte er, »wenn der Staat schon mich hat, was kann er dann noch wollen? Was hab ich da noch in der Hand?«

Parker wusste es bereits. Er kannte bereits den Inhalt der ganzen Unterhaltung, doch es war eine der Stationen, die er durchlaufen musste, ehe man ihn allein ließ, damit er sich alles in Ruhe überlegen konnte. Er sah Turley an und wartete.

Turley nickte und drehte sich mit seinem Stuhl ein wenig hin und her. »Die Drogen, auf die ihr es abgesehen hattet«, sagte er, »oder wahrscheinlich sollte ich Medikamente sagen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen — die sind nur im Ausland eure Mühe wert. Aber dieses Auslieferungslager wurde unter anderem deshalb hier gebaut, weil wir hier mitten in Amerika sind; von hier aus erreicht man am schnellsten jeden beliebigen Ort im Land. Aber nicht das Ausland. Wir sind fast tausend Kilometer vom nächsten Ozean und der nächsten Grenze entfernt. Egal, in welcher Richtung. Ihr hattet bestimmt nicht vor, mit diesem Laster tausend Kilometer zu fahren. Ihr hattet eine andere Idee, und dazu gehört, dass noch andere mit im Spiel sind. Das ist das, was Sie uns anbieten können. Wo wolltet ihr mit dem Laster hin, wer sollte euch dort erwarten, und wohin sollte es dann gehen?«

Turley wartete. Parker auch. Turley beugte sich wieder vor, den Unterarm auf der geöffneten Akte. »Hm?«

»Ich denk drüber nach«, sagte Parker.

»Soll heißen, Sie tun’s nicht, zumindest im Moment nicht«, meinte Turley. »Aber was ist mit Armiston? Was ist mit Walheim? Und mit Bruhl, wenn er wieder zu sich kommt?«

»Falls«, sagte Parker, weil er wissen wollte, wie schlimm es um Bruhl wirklich stand.

Schlimm, denn Turley nickte, zuckte die Achseln und sagte: »Na gut, falls. Aber vielleicht kommt er doch durch, jung und kräftig, wie er ist. Aber hier geht’s um Sie. Ihre Freunde, Sie kennen Ihre Freunde, Armiston und Walheim. Wird einer von ihnen den Sprung vielleicht vor Ihnen tun?«

»Das werden wir sehen«, sagte Parker.

Turley stand auf, die Sitzung war beendet. Die Uniformierten lösten sich von der Wand und standen strammer. Parker sah sich um, dann stand auch er auf.

»Denken Sie nach«, sagte Turley. »Wenn Sie mit mir reden wollen, egal wann, sagen Sie dem Aufseher Bescheid.«

»In Ordnung«, sagte Parker.

Drei

»Es ist nicht nur diese Zelle«, sagte Williams. »Der ganze Knast ist überfüllt.«

Parker glaubte das ohne weiteres. Die Zelle, in der er einsaß, mit Williams und zwei anderen, hier auf der zweiten von drei Galerien eines in eine Außenhülle aus Beton eingebauten Käfigs, war knapp zweieinhalb auf zwei Meter groß und eigentlich für zwei Kurzzeitinsassen ausgelegt. Man hatte jedoch zwei Stockbetten hineingestellt, um vier Männer hineinzupferchen. Der Terminkalender des Gerichts war genauso überfüllt, so dass die Insassen nicht die ein, zwei Monate hier verbrachten, von denen der Architekt ausgegangen war, sondern acht oder zehn Monate, ein Jahr.

Ein sonderbarer Ort war das, ein Gefängnis und doch kein Gefängnis. Es gab keine stabile Insassenzahl, keine Langjährigen, die den Kitt in diesem Knast gebildet hätten. Alle waren hier nur auf der Durchreise, auch wenn die länger und unbequemer war, als sie eigentlich sein sollte.

