Das Heideprinzesschen - E. Marlitt - E-Book

Das Heideprinzesschen E-Book

E. Marlitt

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Beschreibung

"Es war ja wahr geworden, ich schritt, von starkem Arm gehalten, an seiner Seite dahin, und seine Linke hielt sorgsam den Mantel zusammen, den er mir um Haupt und Schultern geschlagen. Und der Sturm schoß mit seinem Frühlingsatem an mir vorüber und höhnte: Gefangen, gefangen! Und ich lachte auf und schmiegte mich glückselig an den Mann, der mich führte." E. Marlitt (eigentlich Eugenie John, 1825 - 1887) studierte Gesang, wurde Gesellschafterin der Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen und ab 1863 freie Schriftstellerin. Die letzten 20 Jahre ihres Lebens war sie an den Rollstuhl gefesselt. Sie schrieb die erfolgreichsten Frauen-Unterhaltungsromane ihrer Zeit. 1871 erschien Das Heideprinzeßchen in der Gartenlaube in zweiundzwanzig Folgen und ein Jahr später als Buch bei Ernst Keil in Leipzig. Ihre "Gesammelten Romane und Novellen" erschienen 1888-1890 in zehn Bänden.

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Das Heideprinzesschen

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Über die Autorin

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

E. Marlitt

Das Heideprinzesschen

Das Heideprinzesschen

1

Er ist ein einsamer Wandersbursch, der kleine Fluß, er läuft durch die stille Heide. Seine schwach klingenden Weilchen kennen nicht das tolle Jauchzen taleinwärts stürzender Wasser; sie trollen sich gemächlich über widerstandslose, flach gewaschene Kiesel, zwischen seichten, mit Weiden und Erlen bestandenen Borden. Das Gebüsch aber verschränkt seine Zweige so undurchdringlich, als dürfe nicht einmal der Himmel droben wissen, daß die kleine Ader voll rieselnden Lebens in der verrufenen Heide klopfe.

Bei aller Sanftmut nagt und wühlt es doch am weichen Uferboden, und einmal sogar gelingt es ihm, ein Miniaturbecken zu bilden, in welchem die langsam rinnenden Wasser scheinbar rasten. Das kleine Rund treibt die Erlenbüsche auseinander, eine lichtbedürftige Birke hat sich um einen Schritt hinausgeflüchtet und steht da wie ein holdes Sagenkind, dem die Sommerlüfte unaufhörlich blinkende Silberstücke aus den Locken schütteln.

Es war in den letzten Tagen des Juni.

In dem kühlen Wasser des kleinen Beckens standen ein Paar brauner Mädchenfüße. Zwei ebenso sonnverbrannte Hände zogen das schwarze grobwollene Röckchen fest und vorsichtig um die Knie, während sich der Oberkörper neugierig vornüberbog.

Meist füllte ein Stück dunkler Himmelsbläue die Bresche der Büsche, das gab der Wasserfläche eine harte Stahlfarbe und dem Mädchenbilde einen eintönigen Hintergrund. In diesem Augenblick jedoch liefen plötzlich glühende Dunstgebilde über den Spiegel — es war unglaublich, aber trotz allem dem quollen sie unmittelbar aus den Haarspitzen des Lockenkopfes. Das kämpfte durcheinander und glühte immer höher auf, als solle allmählich die ganze Welt von Purpur triefen.

Die braunen Füße gehörten zu keiner Heldenseele; mit einem wilden Satze sprang sie an das Ufer — welch eine lächerliche Flucht! Hatte wohl die Welt solch einen Hasenfuß wie mich gesehen?

Zunächst schämte ich mich vor mir selbst und dann vor meinen zwei besten Freunden, die Zeugen gewesen waren.

Meine gute Mieke zwar hatte sich weiter nicht stören lassen — sie war der weniger intelligente Teil. Die schönste schwarz-bunte Kuh, die je über die Heideflächen gelaufen, stand sie breitspurig unter der Birke und riß und zupfte schwelgend an dem Grase, das der feuchte Uferboden in einem dünnen Streifen emportrieb, und sah nur einen Moment dumm-verwundert nach mir hin.

Spitz da gegen, der sich faul und schläfrig unter das kühle Gebüsch geduckt hatte, nahm die Sache tragischer. Er fuhr wie besessen) in dir Höhe und bellte in das zurückklatschende Wasser hinein, als sei mir der böse Feind auf den Fersen.

Er war nicht zu beschwichtigen; die Stimme sprang ihm über vor Alteration und Kampfeswut — und das war urkomisch. Lachend sprang ich in das Wasser zurück und sekundierte ihm, indem ich mit beiden Füßen den lügnerischen Spiegel in hochaufspritzende Atome zerstampfte.

Es war aber auch noch ein dritter Zeuge hinzugetreten, den weder ich noch Spitz bemerkt hatten.

„Nu, was macht denn mein Prinzeßchen da?“ fragte er in jenen knurrenden Tönen, wie sie aus einem Munde kommen, dem die unzertrennliche Tabakspfeife wie festgemauert zwischen den Zähnen sitzt.

„Ach, du bist’s, Heinz?“ — Vor dem schämte ich mich nicht, er lief selbst wie ein Hase vor allem, was nicht ganz geheuer war.

Dieser Riese gab Fersengeld vor dem ersten besten weißen Laken im dämmernden Zwielicht — und das machte mir Vergnügen. Ich erzählte ihm so lange haarsträubende Sagen und Spukgeschichten, bis mich selbst eine Gänsehaut überlief — wir fürchteten uns prächtig um die Wette.

„Ich zertrete ein Paar Augen, Heinz“, sagte ich und stampfte noch einmal fest auf, so daß die sprühenden Wassertropfen an seinem mißfarbenen Drellrock hängenblieben. „Du, da drin ist’s nicht richtig ...“

„Ei beileibe — am hellen Tage?“

„Ach, was fragt denn die Wasserfrau nach dem hellen Tage, wenn nie böse ist!“ Mit einer wahren Wonne sah ich, wie er halb ungläubig, halb mißtrauisch nach dem rotgefärbten Wasser schielte. „Was hab’ ich immer gesagt, he?“ rief er. „Ich tu’s aber auch nicht wieder — nein, ich tu es ganz gewiß nicht wieder! ... Meinetwegen können dir Dinger haufenweise da drin liegen, ich rühre sie nicht wieder an — beileibe nicht!“ —

Der kleine Fuß, der so einsam durch die Heide lief, war reicher als so mancher stolze Strom — er hatte Perlen in der Tasche: allerdings in nur geringer Anzahl und bei weitem nicht brillant genug, um ein Königsdiadem oder auch nur einen eleganten Ring zu schmücken. Aber was verstand ich davon! Ich liebte die kleinen mattglänzenden Dinger, die so rund und beweglich über meine Handfläche liefen. Stundenlang watete ich durch das Wasser und suchte nach Muscheln; ich brachte sie Heinz, der sich auf das öffnen der Schalen verstand — wie er das machte, war sein Geheimnis. Nun aber kündigte er mir kurz und bündig den Dienst.

„He, Heinz, es war ja nur ein dummer Spaß!“ sagte ich kleinlaut. „Lasse dir doch nichts weismachen!“ — Ich bog mich über das Wasser, das bereits anfing, sich wieder zu glätten. „Da, sieh selbst — was guckt da herauf? ... Nichts, weiter gar nichts als meine zwei eigenen schauderhaften Augen ... Warum sie nur so unmenschlich weit offen sind, Heinz! Bei Fräulein Streit war es nicht so schlimm und bei Ilse auch nicht.“

„Nein, bei Ilse auch nicht“, gab Heinz zu. „Aber Ilse hat scharfe Augen, Prinzeßchen, scharfe!“

Darauf blies er eine mächtige Rauchwolke vor sich hin, zum Entsetzen der spielenden Mückenschwärme, die sich eiligst aus dem Staube machten; auch daheim die Ilse „mit den scharfen Augen“ behauptete stets empört, das sei ein Kraut zum Umbringen nur ich hielt stand, und wenn ich hundert Jahre erreichen sollte, der übelberufene Duft wird mich zu allen Zeiten sofort in die warme dunkle Ofenecke versetzen, mit dem ganzen Wonnegefühl des heimischen Geborgenseins neben Heinz auf der Holzbank kauernd, während draußen der heulende Schneesturm über die weite Heidefläche braust und ganze Batterien Eissplitter gegen die Fensterläden tosen.

Ich sprang zu ihm an das Ufer, und da kam auch gerade Mieke heran und rupfte zutraulich an einigen Quecken, die halbzertreten unter Heinzens Schuhen hervorguckten.

„Je — wie sieht denn die aus?“ lachte er auf.

„Oh, ich bitte mir’s aus, da wird nicht gelacht!“ schalt ich. Mieke hatte sich prächtig herausstaffiert. Zwischen den weitabstehenden Hörnern hing ihr eine Girlande von strahlendgelben Ringelrosen und Birkenlaub, eine Kette aus den dicken Stengelröhren der Hundeblume umschloß ihren Hals, und selbst an der Schwanzspitze baumelte ein Heidesträußchen; es kollerte lustig über den tonnenförmigen Leib herab, sobald Mieke den Wedel hob und nach den Stechmücken auf ihrem Rücken schlug.

