Die sieben Dämonen - Barbara Wood - E-Book

Die sieben Dämonen E-Book

Barbara Wood

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Beschreibung

Rätselhaftes Ägypten, voller Exotik, Magie und seit Jahrtausenden im Wüstensand verborgener Geheimnisse. Nicht nur die uralte Kultur und Geschichte dieses Landes übt eine ungeheure Faszination aus, sondern fast noch mehr das Bemühen der Archäologen, der Wüste ihre Geheimnisse zu entreißen. Mark Davison, ein junger Ägyptologe, kann es nicht fassen. Die zugesicherte Professorenstelle wird ihm in letzter Sekunde doch entzogen. Seine Zukunft ist ungewiß. In dieser Situation wird ihm das verlockende Angebot gemacht, eine Ausgrabung in Ägypten zu leiten: Mark Davison erhält das Tagebuch eines Archäologen namens Ramsgate, der genau hundert Jahre zuvor eine Ausgrabung in Tell el-Amarna durchgeführt hatte. Das Tagebuch berichtet von unheimlichen, unblaublich erscheinenden Begebenheiten und bricht an der Stelle ab, als Ramgate gerade fündig geworden war. Mark ist durch den Inhalt des Tagebuchs wie elektrisiert. Aber was ihn dann in Ägypten erwartet, hätte er sich nicht im Traum vorgestellt.

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Barbara Wood

Die sieben Dämonen

Roman

Roman

Aus dem Amerikanischen von Xenia Gharbi

Fischer e-books

Für Barbara Young

Ägypten – die Gegenwart

Er hielt in dem dunklen Gang inne, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen, und dachte: So ist es also, wenn man stirbt …

Er hatte bereits eine lange Strecke auf allen vieren zurückgelegt, wobei er sich, auf seinen unverletzten Arm gestützt, teils kriechend, teils rutschend den etwa dreißig Meter langen Schacht hinuntergearbeitet hatte. Auch ohne Taschenlampe wußte er, daß er der Vorkammer schon sehr nahe war, denn ein widerlicher Gestank erfüllte die Luft.

Er lag auf dem Bauch; Schweiß triefte ihm von der Stirn, und in der rechten Schulter verspürte er dort, wo sein Arm aufgerissen worden war, einen rasenden, stechenden Schmerz. Der Knochen war glatt durchtrennt worden, der Arm hing schlaff herab und schlug immer wieder gegen die grob behauenen Wände des engen Schachts. Er war der letzte, der von der Expedition übriggeblieben war; die anderen sechs waren alle tot. Er wußte, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Wahrscheinlich stand ihm ein langer, qualvoller Todeskampf bevor, aber das war ihm im Augenblick gleichgültig. Alles, worauf es jetzt ankam, war, in die Grabkammer zu gelangen, bevor er den Dämonen in die Hände fiel.

Dann wäre es endlich vorüber.

Da er wußte, daß die Zeit schnell knapp werden würde, biß er die Zähne zusammen, stemmte sich auf seinen intakten Arm und robbte mühsam die letzten paar Meter voran. Plötzlich endete der Gang, er fiel ein Stück weit in bodenlose Dunkelheit hinunter und schlug mit voller Wucht auf den kalten Steinboden der Vorkammer auf. Einen Moment lang lag er wie gelähmt auf der Seite, und vor Schmerz hätte er am liebsten aufgeschrien.

Ich werde einfach so liegenbleiben und sterben, dachte er. Es wäre so verdammt leicht …

Aber er wußte, daß er das nicht konnte, noch nicht, nicht bevor er das vollbracht hätte, was zu vollbringen seine Pflicht war. Dann erst wäre es an der Zeit, sich die letzte Ruhe zu gönnen.

Ein Schmerz im Oberschenkel ließ ihn aufstöhnen und sich zur Seite rollen. Er spürte etwas Hartes unter sich und zog einen länglichen metallenen Gegenstand hervor. Eine Taschenlampe, die wohl jemand fallen gelassen hatte, der in panischem Schrecken geflohen war.

Er knipste sie an, und ein bernsteinfarbenes Licht erhellte den kleinen Raum. Er sah, daß er nicht allein war. »Aha«, flüsterte er, sich mühsam aufrichtend, »hier seid ihr also.«

Sieben schaurige Gestalten starrten in kalter Unbeweglichkeit auf den Eindringling herab; ihre Gesichter waren im Profil gezeichnet, das Auge einer jeden auf ihn gerichtet.

»Ihr Dreckskerle«, stieß er keuchend hervor. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet. »Noch habt ihr nicht gewonnen. Nicht, solange ich noch einen Funken Leben in mir habe. Ich bin noch nicht … besiegt …«

Die sieben Gestalten gaben keine Antwort, denn es waren nur an die Wand gemalte Figuren:

Amun der Verborgene, seine nackte und muskulöse Gestalt war ganz aus Gold.

Am-mut der Gefräßige, ein Untier mit den Hinterbeinen eines Nilpferds, den Vorderbeinen eines Löwen und dem Kopf eines Krokodils.

Apep der Schlangenartige, eine menschliche Figur, bei der sich anstelle eines Kopfes das Haupt einer Kobra erhob.

Akhekh der Geflügelte, eine Antilope mit Flügeln und dem Kopf eines phantastischen Vogels.

Der Aufrechte, ein auf den Hinterbeinen stehendes Wildschwein mit menschlichen Armen.

Die Göttin, die die Toten in Fesseln legt, eine zierliche, wohlgeformte Frau mit dem Kopf eines Skorpions.

Und schließlich Seth, der Mörder von Osiris, der gefürchtetste aller altägyptischen Dämonen, ein grauenerregendes Urtier mit flammend rotem Haar und glühenden Augen …

Grenzenlose Wut, die jede andere Regung in ihm erstickte, erfüllte den Mann. Ein Laut des Unmuts hallte von den kahlen Wänden wider. Er ließ die Taschenlampe fallen, warf den Kopf zurück und schrie: »Ihr werdet mich nicht besiegen!«

Blitzartig tauchten Schreckensszenen in seiner Erinnerung auf, Szenen, die er aus seinem Gedächtnis hatte verbannen wollen: wie sechs Menschen, jeder auf eine andere, unbeschreiblich grausame Weise, zu Tode gekommen waren. Einer nach dem anderen waren die Expeditionsteilnehmer von einer unsichtbaren, übernatürlichen Kraft niedergestreckt worden, jeder von ihnen das Opfer eines der sieben, die das Grab bewachten. Einer nach dem anderen. Alle waren sie tot. Alle waren sie umgebracht worden. Er allein war übriggeblieben. Er war als letzter an der Reihe.

Der Mann begann zu schluchzen. »Ich werde gegen euch kämpfen … Ich werde es bis zu den Särgen schaffen, und dann ist alles überstanden …«

Der Raum fing an, sich vor seinen Augen zu drehen; er wußte, daß er im Sterben lag. Das Entsetzen hatte die Blutung an seiner Schulter zum Stillstand gebracht.

Er fiel auf den Rücken und schlug mit dem Kopf gegen den Steinboden. Die Dunkelheit um ihn her nahm ab und wieder zu. Einen Augenblick lang befand er sich in einem Dämmerzustand, dann sah er wieder alles scharf. Verzweifelt schrie er: »Ihr Mistkerle, mußtet ihr unbedingt auch sie töten?«

Dann erinnerte er sich an die Sarkophage: der eigentliche Grund, warum er überhaupt hierhergekommen war – drei Wochen zuvor. Die hermetisch verschlossenen Pharaonensärge, welche die Antworten auf alle Rätsel enthielten. Drei schreckliche, ja verhängnisvolle Wochen lagen hinter ihm. Davor – vier ereignisreiche Monate, seitdem alles angefangen hatte, und mit jeder Sekunde war er diesem unglaublichen Augenblick unausweichlich näher gerückt; dem Augenblick, in dem er herausfinden würde, wer hier begraben lag und warum das Geheimnis dieser Toten so sorgsam, mit so furchtbar viel Mühe gehütet worden war …

Eins

»Das Sexualverhalten der alten Ägypter war einzigartig und läßt sich mit Verhaltensmustern der heutigen Gesellschaft in keiner Weise vergleichen. Die Weisheitsbücher der alten Ägypter predigten Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit in einer Art und Weise, die zuweilen an urchristliches Gedankengut erinnert; die Totenbücher listeten die Sünden auf, für die einem Menschen das Recht auf das Himmelreich verwehrt werden konnte, aber Fragen der Sexualmoral waren niemals ein Thema der Auseinandersetzung. Das heißt jedoch nicht, daß die alten Ägypter wahllose Geschlechtsbeziehungen toleriert hätten, denn wir wissen, daß Ehebruch allgemein verurteilt und bestraft wurde. Doch entsprang diese Haltung nicht sittlichen Grundsätzen wie in unserer vom Puritanismus geprägten Gesellschaft, sondern der Notwendigkeit, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten, Mark Davison, du redest mal wieder das übliche Blech.« Mark nahm den Daumen vom Aufnahmeknopf seines Diktiergerätes und schaute einen Augenblick lang aus dem Fenster. Vor ihm erstreckte sich bis zum dunstigen Horizont der tosende Pazifik. Unter dem Boden seines auf Holzpfählen errichteten Strandhauses donnerte die Brandung gegen die Felsen und ließ das ganze Haus erzittern. Mark führte das Mikrofon wieder an die Lippen und diktierte leise: »Streichen Sie diesen letzten Absatz. Er ist miserabel.«

Nach einem letzten finsteren Blick auf den Ozean nahm Mark Davison sein leeres Glas und ging zur Bar hinüber, wo er sich einen Schuß Bourbon mit Eis einschenkte. Im Wohnzimmer wurde es zunehmend dunkel und trostlos, aber Mark schaltete das Licht nicht ein.

