Das Herz der Alraune - Cornelia Haller - E-Book

Das Herz der Alraune E-Book

Cornelia Haller

4,0

Beschreibung

Anno 1492: In Ravensburg ist sie knapp dem Scheiterhaufen entkommen, nun studiert die Hebamme Luzia Gassner - als Mann verkleidet - Medizin an der renommierten Universität von Montpellier. Als ihre Enttarnung droht, flieht sie auf abenteuerlichen Wegen zurück in ihre Heimat am Bodensee. Dort trifft sie Johannes von der Wehr, inzwischen Überlinger Stadtmedicus, dem sie einst den Rücken kehrte. Mit medizinischem Geschick beginnen sie ihre Zusammenarbeit. Doch nicht wenige wollen der jungen Medica übel, und einmal mehr ist Luzias Leben in höchster Gefahr.

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Cornelia Haller

Das Herz der Alraune

Bodensee-Roman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © The J. Paul Getty Museum Digital image courtesy of the Getty’s Open Content Program. Joris Hoefnagel (Flemish / Hungarian, 1542–1600); Butterflies, Moth, Spider, and English Daisies; Ms. 20 (86.MV.527), fol. 96; Speckled Wood, Talewort, Garden Pea, and Lantern Plant; Ms. 20 (86.MV.527), fol. 16; Pheasant's-Eye, Cricket or Grasshopper, and Wireworm; Ms. 20 (86.MV.527), fol. 26

ISBN 978-3-8392-7732-4

Widmung

Für Andreas, Jacqueline und Victoria

In dunkler Nacht

Schwarz und beängstigend lag die Dunkelheit vor Luzius und drohte, ihn zu ersticken. Im schwachen Schein der Pechfackel tanzten dunkle Schatten über den uralten Stein. Schwärze floss ineinander und malte unheimliche Fratzen. Begierige Flammenzungen leckten über Wand und Boden. Auf der ewigen Suche nach der Angst kamen sie immer näher. Kalt und seelenlos hallte eine Stimme durch die einsamen Gänge. Ein Hauch von Tod streifte seine Wange. Angst kroch ihm, eisigen Händen gleich, über den Rücken und ließ ihn erstarren. Luzius wusste, dort in der Finsternis lauerte die tödliche Gefahr!

Das schwarze Gefieder des Raben glänzte im hellen Feuerschein fast silbern. Seine klugen Augen forderten Luzius auf, ihm in die Freiheit zu folgen. Der Schwarze spannte seine Flügel, doch er fand keinen Ausweg. Sie waren von Feuer umgeben. Rot, heiß und hungrig kam es beständig näher. Der schöne Rabenvogel – er war zu spät gekommen. Die züngelnden Flammen leckten bereits an Luzius’ Füßen und fraßen sich brennend und heiß in seine Haut. Zischend erfasste das Feuer sein rotes Haar, das sich in einen glühenden Funkenregen verwandelte. Schreie drangen an sein Ohr. Sie kündeten von Entsetzen. Erzählten von Qual und Verzweiflung. In seiner Hilflosigkeit presste Luzius die Fäuste gegen die Ohren, doch das Wehklagen wurde immer lauter. Denn die Schreie drangen aus seinem eigenen Mund.

Dort, wo alle Hoffnung vergebens ist, stirbt das Herz und wird zu Eis …

1

Montpellier, im Erntemond im Jahre des Herrn 1492

Die sanfte graublaue Helligkeit des herannahenden Tages sickerte durch die breiten Ritzen der Klappläden, als Luzius mit einem Schrei auf den Lippen erwachte. Diese Hölle verfolgte ihn nun schon seit acht langen Jahren, immer derselbe Traum, der ihn beinahe jede Nacht aus dem Schlaf riss. Müde streckte Luzius seine Glieder. Er fühlte sich zerschlagen. Geradeso als habe er die Nacht saufend unter einer Brücke zugebracht. Die Vergangenheit hing ihm wie Pech am Leib und hatte ihn nie losgelassen. Er atmete sie noch jede Nacht. Sie verfolgte ihn auf Schritt und Tritt bis in seine Träume. Doch wer wohnte schon gerne in einer sterblichen Hülle, die Tag für Tag ihr wahres Sein verleugnete? Die ihr wahres Wesen mit Füßen trat und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte?