„Sie sieht sehr feierlich aus — aber das verstehst du nicht“, sagte ich. „Nun paß auf und rate, Heinz: Micke hat sich geputzt, und auf dem Dierkhofe ist heute Kuchen gebacken worden — also was ist los?“

Aber da hatte ich an seine allerschwächste Seite appelliert; Katen war nicht Freund Heinzens Sache. In solchen Momenten stand er hilfsbedürftig und bänglich vor mir wie ein zweijähriges Kind.

„Schlaukopf, du willst mir nur nicht gratulieren!“ lachte ich. „Aber das wird dir nicht geschenkt! ... Lieber, allerbester Heinz, heute ist mein Geburtstag!“

Da flog es wie Freude und Rührung über das gute, dicke Gesicht; er hielt mir die ungeschlachte Hand hin, in die ich herzlich einschlug.

„Und wie alt ist denn meine Prinzessin geworden?“ fragte er mit Umgehung jedweder Glückwunschrede.

Ich lachte ihn aus. „Weißt du das wieder nicht? ... Merk auf: Was folgt auf sechzehn?“

„Siebzehn — was? Siebzehn Jahre? ... Ist nicht wahr — solch ein kleines Kind! — Ist ja nicht wahr!“ — Er hob protestierend beide Hände.

Dieser Unglaube empörte mich. Allein mein alter Freund war nicht so ganz im Unrecht ... Seit bereits drei Jahren reichte mein Ohr genauso hoch, daß es Heinzens starkes Herz pulsieren hören konnte — nicht um eine Linie höher war es in dieser langen Zeit gerückt.

Trotzdem zankte ich ihn tüchtig aus; aber diesmal half er sich als Politikus er wechselte das Thema. Statt aller Antwort zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagte schmunzelnd: „Da drüben gibt’s einen Extra-Geburtstagsspaß, Prinzeßchengraben den alten König aus!“

Mit einem Sprunge stand ich außerhalb des Gebüsches.

Ich mußte beide Hände schützend über die Augen halten, so überwältigend flimmerten und brannten die roten Abendgluten. Dort umritten die alten Recken der Vorzeit die weite Heide und rührten mit den funkelnden Speeren an den Himmel.

Noch blühte die Erika nicht — glatt, wie über einen Tisch, breitete sich die grünlichbraune Pflanzendecke hin; nur fünfmal hob und senkte sie sich in jäher Anschwellung über fünf Hünengräbern, über ein großes und vier kleinere. Auf dem Rücken des großen Hügels hatte sich Wacholdergebüsch eingenistet, und an den Flanken herab stand gelbblühender Ginster. Ob ein Vogel das Samenkorn hierhergetragen oder ob Menschenhand die einsame alte Föhre gepflanzt hatte, genug, sie stand da, seitwärts auf dem Grat des Hügels, dünn benadelt und windzerzaust, und im Wachstum unterdrückt durch die Schneelasten des Winters; aber doch stolz als einziger, unbeschützter Baum inmitten der weiten Ebene, der mit jedem Sturm um sein Leben ringen mußte.

„Da liegt der alte König begraben; denn der Baum steht da, und es blühen gelbe Blumen — das haben die anderen nicht“, sagte ich als Kind zu Heinz, wenn wir auf dem Hügel saßen. Und ich wußte, da, wo der Baum stand, lag das gewaltige Königshaupt mit dem Goldreifen über der Stirne, und der lange, lange Weißbart fiel auf die Purpurdecke, die sie über seine Glieder gebreitet hatten.

Bis zu dieser Stunde war der große Hügel mein Garten, mein Wald, mein unbestrittenes Eigentum gewesen. Der Dierkhof, meine Heimat, lag mutterseelenallein in der Heide; ein selten betretener Weg, der sie mit der Außenwelt verband, lief vom Walde her und ließ die Hünengräber weit abseits liegen — nie, solange ich denken konnte, war ein fremder Menschenfuß in ihren Bereich getreten ... Nun stand auf einmal dort ein Trupp unbekannter Leute;rissen große Erdbrocken aus dem Leibe des Hügels.

Ohne Besinnen lief ich querfeldein, erfüllt von dem brennenden Verlangen, zu sehen, was dort an das Tageslicht treten würde. Spitz lief kläffend neben mir her, und als ich atemlos an Ort und Stelle haltmachte, da trabte auch Heinz in seinem Siebenmeilenschritt heran.

2

Am Hügel standen drei Herren in schweigender Erwartung, während mehrere Arbeiter gruben und schaufelten. Auf den greulichen Lärm hin, den Spitz machte, wandten sich die Fremden einen Augenblick nach uns um, und einer, anscheinend der jüngste unter ihnen, hob den Stock gegen das Tier, als es Miene machte, ihm näher zu kommen. Dann ließ er seine Augen kalt musternd über Heinz und mich hingleiten und kehrte uns wieder den Rücken.

Es war unter der Föhre eingeschlagen worden. Das herausgerissene Ginstergebüsch lag weithin zerstreut; da, wo es gestanden, klaffte eine weite Öffnung, und oben aus dem Bruch hingen dicke Wurzeln, Ausläufer der Föhre, herab — sie zeigten das weiße Fleisch, die Hacke hatte sie unbarmherzig zerschnitten.

„Da wären wir auf dem Stein“, sagte einer der Herren, als die Werkzeuge klirrend aufschlugen.

Man räumte die letzten Erdschollen hinweg, und es wurde ein mächtiger, roher Felsblock sichtbar.

Die Herren traten seitwärts, indes die Arbeiter sich anschickten, den Stein wegzuwälzen. Heinz aber rückte gespannt näher; die Männer machten ihm die Sache offenbar nicht praktisch genug. Das rechte Bein weit vorgestreckt, hob und senkte er in stillschweigender Mitwirkung die geballten Fäuste, und die Tabakspfeife feierte mittlerweile auch nicht — ich sah plötzlich die Köpfe der Fremden nur noch durch einen bläulichen Nebel.

Der junge Herr, hinter welchem mein guter Freund stand, fuhr herum, maß den unglücklichen Raucher mit einem langen, vernichtenden Blicke und fuhr voll Abscheu mit seinem seidenen Taschentuch durch die Luft, um die Rauchwolken zu zerstreuen.

Heinz nahm wortlos das Corpus delicti aus dem Munde und ließ es schlaff an der Seite niedersinken — er war über die Maßen verblüfft. Einen solchen Eindruck hatte sein Tabak doch noch nicht gemacht. Mich aber hatte das Benehmen des Fremden tief erschreckt, ich schämte mich und hob eben den Fuß, um das Weite zu suchen, als der Stein aus dem Gefüge wich und unter dumpfem Gepolter einige Schritte vorwärts gerollt wurde.

Das fesselte mich sofort wieder an den Boden.

Im ersten Augenblick konnte ich nichts sehen, denn die Herren umdrängten die Öffnung; aber ich wollte auch plötzlich gar nicht mehr. Das Blut stieg mir beängstigend nach den Schläfen, und unwillkürlich wandte ich die Augen weg, denn ich meinte, jetzt müsse etwas Überwältigendes kommen.

„Potztausend — das wär’s?“ rief Heinz mit dem Ausdruck höchster Überraschung.

Ich sah hinüber — und da war es mir für einen Moment, als seien alle Farben und Lichter der Heide erloschen, als falteten alle blauglänzenden Schmetterlinge die Flügel und sänken zusammen und die funkelnden Speere am Horizont, wo waren sie hin? Dort ging nur noch die Sonne unter ... Im Hügel lag nicht der greise König mit dem lang herabfließenden Silberbart, die Riesenglieder unter die Purpurdecke gebettet — eine dunkle, leere Höhle gähnte mich an.

Die Fremden schienen dies Ergebnis ganz in der Ordnung zu finden. Einer, der eine Brille trug und auf dem Rücken eine lange Blechbüchse hängen hatte, kroch in die Öffnung, und der junge Herr folgte ihm, während der dritte, ein großer, schlanker Mann, die innere Fläche des fortgewälzten Granitblocks untersuchte. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, er wandte mir den Rücken; aber ich hielt ihn für alt; denn er hatte langsame Bewegungen, und der schmale Streifen Haar, der unter dem braunen Hut hervorsah, war entschieden grau.

„Der Stein ist bearbeitet“, sagte er, indem seine Hand leicht über die Fläche glitt.

„Die anderen Träger auch!“ rief eine Stimme aus dem Hügel. „Und welch einen riesigen Deckstein haben wir über uns! Ein wahres Prachtstück von einem erratischen Block!“

Der junge Herr erschien wieder in der Öffnung. Er hielt ein großes Tongefäß von gelb lieh grau er Farbe in den Händen.

„Vorsicht, Herr Claudius!“ mahnte der Herr mit der Brille, der ihm folgte und selbst verschiedene fremdartige Gerätschaften in der Linken trug. „Im ersten Augenblick sind diese Urnen sehr zerbrechlich; sie erhärten aber schnell an der Luft ...“

Dazu kam es nicht. In demselben Moment, wo die Urne auf den Granitblock gestellt wurde, zerbarst sie; eine Wolke von Asche stiebte auf, und halbverkohlte menschliche Gebeine rollten nach allen Seiten hin.

