Das Haus der Harmonie - Barbara Wood - E-Book
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Barbara Wood

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Beschreibung

Lesegenuss von der Bestsellerautorin Barbara Wood: Über viele Generationen hinweg haben die Frauen der Familie Lee in chinesischer Tradition heilpflanzliche Medizin hergestellt. Jetzt hat Charlotte den Konzern übernommen und geht den Familienweg erfolgreich weiter. Doch plötzlich muss sich die junge Geschäftsfrau dafür verantworten, dass angeblich drei Menschen durch ihre Produkte zu Tode gekommen sind. Während sie sich diesen schrecklichen Anschuldigungen stellen muss, erleidet Charlotte einen Unfall, bei dem sie nur knapp mit dem Leben davonkommt. Aber nun fragt sie sich: War es wirklich ein Unfall? Eine große Familiensaga zwischen China und Amerika, in der Spannung und schicksalhafte Gefühle raffiniert miteinander verknüpft sind.

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Seitenzahl: 713

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Barbara Wood

Haus der Harmonie

Roman

Aus dem Amerikanischen von Verena C. Harksen

FISCHER E-Books

Inhalt

Erster Teil12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334Zweiter Teil35363738394041424344454647484950515253

Erster Teil

1

18 Uhr – Palm Springs, Kalifornien

Das grelle Klingeln des Telefons riß Charlotte aus tiefem Schlaf.

Während sie nach dem Hörer griff, sah sie auf ihren Nachttischwecker. Sechs Uhr abends. Sie hatte in den letzten Nächten nicht gut geschlafen und war darum vom Labor nach Hause gegangen, um ein kleines Nickerchen zu machen. Zu ihrem Erstaunen hatte sie den ganzen regnerischen Nachmittag verschlafen.

Desmond war am anderen Ende der Leitung, und das, was er sagte, schlug ein wie eine Bombe. »Charlotte, am besten kommst du sofort her. Es gibt einen neuen Fall.«

Sie war sofort hellwach. »Den dritten?«

Im Zimmer war es dunkel. Sie knipste die Nachttischlampe an. »Wie schlimm ist es?«

»Wie bei den anderen. Das Opfer ist tot.«

Sie schloß die Augen. O Gott. »Ich bin schon unterwegs.«

»Charlie. Noch etwas. Es stehen Demonstranten vor dem Eingang.«

Sie schielte nach dem regennassen Fenster. »Bei dem Wetter?«

»Ein paar von ihnen halten das Chalk-Hill-Bild hoch.«

Charlottes Magen krampfte sich jäh zusammen. »O nein, Des«, flüsterte sie.

»Ich wollte dich nur warnen, damit du keinen Schock bekommst.« Sie legte den Hörer auf und rannte ins Badezimmer, als wollte sie vor Desmonds Schreckensnachricht fliehen. Sie hatten das Bild. Der Vorfall in der Forschungsstation Chalk Hill. Charlottes Alptraum, der sie Tag und Nacht verfolgte.

Als sie unter der Dusche stand, das Wasser so kalt, wie sie es eben noch aushalten konnte, den Strahl auf volle Kraft gedreht, verdrängte sie die Gedanken an Chalk Hill aus ihrem Kopf – das Bild war zurückgekehrt, um sie zu quälen, wie sie es immmer befürchtet hatte – und versuchte statt dessen, den seltsamen Traum zu analysieren, den sie während ihres Nickerchens gehabt hatte. Darin hatte ihre Großmutter gesagt: »Wir stammen von einer langen Reihe mutterloser Töchter ab. Und immer ist es so, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserem Leben unsere Mütter uns aus dem Jenseits führen und leiten. Eines Tages, Charlotte, wirst du hören, wie die Stimme deiner Mutter zu dir spricht, so wie ich die Stimme der meinen einst gehört habe.«

»Aber woran erkenne ich sie?« hatte Charlotte im Traum gefragt.

»Meine Mutter starb, als ich ein Baby war. Ich habe ihre Stimme nie gehört.«

»Du wirst sie mit dem Herzen erkennen, nicht mit den Ohren.«

»Und wann wird das sein?«

»Wenn es an der Zeit ist.«

Es war nicht nur ein Traum gewesen, sondern auch eine Erinnerung. Charlottes Großmutter hatte diese prophetischen Worte vor über zehn Jahren gesprochen. Charlotte wartete noch immer auf die Stimme ihrer Mutter.

Sie zog sich hastig, jedoch sorgfältig an: cremefarbenes Wollkostüm, weiße Seidenbluse und unauffällige Pumps. Während sie das lange, schwarze Haar durch eine goldene Spange zog, schaute sie aus dem Fenster hinaus in das Wüstental, das sich, am Ende des Tages kaum noch sichtbar, vor ihr ausbreitete. Aus schwarzen Gewitterwolken prasselte ein dämonischer Regen. Im Westen krachten Blitze und erhellten mit kurzem, schwefelgelbem Auflodern den Horizont. Wenn Großmutter noch lebte, dachte Charlotte, könnte sie diese Zeichen deuten.

»Die Wolken«, würde sie sagen, »sind wie Kraniche, die schnell nach Hause fliegen. Ein gutes Omen. Es bedeutet, daß Glück naht.«

Charlotte hatte nie recht gelernt, die Zeichen zu deuten, obwohl ihre Großmutter sich redlich bemüht hatte, es ihr beizubringen. Vielleicht bin ich zu amerikanisch, dachte sie, so wie Großmutter zu chinesisch war.

Während sie die Augen mit der Handfläche vor einem grellen Blitz schützte, dachte sie: Palm Springs hat dreihundertdreiunddreißig Sonnentage im Jahr. Wie kann ein solches Unwetter ein gutes Omen sein?

Nein, es war ein böses Omen. Drei Todesfälle in einer Woche, alle durch Harmony-Produkte. Es konnte sich nur um Sabotage handeln wie schon im Tylenol-Fall, denn Harmony Biotec stellte seine Naturheilmittel unter strengster Qualitätskontrolle her. Aber wenn es Sabotage war, bestand dann ein Zusammenhang zwischen den drei Todesfällen, oder hatte man es nur auf eine der betroffenen Personen abgesehen und die beiden anderen waren unschuldige Opfer? Oder galten die Anschläge etwa dem Unternehmen?

Charlotte schaltete das Radio auf ihrem Nachttisch an, gerade rechtzeitig für die Abendnachrichten: Überschwemmungswarnung für die tiefergelegenen Wüstenregionen … Stromausfälle in Pomona, Manhattan Beach und Bereichen des San-Fernando-Tales … Schlammlawinen in Malibu …

Sie schaltete das Radio wieder aus. Ganz und gar kein gutes Omen!

Sie sprang auf und lief mit schnellen Schritten durch das geräumige Haus am Hang, hinüber zur Küche, wo die Haushälterin gerade das Abendessen vorbereitete. Im Vorübereilen schnappte sie sich ihre riesige Ledertasche, die ihr zugleich als Aktenmappe und Einkaufsbeutel diente, ergriff die Autoschlüssel und rief: »Ich muß ins Werk, Yolanda. Ein Notfall. Ich hab keine Ahnung, wann ich wieder zurück bin.«

»Pedro sollte Sie fahren«, sagte die Haushälterin und meinte damit ihren Mann, der sich als Handwerker um alles auf Charlottes rund 52000 Quadratmeter großem Wüstengrundstück kümmerte. »Das Gewitter ist furchtbar.«

»Das ist schon in Ordnung. Keine Sorge.« Die Sanchez’ waren schon seit acht Jahren bei Charlotte. Sie waren ihr aus San Francisco hierher gefolgt, als, wie Mrs. Sanchez der Kassiererin an der Lebensmittelkasse bei Ralph’s gern erzählte, »die Medizin umgezogen ist. Wir konnten doch die Senorita nicht im Stich lassen. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert. Auch wenn sie es selber nicht weiß.«

»Aber was ist mit Ihrem Abendessen?« Yolanda zeigte auf die brodelnden Töpfe, brutzelnden Pfannen und die mit Gemüse und Kräutern überhäufte Arbeitsplatte.

»Ich hol mir was aus der Kantine.« Charlotte verschwand durch die Verbindungstür zur Garage.

Kantine! dachte Yolanda voller Schrecken. Dann mußte es wirklich ein sehr schlimmer Notfall sein, wenn es der Senorita egal war, was sie zu sich nahm. Besser als jeder andere kannte Yolanda die seltsamen Eßgewohnheiten ihrer Arbeitgeberin.

Für heute abend hatte Yolanda auf Miss Lees Anordnung einen Lotuswurzelsalat vorbereitet. Nicht etwa deshalb, weil Miss Lee den Geschmack von Lotuswurzeln besonders liebte, sondern weil, wie sie Yolanda einmal erklärt hatte, im Chinesischen das Wort für Lotuswurzel und der Ausdruck »Jedes Jahr mehr erreichen« fast gleich klangen und man darum glaubte, es sei hilfreich, bei Geldangelegenheiten viel Lotuswurzel zu essen. Yolanda hatte sich freilich längst an die Eßgewohnheiten ihrer Arbeitgeberin gewöhnt, die sich weniger am Geschmack orientierten, als an sonderbaren Gleichklangvorschriften »klingt wie« – deshalb aß Miss Lee auch jede Menge Langkornreis, weil das Wort dafür klang wie »langes Leben« –, und sie hatte sich auch daran gewöhnt, daß man glückbringende Speisen auswählte, wie zum Beispiel Bok Choy, und unglückbringende, wie zum Beispiel Mais, vermied.

So viele Regeln! dachte Yolanda und kehrte zu ihren Töpfen zurück. Für sich selbst war sie da ganz anderer Meinung – wenn man Appetit auf Tamales hatte, dann aß man eben Tamales.