Es war der Ort, an dem man sich aufhielt, bevor die Entscheidungen fielen, also war es ein Ort der Hoffnung. Hier gab es immer noch eine Chance — ein Zeuge verschwand, die Kriminaltechnik pfuschte, das Gericht kaufte dem Verteidiger seine Argumente ab. Wenn diese Übergangszeit zu Ende und das Urteil gesprochen war, kam man von hier weg, ging entweder hinaus in die Welt oder geriet tiefer hinein in das System, in eine Strafanstalt, und bis zur letzten Sekunde des letzten Prozesstages konnte man nie ganz sicher sein, wie es ausgehen würde.

Doch weil es ein Ort der Hoffnung war, ein Ort der Möglichkeiten und noch nicht gefällten Entscheidungen, war es auch ein Ort der Paranoia. Man kannte keinen von den anderen. Alle waren einander fremd, nicht lange genug hier, um sich einen Ruf erworben zu haben, nicht lange genug, um sich zu Gruppen zusammenschließen zu wollen. Das einzige, was man mit Sicherheit wusste, war, dass es Spitzel gab, Leute, die den Gesetzeshütern alles zutrugen, was sie über andere in Erfahrung brachten, entweder, weil sie eigens dafür hier eingeschleust worden waren, oder weil sie Opportunisten waren und versuchten, mit Informationen zu handeln, um sich mit den Behörden gutzustellen; nach oben zu kommen, indem sie nach unten traten. Was wahrscheinlich auch funktionierte.

Also sprachen die Leute hier drinnen nicht miteinander, nicht über wichtige Dinge, nicht darüber, was sie getan hatten oder wer sie waren oder wie sie ihre Aussichten einschätzten. Über den Pflichtverteidiger oder das Essen meckern, über Religion reden, wenn sie der Typ dafür waren, oder über Sport, das ja, aber eine Blöße gaben sie sich nie.

Das einzig Gute an dieser Vereinzelung war, dass sich keine Banden bildeten, keine Rassenunruhen ausbrachen. Die Typen von den Aryan Nations mit ihren Hakenkreuztätowierungen und die von der Black Power mit ihren Mönchskapuzen konnten sich zwar angiften, aber organisieren konnten sie sich nicht, denn jeder konnte ein Spitzel sein, jeder, auch wenn er aussah wie du und ich.

Mit Parker in der Zelle waren ein Schwarzer, Williams, sowie ein Hispanic und ein Weißer, eine gemischte Gruppe. Der Hispanic und der Weiße nannten weder ihren Namen noch sagten sie sonst ein Wort, als Parker ankam und die Matratze auf der oberen Koje des rechten Stockbetts aufklappte. Williams, ein großer, kräftiger Mann, mittelbraun, mit freundlichem Lächeln und geröteten Augen, war von Natur aus redselig, und so blieb er selbst hier drinnen nicht stumm. Als Parker hereingeführt wurde, stellte er sich vor: »Williams.«

»Kasper«, erwiderte Parker, denn das war der Name, den die Polizei benutzte.

Daraufhin hatten sie sich nichts mehr zu sagen, und die zwei anderen, alle beide klein und dürr, mit senkrechten Dauerfalten auf der Stirn, sagten gar nichts und vermieden jeden Blickkontakt. Doch später bekam ihre Gruppe Bibliothekszeit, und die beiden marschierten, ebenso wie ungefähr die halbe Etage, zur Bibliothek.

»Die arbeiten an ihren Fällen«, sagte William grinsend.

»Gibt’s hier eine juristische Bibliothek?«

»Das sind keine Leser.«

»Und auch keine Juristen«, sagte Parker.