Der Brillenträger stieß einen Laut des Bedauerns aus. Er ergriff behutsam eine der Scherben, schob die Brille auf die Stirne und besah die Tonmasse an dem frischen Bruch.

„Ah, bah, der Schaden ist nicht groß, Herr Professor!“ sagte der junge Mann. „Da drin stehen noch mindestens sechs Stück, und die Dinger gleichen sich wie ein Ei dem anderen.“

Der Professor verzog das Gesicht, als habe er Essig geschluckt.

„Ei, ei, das klingt ja recht — laienhaft!“ meinte er scharf.

Der andere lachte auf, und das klang hell und übermütig. Er schien es übrigens sofort zu bereuen.

„Ich bin ja auch nur ein Laie, wenn auch ein passionierter“, entschuldigte er sich. „Deshalb müssen Sie schon Gnade für Recht ergehen lassen, wenn der Neuling hier und da die strengen Zügel der Wissenschaft verliert und ein wenig querfeldein galoppiert ... Mir lag hauptsächlich daran, mich über den inneren Bau dieser Grabdenkmäler zu informieren, und — ah, wie prächtig!“ unterbrach er sich und nahm eins der seltsamen Geräte, die der Professor mittlerweile auf dem Steine ausgebreitet hatte.

Der gelehrte Herr hörte augenscheinlich die Entschuldigung des jungen Mannes gar nicht. In tiefes Nachdenken versunken, hielt er einen kleinen Gegenstand prüfend bald gegen das Licht, bald dicht unter die Augen.

„Hm, hm, eine Art Filigranarbeit von Silber! Hm, hm“, murmelte er vor sich hin.

„Silber in einem vorgeschichtlichen germanischen Grabhügel, Herr Professor?“ fragte der junge Mann nicht ohne spöttische Betonung. „Sehen Sie hier dies köstliche Bronzestück!“ Es war ein Dolch oder ein Messer, was er ergriffen hatte. Er hob und senkte wie zum raschen Stoß die Waffe, dann wog er sie lächelnd auf den Fingerspitzen. „Einer Germanenfaust hätte dies zierliche Ding da sicher nicht genügt — sie hätte es im ersten Augenblick zerdrückt“, sagte er. „Und ebensowenig hat sie den zarten Silberschmuck geschaffen, den Sie da in der Hand halten, Herr Professor ... Schließlich behält Doktor von Sassen doch recht, wenn er diese sogenannten Hünengräber als Begräbnisstätten phönizischer Anführer bezeichnet.“

„Doktor von Sassen!“ Wie mich’s durchfuhr bei diesem Namen! Hatte der Sprecher dort nicht mit dem Finger auf mich gezeigt? Und richteten sich nicht sofort aller Augen auf meine arme, kleine, erschrockene Person? ... Ich hätte mich in die Erde verkriechen mögen! ... Ach, welcher Kindskopf war und blieb ich doch! Man kümmerte sich so wenig um mich wie vorher auch — ich wollte aufatmen; aber, o weh, an ihn hätte ich nicht gedacht! Dort stand er, Monsieur Heinz, nickte mir mit überaus schlauer Miene zu und schrie hinter der hohlen Hand: „He, Prinzeßchen, die Leute sprechen von ...“

„Still, Heinz!“ fuhr ich ihn an — zum erstenmal in meinem Leben, und zum erstenmal auch trat ich heftig mit dem Fuße auf.

Er sah mich einen Moment wie versteinert an, dann wandte er scheu die Augen nach der anderen Seite. Die Arbeiter aber waren aufmerksam geworden; sie schienen jetzt erst zu finden, daß der Gegenstand da hinter ihnen nicht ein Dornbusch oder dergleichen, sondern ein kleines furchtsames Mädchen war. Sie starrten mich mit einer Art von lächelnder Neugier unverwandt an: Ich wäre am liebsten auf und davon gelaufen; allein es hielt mich etwas unwiderstehlich fest.

Zudem beruhigte es mich, daß die fremden Herren Heinzens Bemerkung nicht gehört hatten. Mit den „phönizischen Anführern“ waren zwei zündende Funken in die Seele des Professors gefallen. Offenbar ein Gegner dieser Hypothese, verfocht er seinen Standpunkt in leidenschaftlich heftiger Rede, welcher der junge Mann mit pflichtschuldiger Aufmerksamkeit folgte.

Der Herr im braunen Hut dagegen beteiligte sich weniger an den gelehrten Auseinandersetzungen. Ruhigen Schrittes wandelte er auf und ab. Er sah lange in das aufgebrochene Hünengrab; später bestieg er den Hügel und übersah die weite Ebene.

Inzwischen war die lodernde Abendröte erblaßt und sank am Horizont in tiefvioletten Tinten zusammen. Nun trat auch die bleiche Mondsichel wieder hervor und fing an, sich schwach golden zu färben.

Der Herr auf dem Hügel zog seine Uhr hervor.

„Es ist Zeit zum Aufbruch!“ rief er hinab. „Wir brauchen eine volle Stunde, ehe wir den Wagen erreichen!“

„Ja, Onkel, leider Gottes eine stark gemessene Stunde!“ antwortete der junge Mann. „Müssen wir wirklich auf dem heillos schlechten Wege wieder zurück?“

„Ich weiß keinen besseren!“ versetzte achselzuckend der Gelehrte.

Der andere ließ seine Augen finster über die weite Fläche hingleiten.

„Es ist so still, die Heide liegt

Im warmen Mittagssonnenstrahle“ —

rezitierte er mit spöttischem Pathos. „Ich begreife nicht, wie man die Heide besingen kann ... Ist es Ihnen wirklich Ernst mit Ihrer Vorliebe für diese furchtbare Einöde, Herr Professor? Ich bitte Sie, dann zeigen Sie mir etwas anderes als Heide und abermals Heide, dieses entsetzliche braune Gespenst! Hören Sie auch nur einen Ton aus einer Vogelkehle? Und wohin verkriecht sich das menschliche Leben und Treiben, das doch durchaus existieren soll? Steckt es unter der Erde? ... Ich kann mir nicht helfen, Ihre Heide ist das ausgestoßene Kind Gottes in brauner Kutte!“ Der Professor sagte kein Wort. Er schob nur den jungen Mann um einige Schritte seitwärts, dahin, wo die Lehne des Hügels rasch abfiel, faßte ihn an den Schultern und ließ ihn über den Hügel hinweg nach Süden sehen.

Dort lag der Dierkhof. Sein festes schweres Dach hob sich stattlich inmitten vier mächtiger Eichen. Kräftige Rauchwolken, an brodelnde Töpfe auf dem wohlbesetzten Herd erinnernd, wirbelten durch die Äste und zerflossen in der weichen Sommerluft. Es war noch hell genug, daß man das tiefe Grün der sorgfältig gepflegten Rieselwiesen und ein schwaches Glimmen hinter der Garteneinhegung erkennen konnte — das waren Ilses Lieblinge, die dickköpfigen orangegelben Ringelblumen ... Und da trabte eben auch Mieke, jedenfalls sehr satt und sehr gelangweilt, auf eigene Faust heimwärts. Sie blieb einen Augenblick dumm und faul vor dem hochgewölbten Haustor stehen und besann sich, ob sie hineingehen solle — dies prächtige Tier vervollständigte das Bild ländlicher Wohlhabenheit.

„Sieht das aus, als ob schwachsinnige Troglodyten dort hausten?“ fragte lächelnd der Professor. „Und kommen Sie in einem Monat wieder, wenn die Heide blüht. Dann ist sie märchenhaft! Noch später aber trieft sie vom flüssigen Gold, von dem Golde des Honigs — und was wollen Sie? Das ‚ausgestoßene Kind Gottes‘ schmückt sich wie ein Königstöchterlein — viele der kleinen dunklen Heidebäche, wie Sie dort drüben einen sehen, haben Perlen.“

„Ja, Milliarden Wasserperlen, die ins Meer fließen!“ lachte der junge Herr.

Der Professor schüttelte ungeduldig den Kopf. Ich hatte ihn auf einmal herzlich lieb, den Mann, trotz seines vertrockneten Gesichts, seiner vielen Fremdwörter und der häßlichen, rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken. Der junge Spötter mit dem verächtlich lächelnden Munde aber mußte beschämt werden. Ich weiß noch heute nicht, woher ich den Mut nahm, aber ich stand plötzlich an seiner Seite und hielt ihm schweigend die Hand hin, in der fünf Perlen lagen.

Mir war, als sei ich auf glühende Kohlen getreten; ich fühlte, wie mir die Lippen zitterten vor Scheu und Angst, und meine Augen hingen fest am Boden. Man umringte mich; der Herr, der inzwischen vom Hügel niedergestiegen war, die Arbeiter, alle kamen heran, und neben mir sah ich Heinzens riesenhafte Schuhe.

„Na, nun sehen Sie mal, Herr Claudius, das Kind da will Sie überführen! ... Brav, mein Töchterchen!“ rief überrascht und vergnügt lachend der Professor.

