Lockruf der Vergangenheit - Barbara Wood - E-Book
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Lockruf der Vergangenheit E-Book

Barbara Wood

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Beschreibung

Leyla findet nach dem Tod ihrer Mutter eine Einladung ihrer Familie vor, nach Pemberton Hurst zu kommen. Voller Zweifel und Beklommenheit reist sie; nicht ohne Grund. Denn sie weiß nur, daß dieser Landsitz der Ort ihrer Kindheit ist, aber an die Menschen dort, an ihre Familie kann sie sich nicht erinnern. Überrascht wird sie von ihrer Familie begrüßt und beobachtet, aber willkommen geheißen wird sie nicht. Als Leyla beginnt, nach ihrer Vergangenheit zu suchen, begegnet man ihr mit unverhohlenem Mißtrauen und hartnäckigem Schweigen. Gegen den Widerstand ihrer Familie versucht sie allein, die Wahrheit herauszufinden und den vielen Fragen auf den Grund zu gehen. Lastet auf der Familie wirklich ein Fluch, wie viele Leute behaupten? Warum waren ihre Vettern nicht verheiratet? Muß sie wirklich einem Leben ohne einen liebenden Mann und Kinder entgegensehen? Mutig kämpft Leyla Pemberton um ihre Erinnerungen und stößt dabei auf ein schreckliches Geheimnis …

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Seitenzahl: 392

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Barbara Wood

Lockruf der Vergangenheit

Roman

Roman

Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg

Fischer e-books

1

Als ich im peitschenden Wind endlich vor dem großen alten Haus stand, zweifelte ich plötzlich, ob meine Entscheidung richtig war; denn nicht einmal ein Funke der Erinnerung glomm auf, nicht der Schimmer eines Bildes aus längst vergangenen Tagen erhellte das Dunkel, während ich, mit der einen Hand meinen Hut, mit der anderen meinen Umhang festhaltend, das düstere Gemäuer betrachtete.

Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht herzukommen. Gewiß, dies war das Haus, in dem ich zur Welt gekommen war, hier waren mein Vater und meine Vorfahren geboren, aber hatte ich denn überhaupt einen Anspruch auf dieses Haus und diese Familie, da ich mich noch nicht einmal der Jahre erinnern konnte, die ich hier verbracht hatte, und ebensowenig an die Menschen, die hier lebten?

Die Menschen … Unschlüssig stand ich in dem immer heftiger werdenden Wind und lauschte der Droschke nach, die sich rasch entfernte. Was für Menschen waren das, die hier lebten? Wieso konnte ich mich ihrer nicht erinnern? Wie würden sie mich nach so langen Jahren der Abwesenheit aufnehmen? All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich mit kaltem Gesicht und kalten Händen vor dem ehrwürdigen alten Haus stand.

Der Brief fiel mir ein. Ein Umschlag aus feinem Büttenpapier, mit einer Zwei-Penny-Marke, einer ›Victoria blue‹ frankiert. Er war an meine Mutter adressiert gewesen, und ich hatte ihn ihr, während sie schlief, ins Zimmer gelegt. Am Abend, als ich wieder zu ihr hinaufgegangen war, war der Brief nicht mehr da und meine Mutter hatte ihn mit keinem Wort erwähnt. Ich dachte mir, sie müsse wohl ihre Gründe für ihr Schweigen haben, und da sie zu jener Zeit sehr krank war, hatte ich aus Rücksicht auf sie keine Fragen gestellt.

Ich fand den Brief eine Woche später wieder, als ich nach der Beerdigung ihre Sachen ordnete. Warum sie ihn aufgehoben hatte, werde ich nie erfahren; aber ich weiß heute, warum sie mit mir über seinen Inhalt nicht sprechen wollte. An jenem stürmischen, wolkenverhangenen Tag jedoch, als ich vor Pemberton Hurst aus der Droschke stieg, konnte ich nicht ahnen, auf welch sonderbaren und schweren Weg der Brief mich führen würde.

Hätte ich es gewußt, so wäre ich niemals nach Pemberton Hurst zurückgekehrt.

Auch so kostete mich diese Rückkehr viel Mut, denn viel hatte ich nicht in Händen: einen verwirrenden Brief und undeutliche Erinnerungen an das Wenige, was meine Mutter über diesen Ort gesagt hatte. Während jetzt mein Blick auf das Herrenhaus gerichtet war, sah ich zugleich meine Mutter vor mir, und auf ihrem Gesicht lag jener merkwürdig forschende Ausdruck, mit dem sie mich manchmal angesehen hatte – so als suche sie etwas in meinen Zügen. Als ich sie später einmal danach gefragt hatte, antwortete sie nur: »Du bist eine Pemberton.«

Ich wußte also, daß zwischen mir und diesem Haus eine Verbindung bestand; ich wußte, daß ich früher einmal hier gelebt hatte, und doch hatte ich keine Erinnerung an jene Zeit. Denn meine Mutter hatte in den zwanzig Jahren, in denen wir in ärmlichen Verhältnissen in London gelebt hatten, nur wenig aus der Vergangenheit erzählt.

Mein Zögern an jenem tristen Tag hatte noch einen anderen Grund. Mir gingen die Geschichten und Schauermärchen nicht aus dem Sinn, die ich am Bahnhof und im Dorfgasthaus am Rande gehört hatte. Pemberton Hurst, so schien es, war ein verfluchter Ort. Die Bauern der Gegend munkelten von Spuk und Hexerei. Doch während ich jetzt vor dem grauen Gebäude stand, sah ich nur ein schönes altes Herrenhaus im elisabethanischen Stil, Relikt einer vielleicht besseren Zeit.

Ja, so zeigte sich mir das Haus an jenem zur Neige gehenden Wintertag des Jahres 1857. Es war ein großartiges und beeindruckendes Gebäude, wenn auch düster in diesem Licht, aber so stattlich und nobel, daß es den vornehmen Häusern, die man in der Park Lane in London sehen konnte, in nichts nachstand. Nur der Park war eigentümlicherweise wenig ansehnlich; beinahe wirkte er verwahrlost. Der Vorplatz bot dem Auge kaum etwas, woran es sich hätte erfreuen können: eine mit Kieselsteinen bedeckte Auffahrt, braunes, von Efeu überwuchertes Gitterwerk, welkes Gras und kahle Bäume. Obwohl es nur ein ungepflegtes Stück Land war, hatte es etwas Wildes und Ungezähmtes an sich und vermittelte einen Eindruck trotzig herausfordernder Ungebärdigkeit. Die mächtigen Bäume, deren Äste sich knorrig über die Auffahrt streckten, wirkten wie dunkle Riesen, die im böigen Wind ihre Arme schüttelten. Ihre braunen Blätter fielen raschelnd auf die Beete herab, auf denen tote Blumen ihre Köpfe hängenließen. Vögel kreischten am dunkler werdenden Himmel. Als die Sonne am Horizont verschwand, hatte Pemberton Hurst plötzlich den unheimlichen Charakter, den die Einheimischen ihm zuschrieben.

Mir wurde immer banger, mein Impuls umzukehren immer stärker. Jetzt, da ich nach vielen Jahren wieder hier war, meiner Kindheit gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, hielt mich etwas zurück. In der Geborgenheit meiner kleinen Londoner Wohnung hatte die Vorstellung, das alte Haus wiederaufzusuchen, etwas Verlockendes gehabt. In der Eisenbahn sitzend, hatte ich in Bildern von opulenten Festessen und alten, offenen Kaminen, in denen wärmende Feuer loderten, geschwelgt. Nun aber fragte ich mich ängstlich, ob meine Erwartungen nicht enttäuscht werden würden.