Charlotte benutzte die Fernbedienung, um die schwere Garagentür zu öffnen. Der Motor knirschte, und an der Decke gingen die Lampen an. Sie glitt hinter das Steuer ihrer Corvette – ein Geschenk, das sie sich im Vorjahr selbst gemacht hatte, als sie acht- unddreißig wurde – und ließ den Wagen an. Während sie die Handbremse löste, sah sie in das tosende Unwetter hinaus, das dabei war, ihre Einfahrt in einen Fluß zu verwandeln.

Überschwemmungswarnung für die tiefergelegenen Wüstenregionen …

Charlotte betrachtete den strömenden Regen. Sie fuhr immer mit der Corvette, sie war ihr Lieblingsauto. Jetzt aber fühlte sie sich in dem kleinen Wagen verwundbar und der Willkür der Elemente ausgeliefert.

Sie warf einen raschen Blick auf das andere Auto in der Garage, einen gewaltigen Chevy Suburban, den sie für seltene Streifzüge in den Bergen gekauft hatte, wenn ihr der Druck im Labor einmal wirklich zuviel wurde, und faßte einen schnellen Entschluß. Sie sprang aus der Corvette, lief um den Geländewagen herum und kletterte auf den Fahrersitz. Die Schlüssel steckten hinter der Sonnenblende, damit Pedro ab und zu den Motor anlassen, die Batterie aufladen und den onyxschwarzen Lack waschen und wachsen konnte.

In dem großen Auto kam sich Charlotte merkwürdig vor. Sie wußte überhaupt nicht mehr, wann sie es zuletzt gefahren hatte. Sie drehte den Schlüssel und hörte erfreut, wie die Maschine sofort ansprang – Pedro war ein äußerst zuverlässiger Mann. Zuversichtlich griff sie nach dem Lenkrad. Dieser Koloß mit seinen Mammuträdern würde sie selbst über die überschwemmteste Kreuzung, die Palm Springs aufzubieten hatte, sicher hinüberbringen.

Die Scheinwerfer verwandelten den Regen in einen Vorhang aus Diamanten. Charlotte legte den ersten Gang ein und ließ den Chevy langsam anfahren.

Der Knall kam jäh und ohrenbetäubend. Charlotte schrie, als die Windschutzscheibe in abertausend Glassplitter explodierte. Und nur einen Sekundenbruchteil, nachdem der furchtbare Schlag das Auto erschüttert hatte, versank alles in tiefster Finsternis.

2

Stimmen … aus weiter Ferne. »Dios mio!«

»Was ist passiert?«

»Senorita? Schnell, Pedro!«

Charlotte fühlte, wie sie aus tiefem Dunkel emportauchte. Über sich erblickte sie zwei bleiche Gesichter – die Haushälterin und ihren Mann, beide mit großen, angsterfüllten Augen und vor Schreck und Furcht verzogenen Mündern. Einen Moment lang fragte sie sich, wo sie war, als aber die Füße des Ehepaars über das zerbrochene Glas knirschten und Charlotte die zitternden Hände sah, die nach ihr griffen, erinnerte sie sich, daß sie in dem Chevy gesessen und gerade ins Labor hatte fahren wollen. Als ihr Blick auf die eingedrückte Windschutzscheibe, nur wenige Zoll von ihrem Gesicht entfernt, fiel, schrie Charlotte auf.

Durch die Glasscherben ragte die Garagentür.

»Sind Sie in Ordnung?« fragte Pedro ängstlich und öffnete die Wagentür. »Wir hörten einen Knall, Dios mio!« Er bekreuzigte sich.

»Was …?« Charlotte rang nach Atem. »Was war das?«

»Die Tür, sie ist runtergefallen! Sie ist auf das Auto gekracht. Sind Sie verletzt? Sollen wir einen Arzt holen?«

»Nein …« Sie hob die Hand an die Stirn. Sicherheitsglasscherben prasselten von ihrem Arm. Sie schaute an sich herunter. Überall Glas. »Wie ist das nur passiert?« Sie nahm Pedros entgegengestreckte Hand und versuchte sich vom Sitz zu ziehen. Aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Charlotte begriff, daß sie unter Schock stand.

»Ich weiß nicht«, beantwortete Pedro ihre Frage mit tiefen Sorgenfalten im ledrigen Gesicht.

»Ich muß … ich muß mich umziehen.«

»Sie brauchen einen Arzt!« protestierte Yolanda, rang die Hände und biß sich auf die Lippen. »Heilige Mutter Gottes, wir haben den Knall gehört! Wir dachten, der Blitz hätte eingeschlagen.«

Charlotte drehte sich auf dem Sitz um. Ihr Kopf wurde allmählich wieder klar, ihr Blick scharf. Die Garagentür lag auf dem Dach des Chevy, so daß das Ehepaar aus Guatemala gebückt darunter laufen konnte. Charlotte runzelte die Stirn. Sollte nicht die elektronische Sicherung, die sie erst vor wenigen Monaten hatte einbauen lassen, genau solche Unfälle verhindern?

Mit bebenden Fingerspitzen betastete sie ihr Gesicht. Hatte sie Schnittwunden? Blutete sie? Aber ihre Hände wiesen keine Spuren auf. Wie durch ein Wunder war sie einer Verletzung durch herumfliegende Glassplitter entgangen.

»Alles in Ordnung«, erklärte sie und ließ sich von Pedro aus dem Auto helfen. Aber kaum daß ihre Füße den Zementboden berührten, gaben ihre Knie nach. Der alte Mann stützte sie in der Taille und half ihr über die Glasscherben hinweg zur Küchentür. »Ich muß mich umziehen und dann ins Labor.«

»Nein«, widersprach die ältere Frau und wirbelte aufgeregt um Charlotte herum. Sie klopfte ihr das Glas ab und murmelte dabei fieberhaft ein Gebet auf spanisch. »Sie machen sich jetzt keine Gedanken um Ihre Kleider. Sie brauchen einen Arzt.«

»Pedro, bitte versuchen Sie doch die Garagentür wegzuschieben. Ich werde doch die Corvette nehmen müssen.«

»Setzen Sie sich hin«, beharrte Yolanda. »Ich mache Ihnen einen schönen Tee. Ich rufe den Doktor für Sie. Sie sind so weiß wie Mehl.«

»Wirklich, mir geht es gut«, versicherte Charlotte und löste sich von Pedro, um zu zeigen, daß sie allein gehen konnte. »Ich fühle mich bestens.« Es war gelogen, aber Charlotte wollte nicht, daß die beiden soviel Aufhebens um sie machten. Außerdem mußte sie ins Labor. Inzwischen würden auch die Reporter eingetroffen sein und vielleicht noch weitere Demonstranten – mit jenem schrecklichen Bild …

Sie ging in ihr Arbeitszimmer, von dem eine Glasschiebetür in ihren ganz privaten Steingarten führte. Dort sah sie eine große, alte Wüstenschildkröte langsam durch den Regen wandern. Charlotte hatte das Tier vor einem Jahr am Straßenrand gefunden. Jemand hatte es schrecklich zugerichtet, darum hatte sie es nach Hause mitgenommen und mit einer Diät aus besonderen chinesischen Kräutern gefüttert. Sie nahm an, die Schildkröte würde weiterziehen, wenn es ihr besserging, aber das alte Tier war geblieben, obwohl kein Zaun es zurückhielt.

»Du rettest Tiere«, hatte ihre Großmutter gesagt, »anstatt Kinder zu kriegen.«

Charlotte hatte gelacht. »Ich habe ein Kind, Großmutter, ein ganz großes. Harmony Biotec reicht mir voll und ganz.«

Aber ihr Lachen hatte hohl geklungen. Bald würde sie vierzig werden. Hatte sie die Chance, eine eigene Familie zu haben, schon verpaßt? Die Firma hatte in ihrem Leben stets an erster Stelle gestanden. Immer wieder gab es etwas Neues, das sie ausprobieren wollte, immer wieder eine Innovation, zu der sie ihre Großmutter erst überreden mußte. Irgendwie waren die Jahre vergangen, und der Gedanke an eine eigene Familie hatte immer im Hintergrund gestanden.

Und nun diese Katastrophe: irgend jemand vergiftete die Produkte von Harmony.

Schnell wechselte Charlotte Rock und Jacke, wobei sie diesmal ein schwarzes Kostüm wählte, um ihrem Aussehen noch mehr Autorität zu verleihen, und schluckte zwei Harmony-Tabletten, die beruhigende Kräuter enthielten. Sie war noch ganz erschüttert von dem Vorfall mit der Garagentür, und gleich im Labor mußte sie ruhig und beherrscht auftreten.

Als sie durch das kleine Atrium ging, in dem sie seltene Kräuter und Pflanzen zog, spürte sie einen kalten Luftzug. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß die Glastür zum Innenhof aufgeflogen war.

Eilig bahnte sie sich einen Weg durch die empfindlichen Palmen und zerbrechlichen Farne, um die Tür zu schließen. Unter ihren Füßen knirschte es. Als sie sah, was es war, schlug sie sich entsetzt mit beiden Händen vors Gesicht und schrie fast wie ein Kind »Aiiyah!«

Das gläserne Windspiel, das seit zwei Jahren im Atrium hing, war heruntergefallen und zerbrochen.

Sie bückte sich und berührte die Scherben. Das Windspiel war ein Geschenk von Jonathan gewesen, das er ihr vor zehn Jahren gemacht hatte, als sie sich zum letzten Mal sahen. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatten die zarten Glasringe überall, wo sie lebte, das gute chi fließen lassen, und die klimpernde Musik hatte sie mit bittersüßer Traurigkeit an die einzige große Liebe ihres Lebens erinnert und daran, wie sie diese Liebe verloren hatte.

Ihre Großmutter hatte dieses Gedenken an Leid und Verlust gebilligt. »Nun wirst du niemals uneingeschränkt glücklich sein, Charlotte. Yin und Yang sind in deinem Leben ausgeglichen.«

Was für eine Einstellung! Kummer gutzuheißen, weil Gleichgewicht und Harmonie wichtiger waren als vollkommene Freude!