Williams grinste wieder. »Gehirnamputierte Hungerleider eben. Wie du und ich. Sorgt aber für Ruhe. Sie arbeiten an ihren Fällen.«

Ja, es waren die gehirnamputierten Hungerleider, die gegangen waren, um an ihren Fällen zu arbeiten; Parker sah den Unterschied zwischen ihnen und Williams. Alle hier drin trugen ein weißes T-Shirt, Bluejeans und ihre eigenen Schuhe, was es unmöglich machen sollte, ihnen ihre Herkunft oder ihre Bildung oder sonst etwas anzusehen. Man sah es trotzdem. Die, die hinausgingen, um an ihren Fällen zu arbeiten, trugen dreckige, verknautschte, schlechtsitzende Klamotten; das Kinn streckten sie vor, aber die Schultern ließen sie hängen. Wenn man sich die Reihe von vorn bis hinten ansah, kannte man die heraus, die mehr Grips hatten und mehr Selbstbewusstsein. Ob man einem über den Weg trauen konnte oder nicht, war ihm zwar trotzdem nicht anzusehen, aber welcher Schicht er angehörte, hatte man im Handumdrehen heraus.

Normalerweise wäre Parker genauso schweigsam gewesen wie die anderen beiden, doch er wollte wissen, was ihn hier erwartete, und zwar je schneller, desto besser. Williams, nicht ungebildet — unmöglich zu erraten, warum er oder alle anderen hier waren —, nahm offenbar gern Anteil an dem, was um ihn herum vorging. Und er redete auch gern, über die Überfüllung und auch sonst alles, was nicht persönlich war.

»Mit mir sind noch ein paar andere reingekommen«, sagte Parker. »Ich wüsste gern, wie ich mich mit denen in Verbindung setzen kann.«

Williams schüttelte den Kopf. »Keine Chance«, sagte er. »Ich bin selbst mit einem anderen reingekommen. Soviel ich weiß, ist der oben im dritten, das hab ich von meinem Anwalt.«

Parker war noch von keinem Anwalt kontaktiert worden, das war das Nächstwichtigste. »Dann sind meine Partner also auf anderen Stockwerken«, sagte er.

»Das ist ein großer Laden hier«, sagte Williams, »und die machen das absichtlich. Die wollen nicht, dass du und deine Kumpel euch eine Geschichte zusammendichtet und die kleinen Macken ausbügelt. Also trennen sie euch.« Williams’ Grinsen war spöttisch, aber auch traurig; er wusste, wie die Dinge liefen, und konnte doch nichts dagegen tun. »Dann können sie zu deinem Kumpel gehen und ihm sagen, Kasper redet. Oder zu dir und sagen, dein Kumpel redet.«

Parker nickte. Um diese Tageszeit waren die Zellentüren offen, darum ging er hinaus, lehnte sich über das Eisengeländer und schaute auf den Betonboden in der Tiefe, außerhalb des Käfigs, hinunter. Ein schweres Maschendrahtgitter war über die ganze Länge und Breite vor die Käfigfassade gespannt, damit keiner auf die Idee kam, hinunterzuspringen.

Parker stand eine Weile da und beobachtete die Aufseher und Häftlinge, die sich dort unten bewegten. Dann ging er zurück in die Zelle und kletterte in seine Koje. Williams saß gegenüber auf dem unteren Bett. Er sah zu Parker hoch und sagte: »Du machst dir aber viele Gedanken.«

»Muss ich ja«, sagte Parker.

Vier

Am nächsten Tag sagte der Lautsprecher »Kasper«, und als Parker an den Käfigen im Käfig vorbei zu dem durch eine Tür gesicherten Treppenhaus am anderen Ende des Ganges schritt, fragte der Aufseher an seinem metallenen Schreibtisch: »Kasper?«

»Ja.«

An der Treppe stand noch ein zweiter Aufseher. Er sagte: »Anwaltsbesuch.«

Der erste Aufseher drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, der Summer ertönte, und der zweite Aufseher öffnete die Tür. Parker ging hindurch und die Treppe hinunter, gefolgt von dem zweiten Aufseher. Die Stufen waren aus Metall, mit einem Muster aus kleinen kreisförmigen Löchern, und es hallte, wenn man darüber ging.