Doch der Drang zur Rückkehr war stärker als meine Ängste. Ich wollte Antworten auf die Fragen, die mich bedrängten, und die, so schien mir, würde ich nur in Pemberton Hurst bekommen. Noch stärker jedoch als meine Neugier war der Wunsch, wieder zu einer Familie zu gehören.

Zwanzig Jahre zuvor, im selben Jahr, als Prinzesssin Victoria zur Königin von England gekrönt worden war, war ich von einem Tag auf den anderen aus meinem Zuhause gerissen, meiner Familie beraubt worden, um von nun an unter Fremden zu leben.

Die Sehnsucht nach einem Zuhause war der wahre Grund meiner Rückkehr an diesem Tag. Ich wollte meine Familie wiedersehen, ganz gleich, wie fremd sie mir vielleicht geworden war; und ich wollte mir meine Vergangenheit zurückerobern, ehe ich in die Zukunft aufbrach.

Langsam stieg ich die breite Treppe hinauf. Vor der schweren Eichentür angekommen, zögerte ich jedoch erneut. Nicht die geringste Erinnerung regte sich. Gehörten nicht Treppen, dachte ich mit einem Blick zurück, zu den liebsten Spielplätzen kleiner Kinder? Wie kam es dann, daß ich jetzt, wo ich hier stand, keinerlei Erinnerung daran hatte, auf dieser schönen alten Treppe mit meinem Bruder Thomas gespielt zu haben? Diese Umgebung hätte doch Bilder der Erinnerungen auslösen müssen; wie kam es, daß mir alles so fremd war, als wäre ich nie in meinem Leben hier gewesen?

Ich ließ die Hand, die schon auf dem schweren Türklopfer lag, noch einmal sinken. Noch konnte ich diesem Haus den Rücken kehren und nach London zurückfahren, wo Freunde auf mich warteten. Ich kannte keinen der Menschen in diesem Haus; ich hatte nicht einmal den Anflug einer Erinnerung, der mir etwas über sie hätte sagen können. Wie würden sie mich aufnehmen, eine Fremde, die ihren Namen trug und von ihrem Blut war? Würden sie mir wie einer Fremden begegnen, oder würden sie mich freudig willkommen heißen und in ihre Arme schließen?

Wieder fiel mir der Brief ein, den meine Großtante Sylvia an meine Mutter geschrieben hatte. In gewisser Weise war er eine Einladung, der zu entnehmen war, daß diese Menschen mich erwarteten. Nun, nach dem Tod meiner Mutter, die hier gelebt hatte, war es meine Pflicht ihr und den Pembertons gegenüber, dem Ruf des Briefs zu folgen.

Vielleicht hätte ich telegrafieren sollen. Vielleicht hätte ich mit einem kurzen Brief ankündigen sollen, daß ich anstelle meiner Mutter kommen würde. Doch ich hatte es für unangemessen gehalten, der Familie den Tod meiner Mutter auf so unpersönlichem Weg mitzuteilen. Und Großtante Sylvia verdiente, auch wenn ich sie nicht kannte, wenigstens eine persönliche Erwiderung auf ihre Bitte.

Ich schluckte die letzten Zweifel hinunter, straffte entschlossen die Schultern und griff zum Türklopfer. Als er dröhnend auf das alte Holz fiel, spürte ich, daß meine Handfläche schweißnaß war.

Es schien mir ewig zu dauern, ehe die Tür geöffnet wurde. Dann aber hörte ich das Knirschen des Riegels, und gleich darauf fiel ein Lichtstrahl auf mich, der so hell war, daß ich einen Moment blinzeln mußte; im nächsten Augenblick sah ich vor mir die dunkle Silhouette einer fülligen Frau.

»Guten Tag«, sagte ich. »Ich bin Leyla Pemberton. Würden Sie bitte meiner Tante Sylvia sagen, daß ich hier bin.«

Die Frau sagte keinen Ton. Ich dachte schon, ich hätte nicht laut genug gesprochen und meine Worte seien im Heulen des Windes und im Seufzen der Bäume untergegangen. Gerade, als ich meine Worte wiederholen wollte, fragte die Frau mit schroffer Stimme: »Sie sind Leyla Pemberton?« Es klang beinahe anklagend.

»Ja. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt meiner Familie melden und mich eintreten lassen würden.«

Augenblicklich wich die Frau zurück, um mir Platz zu machen. Ich eilte ins Haus, ehe der Wind mir den Hut vom Kopf reißen konnte, und glättete geschwind meinen Umhang, um präsentabel vor die Familie treten zu können. Als ich aufblickte, sah ich, daß die Frau immer noch dastand und mich mit offenem Mund ungläubig anstarrte.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte ich leicht beunruhigt.

»Leyla Pemberton?« flüsterte die Frau statt einer Antwort.

Was hatte ich denn so Erstaunliches gesagt? Doch nur meinen Namen. Ich fragte mich, ob auch diese Frau zu der fernen Vergangenheit gehörte, die mir verschlossen war. Hatte ich diese rundliche Person schon in meiner Kindheit gekannt?

»Bitte melden Sie mich meiner Tante Sylvia. Ich denke, sie erwartet mich.«

»Sie sagen, Miss Sylvia erwartet Sie?« fragte sie noch immer irritiert. Sie sprach mit einem leichten deutschen Akzent.

»Aber sicher, ich werde erwartet.«

Das Geräusch schneller Schritte durchbrach die Stille. Mit den Worten, »wer war denn an der Tür?« kam eine zweite Frau auf mich zu; offensichtlich war sie keine Hausangestellte. Als sie mich sah, blieb sie wie angewurzelt stehen.

»Jenny!« flüsterte sie.

»Nein, ich bin nicht Jenny. Ich bin ihre Tochter Leyla.«

Der Blick der zweiten Frau huschte zur Haushälterin, und mir war, als flögen unausgesprochene Worte zwischen ihnen hin und her.

»Leyla?« wiederholte die Frau dann. »Du bist Leyla?«

Ich hatte selten jemanden so überrascht gesehen. Dabei hatte Tante Sylvia doch gewiß im Namen der ganzen Familie geschrieben, und man mußte schon seit einiger Zeit meinen Besuch erwartet haben.

Aber nein, der Brief war ja an meine Mutter gerichtet gewesen, und daher war es meine Mutter, die man hier erwartet hatte.

»Ja, ich bin Leyla, Jennys Tochter. Ihr habt gewiß nicht damit gerechnet, daß ich an ihrer Stelle kommen würde. Verzeiht mir, das war sehr gedankenlos von mir –«

»An ihrer Stelle?« Die zweite Frau zwinkerte ungläubig. »Mein liebes Kind, wir haben weder dich noch deine Mutter erwartet. Das ist wirklich ein Schock«, sagte sie und griff sich mit theatralischer Geste ans Herz.

»Das tut mir leid. Wirklich.«

»Wir dachten, wir würden dich nie wiedersehen! Leyla, Leyla! Mein Gott, ist das eine Überraschung.«

Etwas höflicher und wohlerzogener als die Haushälterin, die mich mit ihren blauen Augen immer noch wie ein Gespenst anstarrte, kam die Frau auf mich zu und bot mir die Hand. Ein dünnes Lächeln spielte um ihre Lippen, und ihre Stimme war warm. Doch die Augen blieben hart.

