Das Haus Zamis 66 - Logan Dee - E-Book

Das Haus Zamis 66 E-Book

Logan Dee

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Beschreibung

Das sanfte Schaukeln des Autozuges hatte mich müde werden lassen. »Es lohnt sich nicht einzuschlafen, Coco. Die ganze Überfahrt durchs Watt dauert nur ein paar Minuten ...« Das waren Georgs letzte Worte, an die ich mich erinnerte. Und dann war ich doch eingeschlummert. Als ich die Augen aufschlug, kam es mir vor, als hätte ich stundenlang geschlafen. Um mich herum war es stockdunkel.
Ich wandte mich zu Georg um. Sein Platz hinter dem Steuer war verwaist. Sofort war ich hellwach. Ich hatte nicht bemerkt, dass er ausgestiegen war. Bevor ich eingeschlafen war, hatte ich die Insassen in dem roten Volvo vor uns noch gut erkennen können. Ein junges Pärchen, das sich aneinanderkuschelte und die kurze Ruhepause auf dem Shuttle genoss. Selbst den Volvo konnte ich jetzt nicht mehr sehen. Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt. Genau wie Georg.

Georg reist mit Coco auf die Insel Sylt. In Georgs Augen genau der richtige Ort, um seine Vergangenheit aufzuarbeiten und sich über die Zukunft klarzuwerden. Denn auf Sylt stand damals jenes Waisenhaus, in dem Georg seine grausamen «Lehrjahre» verbringen musste ...


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Seitenzahl: 131

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Inhalt

Cover

Was bisher geschah

BIIKEBRENNEN

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

mystery-press

Vorschau

Impressum

Coco Zamis ist das jüngste von insgesamt sieben Kindern der Eltern Michael und Thekla Zamis, die in einer Villa im mondänen Wiener Stadtteil Hietzing leben. Schon früh spürt Coco, dass dem Einfluss und der hohen gesellschaftlichen Stellung ihrer Familie ein dunkles Geheimnis zugrundeliegt. Die Zamis sind Teil der Schwarzen Familie, eines Zusammenschlusses von Vampiren, Werwölfen, Ghoulen und anderen unheimlichen Geschöpfen, die zumeist in Tarngestalt unter den Menschen leben.

Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht Coco den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. So lernt sie während der Ausbildung auf dem Schloss ihres Patenonkels ihre erste große Liebe Rupert Schwinger kennen. Aber das Glück ist nicht von Dauer. Auf einem Sabbat soll Coco zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an, doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut und verwandelt Rupert Schwinger in ein Ungeheuer.

Seitdem lässt das Oberhaupt keine Gelegenheit aus, gegen die Zamis-Sippe zu intrigieren. So schickt Asmodi den Dämon Gorgon vor, der Wien und alle seine Bewohner zu Stein erstarren lässt – und die Stadt komplett aus dem Gedächtnis der Menschheit löscht. Nur Coco kann im letzten Augenblick entkommen, allerdings hat sie jede Erinnerung an ihre Herkunft verloren ... Kurz darauf findet sie sich jedoch in einer Vision in Wien wieder und steht ihrer versteinerten Familie gegenüber. Nach und nach gewinnt sie ihre Erinnerung zurück und fühlt sich mehr denn je verpflichtet, etwas gegen Gorgons Fluch zu unternehmen.

In einer Bibliothek auf Schloss Laubach in Deutschland stößt Coco auf die Dämonenvita ihres Vaters. Bisher wusste sie nur, dass ihr Vater einst aus Russland nach Wien emigrierte. Aus der Dämonenvita erfährt sie, dass er zuvor über Jahre hinweg seinen Halbbruder Rasputin bekämpft hat. Coco wird klar, dass die damaligen Ereignisse für die Rettung ihrer Familie von elementarer Bedeutung sein könnten.