Unten wandten Parker und der Aufseher sich nach rechts und standen vor einer verschlossenen Gittertür. Dahinter lag ein kurzer, breiter, fensterloser Gang mit gelbgestrichenen Wänden und schwarzem PVC-Boden. Der Gang war durch eine weiße Mittellinie in zwei Spuren geteilt, und alle hielten sich rechts. Hier herrschte reger Fußgängerverkehr, denn es war der einzige Weg zu den Zellen, für alle: Häftlinge, Aufseher, Verwaltungsangestellte, den Geistlichen, den Arzt.

Ein weiterer Aufseher an einem weiteren Tisch neben noch einer Gittertür, die erst aufgeschlossen werden musste, und dann kamen sie in den vorderen Teil des Gebäudes mit einem gewöhnlichen breiten Korridor in der Mitte, wo jeder so ging, wie es ihm passte. Die von diesem Gang abgehenden Türöffnungen hatten keine Türen. Der breite Durchgang rechts führte in die Kantine, die den ganzen Raum auf dieser Seite einnahm. Der erste Durchgang links führte in die Bibliothek, wo die Häftlinge vor den elektrischen Schreibmaschinen Schlange standen und auf ihre zehn Minuten warteten, um an ihrem Fall zu arbeiten. Der Durchgang am Ende des Korridors führte in den Besucherraum, der in der Mitte zu dem Raum für Anwaltsbesuche.

»Da rein«, sagte der Aufseher, und Parker betrat einen großen Raum mit einem Tisch, der sich von Wand zu Wand über die ganze Länge des Raums erstreckte. In Abständen von ungefähr einem Meter waren bis in Kopfhöhe Trennwände aus Sperrholz als Sichtschutz auf der Tischplatte angebracht. Zwischen den Trennwänden standen Stühle an dem Tisch, die auf der Rückenlehne Nummern trugen. Drei der Stühle waren von Häftlingen besetzt, die mit Leuten auf der anderen Seite sprachen — vermutlich Anwälte, doch wegen der Trennwände konnte Parker sie nicht sehen. »Nummer drei«, sagte der Aufseher, und Parker ging zum Stuhl Nummer drei. Ihm gegenüber auf der anderen Seite saß ein Schwarzer in braunem Anzug, hellblauem Hemd und gelber Krawatte, alles verknittert. Er trug eine Goldrandbrille und hatte kurzgeschorenes Haar. Er sah gerade in seinen Aktenkoffer, der offen auf dem Tisch stand, blickte dann aber zu Parker hinüber und sagte: »Guten Morgen, Ronald.«

»Guten Morgen.« Parker setzte sich, legte die Unterarme auf den Tisch und sah ihn an.

»Ich bin Jacob Sherman«, sagte der Mann. »Ich bin Ihr Anwalt.«

»Haben Sie eine Karte?« fragte Parker ihn.

Überrascht sagte Sherman »Natürlich« und griff in die Sakkotasche. Der Karte, die er Parker reichte, war zu entnehmen, dass er allein arbeitete, nicht in einer Kanzlei. Parker warf einen Blick darauf und steckte sie ein.

»Ich wünschte, ich hätte gute Nachrichten für Sie«, sagte Sherman.

»Ich erwarte keine guten Nachrichten«, sagte Parker.