Der äußere Glasring war zersprungen, so daß er die kleineren Ringe nicht mehr umschloß. Ein zerbrochenes Windspiel kann man nicht wieder aufhängen, dachte Charlotte und fühlte einen Kloß in der Kehle. Der Klang wäre nicht mehr richtig. Das chi würde rückwärts fließen.

Charlotte starrte auf ihr zerstörtes Glück und fragte sich, ob irgend etwas je wieder so werden würde, wie es sein sollte. Dann eilte sie zurück durch den Gang ins Schlafzimmer. Aus ihrer Kommode nahm sie ein in Wasserblau- und Waldgrüntönen gemustertes Seidentuch – ebenfalls ein Geschenk von Jonathan. Er hatte es ihr bei ihrem letzten Treffen gegeben, als er ihr auch die erschreckende Neuigkeit mitgeteilt und sie gefühlt hatte, wie in diesem Moment ihr Leben zerbrach, so wie jetzt, als das Windspiel heruntergefallen und die Windschutzscheibe des Chevy zerbrochen war.

Ins Atrium zurückgekehrt, sammelte sie die Ringe und Scherben des Windspiels vorsichtig auf und wickelte sie in das Tuch. Pedro erschien in einem tropfenden Regenmantel und meldete, daß er die Garagentür nach oben geschoben und gesichert hätte.

Charlotte wollte gerade gehen, als Yolanda sie an der Küchentür zurückhielt. »Für Sie«, sagte sie und drückte ihr etwas in die Hand. »Sehr alt.« Yolanda stammte aus Chiapas in Mexiko und hatte Mayablut in den Adern. Charlotte erkannte einen kleinen Talisman, ein Stück grüner Jade, in der Form einer schlafenden Schlange.

»Sehr viel Glück, sehr alt«, beteuerte Yolanda.

Doch noch während Charlottes Finger sich um die kleine Reliquie schlossen, fragte sie sich, ob ihr das Glück endgültig abhanden gekommen war.

3

Als Charlotte in den Joshua-Tree-Drive einbog, wo sich die unauffälligen Gebäude des Harmony-Wissenschaftsparks in ein riesiges Gelände mit weitläufigen Rasenflächen, Palmen, felsigen Wasserfällen und einem See, auf dem der Regen weiße Schaumkronen aufpeitschte, einfügten, fuhr sie langsamer.

Das große Schild »Harmony Biotec Laboratorien« und das kleinere »Harmony – Naturprodukte« waren ebenso unauffällig wie die Gebäude selbst. Die Reichen und Vornehmen, die die Golfplätze und exklusiven Ferienanlagen von Palm Springs besuchten, wollten nicht an Krankheit und Sterblichkeit erinnert werden.

Als erstes kam Charlotte an dem Gebäude vorbei, in dem Laboratorien und Produktion untergebracht waren. Sie sah Angehörige der Ortspolizei in gelben Regenjacken, die die Zugänge absperrten und die Menschen am Eindringen hinderten. Vor dem Hauptgebäude bemerkte sie erschrocken, daß mehrere Nachrichtenteams und Übertragungswagen sowohl der örtlichen Radiostation als auch der drei lokalen Fernsehsender sowie von CNN auf dem Parkplatz standen. Bevor sie aus dem Auto stieg, sprach sie ein stilles Gebet für das unschuldige, verlorene Leben. Sie spürte Stiche im Herzen, wenn sie daran dachte, daß ihre Firma, die ausschließlich dem menschlichen Wohlbefinden und dem Schutz des Lebens dienen sollte, drei Menschen getötet hatte. Sie war froh, daß ihre Großmutter diese Schande und Entehrung nicht mehr miterleben mußte.

Dann sah sie die unter Regenschirmen zusammengedrängten Demonstranten, die Schilder mit zornigen Aufschriften hochhielten. Desmond hatte recht, irgendwie waren sie an das Bild gekommen. Aber das war auch nicht weiter verwunderlich, denn das Nachrichtenfoto, vor acht Jahren aufgenommen, war der Öffentlichkeit jederzeit zugänglich. Das Problem lag darin, daß das Bild nicht die wahre Geschichte zeigte. Man hat mich freigesprochen! hätte Charlotte am liebsten laut geschrien, als sie den Blick von ihrem schwarzweißen Abbild losriß, auf dem sie mit erhobenen, blutigen Armen dastand, das Gesicht wutverzerrt.

Sie stieg aus der Corvette und merkte, wie der Wind umschlug und ihr den Regen in die Augen trieb, zugleich aber einen zarten Hauch köstlicher Düfte aus der nahen Kantine herüberwehte. Obwohl Harmony viele Amerikaner angelsächsischer und lateinamerikanischer Abstammung beschäftigte, war das Essen hauptsächlich chinesisch, eine Tradition, die Charlottes Großmutter, überzeugt davon, daß Nahrung ebenfalls heilende Kräfte besaß, vor langer Zeit begründet hatte. Heute abend gab es für die Abendschicht geschmorten Kabeljau, zubereitet mit dangshen und huangqui – chinesische Kräuter, die die körperliche Energie verstärkten und die Verdauung förderten.

»Mrs. Lee!« riefen die Reporter durch den Regen und streckten ihr die Mikrophone entgegen, während sie auf das Hauptgebäude zueilte. »Glauben Sie immer noch, daß es sich um einen Zufall handelt? Bei drei Todesfällen?« Wortlos drängte sie weiter. Ein Reporter versperrte ihr den Weg. »Was ist mit den Behauptungen, daß Ihr Unternehmen für manche Produkte tierische Bestandteile von bedrohten Arten verwendet?« Charlotte starrte den Mann verblüfft an. Dann ging sie einfach wortlos an ihm vorbei und flüchtete in die schützenden Arme von Desmond, Senior Vice President und Marketingchef. Desmond war ihr Cousin. Früher wäre er auch gern ihr Geliebter gewesen. Sie hatte den Verdacht, daß es immer noch so war.

»Das ist ein Alptraum!« sagte er und schob sie hastig durch die weiträumige Eingangshalle, wo die Männer vom Werkschutz dafür sorgten, daß niemand sonst hereinkam. »Guter Gott, du bist ja weiß wie ein Laken!«

»Ich hatte einen Unfall, Des.« Rasch berichtete sie von dem Vorfall mit der Garagentür.

»Heilige Scheiße, Charlie! Bist du in Ordnung?« Seine hinter einer Ray-Ban-Sonnenbrille verborgenen Augen suchten fieberhaft nach aufschlußreichen Anzeichen für ihre körperliche Verfassung.

»Ich war ziemlich geschockt, aber jetzt geht es mir wieder gut.«

»Ist von der Corvette noch etwas übrig?«

»Das ist ja das Unheimliche an der Sache, Des. Ich saß nicht in der Corvette. In letzter Minute hatte ich mich für den Chevy entschieden. Hätte ich die Corvette genommen, wäre ich wahrscheinlich schwer verletzt worden, vielleicht sogar tot.«

»Heilige Scheiße«, wiederholte Desmond, diesmal leiser. »Wenn die Götter je über dir gewacht haben, dann heute abend.«

»Des, was ist das für eine Geschichte von illegalen tierischen Bestandteilen in unseren Produkten?«

Charlotte fiel auf, daß Desmond einen gehetzten Eindruck machte, ganz untypisch für ihn, der sonst dermaßen sorgfältig auf sein Äußeres achtete, daß es, wie sie häufig fand, fast schon an Besessenheit grenzte. Das beunruhigte sie nur noch mehr.

Wenn Desmond sich so aufregte, daß er nicht mehr darauf achtete, ob sein Haar perfekt gekämmt war, hieß das, daß die Neuigkeiten sogar noch schlimmer sein konnten als sie vermutete.

»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Anscheinend haben mehrere Fernsehsender und größere Zeitungen einen anonymen Hinweis erhalten. Nun geht das FDA der Anschuldigung nach, wir mischten Tigerpenis in unseren Tee!«

Sie näherten sich den Fahrstühlen. Desmonds Stirnfalten vertieften sich und entstellten seine ebenmäßigen Gesichtszüge.

»Das ist noch nicht alles«, fuhr er fort. »Der Bundesagent, der die beiden anderen Fälle bearbeitete …«

»Ja. Johnson.«

»Den hat man abgezogen. Rate mal, wer seine Aufgabe übernommen hat.«

Charlotte brauchte nicht zu raten. Desmonds unglückliches Gesicht verriet ihr alles. Valerius Knight, ein Agent der Bundesbehörde für Ernährung und Gesundheit – des FDA –, der an seiner Karriere baute, indem er gezielt Hersteller von Naturheilmitteln angriff. Das waren schlechte Aussichten.

»Was ist mit Adrian und Margo?« fragte sie.

Desmond nutzte die Wartezeit vor dem Fahrstuhl dazu, seine äußere Erscheinung in Ordnung zu bringen – er fuhr sich mit den Fingern durch das braune, ein wenig zerzauste Haar und strich den schwarzen Merinopullover mit dem V-Ausschnitt und die schwarze Nylonhose glatt. Charlotte bemerkte, daß sein schwarzer Ledermantel trocken war. Er war also noch nicht draußen gewesen, um sich den Reportern zu stellen. Jetzt nahm er sich sogar noch einen Augenblick Zeit, um seine goldene Halskette in eine vollendete Rundung zu legen. »Mutter und Vater sind auf dem Weg hierher«, antwortete er. »Sie kommen mit dem Firmenjet.«

Charlotte betrachtete ihr Spiegelbild in den glänzenden Fahrstuhltüren. Sie wußte, daß sie mit ihren regennassen am Kopf klebenden, langen, schwarzen Haaren nicht wie die Vorstandsvorsitzende eines Naturheilmittel- und Pharmaziekonzerns mit Millionenumsätzen aussah. Ihre Züge waren so angespannt, daß die asiatischen Wangenknochen, die normalerweise nicht auffällig waren, jetzt stark hervortraten und ihre Haut eine Blässe angenommen hatte, die an die uralte Elfenbeinfigur der Göttin Kwan Yin in ihrem Büro erinnerte. Charlotte wirkte jetzt bei weitem nicht mehr so amerikanisch wie sonst. Sie hatte dunkle Augenringe von einer Woche voll schlafloser Nächte. »Geheimnisvolle Augen« hatte Jonathan sie einmal genannt, vor langer Zeit, weil es Augen waren, die verborgenes Wissen hüteten, Dinge, die niemand sonst wußte, bis hin zu der Tatsache, daß Charlotte nicht ihr echter Name war.