Der junge Herr sagte kein Wort. Vielleicht war er erstaunt über die Dreistigkeit, mit der sich das Kind der Heide im groben Leinenhemd und kurzen Wollröckchen neben ihn stellte. Langsam, ich meinte, mit Widerwillen, griff er herüber — und jetzt erschrak ich erst recht und schämte mich. Unter diesen elfenbeinweißen schlanken Fingern mit den mattglänzenden Nägeln erschien meine sonnenverbrannte Hand völlig kaffeebraun; sie zuckte unwillkürlich zurück, und um ein Haar hätte ich die Perlen verschüttet.

„Wahrhaftig, sie sind noch nicht durchbohrt!“ rief er und ließ zwei der winzigen Kügelchen über seine Handflächen rollen.

„Form und Farbe lassen freilich viel zu wünschen übrig — sie sind sehr grau und unregelmäßig“, entschuldigte der Professor. „Es sind eben kleine Barockperlen ohne sonderlichen Wert; aber sie bleiben immerhin eine interessante Erscheinung.“

„Ich möchte sie gern behalten“, sagte der junge Mann; das klang wie eine höfliche Bitte.

„Nehmen Sie“, antwortete ich kurz, ohne aufzusehen.

Er las behutsam die übrigen Perlen von meiner Hand auf, und jetzt sah ich, wie der Herr im braunen Hut, der vor mir stand, ein glänzendes Gewebe, in welchem es leise klirrte, aus der Tasche zog.

„Hier, mein Kind“, sagte er und legte mir fünf große, runde, hellglänzende Stücke in die Hand.

Zu ihm schlug ich die Augen auf. Ich sah eine breite Hutkrempe, die das halbe Gesicht verdeckte, dann kam eine große blaue Brille, von der ein leichenhafter Schein auf die Wangen fiel.

„Was ist das?“ fragte ich, bei aller Befangenheit doch ergötzt durch das Geflimmer und die Form der fremdartigen Dinger.

„Was das ist?“ wiederholte der Herr erstaunt. „Wissen Sie denn nicht, was Geld ist, kleines Mädchen? Haben Sie noch keine Taler gesehen?“

„Nein, Herr, das weiß sie nicht“, antwortete Heinz für mich. „Die alte Frau leidet kein Geld im Hause.“

„Wie ...? Und wer ist denn diese seltsame alte Frau?“ fragten die drei Herren fast zugleich.

„Nu, dem Prinzeßchen seine Großmutter.“

Der junge Mann lachte laut auf. „Diesem Prinzeßchen?“ fragte er und zeigte auf mich.

Ich ließ die Silberstücke auf den Boden hinrollen und entfloh ...

Das Spottgelächter des jungen Mannes jagte mich, und ich hatte das Gefühl, als würde es mir nicht mehr in den Ohren klingen, wenn ich meinen Kopf unter das Dach des Dierkhofes stecken könnte.

Unter dem Haustor stand Ilse und schaute offenbar nach mir aus; denn Micke war ja allein heimgekommen. Wie hatte ich den blonden Kopf dort so lieb! Er war genauso strohgelb wie Heinzens ausgedörrte Schläfenhaare. Ilse hatte auch dieselbe scharfkantige Nase wie ihr Bruder und das gesunde frische Blut, das ihr die Backenknochen schön rot lackierte; aber die Augen, die scharfen Augen, die Bruder Heinz so ängstlich respektierte, sie waren anders, und als ich näher herankam, gefielen sie mir nicht.

„Bist du toll geworden, Leonore?“ rief sie mir zu — sie war böse, so böse wie sie überhaupt werden konnte — denn sie nannte mich beim Namen, und das geschah nur, wenn sie zürnte. Dann schwieg sie und zeigte nur streng auf den Fleck, wo ich stand. Mein Blick glitt hinab, und da sah ich allerdings etwas, das auch mir äußerst fatal war, nämlich meine nackten Füße.

„Ach, Ilse, Schuhe und Strümpfe liegen noch am Fluß!“ sagte ich niedergeschlagen.

„Unverstand! ... Gleich holen!“

Sie schwenkte um und schritt nach dem Herd zurück. Ilse hatte Speck auf dem Feuer, er prasselte und duftete kräftig herüber, und in dem brodelnden Kartoffeltopf stiegen die großen Wasserblasen auf. Das Abendbrot war nahezu fertig, ich mußte eilen, wenn ich rechtzeitig zurück sein wollte.

3

Ich schritt nach der Seitentür, die zwischen der Dreschdiele und den Wohnräumen ins Freie, in den sogenannten Baumhof, führte. Allein Ilse vertrat mir den Weg und hob abmahnend den Zeigefinger.

„Da hinaus kannst du nicht, da steht die Großmutter!“ sagte sie mit unterdrückter Stimme.

Die Tür stand offen, und ich sah, wie meine Großmutter den Arm des Pumpbrunnens in rasender Geschwindigkeit auf und nieder schleuderte — ein Schauspiel, das mich sonst nicht befremdete, ich hatte es täglich vor Augen.

Meine Großmutter war eine große, stark beleibte Frau, mit einem Gesicht, das von den Scheitelhaaren an bis auf den breiten Hals hinab zu allen Zeiten eine gleichmäßig brennende Röte überlief. Diese Färbung der ohnehin auffallend gebildeten Züge über der wuchtigen Gestalt machte sie zu einer wilden, furchtbaren Erscheinung, und wenn ich sie mir jetzt noch vergegenwärtige in jenen Augenblicken, wo sie unversehens an mir vorüberschoß, dann muß ich trotz ihrer schwarzen Augen doch an jene gewaltigen Cimbernweiber denken, die, das Tierfell um den Leib geschlagen und die Streitaxt in der Hand, sich mitten in den wogenden Kampf der Männer warfen.

Sie hielt den Kopf unter den dicken Wasserstrahl; er schoß ihr über das Gesicht und an den grauen Zöpfen herab, die in den Brunnentrog hingen. Das tat sie immer, auch im eisstarrenden Winter; es schien ihr diese Erfrischung so unentbehrlich wie die Lebensluft zu sein. Heute aber befremdete mich ihre Gesichtsfarbe mehr als je; selbst unter dem kalt niederströmenden Wasser spielte sie in ein tiefes, beängstigendes Braunrot hinüber, und als die gewaltige Frau, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf schüttelnd in den Nacken warf und in dem wohligen Gefühl der Erquickung mit weitgeöffnetem Munde einigemal kräftig ausatmete, da hoben sich die Lippen bläulich dunkel von den großen, weißen Zähnen.

Ich sah Ilse an; sie blickte wie selbstvergessen hinüber, und ihre hartblauen strengen Augen schmolzen in dem Ausdruck tiefster Bekümmernis und Trauer.

„Was ist mit der Großmutter?“ fragte ich beklommen.

„Nichts — es ist schwül heute“, antwortete sie kurz. Es war ihr sichtlich fatal, bei dem schmerzvollen Blick ertappt worden zu sein.

„Gibt’s denn kein Mittel gegen diesen furchtbaren Blutandrang nach dem Kopfe, Ilse?“

„Sie nimmt nichts — das weißt du ... Gestern abend hat sie mir das Fußbad vor die Füße geschüttet ... Jetzt geh, Kind, und hole deine Sachen.“

Damit schritt sie nach dem Herd, und ich sprang nach dem Flusse, der kaum dreißig Schritte hinter dem Dierkhof hinlief, und versuchte, durch das Ufergebüsch zu schlüpfen. Das war nicht so leicht in dem engen Geflecht, das unberührt von Menschenhand wachsen durfte, wie es Lust hatte. Aber ich wand mich unverdrossen weiter, denn die zähen Weiden schützten mich doch vor fremden Blicken, und nachdem ich bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt hatte, segnete ich diesen Schutz doppelt; denn schräg über die Heide her kamen die Herren, Heinz voran, und schritten direkt auf den Fluß zu. Noch hoffte ich, vor ihnen die kleine Bucht zu erreichen, allein ich kam bei aller Anstrengung nicht so rasch vorwärts als die Fremden und kauerte mich resigniert, nahe am Ziele, im Gebüsch nieder.

Die Herren kamen dicht an mir vorüber, ich hörte das Knistern ihrer Tritte. An der Birke blieben sie stehen.

„Aha, hier hat das Heideprinzeßchen Toilette gemacht!“ rief der junge Herr. Mir stockte der Atem. Ich bog mich vor und sah, wie er einen der Schuhe vom Boden aufnahm. Nun wußte ich, bei aller Unberührtheit von Welt und Leben, dennoch recht gut, wie ein zarter Frauenschuh aussehen mußte. Ich hatte im Märchen von silberbestickten Pantöffelchen, von kleinen roten Schuhen gelesen, und das Papier, auf welchem diese reizvollen Zaubergeschichten standen, erschien mir noch viel zu dick und grob als Sohle dieser ätherischen Kunstgebilde aus Samt und Seide. Das Unförmchen aber, das der Fremde dort lachend in die Höhe hielt, war vom stärksten Kalbleder — o Ilse, dir wäre Holz noch nicht derb genug für meine unruhigen Füße gewesen!