»George Walheim …« Sherman machte eine Pause, als sei es ihm peinlich, darüber zu sprechen, und fuhr dann fort: »Er hatte einen Herzinfarkt. Er liegt im Krankenhaus.«

Einen Herzinfarkt. Walheim hatte nicht damit gerechnet, dass etwas schiefgehen könnte. »Damit sind schon zwei von uns im Krankenhaus«, sagte Parker. »Lebt Bruhl noch?«

»O ja«, antwortete Sherman. »Der kommt schon wieder auf die Beine.«

»Ist Armiston hier drin?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Er wird von jemand anders vertreten.«

Diese Seilschaft gab es also nicht mehr. Von vier Leuten nur noch zwei übrig, und die auch noch getrennt. Parker glaubte nicht, dass er den nächsten Teil im Alleingang bewältigen konnte, aber wie sollte er hier drin eine neue Seilschaft zusammenstellen. »Wie lange, denken Sie, dauert’s noch bis zum Prozess?« fragte er.

»Oh, ich glaube nicht, dass es soweit kommt.«

»Sie glauben nicht, dass es zum Prozess kommt?«

»Na ja, Kalifornien wird bestimmt die Auslieferung verlangen«, eröffnete ihm Sherman.

»Nein. Das fechten wir an.«

Sherman schien erstaunt. »Wozu der Aufwand? Früher oder später müssen Sie da sowieso hin.«

In jeder anderen Umgebung würde er es noch schwerer haben als hier, vor allem aber in einem Staat, in dem er als Ausbrecher und Mörder eines Aufsehers aktenkundig war. Er sagte: »Ich würde mich lieber erst mit der Geschichte hier befassen.«

»Die Kalifornier werden geltend machen, dass ihre Mordanklage Vorrang hat.«

»Aber ich bin nun mal hier«, sagte Parker. »Und das sollte Vorrang haben. Das können wir geltend machen.«

Es war offensichtlich, dass Sherman den Arbeitsaufwand scheute; es war zu verlockend, sich den Fall als einen ganz einfachen vorzustellen: ein Typ, heute noch hier, morgen auf dem Weg nach Kalifornien. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte er.

»Sie könnten noch was für mich tun.«

»Und das wäre?«

»Es gibt da eine Frau, die nicht weiß, was mit mir passiert ist. Sie wird sich Sorgen machen. Ich will sie nicht von hier aus anrufen oder ihr schreiben, weil die Zensur das mitkriegt und ich nicht will, dass man sie mit mir in Verbindung bringt, dass sie meinetwegen Ärger kriegt.« Er deutete auf den Aktenkoffer. »Sie haben da doch sicher Papier und einen Briefumschlag drin. Ich will ihr schreiben, damit sie weiß, dass ich noch lebe. Ich tu das in den Umschlag und schreibe die Adresse drauf. Wenn Sie den Brief dann bitte frankieren und einwerfen könnten, ohne ihn den Leuten hier zu zeigen. Ich werde die Frau nicht bitten, irgendwas Illegales zu tun, sie soll sich nur keine Sorgen machen. Aber ich will nicht, dass ihr die Polizei das Leben schwermacht.«

Sherman sah zu den Aufsehern an den Türen hinüber, der Tür für die Gefangenen und der für die Anwälte. Dann schaute er Parker an und nickte. »Kann ich machen.«

»Danke.«

Sherman gab ihm ein liniertes Blatt von einem Notizblock, einen Stift und ein Kuvert mit seiner Büroadresse als Absender. Parker schrieb: »Der Laden hier heißt Stoneveldt. Ich bin als Ronald Kasper hier. Besorg mir einen Kontaktmann draußen.« Keine Anrede, keine Unterschrift. Er faltete das Blatt, steckte es ins Kuvert, klebte es zu und schrieb »Claire Willis, East Shore Rd., Colliver’s Pond, NJ 08989« darauf. »Haben Sie auch Klebefilm dabei?« fragte er dann.

»Ich glaub schon.«

Sherman kramte in seiner Tasche, brachte eine Rolle Klebefilm zum Vorschein und gab sie Parker. Der klebte erst einen Streifen über die Klappe und dann einen um jede der vier Kanten. Jetzt konnte der Umschlag nicht mehr geöffnet werden, ohne dass Spuren zurückblieben. Er schob Sherman das Kuvert und den Klebefilm hin und sagte: »Ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich habe mir ihretwegen Sorgen gemacht.«

Sherman schaute auf das Kuvert. »New Jersey. Ziemlich weit weg.«

»Ja.«

»Sie wären besser dortgeblieben.«

»Das wusste ich damals noch nicht«, sagte Parker.