An diesem Nachmittag hatte es in Marks Leben eine entscheidende Wende gegeben. Leider nicht zum Besseren. Schuld daran war der Anruf von Grimm, diesem Mistkerl. Passender Name, Grimm.

»Bedaure, Mark«, seine Stimme hatte geklungen wie die eines Roboters, »sie haben gegen dich gestimmt. Es tut mir aufrichtig leid. Aber ich versichere dir, daß …«

Mark Davison hatte gar nicht mehr weiter zugehört. Grimm redete irgend etwas von wegen »du kannst ja deine Dozentenstelle behalten, und wenn vielleicht nächstes Jahr ein Lehrstuhl frei wird … bla, bla, bla …« Alles, was für Mark im Moment zählte, war der letzte, vernichtende Urteilsspruch, der am Ende von zwölf Monaten stetig gestiegener Hoffnungen stand. Als er an diesem Morgen mit Blick auf einen strahlenden, tiefblauen Februarhimmel aufgestanden war, hatte sich der sechsunddreißigjährige Ägyptologe Dr.Mark Davison ganz sicher gefühlt, daß er auf den Lehrstuhl berufen würde. Und noch gestern abend – Herrgott, erst gestern abend noch! – hatte Grimm hier auf diesem Sofa gesessen und gemeint: »Das kann ich dir sagen, Mark, der Lehrstuhl ist dir sicher. Es gibt keinen einzigen im Verwaltungsrat, der gegen dich stimmt.«

Und dann: Peng!, dieser unpersönliche Anruf, und für Mark Davison war eine Welt zusammengebrochen.

Er stürzte den Rest seines Drinks hinunter und schenkte sich nach, während er unverwandt auf den grollenden, dunklen Ozean starrte.

Mark dachte an den noch nicht fertig diktierten wissenschaftlichen Artikel für die Fachzeitschrift. Dann dachte er an die Jahre, die vor ihm lagen, und an die Hunderte von Fachartikeln, die er in jenen Jahren schreiben würde. Er beschwor die Bücher herauf, die er verfassen, und die Vorträge, die er halten würde – in Frauenklubs, Abendschulen und auf Wochenendseminaren. Pläne, um die Zeit auszufüllen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und um sich selbst das Gefühl zu geben, etwas aus seinem Beruf zu machen.

Denn eines war sicher: Er würde kein Professor sein. Diese Professur an der Universität von Los Angeles hätte eigentlich ihm zufallen müssen. Er hatte hart dafür gearbeitet. Seit sechs Jahren lehrte er an der Universität. Bei dem letzten Buch, das er veröffentlicht hatte, hatte er der Universität die ganze Ehre daraus zuteil werden lassen, hatte sich politisch betätigt, mehrfach für verschiedene Ämter kandidiert und sich bei den akademischen Cliquen lieb Kind gemacht. Er hatte wirklich eisern darauf hingearbeitet, diese Professur zu erlangen.

Und dann sagte Grimm: »Tut mir leid, Mark …«

Erneut schenkte sich Mark Whisky ins Glas, ließ das Eis weg und trank den Bourbon in einem Zug hinunter.

Heutzutage bestand das Problem der Ägyptologie darin, sinnierte Mark, daß sie keine Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung und kaum Aufstiegschancen bot.

Mark ließ sein Glas auf der Bar stehen und schlenderte zum Sofa hinüber. Er knipste eine kleine Lampe an, die auf einem Beistelltischchen stand, und überlegte, ob er ein Feuer im Kamin anzünden sollte. Es wurde langsam kalt und klamm im Haus. Mark ging zum Kamin hinüber und hielt inne, als sein Blick auf die drei Gesichter fiel, die vom Kaminsims auf ihn herabstarrten. Rechts und links am Rand standen Gipsbüsten von Nofretete und Echnaton, natürlich keine Originale, dafür aber wirklich gute Nachbildungen. Das dritte Gesicht blickte ihn aus dem Spiegel an, der über dem Kamin hing: Mit den müden Augen und dem struppigen Bart wirkte es ein wenig älter, als es in Wirklichkeit war.

Man hatte Mark schon oft gesagt, er sei ein gutaussehender Mann, doch er selbst glaubte nicht daran. Der dunkle Bart verbarg die Sorgenfalten, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln verliefen. Mark fand seine Augen ganz passabel, ein wenig matt vielleicht, aber die Stirn war durchfurcht wie die eines älteren Mannes. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen vorzeitig ergraut, doch Mark war sich nicht sicher, ob es für das Grauwerden überhaupt eine bestimmte Zeit gab.

Auf alle Fälle drohte er allzu rasch in die Anonymität der Durchschnittsakademiker abzugleiten. Allein diese Tatsache war für ihn von Bedeutung.

Grimm hatte ihm natürlich widersprochen. »Du bist doch ein erfolgreicher Mann, Mark. Du bist das, was man heute einen ›Populärwissenschaftler‹ nennt. Weißt du, so ähnlich wie Carl Sagan. Jemand, der die Wissenschaft auch für den normalen Bürger verständlich macht. Das Publikum liebt deine Bücher über Ägypten.«

Doch »das Publikum« war auch wankelmütig, und falls es Mark nicht gelang, alle paar Jahre ein Buch herauszugeben, würde er schnell in Vergessenheit geraten. Und wenn keine Grabungen stattfanden und keine neuen Entdeckungen gemacht wurden, wie es augenblicklich der Fall war, dann fiel es einem als Ägyptologe schwer, ständig mit etwas Neuem, noch nie Dagewesenem aufzuwarten.

Mark beugte den Kopf vor und ließ ihn auf seine verschränkten Arme sinken. Er starrte in den Kamin, auf die Aschenschicht und die wenigen glühenden Treibholzstrünke und hatte das Gefühl, daß er am Ende seiner beruflichen Laufbahn angelangt war.

Das Klopfen an der Tür war so zurückhaltend, daß Mark es zuerst gar nicht hörte. Als er es endlich zur Kenntnis nahm, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr; es war halb sechs am Nachmittag. Als es zum dritten Mal klopfte, ging er zur Haustür, um zu öffnen. Bei geöffneter Haustür konnte man recht deutlich den Autoverkehr auf dem oberhalb des Strandes entlangführenden Pacific Coast Highway vorbeirauschen hören. Auf der Schwelle stand ein Mann, den Mark noch nie zuvor gesehen hatte.

Er mochte Ende Fünfzig sein und wirkte recht vornehm mit seinem silbrig glänzenden, tadellos gekämmten Haar und seinem gepflegten Schnurrbart. Der hochgewachsene Fremde war mit einem dunklen Anzug mit Weste bekleidet und trug ein schwarzes Aktenköfferchen bei sich. Der Mann verbeugte sich kurz und fragte mit einer weichen, näselnden Stimme: »Dr.Davison? Dr.Mark Davison?«

Mark musterte ihn argwöhnisch. »Ja …«

»Ich habe hier etwas, das für Sie von Interesse sein wird.«

Mark blickte hinunter auf den Aktenkoffer. »Ich habe schon eine Grabstelle auf dem Friedhof, danke«, brummte er verärgert und wollte die Tür schon wieder schließen. Doch der Fremde ließ sich nicht abwimmeln.

»Verzeihen Sie, Dr.Davison, Professor Grimm sagte mir, daß ich Sie zu Hause antreffen würde.«

»Ich habe ihm nicht erlaubt, meine Adresse weiterzugeben.«

»Das hat er auch nicht, ganz sicher nicht. Dr.Davison, bitte, es braut sich ein Unwetter zusammen. Darf ich hereinkommen?«

»Nein.«

»Dr.Davison, ich heiße Halstead. Sanford Halstead.« Der Mann hielt inne, als erwarte er ein Anzeichen dafür, daß Mark mit dem Namen etwas anfangen konnte. Dann fuhr er fort: »Ich versichere Ihnen, daß ich hier etwas habe, das von großem Interesse für Sie ist …«

»Ich bin nicht in der Stimmung, Besuch zu empfangen, Mr.Sanford.«

»Halstead«, verbesserte der Fremde rasch. »Ja, ich kann Ihnen nachfühlen, daß Sie gerade jetzt niemanden sehen wollen, Dr.Davison. Ich verstehe, wie Ihnen zumute sein muß, da Ihnen der Lehrstuhl entgangen ist.«

Mark runzelte die Stirn und musterte das Gesicht des Mannes, das von dem schwachen Licht der nackten Glühbirne über dem Eingang beleuchtet wurde, etwas eingehender. Halstead wirkte intelligent und keineswegs so, als ob er sich leicht einschüchtern ließe. Er hielt sich ungewöhnlich gerade und strahlte Unbefangenheit und freundliche Höflichkeit aus.

»Wie haben Sie davon erfahren?«

»Professor Grimm warnte mich, daß Sie wohl nicht gewillt wären, Besucher zu empfangen, und erklärte, warum. Aber ich bin überzeugt, Dr.Davison, wenn Sie erst einmal gesehen haben, was ich Ihnen zeigen will …«

»Also gut.« Da Mark plötzlich eine Vorstellung zu haben glaubte, warum der Mann hier war, trat er zurück, hielt die Tür auf und ließ ihn eintreten.

Der Fremde folgte ihm ins Wohnzimmer und nahm auf dem Sofa Platz. Mark setzte sich seinem Besucher gegenüber und bemerkte, daß der Regen angefangen hatte, gegen die großflächigen Fenster zu prasseln.

Sanford Halstead umklammerte seinen Aktenkoffer auf dem Schoß, während er sein Anliegen vortrug: »Ich bin zu Ihnen gekommen, Dr.Davison, weil ich den Rat eines Fachmanns benötige. Sie genießen hohes Ansehen, sogar über die Fachwelt hinaus, und Sie wurden mir von zwei Ihrer Kollegen an der Ostküste wärmstens empfohlen.«

Während der Fremde mit kultivierter, gleichmäßiger Stimme sprach, nahm Mark eine Pfeife und begann sie zu stopfen. Im helleren Licht in seinem Wohnzimmer fiel Mark noch deutlicher auf, daß sein Besucher tadellos gepflegt und sehr teuer und geschmackvoll gekleidet war.