Heute morgen hatten die Schuhe vor meinem Bette gestanden, nagelneu und begleitet von zwei steifen Strümpfen, die Ilse selbst aus Heideschnuckenwolle gesponnen und gestrickt hatte — ihr stolzes Geburtstagsgeschenk für mich. Ich war glücklich, und Ilse hatte sehr zufrieden mit dem Kopfe genickt, denn der Schuhmacher hatte in liebender Fürsorge ein wohlgeordnetes Bataillon blitzblanker Nagelköpfe über die fingerdicken Sohlen hinmarschieren lassen — jetzt funkelten diese gepriesenen Reihen förmlich feindselig zu mir herüber.

„Je — über das Kindchen! Hat richtig die Schuhe stehenlassen! — Ganz neue Schuhe!“ rief Heinz kopfschüttelnd. „Na, na, ich möchte Ilse hören!“ setzte er ängstlich besorgt hinzu.

„Wem gehört denn das Kind, das wir am Hügel gesehen haben?“ fragte der alte Herr im braunen Hute mit seiner weichen Stimme.

„Es gehört auf den Dierkhof, Herr.“

„Nun ja — aber wie heißt es?“

Heinz schob den Hut auf die linke Seite und kratzte sich hinter dem Ohr. Ich sah sie kommen, seine schlaue Antwort — er erinnerte sich offenbar jenes entsetzlichen Augenblicks, wo ich mit dem Fuße gestampft hatte, und — oh, Heinz wußte sich zu helfen!

„Je nun, Herr, Ilse ruft sie ‚Kind‘, und ich sage ...“

„Desgleichen Prinzeßchen“, ergänzte der junge Herr. Wie vorhin das Fundstück aus dem Hünengrab, so wog er jetzt das kleine Scheusal von einem Schuh auf der Hand.

„Ah, die Damen der Heide belieben mit Nachdruck aufzutreten!“ sagte er zu dem Herrn im braunen Hute. „Charlotte, müßte dieses feenleichte Prachtstück sehen, Onkel! ... Ich hätte gute Lust, es ihr mitzubringen ...“

„Keine Possen, Dagobert!“ unterbrach ihn der Angeredete streng; Heinz aber schrie fast auf.

„Ei, beileibe nicht, Herr ... O je — was würde Ilse sagen! — ganz neue Schuhe!“

„Brr — diese Ilse scheint mir der Drache zu sein, der das barfüßige Prinzeßchen bewacht! — Voilà!“ lachte der junge Mann und ließ den Schuh auf den Boden fallen. Darauf schlug er die Hände gegeneinander, um die etwaigen Staubreste von seinen Handschuhen zu entfernen.

Sie grüßten Heinz und schritten weiter, während mein alter Freund die Unglücksschuhe eifrig in seine weiten Rocktaschen packte. Er ließ ihnen auch die Strümpfe folgen, die er kopfschüttelnd eben noch auf einem Zweige entdeckte; dann trabte er eiligst nach dem Dierkhofe.

Ich verharrte noch eine kurze Zeit in meinem Versteck und horchte auf die Schritte der Fremden, die sich bald auf dem weichen Rasen verloren. „Wie einfältig!“ hatte ich bei Heinzens diplomatischer Antwort zwischen den Zähnen gemurmelt — jetzt konnte er getrost sagen, daß Doktor von Sassen mein Vater sei; aber nein, er hatte gesprochen wie der weise Salomo, und ich war bitterböse auf ihn.

Ich verließ das Gebüsch. Von dem Dierkhof stiegen keine Rauchwolken mehr auf; Ilse hatte längst die Kartoffeln in die Schüssel geschüttet; auf meinem Teller lagen sicher die schönsten, abgeschält und goldgelb, und daneben stand ein Becher voll süßer Milch. Und jetzt wartete sie jedenfalls auf mich; aber heim ging ich noch nicht; ich mußte erst sehen, in welchem Zustande die Fremden den armen zerstörten Hügel zurückgelassen hatten.

Der Block war wieder in seine alte Stelle eingefügt worden, auch die zertrümmerte Erdschicht hatte man darüber hingeworfen, nur das herausgerissene Gesträuch lag verschmachtend umher.

Ich stieg auf den Hügel. Der gute, alte Baum reckte seine üppigen Zweige darüber hin — wer wußte, ob er heute nicht selbst den Todesstreich empfangen hatte!

Den Arm um seinen Stamm legend, sah ich da hinüber, wo der kleine Fluß sich nach dem Walde krümmte ... Wie seltsam war es, daß sich Menschen dort bewegten!

Sie eilten in die Welt zurück — in die Welt! ... Ich war ja auch schon dort gewesen. Für mich hatte sie freilich nur in einer großen dunklen Hinterstube und einem feuchten Gärtchen zwischen vier himmelhohen Häusern bestanden. In jener Hinterstube hatte ich meine drei ersten Lebensjahre verbracht ... Graublonde, dürftige Löckchen schwebten um das eine Gesicht, das am festesten in meiner Erinnerung haftete — ich hätte den grünlichblassen Schimmer der schmachtenden Augen, das plumpe Stumpfnäschen und den grauen, leblosen Teint noch malen können. Das war Fräulein Streit, meine Erzieherin, gewesen. Ein anderes Gesicht flog nur wie ein bleicher Schein an dem dunklen Hintergrund dieser frühesten Erinnerung auf — ich hatte es zu selten gesehen, aber wenn ich später Seide knistern hörte, da tauchte es wie ein Schemen vor mir empor, und ich hörte eine geärgerte Stimme sagen: „Kind, du machst mich nervös!“ Diese seidenrauschende Gestalt, die nur durch die Hinterstube huschte und höchstens einmal eine weiche, heiße Hand auf meinen Scheitel legte, nannte Fräulein Streit gnädige Frau, und ich mußte Mama sagen.

Dann wachte ich einmal auf — nicht mehr in der dunklen Hinterstube. Ich saß auf dem Arme eines großen Mannes, dem gelbe Haare an den Schläfen standen und der mich mit einem „Hä, hä, hä — ausgeschlafen?“ anlachte. Neben ihm ging Fräulein Streit im schwarzen Hut und Schleier; die dicken Tränen liefen ihr über das Gesicht, und ich sah, wie sie leise die Hände rang ... Ganz nahe vor uns lag das Haus mit dem Storchennest und den vier Eichen, und als ich das erhitzte Gesicht des Mannes sah und mich erschrocken zurückbäumte, um aus voller Kehle zu schreien, da rief er: „Kommt, Puttchen!“, und aus dem Haustor rannte eine Schar bunter Hühner auf ihn zu.

Dort stand auch die Frau mit dem roten Gesicht; sie streckte Fräulein Streit die Hand entgegen und küßte mich weinend, worüber ich heftig erschrak; aber das war schnell wieder vergessen. Im Hofraum tollte ein Kalb herum, es sprang plump auf alle vier Füße und blieb lächerlich breitspurig und blökend vor dem Manne stehen. Droben auf dem Dache klapperte der Storch, und Ilse — die Ilse mit den scharfen Augen — hielt mir ein kleines Tier hin, auf dessen seidenweiches Fell ich zaghaft meine Hand legte — es war ein miauendes junges Kätzchen ... Und überall lag Sonne, goldener, glänzender Sonnenschein.

So hielt ich auf Heinzens Arm meinen Einzug auf Dierkhof, und von diesem Augenblick an begann erst mein Leben — ich war über Nacht ein glückliches Kind geworden, während die Menschen mich beweinten ... Hussa! ging es auf Heinzens Rücken Tag für Tag im lustigen Trabe über die Heide hin! Und da stand auf dem allereinsamsten Flecke eine kleine Lehmhütte mit einem niedrigen Strohdach; der große Heinz mußte sich tief bücken, wenn er unter die Tür trat. Aber drinnen war es wohnlich. Tisch und Stuhl blinkten schneeweiß, und hinter den zwei großen Schranktüren an der tiefen Wand lagen federstrotzende Betten im sauberen, buntgewürfelten Überzug. Heinz und Ilse waren Besenbinderkinder gewesen. Der alte Besenbinder hatte mit seinen beiden eigenen Händen die Hütte gebaut, die zwei Kinder waren darin geboren, und an einem anderen Orte wollte Heinz auch nicht sterben. Im Juli fuhr er das Bienenvolk der umliegenden Höfe in die Heide und behielt sie unter Aufsicht, sonst arbeitete er wöchentlich einige Tage als Knecht auf dem Dierkhofe.

In der Lehmhütte war ich so schnell heimisch geworden wie im Hause meiner Großmutter. Ich half Heinz Buchweizengrütze essen und war dabei, wenn er Streuheide für den Dierkhof hieb und einfuhr. Er hob mich -hoch auf den Kopf nach den alten pensionierten Bienenkörben, die an den Balken der Tenne hingen und von dem Hühnervolk als Nester benutzt wurden, und ich reichte unter Jubeln und Jauchzen die schönen glatten, weißen Eier der neben ihm stehenden Ilse herab.