»Nein.« Sherman tippte auf seine Büroadresse. »Wenn Ihre Freundin Fragen hat, kann sie sich mit mir in Verbindung setzen.«

»Das wird sie wahrscheinlich tun.«

Sherman steckte Brief und Klebefilm ein und sagte: »Wir haben noch nicht über die Vorführung beim Haftrichter gesprochen. Ich nehme an, Sie wollen auf nicht schuldig plädieren?«

»Klar. Wann ist der Termin?«

»Der ist jetzt für Donnerstag in einer Woche angesetzt.«

Parker sah ihn stirnrunzelnd an. »So lange noch?«

»Die Gerichte sind wirklich ziemlich überlastet«, erklärte Sherman. »Aber so schlimm ist das auch wieder nicht. Die Zeit, die Sie hier absitzen, wird Ihnen auf jeden Fall angerechnet.«

»Stimmt. Außerdem haben wir dann mehr Zeit, etwas gegen die Auslieferung zu unternehmen. Damit können die ohnehin erst nach der Vorführung anfangen. »

»Wir werden tun, was wir können«, meinte Sherman. »Haben Sie sonst noch Fragen? Soll ich noch was tun? Jemanden anrufen?«

»Nein, wenn Sie nur Claire diesen Brief schicken, damit sie weiß, dass ich am Leben bin, über alles andere zerbreche ich mir nicht den Kopf.«

»Gut.« Sherman streckte ihm die Hand hin. »War nett, mit Ihnen zu plaudern, Ronald.«

»Danke, Mr. Sherman.«

Beide standen auf, und Sherman sagte: »Wir sehen uns bei der Haftvorführung.«

»Richtig«, sagte Parker, wohl wissend, dass er Mr. Sherman nie wiedersehen würde.

Fünf

Die erste Woche ist die schlimmste. Die Umstellung von draußen auf drinnen, von Freiheit auf Gefangenschaft, von ausgebreiteten auf eng am Körper gehaltenen Armen ist so abrupt und extrem, dass der Verstand erst einmal streikt. Sekunde für Sekunde bleibt es eine böse Überraschung, der schlechteste Witz der Welt. Man kann immer nur eines denken: Ich halte das nicht aus, ich verliere den Verstand, ich flippe aus oder bringe mich um, ich halt’s nicht aus, jetzt nicht und nie.

Dann, irgendwann in der zweiten Woche, setzt die mentale Abwehr ein, im Hirn wird einfach ein Schalter umgelegt, und dieser Ort, dieser unerträgliche, erbärmliche Ort, wird einfach zu dem Ort, an dem man zufällig lebt. Die Leute hier sind die Leute, unter denen man lebt, die Regeln hier sind die Regeln, innerhalb deren man lebt. Das ist jetzt die wirkliche Welt, und die andere, das ist die unwirkliche.

Parker fragte sich, ob er so lange hierbleiben würde.

Die sture Regelmäßigkeit der täglichen Abläufe unterstützte den Prozess, durch den ein Häftling zum Sträfling wurde. In Stoneveldt begann der Tag um sechs, wenn die Zellentüren mit Getöse elektrisch entriegelt wurden, doch dann passierte nichts mehr bis sieben Uhr zwanzig, wenn alle auf dem zweiten Stock sich an der Tür zum Treppenhaus anstellen mussten. Sie wurde geöffnet, und dann trampelten sie im Gänsemarsch die Treppe hinunter und durch den Korridor mit der weißen Linie am Boden in das Hauptgebäude und weiter in die Kantine. Um halb acht kamen sie an, und bis fünf vor acht mussten sie draußen sein. Die Häftlinge vom dritten Stock frühstückten um sieben, die vom ersten um acht und die im Erdgeschoss um halb neun.