Sie schaute hinüber zu dem anderen Gesicht, das sich in dem polierten Chrom spiegelte. Desmond war ein gutaussehender Mann mit ebenmäßigen Zügen und einem sorgsam gepflegten Äußeren. Auch er hatte Geheimnisse. Charlotte fragte sich, ob das der Grund dafür war, daß er immer eine Sonnenbrille trug, selbst jetzt, wenn es draußen dunkel war und es in Strömen regnete.

»Herr Jesus«, knurrte Desmond und drückte ungeduldig wieder den Fahrstuhlknopf. »Das ist ja unglaublich! Ich sage dir, die Sache ist noch schlimmer als die damals, als du von den Außerirdischen entführt worden bist.« Gleich darauf sah er sie betreten an. »Tut mir leid. Schlechter Scherz.«

Aber er hatte es nicht scherzhaft gemeint, sondern, das wußte Charlotte, genau so, wie er es gesagt hatte. Desmond hatte noch nie eine Gelegenheit ausgelassen, auf einen Vorfall anzuspielen, der ihn die letzten vierundzwanzig Jahre lang beschäftigt zu haben schien.

Sie war damals fünfzehn Jahre alt gewesen und Des vierzehn. In diesem Sommer war Charlotte auf rätselhafte Weise für drei Wochen verschwunden und hatte hinterher niemandem erzählen wollen, wo sie gewesen war. Desmond fragte immer wieder: »Hat dich mein lüsterner alter Großvater wirklich verführt, wie alle behaupten?« Dann fing er an, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen und alberne Bemerkungen zu machen: »Nein, das kann nicht sein. Du bist bestimmt von Außerirdischen entführt worden.«

Charlotte konnte es nicht fassen. Jetzt, nach soviel Jahren, mitten in einer Firmenkrise, wollte Desmond immer noch wissen, wo sie in jenem Sommer gewesen war. Dabei ahnte er nicht einmal, daß er der Wahrheit um vieles näher war, als er dachte: sie war tatsächlich entführt worden.

»Erzähl mir alles über diesen neuen Vorfall«, bat sie, während sie in den zweiten Stock fuhren. Dort befanden sich die Büros der Firma.

»Die vorläufige Analyse der vor Ort gefundenen Kapseln …«

»Nein.« Sie legte ihm sacht die Hand auf den Arm. »Das Opfer. War es ein Mann oder eine Frau?«

»Eine dreißigjährige Frau. Rechtsanwältin. Geschieden, zwei Kinder.«

»Das ist furchtbar, Desmond. Das macht mich ganz krank.«

»Charlotte, es ist nicht deine Schuld.«

»Kümmert sich jemand um die Kinder? Gibt es Angehörige?«

»Nun … ich muß das noch prüfen. Ich fürchte, ich habe bisher nur an die Firma gedacht. Ich meine, wie zum Teufel konnte Gift in diese Kapseln gelangen?«

Charlotte runzelte die Stirn. »Kapseln?«

»O Gott, stimmt, ich habe es dir ja noch gar nicht gesagt. Es war diesmal nicht das Tonikum. Es war Wonne.«

Der Fahrstuhl kam zum Stehen. Leise öffneten sich die Türen. Aber Charlotte rührte sich nicht vom Fleck. »Wonne? Willst du damit sagen, dieser Todesfall wurde durch ein anderes Produkt verursacht?«

Desmond nickte ernst.

»Um Himmels willen, Des!« Bei der Vorstellung, was das bedeuten konnte, stockte ihr der Atem.

Jeden Tag lieferte Harmony Hunderte von Produkten an Tausende von Drogerien und Gesundheitsläden überall in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt. Die drei Opfer hatten drei verschiedene Mittel angewendet. Wie viele Produkte waren noch betroffen? Alle?

»Setz alle Hebel in Bewegung. Laß sofort alle Harmony-Produkte aus den Regalen räumen!« Sie traten in einen chaotischen Empfangsbereich, in dem Telefone schnarrten und alle Leute gleichzeitig zu reden schienen.

Im Nu war Charlotte von den Leuten umringt, die sie mit Fragen überhäuften. Sie blickte sich nach Bundesagent Knight um. Er war im Besitz entscheidender Informationen, die sie dringend brauchte. Zunächst jedoch blieb sie stehen, um mit einer kleinen, stämmigen Frau in einem nassen Regenmantel zu sprechen. Ein geblümtes Kopftuch umrahmte ihr rundes, asiatisches Gesicht, und ihre Augen waren voller Sorge.

»Sagen Sie Ihren Leuten, daß ich morgen zu Ihnen komme, Mrs. Wong. Und teilen Sie ihnen mit, daß sie keine Angst zu haben brauchen. Alle kriegen weiter ihren Lohn, niemand wird entlassen.«

Sie wußte, daß hinter Mrs. Wongs furchtsamem Blick eine weit größere Frage stand, die Frage nach den versprochenen, erst vor vier Wochen angekündigten Sonderzahlungen.

Tatsächlich hatten diese Zahlungen landesweit für Schlagzeilen gesorgt, bis hin zum Titelblatt des Time Magazine. Charlottes ureigene Idee war die eines neuartigen Gewinnbeteiligungssystems, das auf den moralischen Werten beruhte, die ihre Großmutter sie gelehrt hatte, und in Einklang mit der Tradition stand, daß Harmony seine Mitarbeiter immer wie Familienangehörige behandelte. Als die Gewinne des Vorjahres alle Rekorde gebrochen hatten, wurde der Kuchen nicht nur zwischen ihr und den anderen Mitgliedern der Geschäftsleitung aufgeteilt, sondern Charlotte hatte sich dafür entschieden, die fast tausend Arbeiter und Angestellten des Unternehmens miteinzubeziehen. Einige der Schecks würden sechsstellige Summen beinhalten, so gut war das Ergebnis. Vorstände anderer Unternehmen sahen in Charlottes Plan eine unerwünschte Bedrohung für das herrschende Lohngefüge. Aber sie wehrte die Vorwürfe lediglich mit dem Hinweis darauf ab, daß die Mitarbeiter von Harmony treu und unermüdlich seien und die Fluktuation bei weniger als einem Prozent im Jahr liege.

Die Schecks sollten an diesem Wochenende ausgestellt werden. Aber die neuen Ereignisse stellten das nun in Frage.

Als plötzlich die Lichter zu flackern anfingen und alles aufstöhnte, sagte Charlotte zu Desmond: »Der Wartungsdienst soll schnellstens die Notstromaggregate überprüfen. Es könnte einen Stromausfall geben.«

»Ist schon erledigt.«

Ihre Sekretärin kam herbeigeeilt. »Charlotte, ich habe jemanden von KFWB am Apparat, und KRLA ruft auch dauernd an. Sie wollen eine Erklärung.«

»Vertrösten Sie sie, solange es geht. Margo ist schon unterwegs. Sie wird sich um die Presse kümmern. Haben Sie Mr. Sung gesehen?« Mr. Sung war der oberste Justitiar des Unternehmens.

»Er war vorhin noch hier.«

»Würden Sie ihn bitte für mich suchen?« Charlotte wandte sich wieder an Desmond. »Wir müssen mit einer Produkthaftungsklage rechnen. Ich möchte, daß Mr. Sung sich um diese Dinge kümmert.«

»Reg dich nicht auf, Charlotte. Wir werden beweisen können, daß es sich um Sabotage von außen handelt.«

»Nicht, wenn Valerius Knight den Fall bearbeitet.« Charlotte hatte endlich den Vertreter des FDA entdeckt, der auf der anderen Seite des Raumes stand und alle anderen weit überragte. »Dieser Mann hat eine geheime Abschußliste. Nichts wäre ihm lieber, als Harmony zu vernichten.«

Der leitende Chemiker erschien und rang die Hände. Sein Gesicht war bleich und erregt. »Sie haben mich aus meinem Labor ausgesperrt. Ich muß da unbedingt rein!«

Charlotte legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich will sehen, was ich tun kann. Keine Sorge. Es kommt alles in Ordnung.« Ihre Sekretärin stand noch immer neben ihr. »Finden Sie Mr. Sung. Ich brauche ihn sofort.«

»Es sind noch vier andere Anrufer in der Leitung«, begann die junge Frau und hielt einen Schwung rosa Merkzettel hoch. »Die Via-Tek-Corporation ist dran, und Chang-How-Import. Mr. Lopez von der Gilroy Farm regt sich über irgend etwas auf …«

»Notieren Sie alles und sagen Sie, ich würde jeden zurückrufen, sobald ich mehr wüßte. Desmond – ich muß zu allererst mit Knight sprechen und herausfinden, über welche Informationen er verfügt.«

»Viel Glück«, murmelte ihr Cousin und sah ihr nach, wie sie durch den überfüllten Empfangsbereich eilte.

Sie fand den Agenten in der Nähe des Lagerraums, wo er sich einen Schreibtisch besorgt und seinen eigenen Laptop aufgestellt hatte. Valerius Knight war eine eindrucksvolle Erscheinung, ein hochgewachsener Afroamerikaner mit dichtem, schwarzem Schnurrbart, glattgeschorenem Kopf und tiefer, volltönender Stimme – ein Mann, der dafür bekannt war, daß er das Rampenlicht suchte und die spektakulären Fälle vorzog.

Seine Anwesenheit bei Harmony ließ in Charlottes Kopf die Alarmglocken läuten.