Fräulein Streit saß währenddem in der großen Wohnstube und stickte den ganzen Tag und weinte dazu. Fräulein Streit zu Ehren hatte die Großmutter ein gepolstertes Sofa aus der Stadt kommen lassen, und Ilse hatte blau und weiß gestreifte Vorhänge aufgesteckt. Fräulein Streit zog diese Vorhänge meist zu und klagte, sie fürchte sich vor der endlosen, totenstillen Heide, wenn die Sonne so darüberhin brenne, und wenn der Mond schien, da fürchtete sie sich auch ... In meinem fünften Jahre begann sie, mich zu unterrichten; da brachte Ilse ihre Arbeit herein und hörte auch zu. Sie war, fünfzehn Jahre alt, in die Stadt, in den Dienst meiner Großmutter gekommen, und die hatte sie ein wenig im Lesen und Schreiben unterrichten lassen — trotzdem fing die alte Ilse noch einmal mit mir an. Oft, wenn ich abends, müde getollt und gelaufen, mich auf ihrem Schoß zusammenschmiegte und meinen Kopf an ihre Brust lehnte, da kam auch Heinz heran, natürlich mit der kalten Pfeife, und Fräulein Streit wurde lebendig; ihre schmalen Wangen röteten sich, und die blonden Löckchen flatterten alteriert um das Gesicht. Dann erzählte sie von dem Leben in meinem elterlichen Hause, und dabei wurde es allmählich klar in meinem Kopfe. Ich erfuhr, daß mein Vater ein berühmter Mann sei, und meine verstorbene Mutter war eine Dichterin gewesen. Viele berühmte und vornehme Leute waren in dem Hause aus und ein gegangen, und wenn Fräulein Streit seufzend erzählte: „Ich hatte ein weißes Kleid an und rosa Bänder in den Haaren, es war Leseabend bei der gnädigen Frau“, da dämmerten auch allerlei unliebsame Erinnerungen in meiner Kinderseele auf. Ich hörte wieder das aufregende Trippeln vor der Tür meiner Hinterstube — meine Abendmilch wurde mir eiskalt gereicht, und wenn ich aus dem ersten Schlaf auffuhr, da war ich mutterseelenallein in dem weiten, unheimlichen Zimmer. Ich fürchtete mich und schrie auf, und dann kam Fräulein Streit in ihrem weißen Kleide wie ein Gespenst hereingeflogen, schalt mich, steckte mir ein Bonbon in den Mund, deckte mich zu bis über die Nase und schlüpfte wieder hinaus.

Außerdem berührten mich die „himmlischen Erinnerungen“ meiner Erzieherin sehr wenig; ich schlief meist darüber ein und erwachte erst wieder, wenn ich unbarmherzig an den Haaren gezogen wurde. Mit derselben Konsequenz wie die graublonden Löckchen wurden auch meine langen, schwarzen Haare allabendlich aufgewickelt, und dann mußte ich für meinen fernen Vater beten, an dessen Gesicht ich mich bei aller Anstrengung nicht besinnen konnte.

So vergingen einige Jahre, und Fräulein Streit wurde von Tag zu Tag unruhiger und weinte immer herzbrechender; und als ihr eines Tages ein Zahn ausfiel — er polterte bei Tische auf ihren Teller nieder und war zu meiner starren Verwunderung kein leibhaftiger, sondern ein eingesetzter Zahn —, da wusch sie ihre Hände und packte schleunigst den Koffer.

„Ich bin es mir selbst schuldig, gute Ilse — man hat hier so gar keine Aussichten!“ verabschiedete sie sich von Ilse, während Tränenströme ihr ältliches Gesicht überrieselten.

Gar keine Aussicht in der weiten, weiten Heide! Ich war wie versteinert bei dieser Anschuldigung meiner vergötterten Heimat. Heinz fuhr den Koffer bis ins nächste Dorf, und ich ging auch ein Stück Weges mit. Nach dem Abschied blieb ich stehen und sah der Fortziehenden nach, bis ihr wehendes Kleid weit, weit drüben im Walde verschwand. Nun nahm ich den Hut vom Kopfe und warf ihn hoch in die blaue Luft, dann streifte ich das enge, drückende Jäckchen ab, ohne welches Fräulein Streit mich nie ins Freie entlassen hatte ... Ei, wie wonnig der laue Wind über Nacken und Arme hinstrich! ... So kam ich heim.

„Ilse, abschneiden!“ sagte ich und hielt meine langen unbequemen Locken hin. Und sie schnitt hindurch mit kreischender Schere, daß es eine Lust war. Die Lockenwickel flogen ins Feuer, das Jäckchen paradierte im Schranke, und ich ging von da an in Rock und Mieder wie Ilse.

Das glitt mir alles durch die Seele, während ich unter der Föhre stand und unverwandten Auges die drei forteilenden Gestalten verfolgte. Es dämmerte bereits, ich konnte sie kaum noch von dem dunklen Buschwerk unterscheiden; auch waren sie schon so weit entfernt, daß ich ihr Weiterschreiten nicht mehr bemerkte; aber ich wußte ja, daß sie sich ebenso sputeten wie einst Fräulein Streit, die mißachtete Heide möglichst schnell im Rücken zu haben ...

Mein Vater schickte keine neue Erzieherin, für meine Großmutter existierte ich nicht, und der weit abseits wohnende Dorfschullehrer war kein Hexenmeister. Das sei zu schlimm für mich, meinte Ilse. — Sie schickte mich nicht in die Schule und setzte sich abends selbst auf den Lehrstuhl — es wurde ihr sauer genug. Sie las mir meist einzelne Kapitel aus der Bibel vor, aber stets mit gedämpfter Stimme, und es entging mir nicht, daß sie sich öfter jäh unterbrach und ängstlich gespannt nach dem Zimmer meiner Großmutter hinhorchte. Ich wurde auch vom alten Pfarrer des Kirchspiels konfirmiert; damals stahl sie sich förmlich mit mir aus dem Dierkhof, während Heinz daheim Wache hielt, und ich kniete in einer kleinen Dorfkirche und legte mein Glaubensbekenntnis ab, ohne daß meine Großmutter eine Ahnung davon hatte.

So war ich aufgewachsen, wild und lustig wie die unberührten Weiden drüben am Fluß, und wie ich so dastand unter der Föhre, barfüßig, im kurzen, groben Rock, und der Abendwind blies in mein flatterndes Haar, da lachte ich, lachte laut über den jungen Herrn, der so sorgsam den weichen Rasenweg für seine feinen Sohlen aussuchte und schützendes Leder über die weißen Hände zog — und das war meine Rache.

4

Der Raum, der im niedersächsischen Hause sich zwischen der Tenne und den Wohnräumen hinzieht und in welchem sich der Küchenherd befindet, heißt der Fleet. Auf dem Dierkhof erhob er sich noch nach uralter Sitte um einige Zoll über den lehmgestampften Boden der Tenne, sonst aber trennte ihn weder eine Wand noch ein niedriger Bretterverschlag von der letzteren; man konnte somit von dieser Stelle aus die lange Dreschdiele bis zum Haustor und die sich zu beiden Seiten hinziehenden Viehstände bequem übersehen. Auf den Fleet mündeten ein Fenster und zwei Türen der Wohnräume; er war mit kleinen Steinplatten sauber belegt und war für mich der gemütlichste Platz im ganzen Hause. Dort stand auch, nicht weit vom Herde, zur Sommerzeit der Eßtisch.

Als ich eintrat, brannte schon die Lampe auf dem Tische, sie verlor sich in dem weiten, dunkel angerauchten Raum wie ein kleiner Funken. Durch das offene Haustor fiel noch das fahle Dämmerlicht von draußen auf die vorderen Viehstände; sie waren leer, auf dem Dierkhofe wurde nur soviel Ökonomie betrieben, als zu unserem eigenen Lebensbedarf nötig war. Nahe dem Fleet aber, mit der Stirne nach der Tenne zu, lag Mieke wiederkäuend und hielt mir die Hörner hin — zur Nachttoilette schien ihr die baumelnde Girlande doch nicht wünschenswert.

Ilse warf einen Blick auf das „feierlich geputzte“ Tier, dann wandte sie den Kopf weg und schlug mich leicht auf die Schulter — ich durfte ja nicht wissen, daß sie über meinen „ewigen Unsinn“ gar auch noch lache.

Man hatte bereits ohne mich Abendtafel gehalten. An einem mächtigen Berg von Kartoffelschalen sah ich, wo Heinz gehaust hatte. Ilse schob diesmal ohne Strafpredigt die kalt gewordenen Kartoffeln von meinem Teller und legte mir dafür ein paar heiße, weichgekochte Eier hin. Draußen im Baumhof hörte ich Heinz hantieren, und Ilse lief auch emsig auf und ab; sie hatte noch „alle Hände voll zu tun“. Das war nun freilich nicht der günstigste Moment; trotz alledem fuhr mir die Frage heraus, die mir auf den Lippen geschwebt hatte:

„Ilse, wie heißt das Haus, wo mein Vater jetzt wohnt?“

Sie wollte gerade an mir vorüber in den Baumhof gehen.

„Willst du ihm schreiben?“ fragte sie, überrascht stehenbleibend.

Ich lachte auf. „Ich? Einen Brief schreiben? Nein, nein, ich will nur wissen, wie die Leute heißen, bei denen mein Vater wohnt!“

„Muß es auf der Stelle sein?“

Ich wagte nicht, „ja“ zu sagen; aber vielleicht las Ilse die brennende Ungeduld auf meinem Gesicht. Sie ging schweigend in die Wohnstube und schob mir gleich darauf ein Kästchen hin.