»Bitte verzeih’ meine Unhöflichkeit.«

»Bist du Tante Sylvia?«

Wieder huschte ihr Blick zur Haushälterin.

»Nein, Kind. Ich bin nicht deine Tante Sylvia. Gott, was für eine Überraschung. Nach all diesen Jahren. Was ist aus der kleinen Leyla geworden.«

Ich hatte mich also getäuscht. Sie war nicht überrascht, mich anstatt meiner Mutter zu sehen; sie wäre genauso überrascht gewesen, wenn meine Mutter selbst gekommen wäre. Es war mir ein Rätsel, warum Tante Sylvia den anderen nichts von ihrem Brief gesagt hatte.

Wir umarmten einander höflich, als spielten wir eine Szene in einem Theaterstück, dann trat ich einen Schritt zurück, um diese unbekannte Verwandte zu mustern, die in mir ein Gefühl diffusen Unbehagens auslöste.

Sie hatte ein reizloses, aber durchaus sympathisches Gesicht mit leicht vorstehenden Augen und trug ein rehbraunes Samtkleid nach der neuesten Mode mit Volants und eng zulaufender Taille. Das Haar war in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden; Korkenzieherlöckchen, die über die Ohren herabfielen, nahmen der Frisur ein wenig die Strenge. Das Grau in ihrem Haar, die Falten um die Augen und die schlaffen Wangen verrieten mir, daß sie nicht mehr jung war; ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. Da ich niemanden von der Familie Pemberton kannte, wußte ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, bot sie mir nochmals die Hand und sagte: »Ich bin Anna Pemberton, deine Tante und die Schwägerin deiner Mutter. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an mich …?«

»Nein. Müßte ich das denn?«

Ihr kleines Auflachen klang gezwungen, aber der Ton war angenehm. Die füllige Haushälterin in ihrer Schürze starrte mich immer noch fassungslos an. Es sah aus, als würde sie sich ohne ausdrücklichen Befehl nicht von der Stelle rühren. Dennoch war es weniger das Verhalten dieser Frau, als das Verhalten von Tante Anna, das mich stutzig machte und beunruhigte: Dieses Lächeln der schmalen, rotgefärbten Lippen war nicht herzlich, es war eine Maske … Trotz des Lächelns, der Umarmung, der freundlichen Worte war Tante Anna überhaupt nicht erfreut, mich zu sehen, das fühlte ich.

»Gertrude, bringen Sie uns den Tee in den Salon.« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, und die Haushälterin eilte davon. »Laß deine Tasche hier. Einer unserer Angestellten kann sie in dein Zimmer hinaufbringen. Du mußt dich erst einmal ein wenig ausruhen. Gott, wie kalt es draußen geworden ist.«

So sehr mich die Aussicht auf ein warmes Zimmer und eine Tasse Tee lockten, ich wollte erst meiner Pflicht Genüge tun. »Kann ich nicht zuerst Tante Sylvia sehen?«

Mir schien es, als ob Anna zurückfuhr. Sie wußte offensichtlich nicht, was sie sagen sollte. Stumm standen wir einander gegenüber, zwei Fremde. Ich konnte mir vorstellen, daß Anna gern gewußt hätte, warum ich hier war, da sie offenbar von Sylvias Brief keine Kenntnis hatte. Gleichzeitig spürte ich, daß sie über Sylvia nicht sprechen wollte; das schien ein heikles Thema zu sein.

»Bitte«, sagte sie schließlich leise, »gehen wir in den Salon. Du wirst von der Reise sicher müde sein. Bist du mit der Eisenbahn gekommen?«

Ich bejahte. »Ich bin mit dem Zug nach Brighton bis East Wimsley gefahren. Von dort habe ich mir eine Droschke genommen.«

Anna schauderte. »Schrecklich, die Eisenbahn. Ich bin selbst nie damit gefahren und werde es auch nie tun. Ich sage immer, wenn es Gottes Wille gewesen wäre, daß wir uns auf diese Weise fortbewegen, hätte er uns mit Rädern ausgestattet.«

Ich mußte lächeln, obwohl mir eigentlich gar nicht danach zumute war. Ich folgte ihr aus der Halle in einen Flur, der durch die Gaslampen an der Decke nur trübe erleuchtet war. Anna ging langsam, und ein Blick auf ihr Gesicht verriet mir, daß sie völlig aus dem Gleichgewicht geworfen war. Während ich neben ihr herging, schaute ich mich um, suchte nach Erinnerungen, aber der düstere Flur blieb mir so fremd wie das elegante Zimmer, in das Anna mich führte.

Lichterglanz und heller Feuerschein empfingen uns, schwere, geschnitzte Möbel und hochgepolsterte Sessel und Sofas. An einer Wand stand ein Klavier. Tischchen mit Blumenvasen, Kerzenleuchtern und dekorativen kleinen Kästchen nahmen den größten Teil des freien Raums ein, so daß ich mich vorsichtig bewegen mußte, um mit meinem ausladenden Rock nicht eine kleinere Katastrophe heraufzubeschwören. Auf dem Kaminsims, umgeben von Nippes und Staffordshire Figurinen stand eine Uhr, deren Zeiger auf kurz vor fünf zeigten.

Nachdem Anna mir den Umhang und den Hut abgenommen hatte, setzten wir uns auf ein Sofa und unterhielten uns über das unfreundliche Wetter. Ich bemerkte, daß Anna mich mit hastigen Blicken von Kopf bis Fuß musterte – die abgetragenen Lederstiefeletten, das schmucklose Kleid mit den altmodisch engen Ärmeln, die schlichte Haartracht. Ich kam ihr wahrscheinlich vor wie eine arme Kirchenmaus, in der Mode von gestern gekleidet. Aber vor allem schien sie mein Gesicht zu fesseln. Ich hatte das Gefühl, daß sie in meinen Zügen etwas ganz Bestimmtes suchte; während sie über das Wetter plauderte, musterte sie es sehr genau – meine dunklen Augen mit den dichten Wimpern, die etwas zu große Nase, den geschwungenen Mund, das feine Grübchen am Kinn. Und während sie mich aufmerksam betrachtete, beobachtete ich sie, wartete auf eine Reaktion, die mir zeigen würde, daß sie entdeckt hatte, was sie suchte.

»So, du bist also gekommen, um uns zu besuchen?« fragte sie, als der Tee gebracht wurde. »Sahne und Zucker?«

Das prachtvolle silberne Service war offensichtlich sehr alt. Ich fragte mich, ob ich früher schon einmal aus diesen Tassen getrunken hatte.

»Weißt du, wir haben so selten Gäste hier, wir sind gar nicht darauf eingerichtet. Wenn wir nur gewußt hätten – nun, du hattest vielleicht keine Zeit zu telegrafieren. Du hättest vom Bahnhof aus keine Droschke zu nehmen brauchen. Wir hätten dir gern einen Wagen geschickt. Dann hätten wir dich auch in passenderer Weise empfangen können. Du weißt gar nicht, welche Überraschung dein Besuch ist.« Ihr silberner Teelöffel schlug klirrend an den Tassenrand. »Das Haus birgt sicher viele Erinnerungen für dich, Leyla.« Beim Teetrinken schien Anna gelöster und lebhafter zu werden. »Wie aufregend muß dieser Besuch für dich sein. Nach so langer Zeit!«

»Ja, sehr aufregend«, sagte ich langsam.