Aus diesem Grund ist auch Asmodi hinter der Dämonenvita her, doch Coco gelingt es, Gorgons Bann zu brechen und Wien zu retten. In der Folge baut Michael Zamis seine Kontakte zu den Oppositionsdämonen aus, die sich Asmodis Sturz auf die Fahnen geschrieben haben. Als Cocos Mutter Thekla von Michaels Liaison mit einer Kämpferin des Widerstands erfährt, tötet sie diese. Es kommt zum Bruch mit den Oppositionsdämonen, die Coco ungefragt ein »Permit« verpassen – ein magisches Tattoo in Form eines zweiköpfigen Adlers. Einst werde ihr dieses Permit Schutz gewähren ... Ohne ihr Wissen unterziehen die Oppositionsdämonen die Zamis zudem einer weiteren Prüfung. Für Coco und Georg ein Grund, gegen ihren Vater zu rebellieren. Sie wollen sich nicht länger von den Oppositionsdämonen instrumentalisieren lassen ...

BIIKEBRENNEN

von Logan Dee

Das sanfte Schaukeln des Autozuges hatte mich müde werden lassen.

»Es lohnt sich nicht einzuschlafen, Coco. Die ganze Überfahrt durchs Watt dauert nur ein paar Minuten ...«

Das waren die letzten Worte, an die ich mich erinnerte. Und dann war ich doch eingeschlummert.

Als ich die Augen aufschlug, kam es mir vor, als hätte ich stundenlang geschlafen. Aber es konnte nicht sein! Noch immer befand ich mich in unserem Wagen, und das gleichmäßige Ruckeln des Sylt-Shuttles verriet mir, dass wir Westerland noch immer nicht erreicht hatten.

Um mich herum war es stockdunkel. Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden. Die unmittelbare Nähe des Wattenmeeres war nur zu erahnen.

Es lohnt sich nicht einzuschlafen, Coco ...

Ich wandte mich zu Georg um.

Sein Platz hinter dem Steuer war verwaist.

1. Kapitel

Sofort war ich hellwach. Ich hatte nicht bemerkt, dass er ausgestiegen war. Und wohin sollte er auch gelaufen sein? Soweit ich wusste, verfügte der Shuttle noch nicht einmal über eine Toilette.

Es waren nicht viele Wagen, die an diesem späten Abend mit der letzten Fahrt zur Insel befördert wurden. Höchstens zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig, sodass die Fläche des Autozuges überschaubar gewesen war.

Bevor ich eingeschlafen war, hatte ich die Insassen in dem roten Volvo vor uns noch gut erkennen können. Ein junges Pärchen, das sich aneinanderkuschelte und die kurze Ruhepause genoss.

Selbst den Volvo konnte ich nicht mehr sehen. Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt.

Genau wie Georg.

Zu der Dunkelheit gesellte sich nun noch ein klebriger Nebel, der sich auf die Scheiben legte. Ich entschloss mich auszusteigen.

Die Tür ließ sich mühelos öffnen, dabei hatte ich insgeheim damit gerechnet, dass sich mir etwas entgegenstellen würde. Doch nichts dergleichen. Wahrscheinlich war Georgs Verschwinden auf ganz normale Weise zu erklären. Ich sah Gespenster.

Andererseits hatten die Ereignisse der letzten Zeit gezeigt, dass nichts mehr wie früher war. Die überschaubare Welt der Schwarzen Familie war aus den Fugen geraten, seitdem es eine Gruppe von Oppositionsdämonen gab, die ausgerechnet meine Sippe und mich zum entscheidenden Spielball zwischen den Parteien auserkoren hatten.

Georg und ich hatten unseren Vater ziemlich bloßgestellt. Die Atmosphäre in der Zamis-Villa war danach ziemlich vergiftet gewesen. Da war es ganz gut, etwas Abstand zu gewinnen. Georg hatte darum gebeten, einige Tage auf Sylt zu verbringen, um seine Vergangenheit weiter aufzuarbeiten. Unser Vater hatte ihn eigenartig angeschaut, aber schließlich seinen Segen dazu gegeben. Mit einer Auflage: Er sollte mich mitnehmen, weil er, wie er es nannte, »mich nicht mehr sehen« konnte. Georg hatte eingewilligt, jedoch nicht unbedingt begeistert.

Als ich ausgestiegen war, nahm ich als Erstes die salzige Seeluft wahr, die so ganz anders roch als Wien. Ich hatte es schon gespürt, als wir Hamburg hinter uns gelassen hatten – und mit jedem Kilometer, den wir uns in unserem Leichenwagen dem Meer genähert hatten: jenes Gefühl der Freiheit und Grenzenlosigkeit, das einem die Stadt niemals geben konnte.