»Ihre Referenzen sind beeindruckend, Dr.Davison. Im Jahre 1987 waren Sie Fulbright-Dozent. Sie haben vier Ausgrabungen im Niltal persönlich geleitet und an zwei weiteren als stellvertretender Leiter teilgenommen. Sie waren der führende technische Berater beim Dendur-Tempel-Projekt, und Sie haben in den letzten sechs Jahren an der Universität von Los Angeles Archäologie unterrichtet. Ich habe alle Ihre Bücher und Zeitschriftenartikel gelesen.«

Mark drückte den Tabak in seiner Pfeife fest, hielt eine Flamme daran und zog an der Pfeife, bis der Tabak rot aufglühte. Als blaue Rauchschwaden zur Decke emporstiegen, fuhr sein Besucher fort: »Der Grund, weshalb ich hier bin, Dr.Davison, ist der, daß ich Ihren Rat in einer Angelegenheit benötige, die für mich von größter Wichtigkeit ist.«

Marks Augen schweiften zu dem Aktenkoffer auf Halsteads Knien. Er wußte, was jetzt kommen würde. Es war eine Geschichte, die er schon hundertmal gehört hatte. Archäologen wurden ständig von Leuten aufgesucht, die felsenfest davon überzeugt waren, in den Besitz eines Fundstücks von unschätzbarem Wert gelangt zu sein. Eine Bronzestatue, eine Tontafel, zuweilen sogar ein Papyrus. Aber meistens waren es Fälschungen, oder es handelte sich um Gegenstände, die entweder in völlig ruiniertem Zustand oder so weit verbreitet waren, daß es nicht lohnte, sich damit zu befassen, wie etwa Skarabäen. Neugierig musterte Mark den Aktenkoffer, den Mr.Sanford Halstead auffällig behutsam festhielt, und versuchte zu erraten, was er wohl enthalten mochte.

»Ich will direkt zur Sache kommen, Dr.Davison. Es ist mein Wunsch, nach Ägypten zu fahren.«

Mark paffte gedankenverloren an seiner Pfeife und beobachtete, wie der Regen immer stärker gegen die Fenster trommelte. »Auf dem Sunset-Boulevard gibt es mehrere Reisebüros, Mr.Halstead.«

»Ich denke, Sie wissen, was ich meine, Dr.Davison. Was ich in meinem Besitz habe, ist ein Gegenstand, der Sie, glaube ich, ebenso wie mich dazu veranlassen wird, sofort nach Ägypten aufzubrechen.«

»Darüber möchte ich aber schon lieber selbst entscheiden.«

»Aber gewiß doch.«

»Das heißt, wenn ich mich überhaupt mit Ihrem ›Gegenstand‹ befassen will. Dessen bin ich mir jedoch gar nicht sicher. Sehen Sie, Mr.Halstead, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Ich habe keine Zeit …«

»Ich verstehe das, Dr.Davison«, unterbrach ihn der Fremde gelassen. Auf seinem strengen Mund mit den schmalen Lippen zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. »Sie sind gegenwärtig damit beschäftigt, einen Artikel über das Sexualverhalten der alten Ägypter für eine populäre Frauenzeitschrift zu verfassen.«

Mark hob überrascht die Augenbrauen.

»Und Sie arbeiten auch an dem ersten Entwurf Ihres nächsten Buches, das sich mit der Frage auseinandersetzen wird, wer der Pharao zur Zeit des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten war. Ich denke, Sie werden wohl der unbeliebten Echnaton-Theorie treu bleiben wie seinerzeit Sigmund Freud.«

Mark nahm die Pfeife aus dem Mund und beugte sich nach vorn.

»Wie haben Sie …«

»Ich weiß tatsächlich vieles über Sie, Dr.Davison. Es mag Sie überraschen, wieviel ich weiß. Zum Beispiel Ihre Unzufriedenheit mit der Situation, in der sich die Ägyptologie heutzutage befindet. Sie glauben, Ihre Wissenschaft stecke in einer Krise. Es ist in unserer Zeit nicht genug Interesse vorhanden, um sie am Leben zu erhalten; Geld, das in Ausgrabungen investiert werden könnte, wird verwendet, um Robbenschlächtern das Handwerk zu legen und gegen die Errichtung von Atomkraftwerken zu protestieren.«

Mark starrte den Mann verblüfft an.

»Ich wiederhole nur Ihre eigenen Worte, Dr.Davison, und ich versichere Ihnen, daß ich vollkommen mit Ihnen übereinstimme. Ich bin ein Mann, Dr.Davison, der willens ist, eine Ausgrabung zu finanzieren, etwas, von dem Sie schon glaubten, daß es Ihnen nie wieder vergönnt sein würde. Seit dem Bau des Assuan-Staudamms hat es kaum noch bedeutende Ausgrabungen im Niltal gegeben. Wie wir beide wissen, Dr.Davison, hat das wissenschaftliche Interesse am alten Ägypten stark nachgelassen. Heutzutage findet man keine Geldgeber wie Lord Carnarvon oder Davies mehr, von denen es vor einigen Jahrzehnten noch eine Menge gab. Der Ägyptologe von heute muß sich mit dem Hörsaal oder mit der Analyse von Objekten zufriedengeben, die vor langer Zeit ausgegraben wurden, und versuchen, neue Theorien über sie zu entwickeln.«

Mark versuchte, seinen wachsenden Unmut zu unterdrücken.

»Sie scheinen eine Menge über mich zu wissen. Sie geben sogar meine Meinungen exakt wieder, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie Sie von diesen Dingen erfahren haben, da ich sie nur engen Freunden gegenüber geäußert habe. Wie dem auch sei«, Mark erhob sich mit einem Ruck, »ich bin nicht an dem interessiert, was Sie mir zeigen wollen.«

Sanford Halstead blieb gelassen. »Bitte, Dr.Davison, lassen Sie mich ausreden. Es ist zu Ihrem wie zu meinem Nutzen. Ich biete Ihnen die Gelegenheit, wieder Feldforschung betreiben zu können, was Sie sich meines Wissens nur zu sehr wünschen.«

»Nun, Mr.Halstead, ich habe eine Eigenschaft, die Sie vielleicht nicht kennen, nämlich der Umstand, daß ich es nicht mag, wenn Leute mir sagen, was ich denken soll oder was ich von einer Sache zu halten habe. Ich schlage daher vor, Sie nehmen Ihr kostbares Fundstück und machen, daß Sie wegkommen.«

Der Fremde stand auf, und sein Schatten fiel auf Mark, der sitzen geblieben war. »Dr.Davison«, entgegnete er kühl, »Sie können es sich nicht leisten, mich abzuweisen. Ich allein kann Ihnen auf absehbare Zeit das bieten, was Sie sich am meisten wünschen: die Arbeit im Gelände.«

»Bitte, gehen Sie, Mr.Halstead.«

»Gut, wie Sie wollen.« Doch anstatt sich zum Gehen zu wenden, tat der dubiose Sanford Halstead etwas Merkwürdiges. Er hielt inne, um einen Blick auf den schieferfarbenen, schäumenden Ozean zu werfen, setzte dann seinen Aktenkoffer behutsam auf dem aus Treibholz gefertigten Couchtisch ab, öffnete ihn und nahm ein in Papier eingeschlagenes viereckiges Päckchen heraus. Er legte es auf den Tisch, richtete sich auf und sagte, wobei er Mark Davison direkt in die Augen sah: »Ich werde morgen abend um sechs Uhr zurückkommen.« Dann verließ er das Haus.

Die Reaktion des Mannes war so unerwartet und verblüffend gewesen, daß Mark einfach stehenblieb und dem Fremden beim Weggehen zusah. Durch die geöffnete Haustür erhaschte er gerade noch einen flüchtigen Blick auf einen Rolls-Royce, der von seinem Haus wegfuhr.

Nachdem er die Tür hinter dem geheimnisvollen Mr.Halstead wieder geschlossen hatte, ging Mark hinüber an die Bar und schenkte sich noch einen Bourbon ein.

Um das Haus tobte ein heftiges Unwetter, in dem sich Marks Gemütszustand widerzuspiegeln schien. Regen klatschte in unbändiger Wut gegen die großflächigen Fensterscheiben. Wer auch immer Halstead war, Mark haßte ihn. Er haßte ihn dafür, daß er so gut über die Enttäuschung Bescheid wußte, die an ihm nagte.

Was Mark jedoch an diesem stürmischen Abend wirklich quälte, war der Gedanke an Nancy, seine Verlobte. Diese verdammte Professur hatte eigentlich ihr mehr bedeutet als ihm selbst. Es war genau das, was sie sich gewünscht hatte, damit sie heiraten, Kinder bekommen und ein Haus kaufen konnten wie jedes andere junge Paar auch. Im Augenblick verdiente er als Dozent nicht genug, als daß er sie und eine Familie damit hätte ernähren können. Jedes Jahr kletterte die Miete für seine wackelige Baracke am Strand von Malibu, einem Vorort von Los Angeles, ein wenig höher. Nancy, die erste Frau, der er je die Worte »Ich liebe dich« gesagt hatte, die erste Frau, für die er je zu Opfern bereit gewesen war.