An den Wänden hingen keine Porträts, keine gerahmten Daguerrotypien, die mir einen Hinweis hätten geben können, wie die anderen Angehörigen meiner Familie aussahen. Tatsächlich wußte ich nicht einmal, wie viele Menschen unter diesem Dach lebten, ob sie mich kannten, sich meiner erinnern würden. Ein inneres Gefühl warnte mich davor, Anna wissen zu lassen, daß ich hier fremder war als sie ahnte. Zumindest vorläufig, bis ich sie – und die anderen – besser kannte, wollte ich das für mich behalten.

»Du warst ein entzückendes Kind«, plauderte sie weiter. »Und wie ähnlich du deiner Mutter bist. Wirklich, als ich dich vorhin in der Halle sah, glaubte ich, du wärest Jennifer.«

»Oh – danke.« Ich war wirklich geschmeichelt. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen.

»Aber sag doch –« Sie rührte gedankenverloren in ihrem Tee. »Wie geht es deiner Mutter überhaupt?«

Ich senkte den Kopf. Zwei Monate waren vergangen, aber immer noch war es so schmerzhaft, als wäre es gestern gewesen. »Meine Mutter ist tot.«

»Tot? Oh, das tut mir aber leid!« Schwang da nicht Erleichterung in ihrer Stimme. »Dein Vater und mein Mann waren Brüder. Ich fühlte mich mit ihr immer wie mit einer Schwester verbunden. Wir haben viele vergnügte Stunden zusammen verlebt, deine Mutter und ich.«

Ich sah diese redselige Frau erstaunt an. Niemals, so weit ich zurückdenken konnte, hatte meine Mutter Anna Pemberton erwähnt.

»Dein Onkel Henry wird sich sehr freuen, wenn er dich sieht. Er und Theo – dein Vetter Theodore – haben dich immer mit einem Spitznamen gerufen. Erinnerst du dich? Sie nannten dich Bunny, weil du immer herumgehüpft bist wie ein kleines Häschen. Damals warst du fünf Jahre alt, Leyla. Ja, es ist lange her.«

Nicht die leiseste Erinnerung daran regte sich. Die Jahre bis zu meinem sechsten Geburtstag lagen in tiefstem Dunkel. Es war, als wäre ich in London zur Welt gekommen und nicht hier. Vor vielen Jahren hatte ich in kindlicher Neugier meine Mutter gefragt, warum ich mich nicht wie andere an meine frühe Kindheit erinnern konnte. Die kurze Antwort, die sie mir gegeben hatte, hatte nichts geklärt. »Das liegt an dem, was damals geschehen ist«, hatte sie gesagt und war auf weitere Fragen von mir nicht eingegangen. Danach hatte ich das Thema nie wieder zur Sprache gebracht.

»Und deine Cousine Martha erinnert sich natürlich an dich. Sie war zwölf, als man dich – äh, als du von hier fortgingst.«

Anna schwieg, und ich hatte einen Moment Zeit, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Bildete ich es mir ein, oder war das Verhalten dieser Frau äußerst vorsichtig? Ihre Sprechweise erschien mir verkrampft und zögernd, als fürchte sie ständig, etwas Falsches zu sagen.

Sie ließ noch ein Stück Zucker in ihre Tasse fallen und rührte wieder geräuschvoll um. »Großmutter kann dich jetzt noch nicht empfangen. Du hast also Zeit, dich frischzumachen.«

Ich zog die Brauen hoch. Eine Großmutter hatte ich also auch. Innerhalb weniger Minuten war aus der Waise Leyla Pemberton eine junge Frau mit einer großen Familie geworden.

Anna wandte sich jetzt von mir ab und zwang sich, scheinbar gleichmütig ins Feuer zu blicken, doch ich spürte deutlich, daß sie nicht die gelassene Gastgeberin war, die sie mir vorzuspielen suchte. »Und wenn du deinem Vetter Colin begegnen solltest«, sagte sie jetzt mit einem künstlich scherzhaften Lächeln, »dann solltest du ihm am besten mit einer höflichen Entschuldigung aus dem Weg gehen.«

Ich hatte also noch einen Vetter. »Warum denn?«

»Nun, Colin ist – wie soll ich sagen?« Sie lachte ein wenig. »Er hat eine Neigung zur Exzentrik. Wir haben ihn alle von Herzen gern, aber er schlägt gern einmal über die Stränge, wenn du verstehst, was ich meine. Er hat überhaupt keine Manieren, und es wäre mir gar nicht recht, wenn du ihn vor den anderen kennenlernst. Du wirst ihn natürlich kennenlernen, aber erst später, nach Theodore und Martha.«

»Danke«, sagte ich ohne Überzeugung. Da ich die Frau überhaupt nicht kannte, wußte ich nicht, wie ich ihre Worte auslegen sollte. Wollte sie mich vor Colin schützen oder Colin vor mir?

»Und Tante Sylvia?« fragte ich.

»Warte es ab, Kind. Du wirst die ganze Familie kennenlernen, wie du dir das sicher wünschst. Und wenn sie hören, daß du hier bist, werden sie sich ebenso sehr wünschen, dich wiederzusehen. Nach zwanzig Jahren sind gewiß alle sehr gespannt zu hören, was aus dir geworden ist, Leyla. – Ah, ich sehe, du bist mit dem Tee fertig. Komm, ich bringe dich jetzt in dein Zimmer hinauf. Du wirst müde sein. Dann suche ich Theo. Er wird dich so bald wie möglich kennenlernen wollen.«

Mit raschelnden Unterröcken standen wir auf. Der Feuerschein lag warm auf unseren Gesichtern, während draußen der Wind wilder als zuvor an den Fenstern rüttelte. Ich hatte ein Gefühl, als stünde ich neben mir, als sei dieses elegante Zimmer eine Bühne und ich die Zuschauerin. Ich sah ein warmes, behagliches Zimmer, das mit Geschmack und allen Symbolen des Wohlstandes eingerichtet war. Ich sah zwei Frauen, die einander in stummer Konfrontation gegenüberstanden: teuer gekleidet die eine, mit der selbstsicheren Gewandtheit der Reichen; schlicht und bescheiden die andere. Und in diesem Augenblick fragte ich mich, was, um alles in der Welt, diese beiden Frauen miteinander zu tun hatten.

»Erzähle mir doch etwas aus London, Leyla. Ist die Stadt immer noch so laut und schmutzig? Ich war 1851 das letztemal dort, zur Weltausstellung. Es war eine atemberaubende Woche. Theo, dein Onkel Henry und ich waren fast Tag und Nacht unterwegs, um alles anzusehen; die Westminster Abbey, den Tower, den Zoo im Regent’s Park. Und die unglaublichen Gerichte aus aller Herren Länder, die man uns dort vorsetzte …«

Während ich an ihrer Seite durch das Haus ging, schaute ich mich neugierig um. Die Böden waren mit schweren Teppichen bedeckt, die unsere Schritte dämpften, Gobelins schmückten die Wände. Hohe Topfpflanzen neigten sich aus schattigen Winkeln. Öllampen spendeten flackerndes Licht. Wir stiegen die Treppe zu den oberen Zimmern hinauf, und nirgends hing auch nur ein einziges Familienporträt.