Nach dem Frühstück wurden sie auf ihre Etage zurückgeführt, aber die Zellentüren blieben offen, und es gab einen Spieleraum mit Karten und Brettspielen und einem Fernseher am dem Treppenhaus entgegengesetzten Ende der Etage. Um diese Zeit konnten sich die, die irgendwelche Beschwerden hatten, auf die Krankenstation bringen lassen.

Um halb elf wurden sie wieder nach unten geführt, doch da gingen sie dann über den langen betonierten Gang zwischen der Außenmauer und den Zellen im Erdgeschoss zu den Eisentüren an der Rückseite, die zu einem Hof führten, in dem sie ihren Rundgang machten. Armiston war nicht im Erdgeschoss, denn die Zellen dort waren reserviert für ungefährliche Trottel, alkoholisierte Autofahrer, häusliche Gewalttäter und Väter, die ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkamen. Der Hof war von hohen Betonmauern umgeben und hatte einen Boden aus gestampfter Erde. Es gab dort einen Bereich zum Gewichtheben und einen einzelnen Basketballkorb.

Mittagessenszeit für die zweite Etage war von Viertel vor bis Viertel nach eins, Zeit für den Nachmittagsrundgang von halb vier bis halb fünf. Am Nachmittag war auch die Zeit, in der die Gefangenen in die Bibliothek gehen und sich was zum Lesen suchen oder an ihren Fällen arbeiten konnten.

Vormittags und nachmittags, nach dem Frühstück und nach dem Mittagessen, wurden Gruppen von Namen über den Lautsprecher ausgerufen, und diese Häftlinge mussten dann ihnen zugeteilte Arbeiten verrichten. Alles war so strukturiert, dass jeder etwas zu tun bekam, dreimal die Woche einen halben Tag, in der Küche, in der Wäscherei, beim Anstreichen oder beim Bodenwischen. Männer, die was davon verstanden, reparierten Toiletten und Fernseher. Während dieser Zeiten fand Parker Leute, mit denen er reden, die er kennenlernen und sich für später merken konnte.

Abendessen halb sieben bis halb acht. Um neun musste jeder wieder in seinem Käfig sein. Die Zellentüren schlossen sich. Die Lichter gingen aus.

Sechs

Am fünften Tag tönte »Kasper« aus dem Lautsprecher, und der Aufseher sagte »Anwaltsbesuch«, doch es war nicht der zerknitterte Jacob Sherman, der sich davor drücken wollte, die Auslieferung abzuwehren. Es war ein älterer Mann, der sich in Armani und Pastell auf seiner Seite des Tisches erhob, ein Asiate, Haar mit Pomade nach hinten geklatscht, glänzendes Gesicht. »Ich bin Mr. Li«, sagte er und hielt Parker unaufgefordert seine Karte hin.

Viele Namen und Adressen standen darauf, alle in blauen Druckbuchstaben auf Elfenbein, und in der rechten unteren Ecke »Jonathan Li« in Gold. Parker steckte sie ein und sagte: »Jetzt bin ich Ihr Mandant.«

»Übertragung erfolgreich.« Li war belustigt, nicht von Parker im besonderen, sondern von seinem ganzen eigenen Leben. Das machte den Umgang mit ihm leicht, ließ aber ahnen, dass es Umstände gab, unter denen er womöglich nicht ganz verlässlich war. »Wir sollten uns hinsetzen«, sagte er. »Dann haben wir mehr Ruhe.«

Sie setzten sich. Parker beobachtete ihn und wartete. Die von Hemd und Sakko engumschlossenen Unterarme auf dem Tisch, die Handgelenke zierlich gekreuzt, beugte Li sich beim Sprechen ein wenig vor, um die Worte nicht über den abgetrennten Bereich hinausdringen zu lassen. »Ihre Freundin Claire lässt Ihnen ausrichten, dass es ihr gutgeht.«

»Schön.«

»Und sie rechnet damit, Sie bald wiederzusehen.«

»Wir können nur hoffen«, sagte Parker.