Gähnend öffnete er die Fensterläden und blinzelte auf die enge Gasse hinunter. Babette, eine der Hübschlerinnen aus der Nachbarschaft, eine dralle Frau mit üppigen Brüsten und aufgeworfenen Lippen, wünschte ihm einen guten Morgen. Nachdem sie den Inhalt ihres Nachttopfs auf die Gasse geleert hatte, sah sie mit einem unzüchtigen Blick zu Luzius herüber. Verführerisch ließ sie ihre rosige Zunge über die Lippen gleiten, ehe ihr Zeigefinger in der Tiefe ihres rot geschminkten Mundes verschwand. Das Rot wirkte billig und verschmiert. Ohne Zweifel hatte sie das Lippenrot aus zerriebenen Schildläusen bereits am Vortag aufgetragen.

»Mein Angebot gilt auch heute«, hauchte sie durch die Morgenluft herüber, bevor sie mit geschickten Fingern ihre rosigen Brustwarzen umkreiste, die sich bald keck dem Wind entgegenreckten.

»Großer Gott, Weib, wann wirst du endlich einsehen, dass du nur deine Zeit mit mir verschwendest? Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich deine Dienste nicht bezahlen kann?«

»Bei dir würde ich eine Ausnahme machen und dir zeigen, wie es geht«, flötete die Hure.

Luzius winkte ab und zog rasch den Kopf zurück. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Miguel Alvarez dort unten neben einem kleinen Mauervorsprung wartete, bis er sicher sein konnte, dass Luzius ihn gesehen hatte. Luzius fühlte seine hinterhältigen Blicke auf sich ruhen. Erst das laute Krächzen der Raben brachte ihn auf andere Gedanken und erlöste ihn aus Alvarez’ Gegenwart. Rasch zerkrümelte er das letzte Brot vom Vortag und streute es auf den breiten Fenstersims. Die klugen Vögel ließen nicht lange auf sich warten. Sie grüßten Luzius mit einem leisen Krächzen und pickten die Bröckchen auf. Bevor die Raben wieder im weiten Blau des Himmels entschwanden, betrachteten sie ihn einen Moment aus wissenden Augen. Für die Dauer eines Herzschlags glitzerten sie wie schwarze Turmaline und erzählten von den einsamen Hügeln der Cevennen und der endlosen Weite des Meeres.

Über die Nacht hatte der Wind trockene Rosenblätter in die Waschschüssel geweht. Das Wasser aus dem Krug belebte das trockene Rot, wie der Regen es mit dem Land tat oder ein Lächeln mit einer verdurstenden Seele. Bald lag die Wasseroberfläche glatt und eben wie ein Spiegel vor ihm. Er betrachtete sich. Seine Haut war ebenmäßig und weiß. Das lichte Weiß erinnerte an Elfenbein – »Mädchenhaut« nannten es seine Freunde. Missmutig tauchte er das raue Leinen in das kalte Wasser und rieb die weiße Haut, bis sie glühte.

Luzius fühlte sich kraftlos. Kraftlos und müde wie ein entwurzelter Baum, dessen grünes Blattwerk vom nährenden Lebensstrom abgeschnitten wurde und dem jetzt einzig ein einsames und stilles Sterben blieb. Wäre doch wenigstens Nepomuk bei ihm. Seitdem der alte Kater vor einem halben Jahr gestorben war, fehlte er Luzius an jedem Tag und in jeder Stunde.

Rasch zog er das lange Hemd über den Kopf. Der bodenlange Talar, der folgte, erstickte jedes Gefühl, jede Regung und alles, was nach all den Jahren noch atmete. Sein fuchsfarbenes Haar kämmte er nachlässig mit den Fingern hinter die Ohren. Schließlich klemmte Luzius seinen ledernen Ranzen unter den Arm. Verließ die kleine, schäbige Kammer in der Rue de Bain Juif und eilte zur Medizinschule.

Das weithin sichtbare Mutterhaus der Johanniter auf der Insel Rhodos glich einer mächtigen, mit Zinnen bewehrten Festung aus gelbem Sandstein. Während die Abendsonne die Mauern in ein tiefes Orange tauchte, schimmerte das Meer so intensiv blau, wie lediglich die Ägäis zu schimmern vermochte. Durstig goss sich Rudolf von Baden einen Becher stark verdünnten Wein ein, leerte ihn in einem Zug und stellte das Trinkgefäß zurück auf den Tisch. Nachdenklich strich er über die Intarsien, das getatzte achtspitzige Johanniterkreuz, welches den schweren Tisch aus hellem Pinienholz zierte, und trat zum Fenster. Müde rieb er sich die Augen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte auf das endlose Wasser hinunter. Die tosenden Wellen rollten von weit draußen heran und brachen sich an der zerklüfteten Mauer unter ihm. Von hier oben im Turm sah es aus, als verbinde sich das tiefblaue Wasser direkt mit den unendlichen Weiten des Himmels.