»Agent Knight«, begann sie ohne Umschweife, »was können Sie mir über die Opfer sagen?«

»Ah, Mrs. Lee!« Er schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln. »Ich bin untröstlich, daß wir uns unter diesen Umständen begegnen müssen.«

»Weiß das FDA mit Sicherheit, daß Harmony-Produkte die Todesfälle verursacht haben?«

»In allen drei Fällen war das letzte, was die Opfer zu sich genommen haben, ein Produkt Ihres Hauses. Ich muß jetzt sämtliche Mitarbeiter befragen, die mit diesen Produkten in Berührung gekommen sind, angefangen von den Leuten in der chemischen Herstellung bis hin zu dem Mann, der den LKW zum Großhändler gefahren hat.« Er hielt ihr ein Päckchen Spearmint-Kaugummi hin und bot ihr einen Streifen an.

Charlotte schüttelte den Kopf. »Warum glauben Sie, daß die Verunreinigung der Produkte hier bei uns erfolgt ist?«

»Wir haben mit dem Bruder des letzten Opfers gesprochen.« Er wickelte sorgfältig einen Kaumgummistreifen aus und musterte ihn, als könnte auch er vergiftet sein. »Er sagt, seine Schwester habe immer äußerst sorgfältig darauf geachtet, ob die Sachen richtig versiegelt waren und darauf, daß das Verfallsdatum nicht erreicht war, eben alle diese Dinge. Nun ja, sie war Anwältin.« Lächelnd knickte er das Kaugummi und steckte es in den Mund. »Außerdem fanden wir auf der Küchentheke die Zellophan-Verpackung, und aus der Packung fehlten nur vier Kapseln. Sie hatte also gerade erst eine neue Packung aufgemacht. Falls diese Kapseln manipuliert wurden, nachdem sie Ihr Werk verließen, muß der Täter ein ungewöhnlich gerissener Mensch sein.«

»Was war die Todesursache?«

Knight kaute dezent an seinem Spearmint. »Beim ersten Opfer Herzstillstand. Beim zweiten ein Schlaganfall.«

»Und beim dritten?«

»Das möchten wir im Augenblick noch für uns behalten.«

»Agent Knight, wenn mein Unternehmen verdächtigt wird, habe ich das Recht zu erfahren, woran die Frau gestorben ist.«

Knight dachte einen Augenblick nach. »Gehirnblutung. Schlaganfall. Aber das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«

»Ich kann ein Geheimnis für mich behalten, Agent Knight.«

»Ja, das glaube ich.« Er lächelte.

»Haben Sie irgendeine Verbindung zwischen den drei Frauen herstellen können?«

»Daran arbeiten wir noch. Aber wir ziehen auch Harmony Biotec als mögliches Angriffsziel in Betracht. Haben Sie Drohbriefe erhalten? Anrufe? Geldforderungen?«

»Nein. Nichts dergleichen.«

»Was ist mit …« Er griff in seinen teuer geschnittenen, sportlichen Mantel und zog ein kleines Notizbuch hervor.

»Mit diesem Norman Thurwood, dem Mann, dem Sie seine Pharmaziefirma weggenommen haben?«

»Wir haben ihm nichts weggenommen. Es war ein freundschaftlicher Ankauf.«

»Da habe ich aber etwas anderes gehört. Es hat ihm gar nicht gefallen, daß man ihn herausgekauft hat. Könnte er einen Groll gegen Sie hegen?«

»Agent Knight, Harmony hat niemals Mr. Thurwood gehört. Wir haben nur den Wissenschaftspark und den biomedizinischen Forschungsbereich seines Unternehmens gekauft. Harmony gehört mir, es befindet sich seit Generationen im Besitz meiner Familie. Unsere Produkte gehen auf die Kräuterheilmittel meiner Urgroßmutter zurück.«

»Ja, ich weiß Bescheid über diese sogenannten Heilmittel, Mrs. Lee.« Ein kaltes, unaufrichtiges Lächeln. »Könnte ein Angehöriger Ihres Hauses diese Morde begangen haben?«

»Wir sind eine Familie, Agent Knight.«

»Nein, ich dachte, vielleicht ein Angestellter.«

»Genau das meinte ich. Das Unternehmen ist eine Familie, Mr. Knight. Die meisten meiner Leute sind seit Jahren bei uns. Wir haben hier ein sehr hohes Maß an Firmenverbundenheit.«

»Die Sorte verbundene Mitarbeiter, die auch Informationen zurückhalten oder für ihren Arbeitgeber lügen würde?«

Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, fragte Charlotte: »Liegt die Auswertung der chemischen Analyse schon vor? Wissen Sie, ob es immer derselbe Stoff war, der in allen drei Fällen zum Tod geführt hat?«

»Wir haben die Ergebnisse noch nicht. Ich erwarte sie aber jeden Augenblick. Das erinnert mich daran, daß ich die chemische Formel für Wonne brauche, damit wir einen Vergleich vornehmen können.«

Charlotte musterte ihn scharf. Sie hatte Proben der beiden ersten Produkte angefordert, damit ihre Chemiker unabhängige Tests durchführen konnten, aber das FDA hatte ihr Ersuchen abgelehnt. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie das Rezept bekommen, Agent Knight. Es kann allerdings etwas dauern.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Ich vertraue ganz darauf, Mrs. Lee, daß Sie und Ihr Personal uns bei dieser Untersuchung nach besten Kräften unterstützen werden, und zwar so schnell es geht.«

Charlotte wollte sich schon zum Gehen wenden, als er hinzufügte: »Soweit ich weiß, Mrs. Lee, hat das FDA Ihre Laboratorien im vergangenen Jahr dreimal inspiziert. Ist das nicht recht ungewöhnlich?«

Sie sah ihm gerade ins Gesicht. »Agent Knight, unsere Produkte werden unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen hergestellt, die weit über das hinausgehen, was das FDA verlangt. Von jeder Rohstofflieferung, die hier im Werk eintrifft, werden Proben genommen und getestet, bevor eine Weiterverarbeitung stattfindet. Anschließend produzieren wir nach exakt geführten Auflagenprotokollen, wobei qualifizierte Chemiker und Pharmazeuten bei jedem einzelnen Verfahrensschritt messen, prüfen und nochmals prüfen. Danach werden von jeder Produktionsgruppe Stichproben gezogen, die untersucht und genehmigt werden müssen, bevor der Versand an Drogerien und Gesundheitsläden erfolgt. Wir sind kein Hinterhofbetrieb, Agent Knight.«

»Nun, das habe ich auch nie behauptet …«

»Es ist kein Geheimnis, daß das FDA und Harmony unterschiedliche Standpunkte vertreten. Man hat Druck auf uns ausgeübt, wir sollten klinische Tests an Tieren vornehmen. Und Harmony lehnt Tierversuche grundsätzlich ab.«

Sein Lächeln war einem höhnischen Grinsen verdächtig ähnlich.

»Ja, ich weiß, wie Sie zu Tierversuchen stehen.«

Charlotte wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Es war eingetreten, was sie immer befürchtet hatte: Man hatte die Chalk-Hill-Geschichte wieder ausgegraben und machte nun Gebrauch davon, angefangen bei den Plakaten der Demonstranten draußen bis hin zu dieser Anspielung Knights. Dieses alte Bild würde ihr und dem Unternehmen großen Schaden zufügen. Und noch schlimmer, irgendein hartnäckiger Reporter konnte vielleicht noch andere, dunklere Geheimnisse ans Tageslicht bringen, Dinge, die besser verborgen blieben.

Plötzlich hörten sie laute Stimmen in der Nähe der Nottreppe. Es wurde nach dem Sicherheitsdienst gerufen, und Desmond schrie: »Schaffen Sie die verdammte Kamera hier raus!«

Als wieder Ruhe eingekehrt war, fragte Knight: »Was ist mit diesem neuen Präparat – GB4204?«

Charlotte sah ihm in die Augen und versuchte, die versteckte Drohung darin zu finden. »Was soll damit sein?«

»Ich habe erfahren, daß zwei andere Firmen einem geheimen Beratergremium ähnliche Rezepturen vorgelegt haben.«

Sie hob die Brauen. »Wollen Sie andeuten, daß diese Todesfälle auf Wirtschaftssabotage zurückzuführen sind?«

»Oder auf etwas, das diesen Anschein erwecken will. Zum Beispiel ein Insider in Ihrem Unternehmen, der damit diese beiden anderen Pharmaziefirmen in Mißkredit bringen will.« Er zuckte die Achseln und ergänzte rasch: »Aber wahrscheinlich irre ich mich.« Er ließ ein gewollt bescheidenes Lächeln aufblitzen, das Charlotte keine Sekunde lang täuschte.

Sie betrachtete ihn noch einmal genau, um den Mann, von dem sie schon soviel gehört hatte, richtig einzuschätzen – ein Mann, wie es hieß, von ungeheurem Ehrgeiz, ein Außenseiter unter den Bundesagenten, der angeblich über Leichen ging, wenn es seiner Karriere nützte. Sein persönlicher Rachefeldzug galt den Herstellern von Naturheilmitteln. Auf sein Konto ging es, daß zwei kleinere Unternehmen schließen mußten, und Charlotte hatte den Verdacht, daß die Vernichtung von Harmony das Sprungbrett sein sollte, das er zur nächsten Beförderung brauchte.

»Wollen Sie den Betrieb dichtmachen?« fragte sie unverblümt.

»Nur vorübergehend.« Sein Lächeln war immer noch so charmant, als stehe er auf ihrer Seite. »Nur so lange wie nötig.«

»Dann entschuldigen Sie mich jetzt bitte, Agent Knight, ich muß mich um eine Menge Dinge kümmern. Meine Sekretärin wird Sie mit allem versorgen, was Sie brauchen.«

»Schon in Ordnung. Machen Sie nur weiter. Ich bleibe hier.«

Sie fand Desmond im Gespräch mit Mr. Sung. Desmond wirkte erregt, und der ältere Mann erwiderte seinen Blick mit undurchsichtiger Miene. Charlotte nahm ihren Cousin beiseite.