„Da, suche dir die Adresse selbst — ich hab’ sie nicht im Kopfe. Aber verliere mir nichts, und stöbere nicht zuviel herum!“

Sie ging hinaus. Wie sauber und pünktlich geordnet lag die spärliche schriftliche Verbindung zwischen dem Dierkhof und der Außenwelt in dem kleinen Viereck! ... Da war das dünne, verschwindend kleine Päckchen, das die Briefe meines Vaters umschloß: sie trugen samt und sonders Ilses Adresse, enthielten stets nur wenige höfliche Zeilen, einen Gruß an die Großmutter und an mich und eine bestimmt verneinende Antwort auf Ilses hier und da wiederkehrende Bitten, mich, der Schule wegen, vom Dierkhof wegzunehmen.

Unter dem Päckchen mit meines Vaters Briefen lag auch ein Schreiben, von welchem ich wußte, daß es erst vor kurzem eingelaufen war. „An Frau Rätin von Sassen. Hannover“ stand in schlanker, graziöser Schrift auf dem Kuvert; eine andere plumpe Hand hatte den Namen des dem Dierkhof zunächst gelegenen Dorfes hinzugefügt. Der Brief war an meine Großmutter gerichtet. Als Heinz ihn vor einigen Wochen mitbrachte und Ilse übergab, da glitten meine Augen flüchtig über die Aufschrift: Die Welt außerhalb der Heide, und was von ihr herüberkam, hatte für mich nicht die geringste Anziehungskraft. Heute war das plötzlich anders; das angebrochene Siegel reizte mich, einen Blick auf das Blatt drinnen zu werfen; allein ich wagte es doch nicht ohne Ilses Erlaubnis und legte den Brief einstweilen auf die Tischecke.

Die Adresse meines Vaters war schnell gefunden. Als ich sein letztes Schreiben mit hastiger Hand auseinanderschlug, da stand dicht unter seinem Namen: „Firma Claudius, Nr. 64 in K.“ Ein Stich durchfuhr mich, als ich den Namen schwarz auf weiß vor mir sah, den der Professor heute wiederholt ausgesprochen hatte. Der Name sprang mir förmlich in die Augen ... Ich kannte den Inhalt des Briefes, Ilse hatte ihn mir mitgeteilt, und doch fing ich jetzt an, die Zeilen noch einmal zu studieren. Ach, da war wieder einmal die ganze Öde und Trockenheit, welche die Briefe meines Vaters kennzeichneten! Er fragte nicht: „Was macht mein Kind? Ist es gesund und denkt es an mich?“ ... In diesem Augenblick fühlte ich zum erstenmal, wenn auch noch dunkel, daß mein Vater ein schweres Unrecht an mir begehe.

Die nichtssagenden Zeilen schlossen mit dem Satze: „Der Brief aus Neapel wird nicht beantwortet, und daß er meiner Mutter nie zu Gesicht kommen darf, versteht sich von selbst.“ Damit war offenbar das Schreiben gemeint, das neben mir auf dem Tisch lag; es trug das Postzeichen Neapel und war mir nun doppelt interessant.

Das dünne Blättchen in meiner Hand aber faltete ich mißmutig und enttäuscht zusammen, in demselben Augenblick ging die Tür nach dem Baumhof auf, und Heinz trat, gefolgt von Spitz, auf den Fleet.

Ich flog auf ihn zu und legte meine Hände auf seine breite Brust — höher kam ich nicht.

„Heinz, du bist furchtbar böse auf mich, gelt?“

„Ei, beileibe, davon müßte ich doch auch was wissen, Prinzeßchen!“ brummte er neben seiner Pfeife heraus. Er stand verlegen und unbeholfen wie eine Mauer vor mir und rührte kein Glied.

„Du weißt es auch, Heinz“, sagte ich. „Geh, zanke mich tüchtig aus ... Ich bin bodenlos ungezogen gewesen! ... Gelt, das hättest du nie von mir gedacht? — mit dem Fuße zu stampfen ...“

„Ach, das war ja nur ein Späßchen ...“

„Ein Späßchen? Glaub doch das nicht! Es war Ernst, nichtswürdiger Ernst! ... Sei du nur nicht so gut mit mir, Heinz — ich verdiene es nicht ... Kindisch bin ich und heftig und ein erbärmliches, undankbares Ding ...“

„Ei ja — und was nicht noch alles!“

Mit einer schwerfälligen Bewegung griff er in die Brusttasche seines Rockes. „Aber das unmenschlich viele Geld, das da nur so auf den Boden hinkollerte, das haben die Leute nicht wieder genommen, durchaus nicht! ... Ich hab’s auflesen müssen — und da ist’s, Prinzeßchen!“

Er zählte die blanken Taler in langer Reihe auf seine Rechte.

Fünf Silberstücke — für jede Perle eins! So war es gemeint gewesen. Das „Hier, mein Kind!“ des alten Herrn hatte so selbstverständlich geklungen, als seien die Dinger da von mir verlangt worden, und ich hatte die Perlen doch herschenken wollen.

„Ich will sie nicht, Heinz!“ grollte ich und stieß nach seiner Hand.

Das Geld rollte abermals hinab ... Was war das für ein entsetzliches Geräusch, als die schweren Metallstücke klingend und klirrend auf das harte Steinpflaster niederschmetterten! ...

Unwillkürlich fuhr ich herum, und mein Blick zuckte scheu über das Fenster, das nach dem Fleet mündete. Hinter den halbblinden Scheiben hing ein dicker, farbenbunter Plüschteppich, den, solange ich denken konnte, nie eine Hand von drinnen gehoben hatte — jetzt wurde er zurückgeschleudert, und die Augen meiner Großmutter funkelten heraus.

Das war ein Anblick, der dem Beherztesten Grauen einflößen konnte. Zitternd bückte ich mich, um das Geld zu sammeln; aber da flog auch schon die neben dem Fenster befindliche Tür auf — wie ein Windstoß brauste es heran —, ich wurde an der Schulter gepackt und auf die Tenne hinabgestoßen.

„Nicht anrühren!“ gellte es mir in die Ohren. Welch einen erschütternden Klang hatte doch die Stimme, die seit langen Jahren für mich verstummt war! Ich schlug entsetzt die Augen auf.

Da stand die gewaltige Frau und schüttelte grimmig die Faust nach Heinz hin. „Du“ — zischte es drohend von ihren Lippen.

„Gut sein, gnädige Frau, gut sein!“ stotterte er bittend. Er zitterte wie Espenlaub.

Sie wandte ihm mit einer heftigen Bewegung den Rücken. Da stieß ihr Fuß an eines der Geldstücke; sie fuhr zurück, als habe sie auf eine Schlange getreten. — Kichernd schleuderte sie das Geldstück mit der Fußspitze fort, daß es weithin flog und rasselnd auf die Steine niederschlug, dann ein zweites, ein drittes, und so schritt sie auf dem Fleet hin und her. Und wie grauenhaft wechselte das Mienenspiel auf dem rot überflammten Gesicht! Man sah, sie stieß das Geld voll Ingrimm und Abscheu von sich, und doch, sobald es wirbelnd niederfiel, lauschte sie vorgestreckten Halses mit unverkennbarer Lust, ja mit einer Art von Begierde, dem hellen Silberklang, bis die letzte leiseste Schwingung erloschen war.

Ich rührte mich nicht von der Stelle und wagte kaum zu atmen; Spitz schlich mit eingeklemmtem Schwanz vom Herde weg und drückte sich dicht neben Heinz, der regungslos, wie festgemauert, auf seinem Platze verharrte, nur seine ängstlichen Augen huschten einige Male nach mir herüber ... Ach! Ilse — wo blieb sie nur? ... Sie war die einzige, die Macht über meine Großmutter hatte. Hörte sie denn den Lärm gar nicht, der so unheimlich und nervenerschütternd gegen die alten Balken des Dierkhofes schlug?

Das Klirren und Springen der Silberstücke dauerte fort. Die alte Frau schien nicht mehr zu wissen, daß zwei Menschen wie Bildsäulen in ihrer Nähe standen. Sie rannte immer leidenschaftlicher auf und ab und flüsterte und gestikulierte nach etwas Unsichtbarem hin ... Da auf einmal fuhr es wie ein Ruck durch ihre Glieder; sie kam eben am Eßtisch vorüber und blieb förmlich versteinert stehen, während die Augen minutenlang seitwärts auf die Tischdecke niederstierten — da lag der unglückselige Brief, der nach dem ausdrücklichen Befehl meines Vaters ihr nie zu Gesicht kommen sollte.

„An Frau Rätin von Sassen!“ unterbrach sie endlich das tödliche Schweigen und strich sich tief aufseufzend mit der Hand über die Stirne. „ Frau Rätin von Sassen! Das war ich — ich!“

Ich kämpfte mit mir selbst, ob ich hinzuspringen und ihr den Brief entreißen solle, auf den sie eben die Hand legte. Aber was war ich schwaches, zerbrechliches Geschöpf unter den Händen dieser Frau! Sie hätte mich ohne weiteres zurückgeschleudert. Ich machte Heinz die beredtesten Zeichen — er sah mich völlig verständnislos an, und da geschah auch schon das Gefürchtete — meine Großmutter zog den Brief aus dem Kuvert.