Großmeister Pierre d’Aubusson hatte ihn eingeladen, bis auf Weiteres sein Gast zu sein. Nun weilte er bereits seit einer Woche im Palast des Ordens zum Spital des heiligen Johannis zu Jerusalem. Fra Pierre, Kardinal d’Aubusson, hatte ihn in den innersten Kreis berufen, um den Orden zu straffen und einen weiteren Kreuzzug gegen die Osmanen zu planen. Rudolf von Baden, Komtur zu Überlingen am Bodensee, sah nachdenklich aus dem Fenster und fuhr sich durch das silbergraue Haar, bevor er die Treppen nahm, die hinunter in die Halle führten.

Noch immer teilte er nicht die Meinung des Kardinals, was Johannes von der Wehr anging. Der Großmeister hatte nie aufgehört, in dem Medicus aus der Freien Reichsstadt Überlingen am Bodensee einen möglichen Nachfolger in der Reihe der Großmeister zu sehen. Ohne Zweifel eine Aufgabe, welcher der junge Medicus in ein paar Jahren gewachsen sein würde. Doch obwohl auch Rudolf von Baden den besonderen Menschen in Johannes sah, kannte er dessen Nöte und all die Ängste, die ihn des Nachts umtrieben und ihm das Herz schwermachten. Selbstredend wusste er, welch unglaublich bedeutsame Aufgabe dem nächsten Großmeister zukam, denn die Welt befand sich in Zeiten des Umbruchs. Die Zeichen dafür waren überdeutlich.

In den spürbaren Verschiebungen der Jahreszeiten mit ihren teils dramatischen Wetterumschwüngen erkannte er die nahe Endzeit. Zunehmend legte sich in den kurzen Sommermonaten eine trockene, brütende Hitze über die einst so fruchtbaren Landstriche Europas. Bis die mageren Früchte des Ackers und der Bäume von sintflutartigen Regenfällen, Hagelschlägen und Sturmwinden, einem Schnitter gleich, gefällt wurden. Dazu kamen die langen, eisigen Winter mit ihrer stetig zunehmenden Kälte, die selbst dem Bodensee Jahr um Jahr eine dicke Haut aus Eis wachsen ließ. Zudem fraß die klirrende Kälte die noch unreifen Gaben und brachte neben auszehrenden Hungersnöten Verderben und Unfruchtbarkeit über Mensch und Tier. Die Welt befand sich auf einer brüchigen Stiege. Der wiederkehrende Schweifstern, die schwankende Erde und die blutroten Monde kündeten bereits heute von den Offenbarungen des Johannes.

In der Ordensburg hoch über der Stadt Überlingen ging es Johannes von der Wehr gut, und so sollte es nach Rudolfs Dafürhalten auch bleiben. Als der Medicus vor Jahren, mutlos und enttäuscht von einer großen Liebe, sein Leben den Ordensrittern der Johanniter weihen wollte, hatte er dies zu verhindern gewusst. Ein Gelübde durfte niemals das Ergebnis einer Enttäuschung sein! Die tiefe Liebe zu Gott musste den Ausschlag für diese lebenslange Bindung geben. Als Confrater war Johannes von der Wehr mittlerweile ein vollwertiges Mitglied seiner Ritterschaft zu Überlingen. Seine Seele hatte eine Heimat gefunden, und darüber hinaus war es ihm möglich, im Hospital der Stadt das Leben eines Medicus zu führen.

Luzius folgte der Judengasse bis zum Ende. Bevor er in die Rue de Marché einbog, zwang ihn der Durst, ein paar Hände Wasser am Brunnen des Heiligen Rochus zu schöpften. Das Wasser in seiner Kammer schmeckte immer brackig und stumpf. Unauffällig sah er sich um, bevor er den ausgetretenen Gassen zum großen Marktplatz hinunter folgte. Obwohl der Morgen noch jung war, vernahm man bereits die ersten Geräusche der Handwerker wie auch das monotone Klackern der Mühlräder, die durch das Wasser des Lez angetrieben wurden und niemals schliefen.

Seit Luzius die Gasse betreten hatte, fühlte er sich verfolgt. Zahlreiche Augen starrten ihn an, geradeso als wüssten sie um sein Geheimnis. Entschlossen schob er den Gedanken beiseite und hörte nicht auf die Stimme, die aus den Tiefen seiner Seele zu ihm sprach, um ihn zu warnen …

Zum Sechsuhrläuten nahmen die Schmiede und Kesselflicker ihre Arbeit auf. Kurz darauf hing ihr beständiges Hämmern wie ein eherner Gesang aus vielen Stimmen über den Gassen und scheuchte auch die letzten Bewohner Montpelliers aus ihren Betten. Wenn früh am Morgen alle ihren Unrat der Nacht auf die Gasse leerten, mischten sich die durchdringenden Flüche der Abtrittkehrer und das Bellen der wilden Hunde unter den Lärm des anbrechenden Tages. Ein kühler Wind wehte aus den nahen Cevennen herüber und brachte eine frische Brise.