»Desmond … laß Radio- und Fernsehspots machen, die die Leute davon in Kenntnis setzen, daß es ein Problem mit Harmony-Produkten gibt. Sie sollen sie nicht kaufen und bereits Gekauftes nicht benutzen. Und sorg dafür, daß alles aus den Regalen geräumt wird.«

»Was ist mit den Mitarbeitern?«

»Wir behalten eine Notbesatzung und schicken alle anderen in bezahlten Urlaub.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist schlecht, Charlotte. Sehr schlecht.«

»Und sag diesen Reportern, daß ich eine Erklärung vorbereite.« Sie hielt inne und legte ihm die Hand auf den Arm. »Gib mir ein paar Minuten, ja? Ich muß mich erst einmal sammeln. Und«, sie sah sich nach Agent Knight um, der gerade seinen Laptop an eine Wandsteckdose anschloß, »sieh zu, daß er beschäftigt ist. Nur, was immer du tust, unterstütze ihn nicht. Ich habe das sichere Gefühl, daß er hier ist, um uns und die Firma ans Messer zu liefern. Er wird die Tatsachen so verdrehen, daß es aussieht, als seien wir an allem schuld. Das hat er in den anderen Fällen auch so gemacht.«

Desmond verschwand in der Menge, und Charlotte wandte sich Mr. Sung zu, der geduldig am Rande des Chaos stand und gelassen das Bild betrachtete. Er war ein Mann Ende Siebzig und nicht nur der oberste Justitiar der Firma, sondern auch einstiger Berater und enger Freund von Charlottes Großmutter. Er war es gewesen, der ihren Sarg nach Hause gebracht und ihre Großmutter als letzter lebend gesehen hatte.

»Charlotte«, sagte er mit seiner sanften Stimme. »Was für eine Unordnung.«

»Ich werde Ihre Hilfe dringend brauchen.«

Er sah sie traurig an. »Hör nur den Lärm, die Disharmonie. Es gibt nur Unglück hier.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bringe unerfreuliche Nachrichten. Die Familien der Opfer haben unsere Firma verklagt.«

Charlotte stöhnte. Noch vor sechs Tagen war sie ganz oben gewesen. Das FDA hatte kurz davor gestanden, ihre neue Antikrebs-Rezeptur GB4204 zu genehmigen, das Ergebnis eines zwanzigjährigen Traums. Jetzt zerbrach ihre ganze Welt in eine Milliarde von Scherben, die sich nie mehr wieder zusammenfügen ließen, so wie die zerschmetterte Windschutzscheibe des Chevy oder die Splitter des Windspiels, die sie so vorsichtig in ihre Tasche gesteckt hatte, ängstlich, ihr zerstörtes Glück hinter sich zurückzulassen.

Wer konnte der Täter sein? Hegte er wirklich einen persönlichen Groll gegen Harmony? Ein unzufriedener Mitarbeiter? Wirtschaftssabotage? Oder hatte der Killer lediglich Produkte von Harmony als Tatwerkzeug benutzt, ohne daß diese Wahl etwas mit Charlotte oder dem Unternehmen zu tun hatte?

Erst jetzt bemerkte sie, daß Mr. Sung ihr etwas hinhielt. Sie erkannte den Gegenstand sofort. Es war ein kleines Kästchen aus hellem Holz, verziert mit kunstvollen Einlegearbeiten – ein sogenanntes chinesisches Rätselkästchen. Einst hatte es ihrer Mutter gehört.

»Das habe ich seit Jahren nicht gesehen«, murmelte sie verwundert, als sie es entgegennahm. »Ich weiß noch, auf welchem Regal Großmutter es aufbewahrte.« Sie sah ihn verwirrt an. »Warum geben Sie es mir gerade jetzt?«

»Ich dachte, es könnte dir in der Stunde der Not helfen. Und nun, wenn du mich entschuldigst, muß ich mich noch um etliches kümmern. Wenn du mich brauchst, bin ich in meinem Büro, Charlotte«, sagte er liebevoll.

Sie sah ihm nach, wie er den Empfangsbereich durchquerte, ein kleiner, alter Herr, dem jeder respektvoll Platz machte. Dann schüttelte sie vorsichtig das Kästchen. Zu ihrer Überraschung schien etwas darin zu sein.

Sie kehrte dem Chaos, in dem Desmond versuchte, erregte Aufseher und Abteilungsleiter zu beruhigen, Valerius Knight emsig in seinen Laptop tippte und Sekretärinnen mit ihren überlasteten Telefonen kämpften, den Rücken und ging den Korridor hinunter zu ihren Büroräumen.

Die Stille, die sie sogleich umgab, als sie die doppelten Eichentüren öffnete und hinter sich schloß, wirkte wie ein Wundermittel. Sie sah auf die Statuen zu beiden Seiten der Tür: Äskulap, der griechische Gott westlicher Heilkunst, auf dessen Sockel geschrieben stand: »Vor allem nicht schaden.« Hippokrates. Und Kwan Yin, die chinesische Göttin der Barmherzigkeit: »Grobe Hände schaffen grobe Heilmittel.« Meiling. Charlotte richtete im Geist ein kurzes Gebet an die beiden alten Gottheiten und flehte um Weisung und Kraft.

Abgesehen von Kwan Yin hatte die Ausstattung von Charlottes in Grau und Burgunderrot gehaltenem Büro nichts Asiatisches. Ganz und gar amerikanische Unternehmenskultur, ein Eindruck, den Charlotte absichtlich förderte. Die meisten Menschen, die ihr zum ersten Mal begegneten, wußten nicht, daß sie Viertelchinesin und ihr Name Lee nicht amerikanisch war, sondern seine Wurzeln in Südchina hatte. Es war auch Charlotte gewesen, die, als sie nach dem Tod ihrer Großmutter vor sechs Monaten die Stellung der Vorstandsvorsitzenden geerbt hatte, das Gewicht des Unternehmens von der Herstellung chinesischer Naturheilmittel auf die Erforschung und Entwicklung westlicher Pharmazeutika verlegt hatte. Auch die Namensänderung von »Haus der Harmonie« in »Harmony Biotec« stammte von ihr.

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Alle zehn Leitungen waren belegt, zeigte das Display an. Sie würde die Anrufe von ihrer Sekretärin entgegennehmen lassen. Im Augenblick hatte sie Dringenderes zu tun.

Zuerst jedoch ging sie hinüber zur Getränkebar, wobei sie sich zu langsamen, bedächtigen Bewegungen zwang. Trotz der zwei Tabletten von vorhin zitterten ihre Nerven von dem Unfall mit der Garagentür noch nach. Und wenn ich in der Corvette gesessen hätte? Sie goß Wasser in den Elektrokocher und nahm eine besondere Tasse und Untertasse heraus, geformt aus feinstem Knochenporzellan und verziert mit Glückssymbolen. In die Tasse legte sie ein kleines, mit Kamillenblüten gefülltes Stoffbeutelchen und wartete darauf, daß das Wasser kochte. Inzwischen atmete sie langsam ein und aus und machte mentale Übungen, um ihr jagendes Herz unter Kontrolle zu bringen und ihre Nerven zu beruhigen.

Während ihr Atem langsamer ging, legte sie die Hand auf die Halskette, die genau unter ihren Schlüsselbeinen lag. Es war eine silberne Kette mit Amethystperlen, an der ein Anhänger aus der Shang-Dynastie befestigt war. Er bestand aus Silber und einem goldenen Bernsteintropfen und war eigentlich ein Medaillon. Vor vierundzwanzig Jahren hatte Charlotte etwas hineingelegt und mit den Tränen einer Fünfzehnjährigen versiegelt. Seitdem hatte sie es nie wieder geöffnet.

Als das Teewasser kochte, goß sie es in die Tasse. Sofort besänftigte das Aroma des aufsteigenden Dampfes ihr Gemüt und weckte eine Erinnerung an längst vergangene Tage – an ihre Großmutter, die eine ganze Serie unterschiedlicher Teekannen besessen hatte, jede für einen anderen Zweck: »Für den Tee, der Mißverständnisse verhindert«, »Für den Tee, der Glück bringt«, »Für den Tee, der das chi verbessert«. Wie oft hatte ihre Großmutter mit Charlotte geschimpft, weil sie ihr gesamtes Teewasser immer im selben Kessel kochte und dann Tee in einem Beutel an einer Schnur hineintauchte. Ganz großes Unglück. Als dann Instant-Tee in den Regalen der Supermärkte auftauchte, hatte Charlottes Großmutter erklärt: »Absolut wertlos.«

Ein jäher scharfer Schmerz durchzuckte Charlotte. Sie sah auf die Kwan-Yin-Statue und versuchte sich zu erinnern, was ihre Großmutter ihr einmal über eine andere Figur der Himmelskönigin erzählt hatte. Aber ihr fiel nur noch ein, daß es eine seltsame, exotische Geschichte gewesen war, in der die Göttin aus weiter Ferne über das Meer gekommen war, den Körper voller verborgener Schätze, und wie Kwan Yin zuerst Glück und später Unglück gebracht hatte. Aber das hatte ihre Großmutter nicht weiter ausgeführt, die Erzählungen von Glück und Unglück hatte sie für sich behalten, was Charlotte auf die Idee brachte, das Grab ihrer Großmutter müsse recht vollgestopft sein, so viele Geheimnisse hatte sie mit hineingenommen.