Als er sie vor sieben Jahren kennengelernt hatte, war er ein Feldarchäologe gewesen, der zu langen Ausgrabungskampagnen oft sehr weit weg reisen mußte. Nancy hatte Unzufriedenheit mit seiner häufigen Abwesenheit bekundet. Und so hatte Mark aus Liebe zu ihr versucht, sich in die akademische Nische einzupassen, hatte gelehrt, Artikel und Bücher verfaßt und Vorträge gehalten, so daß er und Nancy mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl wollten sie heiraten. Er war sich seiner Ernennung so sicher gewesen, daß er sogar schon einen Termin für die Hochzeit festgesetzt hatte. Nur, jetzt hatte er die Professur nicht bekommen, und er wußte nicht, wie er es Nancy beibringen sollte. Er murmelte »Verdammt!« und füllte sein Glas nach.

Das düstere, mit echten und nachgebildeten Antiquitäten vollgestopfte Wohnzimmer, in dem sich staubige Bücher unordentlich aufeinandertürmten, wurde ihm zum Käfig. Halstead hatte recht: Mark brauchte die Arbeit im Gelände. Wonach er sich sehnte, war die Herausforderung und die körperliche Anstrengung der Grabung: die sonnendurchglühten Tage, in denen er im Schweiße seines Angesichts den Sand nach Spuren antiker Geheimnisse durchkämmte, umgeben von den Ruinen, den Hinterlassenschaften eines Volkes, das er so sehr bewunderte und zu verstehen suchte.

Schließlich blieb sein Blick an dem in Papier eingeschlagenen Päckchen haften, das Halstead liegengelassen hatte.

Der Klang der Spitzhacke, wenn sie auf Stein traf, das Gefühl, wenn ein Spaten in den Sand eindrang, die Rufe der arabischen Arbeiter, wann immer etwas gefunden wurde …

Er starrte wie gebannt auf das Päckchen.

Wer zum Teufel war Halstead eigentlich? Ein Spinner, der glaubte, ein Fundstück von unschätzbarem Wert zu besitzen, das jeden Archäologen dazu veranlassen würde, mit der Schaufel in der Hand nach Ägypten zu eilen.

Mark stellte sein leeres Glas auf der Bar ab und näherte sich, ein wenig neugierig geworden, dem Couchtisch. Der Bourbon hatte ihn milder gestimmt und seine schroffe Ablehnung von allem, was mit Halstead zu tun hatte, gedämpft. In der Absicht, Halsteads läppischen Gegenstand mit einem raschen Blick abzutun, ließ sich Mark in der Couchecke nieder und entfernte langsam das braune Papier.

Zu seinem großen Erstaunen kam darunter ein breitformatiges Buch zum Vorschein, das im Stil des neunzehnten Jahrhunderts in Leder gebunden war.

Zwei

Mark erwachte kurz nach Sonnenaufgang und wandte seinen Kopf blinzelnd von den hellen Sonnenstrahlen ab, die sich ihren Weg durch die sich aufreißenden Regenwolken hindurchbahnten und ihm direkt ins Gesicht schienen. Benommen sah er sich in seinem Wohnzimmer um und erinnerte sich jetzt wieder, daß er im Lehnstuhl eingeschlafen war, nachdem er das Tagebuch von Neville Ramsgate zu Ende gelesen hatte. Mark rieb sich den Nacken, richtete sich auf und erhob sich schwerfällig. »Nicht zu glauben!« murmelte er, während er auf das schwere, in Leder gebundene Buch herabschaute, das zu seinen Füßen lag. »Das ist ja einfach nicht zu glauben …«

Mark tappte durch das düstere Wohnzimmer ins Bad, streifte seine Kleider ab und stellte sich unter die heiße Dusche. Während er sich die Haare wusch, erinnerte er sich an den Ablauf der Ereignisse des Vortages: Grimms niederschmetternder Anruf; sein halbherziger Versuch, den Artikel für die Frauenzeitschrift zu diktieren; der unerwartete Besuch von Sanford Halstead und schließlich – das Tagebuch. Mark ließ den Wasserstrahl noch eine Weile auf seinen Körper prasseln, dann stellte er die Dusche ab. Als er durch heftiges Frottieren versuchte, seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen, dachte Mark weiter über die bemerkenswerte Geschichte nach, die er in der Nacht gelesen hatte.

Nachdem er sich angezogen hatte und sich trotz eines leisen Pochens im Kopf und eines nagenden Hungergefühls etwas besser fühlte, griff Mark Davison ohne zu zögern zu dem Telefon in seinem Schlafzimmer und wählte die Nummer von Ron Farmer. Er ließ es ungefähr zwanzigmal klingeln und legte dann auf. Mark schaute zu den Panoramafenstern hinaus und stellte fest, daß der Regen irgendwann während der Nacht aufgehört hatte.

Kurz entschlossen machte er auf dem Absatz kehrt, lief durchs Wohnzimmer und schnappte sich seine Windjacke, die an einem Haken in der Nähe der Haustür hing. Draußen stand, Wind und Wetter schonungslos ausgesetzt, sein verbeulter Volvo. Die Buchstaben auf dem Kennzeichen ergaben zusammengesetzt das Wort NIL. Während Mark den Motor warmlaufen ließ, mußte er ständig an die unglaubliche Geschichte denken, die er bis in die späte Nacht hinein gelesen hatte.

Das Tagebuch von Neville Ramsgate enthielt die Aufzeichnungen eines der Pioniere unter den Ägyptologen, der im neunzehnten Jahrhundert gelebt hatte. Es handelte sich um den handgeschriebenen Bericht eines Mannes, der die alte Stadt Achet-Aton in Ägypten erforscht hatte. Mark hatte von Neville Ramsgate gehört und über die Expeditionen des alten Professors im Niltal gelesen. Es war bekannt, daß Ramsgate im Jahr 1881 eine Ausgrabung irgendwo in der Region von Tell el-Amarna geleitet und dort nach dem sagenumwobenen Grab des Pharaos Echnaton gesucht hatte. Doch es war nichts darüber bekannt, was aus Neville Ramsgate und seiner Expedition geworden war. Alles, was man heute wußte, war, daß der Forscher vor hundert Jahren irgendwo um Tell el-Amarna herum eine Grabungsstätte eingerichtet hatte, dort eine Weile gearbeitet hatte und dann unter mysteriösen Umständen verschwunden war. Niemand hatte mehr etwas von ihm gehört.

Das war alles, was Mark und jeder andere Archäologe auf der Welt über Neville Ramsgate wußten. Bis gestern nachmittag. Bis ein Fremder namens Sanford Halstead vor Dr.Mark Davisons Tür erschienen war und ein Tagebuch mitgebracht hatte, das von dem seltsamen Neville Ramsgate persönlich geschrieben worden war.

Nachdem er dem Volvo genügend Zeit zum Warmlaufen gegeben hatte, wartete Mark eine Lücke in dem starken morgendlichen Berufsverkehr auf dem Pacific Coast Highway ab und scherte Richtung Süden ein.

Eine halbe Stunde später hatte er Marina del Rey erreicht. Während er langsam an der Reihe parkender Autos an Kanal B entlangfuhr, erspähte Mark Ron Farmers alten Kombi mit dem riesigen Aufkleber: ARCHÄOLOGEN STEHEN AUF ÄLTERE FRAUEN und parkte daneben ein. Er stellte den Motor ab und wartete einen Augenblick, um seine Gedanken zu sammeln.

Ron Farmer war nie schwer zu finden. Er hielt sich fast immer nur an einem von drei Orten auf: in der Dunkelkammer in seinem Haus, in der Universitätsbibliothek oder auf seinem Boot. Da Mark bei seinem Anruf in Rons Haus keine Antwort erhalten hatte und da die Bibliothek noch nicht geöffnet war, wußte er, wo sein bester Freund zu dieser frühen Stunde anzutreffen wäre.

Das Tor zu dem Gelände der Marina, dem kleinen Yachthafen, stand offen, und so konnte Mark, ohne über den Zaun klettern zu müssen, zu den Liegeplätzen hinuntergelangen. Rons Liegeplatz befand sich ganz am Ende, so daß Mark zwischen zwei Reihen sanft schaukelnder, knarrender Boote hindurchgehen mußte, die allesamt im grauen Morgenlicht glänzten. Als er ganz hinten anlangte, sah Mark seinen Freund im Schneidersitz auf dem Steuerbord-Schwimmer seines Bootes sitzen, eines sechsundzwanzig Fuß langen Kreuz-Trimarans namens Tutanchamun.

»Hallo!« rief Mark.

Ron blickte auf, winkte kurz und starrte dann wieder wütend in die Luke des Steuerbordrumpfes.

Mark sprang an Bord, hielt sich an einer Wante fest und fragte: »Hast du Probleme?«

Ron schaute nicht auf. »Regenwasser im Kielraum, verflucht noch mal!«

Mark zwang sich ein Lächeln ab und rieb sich ungeduldig die Hände.

Ron Farmer war fünfunddreißig Jahre alt, wirkte aber viel jünger. Er trug geflickte Bluejeans und ein fleckiges marineblaues Sweatshirt mit einer verwaschenen Aufschrift auf der Brust. Sein langes, blondes Haar fiel nach vorne und verbarg den mißvergnügten Ausdruck auf seinem Gesicht. Mark warf einen Blick hinunter ins Cockpit und sah auf dem zerrissenen Vinylpolster die ihm so vertraute Ausstattung seines Freundes, Ron Farmers Erkennungszeichen: eine Korbflasche mit billigem kalifornischen Chianti, ein Roman von Stanislaw Lem und seine Spiegelreflexkamera. Mark kannte Rons Gewohnheiten: Er würde jetzt gleich durch die Fahrrinne hinaussegeln, beidrehen, die Segel reffen und sich auf der Dünung dahintreiben lassen, bis sein Wein zur Neige ging. Zuweilen verschwand er tagelang, wenn er sich urplötzlich entschloß, zu den Channel Islands oder zum Catalina-Island hinüberzusegeln. Dann sah Mark ihn oft eine ganze Woche lang nicht. Er war daher außerordentlich froh, daß er seinen Freund noch rechtzeitig abgefangen hatte.