»Wir haben nur in der Halle und in einigen Zimmern Gasbeleuchtung. In London gibt es wohl überall Gas, sogar auf den Straßen, wie ich gehört habe. Theo wollte es unbedingt haben; er behauptet, es sei weniger gefährlich. Aber deine Großmutter ist absolut dagegen. Teufelswerk, sagt sie immer. Sie hat für die modernen Errungenschaften nichts übrig. Sie lebt lieber in der Vergangenheit.«

Warum gab es hier keine Bilder? Warum hing nirgends auch nur das kleinste Porträt eines oder einer Pemberton?

»Ich habe dir das Zimmer ganz hinten auf dem Flur gegeben. Es ist recht komfortabel. Es hat ein Himmelbett und eine dieser neuen Sitzbadewannen aus Paris. Das war Großmutters einziges Zugeständnis an die heutige Zeit – daß man sich jetzt im Schlafzimmer baden kann und nicht mehr in die Küche muß. Ich finde es sehr angenehm. Du nicht auch?«

Ich nickte nur.

»Wir haben jetzt auch Seife. Gott, wie die Zeiten sich ändern. So, da sind wir.«

Anna erzählte immer noch weiter, während wir in das Gästezimmer traten, und ich begann mich zu fragen, ob das endlose Gerede nicht dazu dienen sollte, unangenehme Themen zu vermeiden.

Das Zimmer war sehr schön, mit einer alten Kassettendecke und hohen Fenstern. Spiegel gab es gleich mehrere; ein Toilettentisch stand an der Wand links vom Fenster. Das Himmelbett war bereits aufgeschlagen, und im Kamin brannte ein helles Feuer. Der Porzellankrug auf der Kommode war mit Wasser gefüllt, frische Handtücher lagen daneben. Meine Reisetasche stand auf dem Stuhl neben dem Toilettentisch.

Bemüht, die aufmerksame Gastgeberin zu sein, aber dennoch unverkennbar in großer Eile, ging Anna wieder zur Tür und sagte: »Ich schicke Theo in die Bibliothek. Geh zu ihm hinunter, wenn du fertig bist. Dann könnt ihr euch gleich kennenlernen. Wenn du etwas brauchst, dann läute einfach. Der Klingelzug ist neben dem Bett. Bis nachher, mein Kind.« Sie schickte sich an, die Tür zu schließen. »Ach und – du denkst doch daran, nicht wahr? Colin, meine ich. Wenn du ihm zufällig begegnen solltest – aber nein, das wird nicht geschehen.« Ihre Hände flatterten unruhig. »Zuerst wirst du Theo kennenlernen. Dafür will ich schon sorgen.«

Geräuschlos schloß sie die Tür hinter sich. Das war nicht der Empfang, den ich erwartet hatte, auch wenn man berücksichtigte, daß niemand im Haus von meinem Kommen gewußt hatte. Annas Nervosität konnte ihrem Alter zuzuschreiben sein oder vielleicht meiner starken Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Von einem Moment auf den anderen um zwanzig Jahre zurückversetzt zu werden, konnte wohl jeden aus der Fassung bringen.

Das seltsam beklemmende Gefühl abschüttelnd, das meine redselige Tante bei mir ausgelöst hatte, begann ich auszupacken und versuchte, mir das Zimmer so persönlich und wohnlich wie möglich einzurichten. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich unsere gemeinsame Wohnung aufgegeben, die Möbel verkauft oder verschenkt und nach Pemberton Hurst nur meine Garderobe und einige persönliche Dinge mitgenommen, von denen ich mich nicht hatte trennen wollen. Diese kleinen Dinge verteilte ich jetzt in dem fremden Zimmer.

Die Daguerrotypie meiner Mutter stellte ich neben das kleine Schmuckkästchen aus Muscheln auf den Kaminsims. Auf den Nachttisch legte ich drei Bücher: ›Stolz und Vorurteil‹ von Jane Austen, ›Tancred‹ von Benjamin Disraeli und die Bibel. Auf den Toilettentisch mit dem hohen Spiegel legte ich den Führer durch den Cremorne Park, eine Erinnerung an sehr glückliche Tage, und neben den Wasserkrug stellte ich den kleinen Flakon Rosenwasser, ein Geschenk von Edward Champion, dem Mann, den ich liebte und bald heiraten wollte.

Nachdem ich dem Zimmer auf diese Weise etwas persönliches Flair gegeben, nachdem ich meine Kleider aufgehängt, mich gewaschen und mein Haar gründlich gebürstet hatte, fühlte ich mich gleich viel besser. Ja, die Reise mit der Eisenbahn war anstrengend gewesen, aber bei weitem nicht so strapaziös wie sie mit der Droschke gewesen wäre. Ich war müde und hungrig, vor allem aber war ich glücklich, endlich wieder eine Familie zu haben, in das Haus zurückgekehrt zu sein, wo ich geboren war, einem neuen Leben entgegenzusehen.

Hätte ich gewußt, wie sehr ich mich täuschte!

 

Als ich etwas später die Treppe hinunterstieg, fiel mir die tiefe Stille des Hauses auf. Es war fast sieben Uhr, draußen war es stockfinster und hier drinnen so ruhig wie in einem Museum. Leise raschelnd streifte der Saum meiner Röcke über die dicken Teppiche, die meine Schritte verschluckten. Hätte ich jetzt sprechen müssen, so hätte ich sicher geflüstert.

Und wieder kam mir deutlich zu Bewußtsein, daß nirgends in diesem Haus ein Bild eines Familienmitglieds hing.

Ich kam zum Salon, warf einen Blick hinein und sah, daß er leer war. Mit einiger Mühe, vorsichtig Raum um Raum inspizierend, gelangte ich schließlich in die Bibliothek, in der es nach altem Leder roch. Das Feuer im offenen Kamin spendete willkommene Wärme und Gaslampen drängten die Schatten in die Ecken. Als ich eintrat, sah ich sogleich, daß ich nicht allein war.

In einem Sessel beim Feuer saß lässig, die Beine in den Schaftstiefeln lang ausgestreckt, die Arme über der Brust verschränkt, ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Als ich mich näherte, sah er auf, schien aber von meinem Erscheinen weder überrascht noch gestört. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er mich erwartet hatte.

Ich holte einmal tief Atem und ging direkt auf ihn zu.

»Hallo, Theo«, sagte ich so gewinnend wie möglich. »Ich bin Leyla. Tante Anna sagte mir, daß ich dich hier treffen würde, und riet mir« – ich lächelte spitzbübisch – »eine Begegnung mit dem exzentrischen Colin unter allen Umständen zu vermeiden. Offenbar befürchtete sie eine Katastrophe.«

Er stand auf, groß und gerade, und sagte trocken: »Guten Tag, Leyla. Ich bin allerdings nicht Theodore, sondern Colin.«

2

In meiner Verlegenheit wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Nicht einmal eine Entschuldigung brachte ich zustande. Statt dessen stand ich stocksteif und mit hochrotem Gesicht vor dem Mann. Seine Augen, die ganz ruhig auf mich gerichtet waren, waren grün. Die Wimpern und die Brauen waren so dunkel wie das Haar, das ihm wellig fast bis zu den Schultern hinunterfiel. Er hatte eine hervorspringende Nase, die sehr gerade war, und einen klar gezeichneten Mund, um den jetzt ein ärgerlicher Zug lag.