Dicht neben Luzius rumpelte ein voll beladener Eselskarren vorüber, den er erst im letzten Augenblick bemerkte. Mit einem wüsten Fluch auf den Lippen sprang er zur Seite. Erst der freundliche Gruß des grauhaarigen Bauern versöhnte ihn. Zwischen dem Gestank, den feuchte Wolle und ungewaschene Menschen verströmten, wehte der herbe Duft von Lavendel und Rosmarin heran. Obwohl das Meer zwei Wegstunden entfernt war, konnte Luzius neben dem Aroma der wilden Kräuter einen Hauch von Salz ausmachen. Seine Sinne waren schon immer schärfer als die der anderen gewesen. So scharf, dass er sogar die Stimme des Windes und das Murmeln des Wassers vernahm, die manchmal zu ihm sprachen.

Der streng dreinblickende Marktaufseher im blauen Kittel läutete seine Glocke zum Zeichen, dass der Markt für den heutigen Tag eröffnet war. Bald strömten die ersten Frauen herbei. Jede wollte in ihrem Korb die besten Stücke heimtragen. Dabei scheuten sie sich nicht, lautstark mit den Händlern zu feilschen.

Die allerwenigsten Mietkammern verfügten über eine eigene Feuerstelle. So trat auch Luzius oft den Weg zu den winzigen Garküchen am Rand des buchengesäumten Marktplatzes an. Aus den Garstuben, die zumeist winzige Kaschemmen waren, stieg bereits zur Zeit des Morgenläutens der Duft von Knoblauch, frischem Brot und Lavendelhonig. Doch nicht einmal die sinnlichste Verlockung vermochte das Eis in seinen Adern zum Schmelzen zu bringen. Zu groß war die Einsamkeit in seinem Herzen, die es über die Jahre in einen roten Kristall verwandelt hatte.

Das Angebot der Marktstände reichte von kleinen Artischocken und grünen Linsen aus Le Puy en Velay bis hin zu Lorbeer, Safran und Anis. Ein Meer aus Duft und Farbe erstreckte sich über den gesamten Platz. Wespen zankten sich um die blauen Feigen. Ein paar Ziegen meckerten, weil der Bauer sie an einen Pflock gebunden hatte, während er goldgelbe Kürbisse von einem Karren lud und sie zu hohen Türmen aufstapelte. Dazwischen schnatterten Gänse und Enten in ihrem hölzernen Verschlag. An den Fischbänken standen vierschrötige Fischweiber beieinander und schwatzten, während sie die ersten Kundinnen erwarteten. Auf den nassen Holzplanken vor ihnen lagen Wittlinge, Drachenköpfe und ein großer Seeteufel, dessen riesiges Maul weit offenstand. Glänzende Oktopusse warteten auf die Kochtöpfe der Hausfrauen. Gleich daneben pries ein Fischer seine Austernernte an. Die zerklüfteten Schalen der wilden Austern erinnerten an ein wunderliches Wesen. Doch das Innere, das zarte Fleisch der Auster, schmiegte sich frisch und seidig an den Gaumen und schmeckte nach Salz und Meer und Leben.

»Bonjour, Monsieur le Docteur!«, grüßte ein kräftiger Mann mit dunklem Haar. Er war im Begriff, Körbe voll blauer Feigen von seinem Ochsengespann zu laden. Eilig zog er seine Kappe vom Kopf und lächelte, wobei er eine lückenhafte Zahnreihe entblößte. Seine von der Sonne gebräunten Arme wirkten, als trüge er Baumstämme und nicht die wunderbaren Leckereien, die er nebeneinander auf einem wackeligen Holzgestell anordnete. Die verblichene Zeltplane, die das Dach des Marktstandes bildete, blähte sich im ersten Lüftchen des Tages und erinnerte Luzius an ein Segelschiff, welches den Ozean überquerte, wie die Santa Maria dieses wagemutigen Seefahrers Columbus eines war.