Doch nun lag noch etwas anderes in der Luft. Ich wusste nicht zu sagen, ob es der Nebel war, der die Ahnung einer verborgenen Gefahr in mir heraufbeschwor.

Das Rattern des Shuttles machte es unmöglich, irgendein anderes Geräusch zu vernehmen. Und dennoch hörte ich plötzlich noch etwas. Unwillkürlich schaute ich hoch, aber die Nebeldecke lag so niedrig, dass ich gerade mal die zweite Ladefläche über meinem Kopf erkennen konnte. Uns hatte man einen Platz auf der unteren Ebene zugewiesen.

»Georg?«, rief ich leise in die Dunkelheit hinein. »Steckst du hier irgendwo?«

Statt Georg vernahm ich ein weiteres Mal das markerschütternde Kreischen. Ich hatte noch niemals eine Seemöwe derart schreien hören.

Wieder zuckte mein Kopf nach oben.

Im selben Moment ging ein gewaltiger Ruck durch den Zug. Ich wurde nach vorn geschleudert. In letzter Sekunde konnte ich mich an einem Pfeiler festklammern. Der Zug war ins Schlingern gekommen. Bremsen quietschten. Menschen schrien.

Ich hatte die Vision von etwas Großem, Gewaltigem, kaum Vorstellbarem, das über mir auf der Ladefläche gelandet war.

»Georg?«, rief ich erneut. Diesmal lauter. Meine Stimme klang rauchig, als hätte sich der klebrige Nebel bereits auf meine Lungen gelegt.

Dann stand der Zug. Für einen Augenblick schien die Welt den Atem anzuhalten. Es war so still, dass ich meinen eigenen Atem hören konnte. Doch bereits in der nächsten Sekunde explodierte das Geschehen. Die Hilfeschreie klangen panischer als zuvor, ein Kind weinte, jemand kam auf mich zugelaufen, drängte sich vorbei.

Ich hielt ihn fest. Es war einer der Zugbegleiter.

»Was ist passiert?«, herrschte ich ihn an.

»Lass mich los, Mädchen. Jemand hat die Notbremse gezogen. Ich muss nach dem Rechten sehen. Irgendetwas stimmt da nicht ...«

Ich ließ ihn ziehen. Nach wenigen Schritten verschluckten ihn der Nebel und die Finsternis.

Ich glaubte nicht, dass der Zug nur aufgrund einer Notbremse, die jemand betätigt hatte, zum Stillstand gekommen war. Mein Arm begann zu jucken. Als ich hinabschaute, erkannte ich, dass das Permit, das ich einem der Oppositionsdämonen zu verdanken hatte, grünlich glühte. Ein untrügliches Zeichen, dass magische Kräfte am Walten waren.

Ich musste an unsere Fracht im Heck des Leichenwagens denken, und ein gewisses Gefühl der Beruhigung machte sich in mir breit. Georg und ich, wir waren nicht allein. Doch noch war es zu früh, sich der Hilfe des Henkers zu bedienen.

Georg hatte unseren Vater darum gebeten, sich den Henker auszuleihen. Vater hatte die Stirn gerunzelt. Es war ihm anzusehen gewesen, dass er den Henker nicht gern aus der Hand gab. Und Georg hatte partout nicht mit der Sprache herausrücken wollen, wozu er ihn brauchte.

Der Henker war eine der wirkungsvollsten Waffen der Zamis. Mein Vater hatte ihn mit seinem Bruder, Ingvar Zamis, einst erschaffen. Es handelte sich um eine Art Frankenstein, jedoch war er aus vielerlei Leichenteilen zusammengestückelt. Er war praktisch unüberwindbar, denn der Gegner musste genau wissen, welches der Leichenteile welchen Tod gestorben war – nur dadurch ließen sich die einzelnen Segmente eliminieren.

In den letzten Jahrzehnten hatte mein Vater den Henker immer mehr vervollkommnet.

»Ich weiß nicht, was du vorhast, Georg«, hatte unser Vater Georg ermahnt. »Ich kann nur hoffen, dass du verantwortungsvoll mit unserer Macht umgehen wirst.«

Das waren seine Abschiedsworte gewesen. Klar, Georg hatte etwas vor, aber auch mir hatte er auf der ganzen bisherigen Reise nicht mehr verraten.