In seinem Gesicht entdeckte ich keines der typischen Pemberton-Merkmale – weder die dichten Wimpern noch das Grübchen am Kinn –, die, wie meine Mutter einmal gesagt hatte, mich als einen Sproß dieser Familie kennzeichneten. Unwillkürlich verglich ich diesen Mann mit Edward Champion, meinem Verlobten. Colin schnitt bei dem Vergleich nicht sonderlich gut ab. Sein Gesicht mochte einen gewissen Charme haben, wenn er lächelte, aber mit Edward konnte er es nicht aufnehmen.

Allmählich fand ich die Sprache wieder. »Oh, verzeih’ mir. Das war unglaublich ungezogen von mir.«

Er zuckte die Achseln. »Woher hättest du wissen sollen, wer ich bin? Typisch Tante Anna, nichts als Verwirrung zu stiften. Komm, setz dich doch. Hier im Haus hat alles seine genaue Ordnung, weißt du. Das Abendessen wird um Punkt acht serviert, ob man ohne Appetit ist oder völlig ausgehungert. Und du kannst nach der langen Reise nur das eine oder das andere sein.«

»Du scheinst ja bereits gründlich über mich unterrichtet.«

»Neuigkeiten sprechen sich hier schnell herum. Aber –« er setzte sich wieder, streckte seine langen Beine aus und kreuzte die Füße – »das wirst du bald selbst merken. Geheimnisse gibt es hier nicht.«

»Bist du Theos Bruder?«

»Was?« Er lachte ohne Heiterkeit. »Ich bin so wenig sein Bruder wie du meine Schwester bist. Er ist mein Vetter und dein Vetter, und ich bin auch dein Vetter.«

»Ich verstehe.«

»Nein, das glaube ich dir nicht. Für eine Pemberton weißt du erstaunlich wenig über die Pembertons! Ich kann mir denken, daß deine Mutter am liebsten überhaupt nicht von uns gesprochen hat. Also, paß auf: Unseren Ursprung haben wir alle bei dem ehrwürdigen Sir John Pemberton, der nunmehr seit zehn Jahren tot ist, und seiner Frau Abigail. John und Abigail hatten drei Söhne: Henry, Richard und Robert. Henry ist Theos Vater. Richard ist mein Vater. Und Robert war dein Vater.«

»Und Martha?«

»Martha ist meine Schwester.«

»Und wie ist Tante Sylvia mit uns allen verwandt?«

»Sie ist Abigails unverheiratete Schwester. Sie zog vor ungefähr fünfzig oder sechzig Jahren mit ins Haus, als Abigail John heiratete.«

»Ich verstehe«, sagte ich wieder. »Ich freue mich schon darauf, alle kennenzulernen. Henry und Theo, deinen Vater –«

Colins Gesicht verdunkelte sich. »Mein Vater ist tot. Meine Mutter ebenfalls. Von den drei Söhnen Johns und Abigails lebt nur noch einer, Henry. Theos Vater. Und von den Frauen dieser Generation leben noch Tante Anna und deine Mutter.«

»Meine Mutter ist auch tot«, sagte ich leise.

»Ach?« Er schien nicht überrascht zu sein. »Dann bist du wohl deshalb hierher gekommen? Weil du jetzt ganz allein bist?«

Seine Worte wirkten auf mich wie eine Anklage, und in seinem Ton schien mir Spott mitzuschwingen, der mich ärgerte.

»Ich bin aus persönlichen Gründen hierher gekommen. Unter anderem, weil ich den Wunsch hatte, meine Familie wiederzusehen. Und das Haus, in dem ich geboren bin.«

Jetzt wandte er mir seine ganze Aufmerksamkeit zu, und ich sah die Ernsthaftigkeit in seinem Blick. Von seiner Lässigkeit war nichts zu spüren, als er fragte: »Und? Siehst du in uns noch etwas, das mit deinen Erinnerungen übereinstimmt?«

Ich sah ihm in die blaßgrünen Augen und wußte, daß er eigentlich eine andere Frage stellte. In Wirklichkeit wollte er wissen, ob ich mich überhaupt noch an ihn und die übrigen Familienmitglieder erinnerte.

Ausweichend antwortete ich: »In zwanzig Jahren verändern sich die Menschen.«

»Sehr gut gesagt, liebe Cousine. Vor zwanzig Jahren war ich ein Knabe von vierzehn, und du warst gerade fünf. Es bekümmert mich tief, sehen zu müssen, daß die Liebe nicht von Dauer war.«

»Die Liebe?«

»Du hast mich damals regelrecht angeschwärmt, Leyla. Du bist mir überallhin gefolgt wie ein treues Hündchen.«

Ich errötete. Zugleich jedoch machten mich seine Worte traurig, da sie von glücklicheren Zeiten sprachen, die ich erlebt hatte, aber nicht erinnern konnte. Ich fand es beklemmend, ja, erschreckend, daß ich in all den Stunden des Suchens und verzweifelten Bemühens, meine Vergangenheit zurückzuholen, nicht einmal auf ein Bruchstück einer Erinnerung an Colin Pemberton gestoßen war.

»Hinter dem Haus – ich weiß nicht, ob du dich daran entsinnst – liegt eine große verwilderte Wiese, die Tante Anna hochtrabend den Garten nennt, und jenseits dieses Feldes ist ein Akazienwäldchen. Dort war, als wir alle noch Kinder waren, unser liebster Spielplatz. Mittendrin steht die Ruine eines alten Schlößchens, und das war unser Reich. Erinnerst du dich?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Anfangs spielten nur Theo und ich dort unten. Aber er ist vier Jahre älter als ich, und als er sich für diese Spiele zu alt fühlte, während ich noch Spaß daran hatte, stießen Martha und dein Bruder Thomas zu mir und bald auch du, so klein du warst. Du hast da unten immer das Häschen gespielt und bist herumgesprungen wie ein kleiner Kobold. Immer vergnügt und ausgelassen. Bist du immer noch so, Leyla?«

Aber ich hörte seine letzten Worte nur mit halbem Ohr. Ich war in Gedanken im Akazienwäldchen, eines von vier fröhlichen Kindern, die dort spielten und herumtollten, als gäbe es kein Morgen. Nur leider sah ich diese Bilder mit den Augen Colins und nicht so, wie ich selber sie vielleicht in Erinnerung hatte. Ich erinnerte mich dieser unbekümmerten Spiele so wenig, wie ich mich seiner Schwester Martha und meines Bruders Thomas erinnerte.

»Du hast überhaupt keine Erinnerung daran, nicht wahr?« hörte ich ihn behutsam sagen.

»Wie bitte?« Ich sah auf und bemerkte, daß er mich mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. »Ach, ich war damals noch so klein. Hast du denn Erinnerungen an die ersten fünf Jahre deines Lebens?«

»O ja, eine ganze Menge.«

Ich senkte die Lider und starrte ins Feuer. Wieder empfand ich dieses Unbehagen. Wie zuvor bei Anna hatte ich auch jetzt bei Colin das Gefühl, daß er nicht sagte, was er wirklich dachte.

Impulsiv stand ich auf und ging zum Kamin, über dem ein sehr großer alter Spiegel hing. Nicht nur mich konnte ich darin sehen, sondern auch das Zimmer hinter mir und Colin in seinem Sessel, scheinbar in lässiger Pose und doch so angespannt.