»Ron?« Mark fröstelte ein wenig in der schneidenden Meeresbrise.

Schließlich zuckte der junge Mann mit den Achseln, ließ den Lukendeckel fallen und stand auf. Obwohl Ron genauso groß war wie Mark, wirkte er durch seine Schlaksigkeit und seinen hageren, knochigen Körperbau größer als sein Freund. Mit seinem bartlosen Gesicht, seinen kornblumenblauen Augen und dem platinblonden Haar, das ihm bis an die Schultern reichte, sah Dr.Ronald Farmer aus wie ein Surfer Mitte Zwanzig.

»Was gibt’s?« fragte er. »Ich habe dich um diese Zeit noch nie hier unten gesehen. Lieber Himmel, du siehst ja furchtbar aus!«

»Ich fühle mich furchtbar, Ron. Ich bin die ganze Nacht aufgewesen. Ich will, daß du mit mir nach Hause kommst. Ich muß dir unbedingt etwas zeigen.«

»Jetzt? Ich bin beschäftigt. Ich muß das Wasser aus dem Kielraum pumpen, bevor es den Rumpf angreift.«

Mark raufte sich die Haare und sah sich auf der Tutanchamun um. Trotz all der Mühe, die Ron ständig auf sein Boot verwendete, erschien es doch immer ein wenig vergammelt. Aber andererseits legte Ron niemals Wert auf das äußere Erscheinungsbild. Wenn sie nahe am Wind segelte, konnte die Tutanchamun immerhin eine Geschwindigkeit von dreizehn Knoten erreichen.

»Ron, hast du jemals von Neville Ramsgate gehört?« fragte Mark.

Ron sprang hinunter ins Cockpit, bückte sich und begann dort herumzustöbern. »Ja«, rief er zurück, »einer der ersten Ägyptologen. Noch vor Petrie, glaube ich. Er hat sich viel mit der Vermessung von Pyramiden beschäftigt.«

»Er hat auch in Tell el-Amarna Ausgrabungen durchgeführt.«

»Stimmt. Darüber habe ich auch mal was gelesen.« Ron wühlte in den Stauräumen, welche in die Schwimmer eingelassen waren, und murmelte: »Scheiße!«

»Was gibt’s?«

»Ich kann die Pumpe nicht finden.«

»Ron, kannst du das nicht auf später verschieben?«

Ron Farmer richtete sich wieder auf. »Worum geht es eigentlich?«

Mark wollte es am liebsten herausbrüllen und die unglaubliche Aufregung, die ihm im Magen kribbelte, mit seinem Freund teilen. Aber er hielt sich zurück. »Ich möchte, daß du dir bei mir zu Hause etwas ansiehst.«

Ron strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht. »Wieder einmal so ein sensationelles Fundstück?«

»Komm mit mir nach Hause.«

»Kann das nicht warten?«

Mark schüttelte verneinend den Kopf.

»Na ja …« Ron blinzelte hinauf zum Himmel und seufzte.

»Sieht so aus, als ob es ohnehin bald wieder anfängt zu regnen.«

 

Sie fuhren mit Marks Volvo. Unterwegs berichtete Mark über den kurzen, merkwürdigen Besuch von Sanford Halstead, wobei er versuchte, sich an alles, was der Mann gesagt hatte, genau zu erinnern. Dabei ließ er zwar anklingen, worum es sich bei Halsteads Päckchen handelte, verriet es aber nicht ganz und endete mit den Worten: »Ich fürchte, die Ablehnung meiner Bewerbung um den Lehrstuhl hat mich in eine furchtbar unruhige Stimmung versetzt, in der ich begierig nach allem greife, was sich mir bietet. Dieser Halstead will, daß ich nach Ägypten fahre, um dort Ausgrabungen vorzunehmen … Das alles hört sich einfach zu gut an. So dachte ich, es wäre besser, wenn du dir das Ganze mal ansiehst und mir sagst, was du davon hältst.«

Als sie aus dem Volvo stiegen und den ersten Nieselregen im Gesicht spürten, meinte Ron: »Als erstes brauche ich mal einen Kaffee. Ich bin auch fast die ganze Nacht aufgewesen.«

Mark suchte nach seinem Hausschlüssel. »Hast du an deiner Abhandlung über Echnaton gearbeitet?«

»Nein, ich habe den Film mit den Delphinbildern entwickelt, die ich vor Catalina-Island gemacht habe. Von sechsunddreißig Aufnahmen ist eine einzige gelungen.«

Ron schlang die Arme um seinen Körper, als ihm die klamme Feuchtigkeit entgegenschlug, die im Haus herrschte. »Wie hältst du das bloß aus?«

»Ich mache ein Feuer an, wenn du willst«, rief Mark, der sich bereits auf dem Weg in die unaufgeräumte Küche befand. Fünf Minuten später, während draußen der Regen niederzuprasseln begann, saßen die beiden Ägyptologen vor einem lodernden Kaminfeuer und schlürften heißen Kaffee. Mark reichte Ron wortlos das abgegriffene Buch.

»Sieht ziemlich alt aus!«

»Hundert Jahre, um es genau zu sagen. Lies die erste Seite.«

Ron überflog langsam die feingeschwungene, verschnörkelte Handschrift. »Neville Ramsgate, wie bist du …«

»Das hat mir Sanford Halstead gestern abend gebracht. Ich habe den ganzen Text gelesen, aber du brauchst das nicht. Im ersten Teil berichtet er in übertrieben stimmungsvoller Prosa über Kairo und seine Reise nilaufwärts mit einem Dampfboot. Überschlag die Seiten bis zum Juni; das ist ungefähr in der Mitte des Buches, und fang um den zwanzigsten herum an zu lesen.«

Ron richtete einen durchdringenden Blick auf Mark und fragte:

»Steht darin, was er in Tell el-Amarna gefunden hat?«

Mark wich seinem Blick aus und starrte ins Feuer. »Lies es einfach …« erwiderte er leise.

Drei

»Nun?«

Ron Farmer schaute auf. Seine Miene spiegelte Verwirrung wider. »Er hat es nicht zu Ende geschrieben. Die letzte Eintragung bricht plötzlich mitten im Satz ab.«

»Was hältst du von Ramsgates Geschichte?«

Ron schloß das Tagebuch und legte es behutsam auf den Couchtisch. Dann stand er auf, streckte sich und ging hinüber zur Schiebeglastür. Während er beobachtete, wie sich die Wassermassen des grauen Ozeans unter dem schweren Regen langsam hoben und senkten, meinte er ruhig: »Ich würde sagen, Neville Ramsgate hat Echnatons Grab gefunden.«

Mark stand hinter ihm gegen den Kaminsims gelehnt und versuchte sich mit aller Macht zu beherrschen. Rons Urteil schürte die stille Hoffnung, die er selbst seit der Lektüre des Tagebuches hegte. »Vor einhundert Jahren«, begann er leise, wobei er sich zwang, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, »vor einhundert Jahren leitete Neville Ramsgate eine siebenköpfige Expedition nilaufwärts nach Teil el-Amarna, wo er ein Lager aufschlug und in der Ebene Ruinen ausgraben wollte. Dann fiel ihm durch einen glücklichen Umstand ein Beweisstück für die Existenz eines unerforschten Grabes in die Hände. Von da an verlagerte sich sein Bestreben auf die Suche nach diesem Grab – von dem er vermutete, daß es Pharao Echnatons Grab war –, und indem er einer Reihe von Hinweisen folgte, fand er es schließlich. Aber …«, Mark senkte die Stimme, »das Tagebuch endet unmittelbar vor der Öffnung der Tür zur Grabkammer.«

Ron starrte auf die Regenschlieren, die an der Fensterscheibe draußen herunterrannen. Sein Blick verdüsterte sich, und sein Gesicht wurde fahl. Er drehte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen das kalte Glas. »Ich gehe jede Wette ein, daß sich das Grab noch immer dort befindet und ungeöffnet ist. An der Stelle, wo die Tagebucheintragungen enden, berichtet Ramsgate davon, daß sie die letzte Stufe freigelegt hätten und die Tür zur Grabkammer vollständig sehen konnten …«

»… die noch immer mit den alten Siegeln der Priester versehen war.«

»Irgend etwas muß Ramsgate zugestoßen sein, bevor er sie öffnen konnte, denn erstens hat er das Tagebuch nicht zu Ende geschrieben, und zweitens habe ich nie von dem Grab gehört, das er darin beschreibt. Ich halte es für wahrscheinlich, daß er starb, bevor es geöffnet wurde, und daß nach ihm aus irgendeinem Grund niemand mehr die Gelegenheit hatte, das Grab zu öffnen.«

»Er muß das Geheimnis mit in den Tod genommen haben, Ron«, sagte Mark und blickte finster auf das schwere Buch auf dem Couchtisch. »Alles, was wir eben gelesen haben, ereignete sich vor hundert Jahren. Die Ägyptologie steckte damals noch in den Kinderschuhen. Neville Ramsgate war durch Zufall auf das Grab gestoßen, dann war er gestorben, bevor er es öffnen konnte, und das Geheimnis um seine Fundstelle, ja überhaupt die Kenntnis von dessen Existenz, sind mit ihm dahingegangen.« Mark trat vom Kaminsims weg und ließ sich aufs Sofa fallen. »Dieses Grab existiert noch immer irgendwo im Gebiet von Tell el-Amarna, und es ist womöglich nach wie vor unberührt.«

Ron schaute Mark eine Weile nachdenklich an und meinte schließlich: »Glaubst du, man könnte es wiederfinden?«

»Allmächtiger, Ron«, flüsterte Mark. »Das Grab von Echnaton! Der berühmteste und berüchtigtste der ägyptischen Pharaonen. Sein Grab wäre eine aufsehenerregendere Entdeckung als das Grabmal von Tutanchamun. Und für den Mann, der es findet, bedeutet das …«