Sie stellte die Schachtel mit den Teebeuteln an ihren Platz zurück. Dabei fiel ihr Blick auf das Etikett mit der Warnung: »ACHTUNG! Dieses Produkt enthält Kamille, ein Pflanze der Kreuzkrautfamilie. Kamille kann allergische Reaktionen oder Asthmaanfälle hervorrufen.« Sie dachte an Agent Knight und eine Bemerkung, die er einmal in der Sendung »Nightline« gemacht hatte: »Naturmedizin ist weiter nichts als Quacksalberei und eine Methode, ahnungslose Menschen um ihr sauer verdientes Geld zu bringen. Die Mittel sind außerdem gefährlich, weil ihre Hersteller die Verbraucher nicht vor eventuellen schädlichen Nebenwirkungen warnen müssen.«

Harmony war der einzige Naturheilmittelproduzent in den USA, dessen Etiketten Warnhinweise enthielten, eine Sache, die das FDA von Erzeugern nichtchemischer Arzneistoffe bislang noch nicht verlangte. Harmony war außerdem dafür bekannt, daß es in seiner Sorgfalt über die Richtlinien der Bundesbehörde hinausging. Ein hohes moralisches und ethisches Niveau war Teil der Firmengeschichte.

Im Gegensatz zur Behauptung des Reporters verwendete Harmony keine tierischen Bestandteile in seinen Produkten und führte auch keine Tierversuche durch, und dabei würde es trotz wachsenden Drucks der Regierung auch bleiben.

Charlotte begann, in kleinen Schlucken ihren Tee zu trinken. Plötzlich hielt sie stirnrunzelnd inne.

Wonne.

Sie stellte die Tasse ab, griff in den Schrank und holte eine andere Schachtel heraus. Wonne war eine Kräutermischung, naturrein und unschädlich, die dem Etikett nach für »die Beruhigung strapazierter Nerven und ein ausgewogenes Gleichgewicht von Yin und Yang« sorgte. Es bestand hauptsächlich aus dong quai, chinesisch für »zur Rückkehr gezwungen«, einem Frauenkraut, das speziell für die weibliche Gesundheit angebaut wurde. Charlotte nahm an Tagen, an denen sie ruhige Nerven brauchte, oft zwei Kapseln davon zum Tee.

Das unschuldige Opfer, das dieses Präparat eingenommen hatte, suchte nach Frieden. Was es fand, war Tod. Warum?

Charlotte merkte, daß erneut Wut in ihr aufwallte. Nach Fassung ringend, führte sie die Tasse an den Mund. Ihr Blick fiel auf das Rätselkästchen, das ihr Mr. Sung gegeben hatte. Sie nahm es in die Hand und schüttelte es noch einmal. Kein Zweifel, etwas war darin. Und doch hätte sie schwören können, daß es jahrelang leer im Regal ihrer Großmutter gestanden hatte.

Als sie die Tasse absetzte und das Kästchen in den Händen drehte, um nach der Stelle zu suchen, an der man es öffnen konnte, erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit – der Computer auf ihrem Schreibtisch. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Der Monitor war eingeschaltet. Sie erinnerte sich genau, daß sie ihn beim Verlassen des Raumes abgestellt hatte.

Sie steckte das Rätselkästchen in ihre große Ledertasche und ging zum Schreibtisch. Dort sah sie, daß der Bildschirm ihren privaten E-Mail-Briefkasten zeigte. Das Postfach für neu eingegangene Nachrichten war geöffnet – eine Datei, zu der nur über ein geschütztes Paßwort der Zugang möglich war, das allein Charlotte kannte.

Sie wählte die Option LESEN.

Eine Mitteilung erschien:

»Du hast diese drei Frauen getötet, Charlotte. Du bist ihre Mörderin.«

4

Charlotte starrte fassungslos auf die Worte. Dann setzte sie sich schnell hin und klickte in der Symbolleiste auf LESEN und dann auf ALLE KENNZEILEN ANZEIGEN.

Rückweg: [email protected]

Empfangen: von nova.unix.com([email protected]

[156.15.1.0]

Bemerkung: Diese Nachricht stammt nicht von dem in der »Von«-Zeile angeführten Absender.

der internet-provider übernimmt keine verantwortung für den inhalt

dieser von ihm nicht genehmigten sendung

x-pmflags:2 244 560

Charlottes Gesicht verfinsterte sich. Was zum Teufel war das? Ein Streich, den man ihr spielte? Wer hatte ihren Computer angeschaltet, ihr Modem angewählt, so daß der Computer online war, den Zugang zu ihrem elektronischen Briefkasten hergestellt und ihn dann auf Empfang eingestellt?

Gerade, als sie nach dem Telefonhörer griff, ertönte das Signal für eingehende Post, das auf neue Nachrichten aufmerksam machte. Sie klickte auf »Neueingang« und las die Überschrift: »Ich schon wieder.« Sie klickte darauf und holte den Text der Mitteilung auf den Bildschirm.

»Nur ein kleiner Scherz! Natürlich hast Du diese Frauen nicht getötet. Ich war es. Und wenn Du glaubst, ich will Dich verkohlen, hier ist der Beweis: die Frau, die Wonne geschluckt hat, starb an einer Gehirnblutung. Eine der Öffentlichkeit nicht zugängliche Information, von der nur die FBI-Leute wissen – und selbstverständlich ich, der Killer.«

Schon war Charlotte aufgesprungen und zur Tür hinausgelaufen. Am Ende des Korridors sah sie, daß im Empfangsbereich noch das gleiche Chaos herrschte wie vorhin. Auf den in Reihen angeordneten Sekretärinnenschreibtischen war fast jedes Computerterminal in Gebrauch. Sie konnte sogar Mr. Sung durch seine ein Stück geöffnete Tür erkennen, wie er gedankenvoll auf seinen Monitor schaute. Ihr Blick suchte Valerius Knight. Sein Laptop-Bildschirm leuchtete, aber der Bundesagent war nirgends zu sehen.

Sie ging in ihr Büro zurück, setzte sich vor ihren Computer, wählte die Option ANTWORT und tippte hastig: »Wer sind Sie?« Dabei hämmerte sie so zornig in die Tasten, daß sie sich verschrieb und noch einmal zurückgehen und die Worte korrigieren mußte. Sie klickte auf SENDEN und wartete, während die Nachricht an ihren Postversender ging. Gleich darauf erschien eine Warnung auf dem Bildschirm.

e-mail-versand-abteilung:

Ihre Nachricht konnte nicht weitergeleitet werden.

Empfänger nicht zu ermitteln.

Sie tippte wieder: »Was wollen Sie?«, klickte auf SENDEN und biß auf ihre Unterlippe, während sie auf den Schirm starrte.

Aber auch diese Anfrage kam als unzustellbar zurück.

Sie stand auf. Es konnte sich nur um einen Verrückten handeln. Jemand, der ihre mißliche Situation für sich ausnutzte, die Sorte Schweinehund, vermutete sie, die sich an Unfallorten an die Opfer heranmachte. Sie würde es Agent Knight erzählen und ihm die Weiterverfolgung überlassen, da es dem Mann oder der Frau offensichtlich gelungen war, an nicht allgemein zugängliche Informationen heranzukommen.

Gleich darauf erklang erneut der Alarmton, und eine neue Botschaft erschien auf dem Monitor:

»Ärgerliche Sache mit Deiner Windschutzscheibe. Nur gut, daß Du den Wagen gewechselt hattest.«

Charlotte stand wie angewurzelt.

Die Nachricht ging weiter.

»Kommen wir zum Geschäft, Charlotte. Du wirst eine öffentliche Erklärung abgeben. Darin wirst Du zugeben, daß Harmony sich sittenwidriger Methoden bedient, gefährdete Tierarten für seine Produkte mißbraucht und die Allgemeinheit wissentlich betrügt. Wenn Du dieser Anweisung nicht folgst, bist Du allein für alle Konsequenzen verantwortlich.«

Sie hatte sich noch nicht von dem Schock erholt, als noch ein weiterer Satz erschien:

»Du hast genau zwölf Stunden Zeit, um deine Erklärung vorzubereiten.«

Die Augen auf den Bildschirm geheftet, fühlte Charlotte, wie sie zu Eis erstarrte. »Nur gut, daß Du den Wagen gewechselt hattest.«

Sie fuhr immer mit der Corvette, einem kleinen Auto mit zerbrechlicher Fiberglas-Karosserie. Hätte sie sich nicht in letzter Minute für den panzerähnlichen Chevy entschieden, dann wäre sie, als die Garagentür herunterkam … Sie erschauderte. Das plötzliche Rucken des Wagens, das es ihr den Magen umdrehte, der ohrenbetäubende Krach, die überall herumfliegenden Glassplitter.

»Nur gut, daß Du den Wagen gewechselt hattest.«

Was wollte dieser Kerl andeuten? Daß es kein Zufall gewesen war?

Nein. Allein die Vorstellung war schon viel zu schrecklich.

Sie begann zu zittern, und eine trübe Vorahnung beschlich sie. Etwas Böses und Tödliches wollte sie umschlingen, sie konnte fühlen, wie es sich regte, vorwärtskroch wie eine unsichtbare Schlange, aufgebäumt zum Biß.

Sie mußte die FDA-Agenten informieren, Desmond, die Polizei …

Aber ihr Verstand hatte die Entscheidung bereits getroffen.

Der Wandsafe war hinter einem chinesischen Rollbild aus dem neunzehnten Jahrhundert versteckt. Nur Charlotte und Desmond kannten die Kombination. Sie öffnete die Tür und holte ein schmales, in Leder gebundenes Buch heraus. Der goldgeprägte Titel lautete: Silberlorbeerkranz. Preisgekrönte Dichtung 1981.

Charlotte hatte das Buch die ganze Zeit über aufgehoben, aber seit jenem Tag des Jahres 1981, an dem ihre Welt ringsum in sich zusammengebrochen war, nicht mehr hineingeschaut.

Nun schlug sie es auf, hob nur ganz leicht den Deckel an, so daß eine Visitenkarte herausglitt, die sanft wie eine Feder auf den Teppich niederschwebte. Diese Karte hatte sie vor neun Jahren ganz unerwartet mit der Post bekommen. Sie hatte sie in das Buch gelegt und mit ihm eingeschlossen. Sie trug das cremefarbene Stück Karton zum Schreibtisch und hielt es unter die Lampe.