Nun ja, für diese Leute war ich wahrscheinlich ein Gespenst aus der Vergangenheit. Ich hatte große Ähnlichkeit mit meiner Mutter, das gleiche schwere schwarze Haar, die gleiche helle Haut. Aber meine Lippen sahen im Spiegel grau und farblos aus, und meinen Augen fehlte der Glanz. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen, ich war es nicht; schon gar nicht jetzt, da Anstrengung und Verwirrung mein Gesicht zeichneten. Hatte ich auch so am Bahnhof in London ausgesehen, als Edward mich gebeten, fast angefleht hatte, nicht zu fahren? Hatte er in dieses bleiche, leblose Gesicht geblickt, als er beteuert hatte, der Gedanke an meine Schönheit werde ihm an einsamen Abenden Trost sein? Der gute Edward. Es war so gar nicht seine Art, in aller Öffentlichkeit seine Zuneigung zu beteuern. Immer höflich, stets sich der Formen bewußt, das war Edward, der vollendete Gentleman im Gegensatz zu meinem Vetter Colin, diesem ungehobelten Flegel.

Colin bemerkte mein Lächeln, und ich glaube, einen Moment lang war er verärgert. »Du amüsierst dich?«

Ich drehte mich um. »Ich habe nur an etwas Angenehmes gedacht.«

»Aus der Vergangenheit?«

»Nein, an meinen Verlobten.«

»Du bist verlobt?« Mit einem Ruck fuhr er in die Höhe.

»Ja, überrascht dich das?«

»Und der Mann hat dich allein hierher reisen lassen?«

Ich kehrte zu meinem Sessel zurück und setzte mich. »Nur weil ich darauf bestand. Er wollte mich nicht reisen lassen. Aber ich mußte hierher kommen. Nur dieses eine Mal wenigstens. Meine Mutter ist tot. Ihr tut es nicht mehr weh, und ich wollte das Haus und die Familie wiedersehen, ehe ich heirate.«

Colin legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und sah mich nachdenklich an. Ich schien ihn auf einen interessanten Gedanken gebracht zu haben. Seine nächste Frage überraschte mich.

»Wieso glaubst du, dein Besuch bei uns hätte deiner Mutter weh getan?«

»Ich weiß nicht … es war nur so ein Gefühl.«

»Hat sie dir von uns erzählt?«

»Nein, nichts.«

»Als wollte sie vergessen, daß es uns gibt …«

»Entschuldige, Colin, aber ich denke, das kann man ihr nicht verübeln. Als meine Mutter von hier fortging und nach London zog, war sie völlig mittellos und ohne jede Hilfe. Sie mußte ganz allein ein Kind großziehen und sehen, wie sie damit zurecht kam. Jahrelang hat sie sich als Hausschneiderin abgemüht, für reiche Frauen genäht, die sie schlimmer behandelten als ihre eigenen Domestiken. Sie war eine Frau aus bester Familie, die das Leben einer kleinen Arbeiterin führte. Meine Mutter war mit einem Pemberton verheiratet gewesen, ich war eine Pemberton, und dennoch lebten wir acht Jahre lang in Armut, während die Pembertons wie die Fürsten lebten.« Ich machte eine umfassende Geste.

»Deine Bitterkeit ist nicht berechtigt, Leyla. Du darfst nicht vergessen, daß es deine Mutter war, die uns verließ; nicht wir sie. Niemand wußte, wohin sie gegangen war, als sie damals plötzlich verschwunden war und ihre gesamte Habe hier zurückgelassen hatte. Wir wußten nur, daß sie fort war und dich mitgenommen hatte. Und wir haben nie wieder von ihr gehört. Bis zum heutigen Tag.«

Ich starrte ihn zornig an. Ich konnte die Bitterkeit, die ich empfand, nicht verleugnen. Sie hatten nicht nach uns gesucht, sonst hätten sie uns gefunden. Unser Schicksal hatte sie nicht gekümmert, sonst hätten sie uns in den zwanzig Jahren geholfen.

Colin spürte wohl, was in mir vorging, denn er fragte in ruhigem, ernsthaftem Ton: »Und warum bist du dann jetzt zurückgekommen?«

Ehe ich ihm antworten, ihm von meiner Einsamkeit, meiner Sehnsucht nach Familienzugehörigkeit erzählen konnte, öffnete sich die Tür.

»Leyla!« rief der Fremde, der mit großen Schritten hereinkam. »Leyla!« Er eilte auf mich zu und nahm meine Hände. »Auf den ersten Blick hätte ich dich erkannt! Du bist Tante Jenny wie aus dem Gesicht geschnitten. Willkommen zu Hause!«

Vetter Theodore war ein eleganter Mann. Zum burgunderfarbenen Rock mit Weste trug er ein weißes Hemd aus feinstem Leinen und dazu eine schwarze Hose. Sein Haar war so schwarz wie meines, und seine leicht vorstehenden Augen waren von einem Kranz dichter Wimpern umgeben. Die Nase war eine Spur zu groß, und am Kinn hatte er ein kleines Grübchen, genau wie ich. Daß dieser Mann ein Pemberton war, daran gab es keinen Zweifel.

»Ja, Theo«, fuhr Colin unhöflich dazwischen, »vorhin verwechselte unsere Cousine Leyla mich mit dir und bat mich um Schutz vor dem flegelhaften Vetter Colin.«

Ich errötete tief. »Ich sagte, daß es mir leid tut.«

Er zuckte wieder auf seine unerzogene Art die Achseln, dann stand er auf und ging ohne ein weiteres Wort aus der Bibliothek.

Theodore sah ihm einen Moment lang nach, ehe er sich mir zuwandte. Er lächelte mich an, aber seine Augen blieben kühl. An diese Zwiespältigkeit würde ich mich hier offenbar gewöhnen müssen. Keiner hier konnte mir mit wirklicher Herzlichkeit entgegenkommen. Dennoch gab sich Theodore von den vier Menschen, denen ich bisher im Haus begegnet war, die meiste Mühe, sein Unbehagen zu verbergen. Er schüttelte mir kräftig beide Hände, sprach laut und dröhnend, als wolle er den ganzen Raum mit seiner Persönlichkeit füllen.

Und dennoch hatte ich auch an ihn keinerlei Erinnerung.

»So ungern ich es tue, ich muß dich bitten, Colin zu entschuldigen. Er ist hier sozusagen der Außenseiter, er paßt nicht in die Familie, verstehst du. Er ist mehr der Sohn seiner Mutter als seines Vaters. Weiß der Himmel, wo er seine flegelhaften Manieren her hat. Aber setz dich doch wieder, Leyla. Darf ich dir einen Sherry einschenken?«

Ich setzte mich und sah ihm zu, wie er mit bedächtigen Bewegungen den Sherry aus der Karaffe in die Gläser goß. Sein Gebaren war, so ungezwungen er sich auch gab, dennoch verkrampft. Nachdem er mir mein Glas gereicht hatte, stellte er sich nonchalant neben den Kamin und betrachtete mich mit unverhohlener Neugier.

»Du mußt verzeihen, daß ich dich so anstarre«, sagte er, »aber jetzt, da ich dich vor mir sehe, werden plötzlich zahllose Erinnerungen wach. Ich habe dich immer Bunny gerufen. Weißt du noch? Und du hast mit den anderen unten im Wäldchen gespielt. Lieber Gott, wie vergeßlich man ist.«

Theodore war meiner Schätzung nach Ende dreißig; das hieß, daß er damals fast zwanzig gewesen sein mußte. Wahrscheinlich achtzehn oder neunzehn, als meine Mutter mit mir fortgegangen war. Ich konnte mir vorstellen, daß ich ihn als kleines Mädchen ungeheuer beeindruckend gefunden hatte. Doch erinnern konnte ich mich nicht. Sein Gesicht hatte viel Ähnlichkeit mit meinem, nur die leicht vorstehenden Augen hatte er von seiner Mutter Anna geerbt.