Ein erneuter Ruck ging durch den stehenden Shuttle und riss meine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. Was immer dort oben auf der zweiten Ladefläche vor sich ging – es schien sich zu nähern. Ich konnte das Vibrieren, das jene fremde Macht erzeugte, sogar körperlich spüren. Es hatte den gesamten Zug erfasst.

Also schön, wenn Georg nicht in der Nähe war, musste ich selbst handeln!

Ich tastete mich zum Heck des Leichenwagens und öffnete den Kofferraum. Rasch schlug ich die Vorhänge zurück und befreite den Sarg von seiner schweren Schmuckdecke.

Im Innern des Sarges glaubte ich eine Regung zu spüren.

Ich war gerade im Begriff, die Verschläge und magischen Sperren zu lösen, als sich mir von hinten eine Hand auf die Schulter legte.

»Das würde ich nicht machen«, sagte eine Stimme. Georgs Stimme.

Erleichtert wandte ich mich um.

»Wo hast du gesteckt?«, fragte ich ihn. »Was ist passiert?«

Er wies nach oben. »Wir haben Besuch bekommen. Ich denke, es hängt damit zusammen, dass uns partout jemand loswerden will.«

»Aber wer hat von unserem Kommen gewusst?«, fragte ich stirnrunzelnd.

Georg zuckte die Schultern. »Jedenfalls sollten wir vor unseren Gegnern nicht gleich alle unsere Karten auf den Tisch legen.« Er wies auf den Sarg. »Lass den Henker noch ein wenig ruhen. Wir versuchen zunächst, das Problem allein zu lösen.«

Ich gab mich geschlagen und ordnete mich seinem Befehl unter. Zudem ich noch immer keinen blassen Schimmer hatte, was eigentlich vorgefallen war.

Während ich den Sarg wieder in seinen vorherigen Zustand versetzte und dabei ein enttäuschtes Seufzen aus dem Inneren vernahm, begann Georg mich in aller Schnelle auf den neuesten Stand zu bringen.

»Du bist tatsächlich eingenickt«, erklärte er. »Plötzlich kam dieser Nebel. Mit einer Plötzlichkeit, die alles andere als normal war. Ich bin ausgestiegen und nach oben geklettert, um mehr erkennen zu können.«

Ich versuchte mir das waghalsige Manöver besser nicht vorzustellen.

»Und? Hast du etwas entdeckt?«

Er schüttelte den Kopf. »Es muss passiert sein, als ich wieder nach unten gestiegen bin. Irgendetwas geistert dort oben herum – und ich bin mir fast sicher, dass es nach uns Ausschau hält.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, erklang erneut der kreischende Ruf, der in mir das Bild einer riesigen Möwe hervorrief. Diesmal war es jedoch aus einer anderen Richtung gekommen. Vom anderen Ende des Zuges.

»Was immer es ist, ich möchte ihm nicht begegnen«, stimmte ich ihm zu, während ich mit einer Hand das Permit abdeckte. Georg musste nicht mitbekommen, dass es glühte.

»Es sind mindestens zwei«, gab Georg ganz meine Meinung wieder. »Sie wissen, dass wir hier sind. Wir sitzen in der Falle!«

»Wie weit ist es eigentlich noch bis Westerland?«, fragte ich.

Georg zuckte mit den Schultern. »Sylt kann nicht mehr weit entfernt sein. Wir fahren ja schon eine ganze Weile ...«

Er sah mich an, und das plötzliche Aufglitzern in seinen Augen verriet, dass er ahnte, was ich vorhatte.

»Wir flüchten übers Watt!«, sagte ich rasch. »Verlaufen können wir uns nicht, wir müssen nur den Schienen folgen!«

Ein paar Wagen vor uns beulte sich plötzlich die Decke nach unten, als wäre etwas Schweres dort gelandet.

Wir zögerten nicht mehr.