»Oh, wir können mehr tun als nur hoffen.«

»Wie ich höre, will Kalifornien mich haben.«

»Kalifornien muss warten, bis es an der Reihe ist.«

»Hab ich mir auch gedacht.«

»O ja«, sagte Li. »Meine fachliche Meinung ist, dass Sie hier nicht weggehen sollten, solange Sie hier nicht weggehen wollen.«

»Das ist gut«, sagte Parker.

»Außerdem müssen Sie, wie Sie vielleicht wissen«, fuhr Li fort, »selbst einen Antrag stellen, wenn Sie wollen, dass jemand anders als Ihre direkten Angehörigen Sie besucht. Dem können die Behörden dann stattgeben oder auch nicht. Leider haben Sie keine direkten Angehörigen in der Nähe —«

»Nein.«

»— aber wie es der Zufall will, arbeitet Ihr ehemaliger Schwager auf einer Baustelle gar nicht weit von hier und würde gern die Gelegenheit zu einem Besuch nutzen, solange Sie in Haft sind.«

»Mein ehemaliger Schwager.«

»Ich glaube, er war früher mit Ihrer Schwester Debby verheiratet.«

Parker hatte keine Schwester namens Debby. Er sagte: »Stimmt.«

»Also, Ihr ehemaliger Schwager Ed Mackey —«

»Ah.« Das klang schon echter als Schwester Debby.

Li lächelte ihn an. »Ja, ich dachte mir, dass Sie das freuen würde.«

»Allerdings.«

»Wie ich höre, waren Sie und Ihr Schwager früher Geschäftspartner, und er meint, Sie könnten vielleicht an einem ähnlichen Geschäft interessiert sein, sobald Ihre momentanen juristischen Probleme gelöst sind.«

»Da hat er wahrscheinlich recht«, sagte Parker.

Li hatte ebenfalls einen Aktenkoffer, wie Sherman, doch seiner stand auf dem Boden und war auf Hochglanz poliert. Er griff hinein und nahm ein schmales Bündel Formulare heraus. »Das ist der Antrag«, sagte er. »Mr. Mackeys Teil habe ich schon ausgefüllt.«

Parker nahm das Formular. Er hatte nicht erwartet, dass jemand anders hier die Initiative ergreifen könnte. »Ich freue mich darauf, Ed zu sehen«, sagte er, und er meinte es auch so. Dann sah er Li an: »Wie ich höre, soll die Haftvorführung nächsten Donnerstag sein.«

»Oh, ich glaube nicht, dass wir bis dahin soweit sind.«

»Wir schieben sie hinaus?«

Li nahm die Hände auseinander, die sich ausdrucksvoll wie Seerosenblätter öffneten. »Sie sind schließlich der Klient«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben keine Eile, Ihre Situation zu verändern, in bezug auf diese Beschuldigungen und so weiter. Habe ich recht?«

»Sie haben recht.«

»Habe ich mir gedacht.« Er stand auf und streckte die Hand aus. »Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Ich melde mich erst wieder, wenn ich Neuigkeiten habe.«

Parker schüttelte die feste Hand und sagte: »Es wird eine Zeitlang keine Neuigkeiten geben.«

»Nur Ihren Schwager.«

Parker grinste. »Darauf freue ich mich.«

Sieben

»Sieht mir ganz danach aus«, sagte Ed Mackey, »dass du da auf dem falschen Dampfer warst.«

»Wir hatten einen Hiesigen dabei«, sagte Parker. »Hat sich dümmer angestellt als nötig.«

Mackey nickte. »Ich hab’s in der Zeitung gelesen.«