Jonathan Sutherland

Berater für technische Sicherheit

London: 71–683–4204

Edinburgh: 31–667–9663

E-Mail: [email protected]

Die Karte hatte damals eine so schmerzhafte Wunde aufgerissen, daß Charlotte sie sofort weggelegt und sich gezwungen hatte, nicht mehr darüber nachzudenken. Es hatte Jahre gedauert, bis sie endlich so weit war, daß sie nicht täglich an ihn denken mußte, bis sie einen Punkt des Annehmens erreicht hatte, so wie ihre Großmutter es ihr vermutlich auch geraten hätte. Vor langer Zeit hatte sie feierlich geschworen, Jonathan nie mehr in ihr Leben zurückzuholen. Vor neun Jahren hatte sie diesen Schwur erneuert.

Doch nun brauchte sie ihn. Es gab nur ihn, dem sie vertrauen konnte, niemanden sonst, der sich in solchen Dingen so gut auskannte, wie er.

Sie sah wieder auf den Bildschirm des Computers. »Du hast zwölf Stunden Zeit.« Aber Jonathan war 8000 Meilen weit entfernt. Er konnte niemals rechtzeitig hier sein. Vielleicht sollte sie telefonisch seinen Rat einholen, vielleicht konnte er ihr sagen, wie sie dem anonymen E-Mailer auf die Spur kommen konnte, oder vielleicht würde er es sogar dort von seinem eigenen Computer für sie erledigen können.

Während sie nach dem Hörer griff, überschlug sie den Zeitunterschied. In London waren es zwei Uhr morgens. Ihr fiel auf, daß die Karte keine Privatnummer angab. Vielleicht wurden Anrufe automatisch weitergeleitet.

Mit jagendem Puls begann sie zu wählen. Jonathan, nach all diesen Jahren … Würde sie den Schmerz ertragen können? Würde er überhaupt mit ihr reden wollen?

Sie lauschte auf das Läuten des Telefons am anderen Ende – dieses drängende Doppelklingeln, eine britische Eigenart. Sie versuchte sich Jonathan vorzustellen. Er würde neben seiner Frau liegen und schlafen.

Als es leise an der Tür klopfte, dachte sie: Nicht jetzt, Desmond. Gib mir ein paar Augenblicke Zeit, damit ich mich darauf vorbereiten kann, mit Jonathan wieder zu sprechen.

Aber er war hartnäckig. »Komm rein, Des«, sagte sie schließlich.

Die Tür ging auf, und da stand er, im feuchten Regenmantel, auf den Lippen das vertraute Lächeln.

»Hallo, Liebes«, sagte Jonathan.

5

Auf die Woge von Gefühlen, die sie überschwemmte, als sie ihn dort stehen sah, wie aus ihren Gedanken entsprungen, war Charlotte nicht vorbereitet.

Die Liebe, die sie einst für diesen Mann empfunden hatte – eine tiefe, verzweifelte Liebe, nun schon so lange begraben –, kehrte machtvoll zurück, gewaltig wie ein Monsun in Singapur.

»Hallo, Liebes«, hatte er gesagt, und ihr Herz setzte für einen Moment aus. Er nannte sie »Liebes«. Aber dann fiel ihr ein, daß die Ladeninhaber in London, wenn sie einem das Wechselgeld zurückgaben, auch immer sagten: »Hier, Liebes.«

Sie mußte mit aller Kraft an sich halten, um sich nicht in seine Arme zu werfen. Beim Anblick des vertrauten Lächelns fand sie sich jäh in die Zeit zurückversetzt, als sein Mund den ihren zum ersten Mal berührt hatte. Sie und Jonathan hatten in seinem Geheimversteck gesessen, und er hatte geweint. Als sie ihn mit den Worten »Mach dir keine Sorgen, Johnny« getröstet und ihn ungeschickt umarmt hatte, hatten ihre Lippen sich irgendwie getroffen. In dieser Sekunde hatte die fünfzehnjährige Charlotte zwei schmale hohe Kerzen vor sich gesehen, wie Fackeln, die sich zueinander neigten, bis sie zu einer einzigen Flamme verschmolzen, heiß und verzehrend.

Nach diesem jugendlichen Kuß voller Leidenschaft hatten sie und Jonathan sich atemlos voneinander gelöst, weil sie beide die Grenze erkannt hatten, an der sie standen, und sich davor fürchteten. Aber Charlotte hatte das Gefühl gehabt, nur noch die Hälfte dessen zu sein, was sie Augenblicke zuvor noch gewesen war. Es war, als hätte erst Johnny sie zu einem Ganzen gemacht. Ohne ihn würde sie sich nie wieder als Ganzes fühlen.

Und auch Johnny hatte es so empfunden. Er hatte es nicht gesagt, weil Johnny nie fähig gewesen war, seine Gefühle in Worte zu fassen. Aber seine Augen sagten alles. Sie wußten es beide. Charlotte und Jonathan waren verwandte Seelen, und in ihrer Welt konnte es nie andere Menschen geben.

»Ich weiß, ich hätte erst anrufen sollen, ob du meine Hilfe überhaupt willst«, sagte er mit einem dunklen, schwermütigen Blick, der sie an die Leidenschaft vergangener Zeiten erinnerte. »Aber ich dachte, vielleicht lehnst du meine Hilfe ab, und dann hätte ich trotzdem kommen müssen, und es wäre alles ganz peinlich gewesen.«

Er ist sehr britisch geworden, dachte Charlotte. Als ob er es bewußt darauf angelegt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie er sich gegen die Versuche seines Vaters gewehrt hatte, ihn zu einem richtigen Amerikaner zu machen, obwohl Jonathan Sutherland rein technisch gesehen Amerikaner war – so stand es in seiner Geburtsurkunde. Ihr fiel ein, daß es das erste war, was sie über ihn erfahren hatte: daß sein Herz nicht für diesen Erdteil schlug. Deshalb hatte sie sich in ihn verliebt.

»Woher wußtest du, daß ich Hilfe brauche?«

Jonathan schloß die Tür hinter sich, zog den nassen Regenmantel aus und antwortete: »Ich gucke Fernsehen. Als ich von den Todesfällen hörte, habe ich ein paar Telefongespräche geführt.« Ein kurzes, schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich habe immer noch Freunde bei der Agentur. In den ersten beiden Fällen scheint die Verpackung nicht beschädigt gewesen zu sein, bevor die Opfer sie öffneten. Eine vorläufige Grobanalyse der unverdauten Produkte ergab, daß der gesamte Inhalt der Packungen verändert worden war, nicht nur das, was die Opfer zu sich genommen hatten. Ich betrachte das als deutlichen Hinweis dafür, daß die Produkte bereits hier im Werk manipuliert worden sind. Nun weiß ich zufällig«, er stellte seine schwarze Nylonreisetasche auf ihren Schreibtisch und öffnete den Reißverschluß eines Seitenfachs, »daß die chemische Verarbeitung und Herstellung hier bei Harmony vollständig computerisiert ist …«

»Du hast deine Hausaufgaben gemacht«, sagte sie, verblüfft, wie sehr er immer noch die Fähigkeit besaß, die Dinge in die Hand zu nehmen – ein richtiger Mann.

»Darum werden wir den Täter, oder zumindest seine Spuren, irgendwo in eurem Datensystem finden. Und da ich zufällig der absolut beste Computerdetektiv auf diesem Erdball bin …«

»Kannst du es besser als ein Team von Bundesagenten?«

Jonathan lachte auf. »Die Kerle können nicht mal eine Festplatte von einer Schallplatte unterscheiden. Also gut. Was kannst du mir noch über den Fall erzählen?«

Sie sah seinen herausfordernden Blick und verstand, daß es bei Jonathans Erscheinen hier um weit mehr ging als um die Suche nach einem Killer. Jonathan hatte sechsundzwanzig Jahre Geschichte mitgebracht – ihre gemeinsame Geschichte. Charlotte spürte die plötzliche Angst, daß sie im Begriff waren, ein sehr gefährliches Raubtier von der Kette zu lassen.

Sie wollte sagen: »Ich bin froh, daß du gekommen bist.« Aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Statt dessen erzählte sie ihm alles, was sie wußte, auch von dem Unfall in der Garage, und dann zeigte sie ihm die E-Mails.

Finster betrachtete er den Bildschirm. »Wer wußte von der Sache mit der Garage?«

»Meine Haushälterin und ihr Mann. Ich habe es auch Desmond erzählt. Aber jemand könnte uns belauscht haben. Es war bestimmt ein Unfall, Jonathan, und dieser Mensch will mir einfach nur Angst machen.«

Sein Blick war ausdruckslos. »Wozu soll diese öffentliche Erklärung dienen, die du innerhalb von zwölf Stunden abgeben sollst?«

Charlotte studierte sein Profil und erinnerte sich an eine Zeit, in der Jonathan seine große Nase peinlich gewesen war. Aber natürlich war er mit der Zeit in sie hineingewachsen und hatte zudem noch ein kräftiges Kinn und eine Stirn bekommen, die sie immer sexy gefunden hatte. Sein dunkelbraunes Haar war nach wie vor dicht und ohne jegliches graues Haar, obwohl er in Kürze vierzig werden würde. Sein Körper machte einen durchtrainierten Eindruck. »Erpressung, nehme ich an«, antwortete sie und merkte, wie das alte Verlangen in ihr aufwallte. »Eine solche Erklärung würde meine Firma ruinieren. Der Kerl hofft zweifellos, ich würde ihm anbieten, mich freizukaufen.«

»Und die Todesursache beim dritten Opfer, die Gehirnblutung … du bist sicher, daß niemand davon weiß?«

»Agent Knight hat mir gesagt, daß er diese Information zurückhalte. Ich habe nicht einmal Desmond davon erzählt. Wer also außer dem Killer könnte davon wissen?«

»Es gibt Wege, auch an geheime Informationen heranzukommen«, versetzte Jonathan nachdenklich, den Blick auf den Monitor geheftet. »So, so«, sagte er leise. »Desmond ist also immer noch in der Firma?«