»Und der Henker?«, fragte ich, während ich von der Plattform hinunter ins Watt sprang. Georg kam weniger glücklich auf als ich. Sein linker Fuß versank in einem tiefen, mit Wasser gefüllten Loch. Er fiel der Länge nach hin, verbiss sich aber einen kräftigen Fluch. Ich half ihm hoch, während er mir zuflüsterte: »Ich habe den Kofferraum mit einer starken magischen Sperre versiegelt. So schnell bekommt den niemand auf. Und falls doch, so werden sie eine böse Überraschung erleben.«

Er verriet nicht, was er ausgeheckt hatte, aber ich konnte mir vorstellen, dass der Henker in demselben Augenblick erwachen würde, in dem ein Unbefugter die Heckklappe öffnete.

»Komm, schnell!«, sagte ich, und wir rannten los. Nach wie vor war es stockdunkel. Ich hatte das Gefühl, mit jedem Schritt in eine wabernde Nebelmauer zu laufen, die sich nur zäh vor mir öffnete und sich gleich wieder hinter mir schloss. Nur einmal schaute ich zurück, und diesmal glaubte ich, inmitten der Dunkelheit einen noch schwärzeren Schatten zu erblicken. Riesig hockte er in der Luft und schien nur darauf zu warten, den entsprechenden Befehl zu erhalten, sich uns hinterherzustürzen.

Nach wie vor wehten verängstigte Schreie von dem Shuttle zu uns herüber. Mein Gewissen sagte mir, dass wir helfen mussten, aber mein Verstand riet mir genau das Gegenteil. Den Menschen würde nichts passieren. Sie waren nur darauf aus, uns zu finden.

»Träum nicht, lauf schneller!«, drängte Georg, als er merkte, dass ich einige Schritte zurückgeblieben war. Rasch schloss ich wieder zu ihm auf.

Die Schreie und Geräusche in unserem Rücken verebbten allmählich. Nur unser Keuchen und unsere Schritte waren zu hören. Es klatschte laut, wenn unsere Sohlen in das Watt sanken, und es gab ein schmatzendes Geräusch, wenn wir uns wieder daraus lösten.

Obwohl der Nebel und die Finsternis die Schienen unseren Blicken entzogen, wussten wir doch, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Als Dämonen war uns das Gespür für die richtige Himmelrichtung in die Wiege gelegt.

Plötzlich vernahm ich etwas anderes. Ich stoppte und bedeutete auch Georg anzuhalten.

»Spürst du das?«, flüsterte ich.

Er wusste nicht sofort, was ich meinte, doch dann nickte er.

Der Wattboden unter unseren Füßen erzitterte leicht.

Im nächsten Moment zischte etwas Riesiges, Gewaltiges heran. Wir warfen uns beide zu Boden.

Es war der Shuttle!

Nur wenige Meter entfernt raste er an uns vorbei. Die Schienen waren viel näher gewesen, als wir vermutet hatten. Wir blieben bäuchlings liegen, bis die Finsternis ihn wieder verschluckt hatte. Georg rappelte sich nach einer Minute als Erster wieder auf.

»Glaubst du, wir haben es überstanden?«, fragte ich.

»Überstanden? Wie naiv bist du, Coco? Das war erst der Anfang! Willkommen auf Sylt!«

Der Weg war länger und weit mühsamer, als wir ihn uns vorgestellt hatten. Nach über zwei Stunden spürte ich, wie es etwas bergan ging. Wir hatten Sylt erreicht! Von nun an war das Laufen weit unbeschwerlicher. Der Nebel lichtete sich zusehends, und bald stießen wir auf die ersten Häuser. Es war so spät, dass die meisten Lichter schon verloschen waren.

»Wir werden wohl kaum zu Fuß bis Westerland kommen«, sagte Georg, der Sylt besser kannte als ich. »Entweder wir schnappen uns irgendwo einen Wagen oder ...«

Er stockte mitten im Satz. Mit aufgerissenen Augen starrte er das Gebäude an, das plötzlich vor uns aufragte. Es handelte sich um den Bahnhof von Munkmarsch. Das Haus machte einen altertümlichen, verwunschenen Eindruck. Selbst das Bahnhofsschild wirkte wie aus einer anderen Zeit. Die Schrift war in alter Fraktur gehalten. Georgs Blick war genau auf diese Schrift gerichtet. Er schien wie erstarrt.

Ich schüttelte sanft seine Schulter. »Georg, was ist denn los? Ist etwas nicht in Ordnung?«