„Laß sehen!“ sagte sie, indem sie langsam das Blatt entfaltete.

Sie las nicht, ihr Blick fiel nur auf die Unterschrift — was mußte es wohl für ein Name sein, der eine solche Wirkung haben konnte? ... Mit einem Wutschrei zermalmte die alte Frau sofort den Brief zwischen den Fingern. „Deine Christine!“ lachte sie gellend auf, schleuderte den Papierklumpen weit in die Tenne hinein und lief mit einer wildabwehrenden Bewegung in ihr Zimmer zurück — gleich darauf kreischte drinnen der vorgeschobene Riegel.

Ilse, die eben mit einem Korb voll Torfstücken aus dem Hofe kam, blieb erstaunt auf der Schwelle stehen.

„War das nicht die Großmutter?“ fragte sie halb erschrocken, halb ungläubig.

Mir schlugen die Zähne wie im Fieber zusammen; aber ich fühlte mich doch gleichsam erlöst und erzählte ihr flüsternd und atemlos den Vorgang. Ich sah wohl, wie sie zusammenschrak und sich verfärbte; aber Ilse hätte nicht Ilse sein müssen — sie sagte kein Wort, stellte den Korb neben den Herd und fing an, die Torfstücke auszupacken und symmetrisch aufeinanderzulegen; nur als Heinz herantrat, hob sie den Kopf — sein heiliger Respekt vor den scharfen Augen war sehr begründet, sie hefteten sich vernichtend auf sein schreckerfülltes Gesicht.

„Bist ja ein Mordskerl, Heinz!“ sagte sie. „Hab’ jahrelang gesorgt, daß nicht einmal Groschengeld auf den Dierkhof gekommen ist, und jetzt macht solch ein Politikus das nette Kunststückchen und wirft mir eine ganze Hand voll Silbertaler auf die Steine! ... Ei ja, die Vierzig auf dem Rücken und keine Überlegung!“

Mir traten die Tränen in die Augen. Trotz meiner wahrheitsgetreuen Schilderung und meiner Selbstanklage bekam Heinz die Schelte, und er ließ alles geduldig über sich ergehen, er widersprach mit keinem Wort. Ich schlug meine Arme um ihn und drückte das Gesicht in den Ärmel seines alten Drellrockes.

„Ja, tröste ihn nur, deinen Heinz! — Das hält eben immer wie die Kletten zusammen!“ sagte Ilse; aber schon war alle Schärfe aus Blick und Ton verschwunden.

Sie nahm die Lampe vom Tisch und schritt die Tenne hinab, um den Papierknäuel zu suchen, aber so viel sie auch umherleuchten mochte, er fand sich nicht.

Bis dahin hatte ich in dem Zimmer meiner Großmutter nur selten eine Lebensäußerung gehört, vielleicht nur nicht beachtet; ich mied ja auch instinktiv die nächste Umgebung desselben; jetzt drang das Murmeln einer leidenschaftlich erregten, rauhen Stimme, von Stöhnen und tiefem Aufseufzen unterbrochen, durch das teppichverhangene Fenster.

„Sie betet“, flüsterte Heinz mir zu.

Aber das Gebet wurde nicht kniend verrichtet. Sie ging mit so wuchtigen Schritten drinnen auf und ab, daß der Teppich hinter den Glasscheiben leise schwankte und der Boden hier draußen unter unseren Füßen nachschütterte.

„Gebt Licht herein!“ schrie sie plötzlich angstvoll auf.

„Licht?“ wiederholte Ilse. „Ich habe ja die Lampen hineingestellt.“ Sie lief nach dem engen Gang, der, an der östlichen tiefen Seite der Wohnräume hinlaufend, nach dem Garten mündete und in welchem sich die Haupttür des Zimmers befand.

Nicht lange darauf kam sie scheinbar beruhigt zurück. Draußen aber rasselte fast in demselben Augenblick der Pumpbrunnen, und man hörte den Wasserstrahl zischend in den Trog stürzen.

„Es ist ihr schwarz vor den Augen geworden“, antwortete Ilse kurz auf meine ängstliche Frage. „Das wird wieder einmal eine schöne Nacht werden!“ murmelte sie sorgenvoll vor sich hin, während sie das Geschirr vom Eßtisch wegräumte und das Kästchen mit den Papieren in das Wohnzimmer zurücktrug.

Also hatte sie öfter schlimme Nächte mit meiner Großmutter zu überstehen! Das war eine unheimliche Neuigkeit für mich; mein gesunder, glücklicher Schlaf hatte mich nie ahnen lassen, daß nächtlicherweile irgend etwas im Hause vorgehe. Nun erinnerte ich mich freilich, daß ich Ilse schon gar oft des Morgens niedergeschlagen und erschöpft gefunden hatte; aber da waren stets ihre Kopfschmerzen, an denen sie häufig litt, schuld gewesen.

Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch, und mir war so bang und beklommen zumute, als müsse mit der Nacht draußen auch Schlimmes über den Dierkhof hereinbrechen.

„Geh in dein Bett, Kind, du bist müde!“ sagte Ilse und strich mir mit der Hand über den Scheitel.

„Nein, ich gehe nicht schlafen“, sagte ich und versuchte einen festen Ton anzuschlagen. „Ilse, ich bin heute siebzehn Jahre alt geworden und nun groß und stark genug — ich lasse mich nicht mehr ins Bett schicken, während dir die Großmutter so schwer zu schaffen macht!“

Ich war aufgesprungen und stellte mich neben sie hin.

„So, das hätte mir gefehlt, daß du mir auch noch im Wege herumstündest!“ entgegnete sie trocken; sie sah seitwärts auf mich nieder. „Hm, ja, nun weiß ich doch auch, wie ein großes und starkes Frauenzimmer aussieht! Es reicht mit dem Kopf gerade über den Eßtisch und piept in die Welt hinein wie ein Küchlein, das eben aus dem Ei gekrochen ist ...“

„Ilse, solch ein armseliges Ding bin ich doch nicht!“ unterbrach ich sie empört.

„Übrigens weiß ich gar nicht, was du willst!“ fuhr sie unbeirrt fort. „Lächerlich! Die Großmutter steht ruhig draußen im Baumhof und wird in einer Stunde so fest schlafen wie wir alle. Aber das will ich dir sagen, es regt sie stets auf, wenn sie das Licht zu lange auf dem Fleet brennen sieht.“

Sie nahm ohne weiteres die Lampe vom Tisch — und aus und vorbei war es mit meiner heroischen Anwandlung; den hätte ich sehen wollen, der auf Ilses letztes Wort, auf ihre energische Kopfwendung hin noch etwas zu erwidern versucht hätte.

Ich rief Heinz, der eben das Haustor schloß, gute Nacht zu und folgte ihr nach der Eckstube, in welcher wir beide schliefen.

5

„Hier, du Leichtsinn, sind deine neuen Schuhe!“ sagte sie und zeigte unter den Stuhl, der neben meinem Bett stand. „Wäre Heinz nicht gewesen, so stünden sie jetzt noch draußen in der Heide, und das Gewitter wüsche sie heute nacht in den Fluß.“

Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden beim Anblick der zwei nägelbeschlagenen, häßlichen Unglückskameraden. Zudem fiel das Lampenlicht grell auf den alten, verräucherten Kupferstich, der an der Wand hing und Karl den Großen vorstellte. Das Bild heftete seine großen Augen unverwandt auf mich — ich wandte ihm den Rücken und stieß die Schuhe unvermerkt mit dem Fuß tief unter den Stuhl; ich mochte sie nicht mehr sehen, ich wollte nie mehr an die Fremden erinnert sein, mit deren Erscheinen eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten und neuen peinvollen Empfindungen in mein einsames, harmloses Leben hereingebrochen waren.

Ilse verließ das Zimmer nicht eher, als bis sie mich im Bett wußte. Allein mit einem aufgeregt klopfenden Herzen voll schlimmer Ahnungen schläft auch die Jugend nicht ein. Ich schlüpfte wieder in meine Kleider, hob den Laden aus dem westlichen Eckfenster, das in den Baumhof sah, und setzte mich dicht neben dasselbe auf das Fußende meines Bettes.

Im Hause blieb es still, so still, daß ich Miekes Kette durch die Wand klirren hörte. Ilse hatte recht gehabt mit ihrer Versicherung und konnte nun jeden Augenblick mit dem Licht in die Schlafstube treten. — Hei, wie rasch mich der Gedanke auf die Füße brachte! Ich wäre sicher binnen zwei Minuten in dem hochaufgetürmten Federbett rettungslos versunken gewesen, hätte nicht plötzlich das Zuwerfen einer fernen Tür alle Balken und Pfosten des Dierkhofes erzittern gemacht.

Ich war eben im Begriff, das Fenster zu schließen, da kam es laut atmend um die Ecke, dicht am Fenster hin, so daß der gewaltige grauhaarige Kopf meiner Großmutter in erschreckender Nähe an mir vorüberfuhr.