»… grenzenlosen Ruhm und Reichtum. Er wäre ein Held, berühmter als Howard Carter. Falls …« Ron steckte seine Hände in die Hosentaschen, durchquerte mit vier gemächlichen Schritten das Wohnzimmer und sank neben Mark auf das Sofa. »… falls es wiedergefunden werden kann.«

Mark musterte seinen Freund mit banger Miene. »Ramsgate hat es aber doch gefunden, oder?«

»Gewiß, doch dem Tagebuch zufolge hatte er die Entdeckung größtenteils glücklichen Umständen zu verdanken, zum Beispiel dieser alten Frau, die ihm das erste Steinfragment gab.«

»Aber Ron«, erwiderte Mark schnell, »alles, was wir tun müssen, ist, Ramsgates Schritte nachzuvollziehen.«

»Ich weiß nicht recht, Mark, es gibt in der Beschreibung so viele Lücken. Ramsgate schrieb dieses Tagebuch nicht für irgend jemanden, der einhundert Jahre nach ihm kommen würde. Es handelt sich vielmehr um die Niederschrift ganz persönlicher Erinnerungen. Er wußte, worüber er sprach, deshalb bestand für ihn keine Notwendigkeit, den Bericht durch Einzelheiten zu ergänzen, wie zum Beispiel Angaben über die genaue Lage des Grabes.«

»Aber er gibt uns doch genug Anhaltspunkte dafür. Immerhin wissen wir, daß es in Tell el-Amarna ist.«

»Und das wäre schon in etwa alles, was wir wissen. Verdammt noch mal, Mark, du sprichst von sechzig Quadratkilometern Wüste, die aus Sand, Tälern und Schluchten bestehen! Die Hinweise, die er gibt, sind doch nur knappe Angaben. Und auf diese ist er selbst lediglich durch Zufall gestoßen. Hör dir nur das an.« Ron nahm das Tagebuch hoch und durchblätterte vorsichtig die brüchigen Seiten. »Hier.« Er breitete es auf seinem Schoß aus und las weiter:

1. Juli 1881: Kurz nach Sonnenuntergang kam eine alte Frau in unser Lager, die einen Esel mit sich führte. Sie erzählte Mohammed, daß sie die Ruinen nach sebbach, alten Nilschlammziegeln, welche die Einheimischen als Dünger für ihre Felder benutzen, durchstöbert habe, als sie plötzlich auf etwas gestoßen sei, für das sich die ›Fremden aus dem Norden‹ gewiß interessieren würden. Mohammed wollte sie eben schon wegjagen, als ich dazukam und mich daran erinnerte, daß viele der heute im neuen Britischen Museum beherbergten kostbaren Fundstücke auf ebensolche Weise in europäische Hände gelangt waren. So sagte ich ihr, daß ich mir gerne ansehen wolle, was sie gefunden hatte.

Man stelle sich meine Überraschung vor, als diese knorrigen alten Hände aus dem Sack auf dem Eselsrücken das vollständig erhaltene Oberteil einer Stele hervorzogen, wie man sie in dieser Gegend in die Felsen gemeißelt findet. Aber leider war es nicht der ganze Stein, und ich schloß aus dem Verlauf der Bruchstelle, daß die Stele in drei Teile zerbrochen war. Während ich Gleichgültigkeit vortäuschte, um die alte Frau nicht auf den Gedanken zu bringen, einen unverschämten Preis dafür zu fordern, erkundigte ich mich danach, wo sie den Stein gefunden habe.

Mohammed dolmetschte für mich, da mir der Dialekt dieser Region nicht geläufig ist. Das Fragment hatte unweit der Mündung des großen Wadis im Sand der Ebene verborgen gelegen.

Ich fragte die Alte, wo sich die anderen Bruchstücke befänden, denn ich hegte den Verdacht, daß sie die alte arabische List anwenden wollte, die darin besteht, ein altes Fundstück auseinanderzubrechen, um es in mehreren Teilen für einen höheren Preis zu verkaufen. Wie überrascht war ich indessen, als sie angab, es nicht zu wissen.

Unser Gespräch brach an dieser Stelle ab, denn die Ziegelsammlerin schien es mit der Angst zu bekommen und schickte sich an, ihren Esel wegzuführen. Ich wies Mohammed an, ihr für dieses Fragment ein ägyptisches Pfund zu bieten (was für sie sicher ein Vermögen darstellte) und zwei Pfund, wenn sie uns helfen würde, die anderen beiden ausfindig zu machen. Doch sie lehnte ab und sagte, sie wolle überhaupt kein Geld! Sir Robert und ich vermuteten einen Trick, denn es gibt wohl kein habgierigeres Volk als die Araber. Aber Mohammed übersetzte weiter, daß die Dörfler froh seien, den Stein loszuwerden, denn seitdem ein heftiger Regenguß ihn vor Monaten aus dem Wadi heruntergeschwemmt habe, seien sie vom Unglück verfolgt. Während sich Mohammed weiter mit ihr unterhielt und immer wieder versuchte, die alte Frau zum Bleiben zu bewegen und weitere Auskünfte von ihr zu erhalten, nahm ich das, was ich da in Händen hielt, sorgfältig in Augenschein. Und als mir bewußt wurde, daß dieses Fragment Teil einer Grabstele war – das heißt ein Stein, der den Eingang zu einem Grab kennzeichnet – und sogar auf die Grabstätte einer Person königlicher Abkunft hinzudeuten schien, vermochte ich meine Erregung kaum noch zu verbergen.

›Stammt dies etwa von dem sogenannten Königlichen Grab?‹ ließ ich durch Mohammed fragen. ›Stand dieser Stein ursprünglich vor dem Grab, das sich vier Meilen wadiaufwärts befindet?‹

Sie schüttelte heftig den Kopf und äußerte etwas von einer ›verbotenen Zone‹.

Ich versuchte weiter in sie zu dringen, aber die Alte ließ sich durch nichts halten. Ich erhöhte mein Angebot, doch sie schlug es abermals aus, wobei sie aufgeregt in ihrer verworrenen Sprache drauflosplapperte. Nachdem die alte Frau gegangen war, übersetzte mir Mohammed, was sie zum Schluß gesagt hatte: Der Stein habe einen verbotenen Ort markiert, den ihre Leute seit Jahrhunderten wohlweislich gemieden haben. Doch jetzt hätten Gewitter und Regen den Markierungsstein, der unter dem Hund gestanden habe, auseinandergebrochen und die Fragmente aufs Geratewohl verstreut. »Jetzt seien die Teufel freigekommen.«

Dies waren Mohammed zufolge genau ihre Worte.

Ron blickte zu Mark auf. »Hinweis Nummer eins. Die Stele, die den Eingang zum Grab kennzeichnete, hatte unter einem Hund gestanden, was immer das ist, aber ein Blitzschlag hat sie in drei Teile zerbrochen, und ein plötzlich einsetzender heftiger Regenguß hat eines der Teile in die Ebene hinuntergeschwemmt. Nun machte sich Ramsgate auf, um dieses Grab zu finden, wobei er dieses Stelenfragment benutzte und nach dem Hund Ausschau hielt.«

»Und er hat ihn gefunden.«

»Ja, aber wieder einmal nur durch Zufall, nicht dank des Steinfragments. Seitenlang beschreibt er seine Suche nach diesem Hund, und als er ihn dann findet, sagt er nicht einmal, wo genau er sich befand, sondern nur: ›Ich habe den Hund endlich gefundene.‹«

»Ich stelle mir vor, daß es sich dabei um eine Felsformation handelt, die einem Hund oder einem Hundekopf ähnelt.«

Ron zuckte mit den Schultern. »Nun zu Hinweis Nummer zwei.«

Als er die vergilbten Seiten wendete, brach ein Blitzstrahl durch die dahinziehenden Wolken, auf den eine Sekunde später ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte.

»Das Gewitter ist jetzt direkt über uns«, murmelte Mark und blickte zur Decke auf.

»Hier«, fuhr Ron leise fort.

3. Juli 1881: Es gibt irgend etwas Eigenartiges an dieser Stele. Ich habe ihre Gravuren gestern abend einer eingehenden Prüfung unterzogen und machte die erstaunliche Entdeckung, daß diese Stele keiner bisher bekannten gleicht. Sie ähnelt weder der gewöhnlichen Gedenkplatte, die einen König auf dem Schlachtfeld zeigt, noch der Art von Grabstein, auf denen der Verstorbene Osiris und Anubis huldigt. Tatsächlich wird im oberen Teil des Steins kein einziges menschliches Wesen dargestellt, dafür aber sieben ziemlich seltsame und faszinierende Gestalten, von denen ich annehme, daß es Götter sind. Nur ein Name ist erkennbar, und dieser steht in der Kartusche eines unbekannten Pharaos namens Tutanchamun. Ich habe noch nie von ihm gehört und Sir Robert ebensowenig.

Es sieht aus wie eine Art Gedenktafel, und dennoch scheinen die Hieroglyphen, welche in waagerechten Reihen verlaufen und von rechts nach links gelesen werden, eine Warnung auszusprechen.

Ron blätterte die Seite um, und wieder ließ ein Donnerschlag das Haus bis in die Grundfesten erzittern.

4. Juli 1881: Ich habe die Inschrift auf dem Stein übersetzt. Es handelt sich, wie ich vermutet habe, um eine Bestattungstafel und bezeichnet die Lage eines Grabes, das jemandem gehört, auf den als »Er-der-keinen-Namen-hat« Bezug genommen wird. Unglücklicherweise ist die Stele hier entzweigebrochen, und ich kann die Identität von Er-der-keinen-Namen-hat nicht entziffern.