Ich lächelte ihn an. Der Sherry tat mir gut. Zum erstenmal fühlte ich mich in diesem Haus wirklich gelöst.

»Sag mal, ist das Unterhaus eigentlich inzwischen fertig?« fragte Theo.

»O ja, bis auf den Glockenturm. Da wird noch gearbeitet. Die Glocke zersprang bei der Probe. Soviel ich weiß, hat der Turm auch schon einen Namen – Big Ben.«

Theo lachte. »Das klingt ja sehr gemütlich. Ich war vor sechs Jahren das letzte Mal in London und da habe ich mir geschworen, nie wieder dorthin zu reisen. Ich muß ab und zu nach Manchester – wir haben eine Baumwollspinnerei dort –, aber das ist so ziemlich alles, was ich an Reisen unternehme. Wir Pembertons sind seßhafte Leute.«

Ich sah mich um und dachte: Warum sollte man auch fort wollen, wenn man so ein Zuhause hat?

»Du möchtest sicher gern Großmutter deine Aufwartung machen, aber da wirst du bis morgen warten müssen. Sie fühlt sich in letzter Zeit nicht recht wohl. Sie hatte eine schwere Erkältung mit starken Kopfschmerzen. Leidest du auch an Kopfschmerzen?«

»Überhaupt nicht. Warum?«

»Du wirst sie also morgen sehen, wenn sie sich besser fühlt. Die Nachricht von deinem Kommen hat sie sehr bewegt.«

Er sprach mit einer gewissen Ehrfurcht von unserer Großmutter.

»Ehrlich gesagt, möchte ich viel dringender Tante Sylvia sprechen.«

»Was?« Er war verblüfft.

»Ja, sie hat doch –« Eigentlich wollte ich von dem Brief erzählen, aber dann unterließ ich es. »Ich meine, an sie erinnere ich mich am deutlichsten.«

Was nicht ganz unwahr war, da ich ja vor der Lektüre ihres Briefes nicht ein einziges Mitglied der Familie Pemberton mit Namen gekannt hatte.

»Wie merkwürdig, daß du ausgerechnet Tante Sylvia sehen möchtest.«

»Wieso?«

Ehe er mir darauf eine Antwort geben konnte, kam eine dritte Person in die Bibliothek, eine Frau, die auf der Schwelle stehenblieb, als warte sie auf eine Aufforderung, einzutreten. Ich sah, wie Theos Blick zur Tür schweifte, und drehte den Kopf. In diesem Augenblick sprang mir blitzartig ein Bild vor Augen. Ich sah das Gesicht eines Mädchens, eines sehr hübschen jungen Mädchens mit roten Schleifen im Haar und einem weißen Kleid. Langsam, wie benommen, stand ich auf und hätte beinahe meinen Sherry verschüttet.

»Martha!« flüsterte ich.

Aber dies war kein junges Mädchen in einem weißen Kleid. Die Frau, die mir mit ausgestreckten Händen entgegenkam, war älter als ich, mindestens dreißig, und sie trug ein elegantes Abendkleid aus altrosa Brokat mit kostbarer Stickerei am Dekolleté. Ich bewunderte ihre modische Frisur mit den duftigen Ringellöckchen, die ihr über die Ohren fielen, als sie auf mich zuging. In der einen Hand trug sie einen ziemlich großen Pompadour mit einer Stickerei von Veilchen auf perlweißem Grund, aus dem mehrere Stricknadeln herausschauten.

»Leyla, willkommen zu Hause«, sagte sie, und ein wunderbarer Duft wehte mir entgegen, als sie meine Hände nahm.

Sie war von meinen Verwandten die erste, deren Ton mir aufrichtig schien.

Das Bild des strahlenden jungen Mädchens verblich. Statt dessen stand eine hübsche Frau vor mir, und ich war ihr sogleich für zwei Dinge dankbar: daß sie mich mit echter Herzlichkeit begrüßt hatte und mir den Anstoß zu einer ersten flüchtigen Erinnerung an meine Kindheit in Pemberton Hurst gegeben hatte.

»Ich habe gehört, daß deine Mutter gestorben ist. Das tut mir leid. Es war wohl erst vor kurzem?«

»Vor zwei Monaten.«

»Ich habe sie in so lieber Erinnerung. Es ist unglaublich, wie ähnlich du ihr siehst. Aber du hast auch mit deinem Vater Ähnlichkeit. Onkel Robert war ein blendend aussehender Mann. Du hast von beiden etwas, von Onkel Robert und von Tante Jenny.«

Wenn ich mich nicht eisern beherrscht hätte, hätte ich in diesem Moment zu weinen angefangen. Das erstemal hörte ich ein Wort über meinen Vater.

»Es gibt so viel zu erzählen, Leyla«, fuhr Martha fort. »Alte Erinnerungen –«

»Nicht so hastig, Martha«, unterbrach Theo. »Manchmal läßt man Erinnerungen lieber ruhen.«

Flüchtig umwölkte sich ihr Gesicht, dann lächelte sie wieder frei und offen.

»Natürlich. Leyla wird kaum daran interessiert sein, in der Vergangenheit zu graben. Was vorbei ist, ist vorbei. Unterhalten wir uns lieber über das Heute. Über die neueste Mode zum Beispiel. Wußtest du, daß die Krinoline im nächsten Jahr vorne flach werden soll? Wie findest du das, Leyla?«

Der abrupte Themawechsel war so irritierend, daß ich Martha nur sprachlos anschauen konnte. Ich war nicht nach zwanzigjähriger Abwesenheit in dieses Haus gekommen, um mich über die neueste Mode zu unterhalten.

»Oh, ich kann dich verstehen«, fuhr Martha fort, als ich beharrlich schwieg. »Man kann sich das zunächst gar nicht vorstellen.«

Theo war daran schuld, daß Martha ihr Verhalten so plötzlich geändert hatte, denn er ließ sie keinen Moment aus den Augen, achtete auf jedes ihrer Worte. Martha, dachte ich, würde mich wohl genauso enttäuschen wie die anderen. Ich konnte nur noch auf Onkel Henry, meine Großmutter und Tante Sylvia hoffen. Wenn Henry Pemberton sich wie seine Frau und sein Sohn verhielt, so hatte ich auch von ihm nichts zu erwarten. Und von meiner achtzigjährigen, vielleicht vergreisten Großmutter durfte ich nicht zuviel erhoffen. Im Grunde also blieb mir nur Tante Sylvia. Sie hatte mir den Brief geschrieben, sie wenigstens mußte mich doch mit offenen Armen aufnehmen!

»Es ist gleich acht«, bemerkte Theodore. »Darf ich die beiden Damen ins Speisezimmer begleiten?«

Colin und Anna waren schon da. In gedämpfter Unterhaltung standen sie am offenen Kamin, dessen helles Feuer das Porzellan und das Silber auf dem gedeckten Tisch vergoldete. Die Pembertons wußten Behaglichkeit und Luxus zu vereinen. Das Speisezimmer war ein prachtvoller Raum. Auf dem wahrhaft königlich gedeckten Tisch mit der weißen Damastdecke standen Blumenarrangements und Schalen mit Früchten. Neben Anna und Martha in ihren eleganten Abendroben kam ich mir wieder vor wie eine arme Kirchenmaus.