»Damit ist bestimmt Echnaton gemeint«, kommentierte Mark, während er auf den stürmischen Ozean hinausblickte. »Nach dem Ende seiner Herrschaft erklärten es die Amun-Priester zum Verbrechen, seinen Namen auszusprechen.« Ron blätterte flink weiter. »Dann fand Ramsgates Aufseher Mohammed am zehnten Juli das zweite Stelenfragment, aber Ramsgate gibt nicht an, wo. Und jetzt, Mark, hör dir das an.« Ron dämpfte die Stimme und las atemlos.

12. Juli 1881: Ein unwiderstehlicher Drang hat uns alle gepackt, diesen Hund und das dritte Fragment zu finden. Beim Übersetzen des zweiten Teilstücks ermittelte ich gerade noch Anfänge eines Abschnitts, von dem ich sicher bin, daß er die Lage des Grabes angibt.

Ron hielt das Tagebuch noch immer geöffnet auf seinem Schoß und schaute auf. »Auf all diesen Seiten berichtet Ramsgate in einem fort über die Ausgrabung – das Ziehen der Gräben, das Ausheben der runden Schächte und Testlöcher –, er beschreibt sogar das Leben im Lager, das zu jener Zeit äußerst beschwerlich war. Aber nirgends erwähnt er, wo genau er gräbt.«

»Lies weiter vorn, Ron. Lies den Absatz über das Rätsel.«

»Ach ja, das Rätsel. Hinweis Nummer drei.« Er blätterte weiter und klatschte mit der Hand flach auf die Seite.

»Die Schlüsselpassage.«

16. Juli 1881: Kurz nach Sonnenaufgang, als die Arbeitsgruppen bereits im Wadi ihrer Arbeit nachgingen, wurde das dritte Fragment gefunden. Es ist kein loser Stein, sondern ein Sockel aus festem Fels, der aus dem Sand ragt. Die Stele war aus gewachsenem Fels herausgemeißelt worden. Der Sockel ist daher feststehend und unbeweglich. Obgleich sich das Fragment in schlechterem Zustand befindet als die übrigen dazugehörigen Stücke, ist die Inschrift doch noch lesbar, und ich habe den ganzen Tag hart gearbeitet, um das Ende des Hieroglyphentextes zu übersetzen. Während die arme Amanda unter ihren Decken unruhig schläft und von Alpträumen geplagt wird, sitze ich hier und zerbreche mit den Kopf über die rätselhaften Worte, die ich herausgebracht habe. Die Warnung setzt sich darin fort. Eine Mahnung an alle, die zufällig vorbeikommen, sich fernzuhalten. Bis zur letzten Hieroglyphenreihe, in der es heißt: »Wenn Amun-Ra stromabwärts fährt, so liegt der Verbrecher darunter; um mit dem Auge der Isis versehen zu werden.«

Sir Robert und ich haben uns den ganzen Abend bemüht, das Rätsel dieser Inschrift zu lösen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß diese letzte Zeile auf die Lage des Grabes verweist, und doch finde ich darin keine Anspielung auf einen Hund. In welchem Zusammenhang steht dieser Absatz zu dem, was die alte Ziegelsammlerin uns erzählt hat?

»Verdammt«, brummte Mark und lief hinüber zur Bar, »er liefert uns genug, um uns zur Verzweiflung zu bringen!« Während Mark sich einen Schluck Bourbon einschenkte und dabei mit finsterem Blick auf den mit unverminderter Heftigkeit tobenden Regensturm starrte, las Ron weiter in dem Tagebuch. Nach ein paar Minuten des Schweigens, das nur gelegentlich durch einen Donnerschlag unterbrochen wurde, sagte Ron mit tonloser Stimme: »Das ist der Teil, der mich am meisten beschäftigt. Die Inschrift, die Ramsgate am Eingang zum Grab fand …«

Mark hörte nicht zu. Während er auf den schäumenden grauen Ozean hinabstarrte und spürte, wie sein Haus bei jeder Woge erzitterte, hielt ihn der quälende Gedanke an seine eigene Unentschlossenheit völlig gefangen.

Halstead hatte ihn gebeten, nach Ägypten aufzubrechen. Und nur eines hinderte ihn daran, sofort einzuwilligen: ein Versprechen.

Mark dachte wieder an Nancy, stellte sich ihr hübsches Gesicht vor, hörte ihr leises, befreiendes Lachen. Er war ihr vor sieben Jahren im Kunstmuseum von Los Angeles begegnet, als er dort einen Vortrag über Königin Nofretete gehalten hatte. Ihre Beziehung hatte sich anfangs auf gelegentliche Treffen beschränkt, war aber nach jeder seiner Ägyptenreisen enger geworden, bis ihnen nach seiner letzten Reise bewußt geworden war, daß sie sich liebten. Seitdem hatten sie sich nicht mehr für längere Zeit trennen wollen. Nancy reiste sehr ungern und sehnte sich nach Beständigkeit, und irgendwann im Verlauf der langen Liebesnächte, die sie in seinem Bett verbrachten, hatte Mark nachgegeben.

Er hatte ihr versprochen, daß die Zeit seiner Forschungsreisen vorüber sei, daß er nun zur Ruhe kommen und bei ihr bleiben wolle. Und bis gestern, bis zu Grimms Anruf, hatte Mark sich an sein Versprechen gehalten. Aber dann war Halstead erschienen und hatte ihm diese im Leben eines Ägyptologen einmalige Chance offeriert. Nur ein Narr, ganz gleich, wie sehr er auch in eine Frau wie Nancy verliebt sein mochte, würde sich diese Gelegenheit entgehen lassen. Rons Stimme schien aus weiter Entfernung zu ihm herüberzudringen. »Die sieben Dämonen und die sieben Flüche auf der Tür zur Grabkammer, Mark. Ich habe so etwas noch nie gehört, nicht in all den Jahren, die ich mich schon mit Ägypten befasse. Nun hör dir das an:

Hüte dich vor den Wächtern des Ketzers, die da wachen bis in alle Ewigkeit. Dergestalt ist die Rache der Schrecklichen:

Einer wird Euch in eine Feuersäule verwandeln und Euch vernichten.

Einer wird Euch Euer eigenes Exkrement essen lassen.

Einer wird Euch das Haar vom Kopf reißen und Euch skalpieren.

Einer wird kommen und Euch zerstückeln.

Einer wird als hundert Skorpione kommen.

Einer wird den Stechmücken gebieten, Euch zu verzehren.

Einer wird Euch eine schreckliche Blutung verursachen und Euren Körper austrocknen lassen, bis Ihr sterbet.«

Ron lehnte sich zurück und klappte das Tagebuch vorsichtig zu.

»Das kann doch wohl nicht stimmen. Ramsgate muß falsch übersetzt haben. Die Ägypter schrieben niemals dergleichen auf ihre Gräber …«

Ron schwieg wieder, während Mark weiter mit sich haderte. Er wußte, daß er kein Recht hatte, sein Versprechen Nancy gegenüber zu brechen; aber er mußte auch ehrlich zu sich selbst sein.

Mark faßte sein Glas so fest, daß seine Finger ganz weiß wurden. Er zitterte vor Unentschlossenheit.

Soweit er zurückdenken konnte, hatte ihm die Ägyptologie alles bedeutet.

Mark Davison entstammte einer Farmarbeiterfamilie und war in Bakersfield zur Welt gekommen. Sein Vater, ein grobschlächtiger, riesenhafter Mann, hatte seine Familie mit den vier Söhnen von dort bis ins San-Joaquin-Tal in Kalifornien geschleppt, wobei sie von einer Ernte zur nächsten gezogen waren. Mark hatte als Jugendlicher keine Auflehnung gekannt, sondern nur eine tiefsitzende Mischung aus Ehrfurcht und Haß für seinen Vater. Schon im Alter von fünf Jahren, als er sich auf den Feldern von Salinas mit seinem Vater und seinen drei Brüdern unter der heißen Sonne niederbeugte und in der Erde nach Artischocken grub, begriff Mark, daß er zu etwas Besserem bestimmt war. Er wußte nicht, wann seine Liebe zu den Altertümern begonnen hatte, aber er konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem er keinen Schmutz unter den Fingernägeln gehabt hatte. Anfangs war es für den jungen Mark schwer gewesen, da sein Vater Bildung verachtete und die Familie nie lange genug an einem Ort blieb, als daß er ein ganzes Schuljahr dort hätte absolvieren können. Doch die Zeit verging, und George Davison wurde das Opfer seiner jahrzehntelangen Trinkerei. Und als die älteren Brüder einer nach dem anderen fortgingen und Mark mit seinem betrunkenen Vater und der ausgezehrten Mutter alleine ließen, packte ihn das verzweifelte Verlangen, etwas aus sich zu machen. Er jobbte an Tankstellen und besuchte die Abendschule. Er bewarb sich um ein Stipendium für die Universität von Chicago und erhielt es prompt. Ein Professor mit einem feinen Gespür und der Fähigkeit, andere zu begeistern, hatte in ihm eine fast zwanghafte Leidenschaft für das alte Ägypten entzündet. Mark mußte für die Verwirklichung seines Traums schwer arbeiten und viele Opfer bringen, hatte zwei Jobs und verwandte jede freie Minute darauf, zu studieren und seine Doktorarbeit zu schreiben, mit der er im Alter von fünfundzwanzig Jahren promoviert wurde. Vom lockeren Leben seiner Generationsgenossen hatte Mark kaum etwas mitbekommen, hatte sich mit Leib und Seele der Ägyptologie verschrieben und sich ganz auf sich gestellt auf der akademischen Karriereleiter nach oben gekämpft. Die Selbstgenügsamkeit, die er in den entbehrungsreichen Jahren seiner Kindheit gelernt hatte, hatte ihn dabei in gewisser Weise geschützt. All die lehr- und opferreichen Jahre hindurch hatte er nur auf diesen Moment hingearbeitet … Plötzlich drehte Mark sich um und erklärte: »Ron, ich werde es tun.«

»Was ist mit Nancy?«

Mark drehte nervös das Glas in seinen Händen. Es konnte bedeuten, sie zu verlieren, das wußte er. »Ich weiß nicht. Ich kann nur hoffen, daß sie es verstehen wird. Ron, dieses Grab existiert, und es gehört mir.«

Ron lehnte sich gegen die Sofakissen und sah seinen Freund prüfend an. So entschlossen und voller Ehrgeiz hatte er Mark seit dem Dendur-Tempel-Projekt fünf Jahre zuvor nicht mehr erlebt. Und da Ron wußte, was sein Freund in diesem Augenblick empfand – die Aufregung über die Aussicht, einen sensationellen Fund zu machen –, sprang ein wenig von dieser Erregung auch auf ihn über.

Sie blickten einander durch den düsteren Raum hindurch an und hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach.

Mark und Ron gehörten zu den geburtenstarken Jahrgängen der sechziger Jahre. Beide hatten als Heranwachsende in überfüllten Klassenzimmern sitzen müssen und hatten den Massenansturm auf die Universitäten miterlebt. Nach der Schule hatten diese jungen Leute die Hörsäle überschwemmt, und nachdem sie ihre Examen gemacht hatten, versuchten sie, sich eine Stelle auf dem ohnehin schon übersättigten Arbeitsmarkt zu erkämpfen. Es gab kaum Möglichkeiten, wo sie als frischgebackene Ägyptologen hätten hingehen können. Da keine Ausgrabungen im Gange waren und es keine Funde zu analysieren gab, blieb ihnen nur die Wahl zwischen dem Lehrberuf oder der Arbeit in Museen – und auf jede offene Stelle kamen zehn qualifizierte Ägyptologen. Viele mußten eine andere berufliche Laufbahn einschlagen, um Arbeit zu bekommen; so hatte einer ihrer gemeinsamen Freunde nach Beendigung des Studiums eine Autowerkstatt eröffnet und verdiente als Inhaber eines großen Betriebes inzwischen mehr als Ron oder Mark.

Dabei hatte Mark noch ziemliches Glück gehabt. Es war ihm gelungen, an den wenigen Ausgrabungen mitzuwirken, die nach dem Bau des Assuan-Staudamms noch durchgeführt wurden; er hatte ein paar populäre Sachbücher geschrieben und deswegen eine Dozentenstelle an der Universität Los Angeles erhalten. Ron dagegen hatte sein Fachgebiet verlassen müssen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Damit er die Miete für seinen Kanalschuppen im kalifornischen Venice bezahlen konnte, betätigte sich Ron unter drei verschiedenen weiblichen Pseudonymen als Autor von Horrorgeschichten. Seine Honorareinnahmen reichten außer für den Lebensunterhalt gerade noch für seine Hobbys: das Fotografieren, einschließlich der Ausstattung für seine Dunkelkammer, und das Boot. Die Verbindung mit seinem Beruf erhielt er aufrecht, indem er wissenschaftliche Abhandlungen verfaßte, die von der archäologischen Fachwelt stets mit großem Beifall bedacht wurden. Drei seiner Arbeiten – »Homosexualität im alten Ägypten«, »Die Herrschaft des weiblichen Geschlechts im alten Ägypten – ein weitverbreiteter Irrtum« und »Bes: der phallische Gott« –, die er für das Journal of Near Eastern Studies geschrieben hatte, waren in ein neues Lehrbuch aufgenommen worden, das von Anthropologiestudenten im ganzen Land benutzt wurde.

Sein Spezialgebiet waren Mumien. Beginnend mit seiner Doktorarbeit über den »Einsatz der Röntgenfotografie zur Bestimmung verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen den Pharaonen des Neuen Reichs«, hatte Ron es durch zahlreiche Veröffentlichungen geschafft, einen bescheidenen Ruf auf diesem Gebiet zu erlangen. Im Jahr zuvor hatte er auf Einladung der Wesleyan-Universität in Connecticut einer Gruppe von Medizinern beim Auswickeln und Analysieren einer Mumie aus der zwanzigsten Dynastie assistiert, die dem dortigen Museum für Naturgeschichte als Schenkung überlassen worden war.

Zu Anfang ihrer Bekanntschaft waren Mark und Ron erbitterte Gegner gewesen. Sie hatten sich acht Jahre zuvor bei einem Seminar in Boston kennengelernt, zu dem beide als Redner geladen worden waren. Mark hatte in seinem Vortrag die These von der gemeinsamen Herrschaft Echnatons und Amenophis’ III. vertreten, während Ron diese zu widerlegen suchte. Nachdem sie sich zunächst bei einem Empfangsdinner über ihre unterschiedlichen Theorien gestritten hatten, hatten sie ihre Auseinandersetzung in den Hörsaal hineingetragen, hatten sie bei den Cocktails vor dem Abendessen fortgesetzt und in der Bar bis zur Sperrstunde weiterdebattiert. Am nächsten Morgen waren sie einander nicht mehr von der Seite gewichen und hatten sich für den Rest der Woche ausführlich mit ihren gegensätzlichen Standpunkten beschäftigt, ohne sich besonders intensiv um den weiteren Verlauf des Seminars zu kümmern. Ihre Meinungsverschiedenheiten hatten sie unzertrennlich miteinander verbunden. Jeder war auf seine Weise ein besserer Ägyptologe als der andere, was jeder der beiden schließlich widerwillig hatte anerkennen müssen. Mark besaß ein Gespür für den Boden; er wußte, wo er suchen mußte und wo nicht, und konnte ein Fundstück freilegen, ohne auch nur ein Sandkorn in Unordnung zu bringen. Ron dagegen verfügte über ein ausgeprägtes Abstraktionsvermögen. Er sah die Geschichte, die sich hinter einem Fundstück verbarg. Er konnte anhand einer Hieroglyphe, eines Fetzen Leinwand oder einer Haarlocke auf das Drama schließen, das sich einst um diesen Gegenstand abgespielt hatte. Ron haßte den Schmutz, während Mark bei der Analyse nur der Zweitbeste war. Zusammen bildeten sie jedoch ein unschlagbares Team.

»Ron«, begann Mark leise, »ich möchte, daß du mitkommst.«

Sein Freund lächelte und schüttelte langsam den Kopf.

»Warum?«

»Zum einen werden wir einen Fotografen brauchen. Zum anderen bist allein du der richtige Fachmann, wenn wir tatsächlich eine Mumie finden sollten.«

»Das stimmt schon, Mark, aber«, Ron stand auf und streckte sich, »ich muß den Abgabetermin für meine Echnaton-Arbeit einhalten …«

»Das ist eine Ausrede, und du weißt es selbst ganz genau. Hier bietet sich dir eine einmalige Gelegenheit, mit der Mumie desjenigen Mannes in Berührung zu kommen, über den du schreibst. Du kannst selbst feststellen, ob Echnaton geschlechtslos war oder nicht. Verdammt noch mal, das ist doch die Chance«, Mark hieb mit der Faust auf sein Knie, »ein Buch zu schreiben, das wie eine Bombe auf der Bestsellerliste der New York Times einschlägt. Und alles, was dir dazu einfällt, ist der Abgabetermin für irgendein Fachmagazin mit einer Auflage von zweihundert Exemplaren.«

»He, jetzt werde doch nicht gleich sauer. Ich habe einfach keine Lust, nach Ägypten zu fahren, das ist alles.«

»Wovor hast du Angst, Ron?«

»Ich habe vor nichts Angst. Aber nur weil du insgeheim den Wunsch hegst, groß rauszukommen, heißt das noch lange nicht, daß auch ich mich danach sehne.«

»Du lebst in einer Baracke in Venice und trägst Klamotten, die jeder andere wegwerfen würde. Du schreibst Groschenromane, um dir was dazuzuverdienen, und segelst in einem morschen Kahn, bei dem du beten mußt, daß er nicht jeden Augenblick absäuft, und dabei weißt du verdammt gut, daß du in deinem Fach ganz an der Spitze stehen könntest!«

»Du siehst die Dinge anders als ich. Ich bin zufrieden, so wie ich lebe.«

»Ach, wirklich? Schau dich doch an, Ron, wie du dich in einem fort bemühst, alte Tatsachen zu verdrehen, damit sie zu deiner neuesten exzentrischen Theorie passen. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß Echnaton geschlechtslos war …«

»Na hör mal, das ist wirklich meine feste Überzeugung …«

»Natürlich. Bis vor einem Jahr noch wäre dir so etwas nie in den Sinn gekommen, obwohl du hundertmal Fotos von dieser Statue gesehen hattest. Aber jetzt muß dein Boot zum Entalgen aufs Trockendock, und das ist teuer. Da fällt dir plötzlich ein, daß noch niemals etwas über die Statue eines Königs geschrieben worden ist, die ihn nackt und ohne Geschlechtsteile zeigt! Du setzt dein fachliches Wissen für geradezu unlautere Zwecke ein, Ron.«

Ron schwieg und starrte in den erkalteten, schwarzen Kamin.

Nach einer Weile fuhr Mark fort: »Ron, wenn wir dieses Grab finden und wenn es eine Mumie darin gibt, möchte ich dich dabeihaben, damit du sie als erster in Augenschein nimmst.«

Er ging zu Ron hinüber und packte ihn fest an der Schulter. »Und ich brauche einen Fotografen. Bei einer Ausgrabung kommt dafür nur ein Ägyptologe in Frage. Jetzt bekommst du die Gelegenheit, deine teure Ausrüstung endlich einmal sinnvoll einzusetzen.«

»Ich habe keine Erfahrung im Gelände, Mark. Es ist ein großer Unterschied, ob du eine Dunkelkammer in deiner Wohnung hast oder ob du sie in einem Zelt einrichten mußt.«