»Ich wünsche Euch auch einen schönen Tag«, gab Luzius leise zurück und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber wie oft habe ich Euch schon gesagt, dass ich noch kein Medicus bin!«

»Oh, ich weiß!«, winkte der Bauer ab. »Aber schon sehr bald werdet Ihr einer sein.«

Monsieur Robin war ein oft gesehener Patient im Hospital, und Luzius kannte ihn gut. Er hatte ihm schon viele Male, wenn Robin mit feuerroten und schmerzenden Gelenken im Hospital erschienen war, eine Tinktur der Herbstzeitlosen verabreicht. Das Colchicum bewirkte bei einem Gichtanfall wahre Wunder. Außerdem hatte der lebenslustige Mann Luzius’ schnellem Eingreifen zu verdanken, dass er sein linkes Bein behalten hatte. Andernfalls wäre er jetzt ein Krüppel und müsste seinen Lebensunterhalt bettelnd bestreiten.

Als Luzius sich umwandte, sah er aus den Augenwinkeln Miguel mit einer jungen Frau am Nachbarstand flüstern. Obwohl seine Worte ganz der hübschen Bauerstochter galten, hielt er seine stechenden Augen stetig auf Luzius gerichtet. Als das Mädchen nickte und kicherte und ebenfalls zu Luzius herübersah, hätte er Miguel am liebsten ins Gesicht geschlagen. Er spürte bereits das Kribbeln in seiner Handfläche. Ein höchst unangenehmes Gefühl ließ ihn aber innehalten. Er war sich sicher, dass Miguel etwas im Schilde führte. Einen Augenblick später war Miguel Alvarez verschwunden.

Ein Blick zum Himmel verriet Luzius, dass ihm noch ein wenig Zeit blieb, bevor Professor Lavals Vorlesung begann. Der unduldsame Lehrer hatte es Luzius in der Vergangenheit nicht gerade leichtgemacht, und Luzius fürchtete gar, Laval habe sich wie manch anderer von Miguel kaufen lassen. Anstatt sich schützend auf die Seite seines Scholaren zu stellen, hatte Laval nichts unternommen, als Miguel mit purer Absicht Luzius’ anatomische Zeichnungen vernichtet hatte. Seit Luzius dieses für einen Lehrer unglaubliche Verhalten beim Rektor der Universität vorgetragen hatte, war ihm Laval noch weitaus weniger zugetan. Zumindest hatte die ehrwürdige Magnifizenz Levevre Lavals Versäumnis aufs Äußerste missbilligt.

»Hier, nehmt von meiner wunderbaren Eselwurst und ein kleines Krüglein Anis!«, forderte ihn der heitere Robin auf und reichte ihm beides. »Und ein paar Feigen noch dazu, dann fällt Euch das Denken leichter. Wenn der Magen knurrt, bleibt auch das Oberstübchen leer!«, belehrte er Luzius und rieb sich genüsslich den gewaltigen Bauch.

»Ja, so kann man’s auch sehen! Aber Ihr solltet es lieber etwas maßvoller angehen. Feigen sind gut für Eure Gesundheit! Genießt sie, wann immer Ihr wollt. Aber«, fuhr Luzius mit weitaus strengerer Miene fort, »die Wurst und den Wein solltet Ihr lieber des Öfteren durch Gemüse und Wasser aus dem Brunnen ersetzen.«

Robin winkte ab und blinzelte. »Was weiß ein junger Spund, wie Ihr einer seid, schon vom Leben eines alten Mannes?«, fragte er.

Luzius hob die Schultern. »Wahrscheinlich nicht allzu viel«, gab er zu. »Aber ich kann Euch sagen, welche Maßnahmen Ihr befolgen könnt, damit das Zipperlein an der Leine bleibt und Euch nicht so häufig zwickt.«

Das leidige Thema, wie sich die Gicht besser im Zaum halten ließ, hatte er schon oft angeschnitten, doch er wusste, es wurde auch dieses Mal weder gehört noch befolgt, und langsam sollte er sich nun doch auf den Weg zur Universität machen.

Bevor Robin darauf antworten konnte, gab sein Maultier einen jämmerlichen Schmerzenslaut von sich und keilte mit beiden Hinterhufen aus. Dabei trafen sie den Wagen, der mit all den Lebensmitteln umkippte, und versetzten Robins Kopf einen harten Schlag. Die Prellung über dem rechten Auge schwoll augenblicklich an und verfärbte sich tiefblau.

»Setzt Euch einen Augenblick, ehe Ihr ohnmächtig werdet«, empfahl Luzius und half dem schweren Mann auf eines der Weinfässer, die sein Nachbar feilbot. Während er den anderen Marktbestellern beim Einsammeln der Waren zur Hand ging, sah er, wie sich die Bauerstochter vom Nachbarstand eilig zurückzog. Ihr bestürzter Gesichtsausdruck verriet, dass sie Robins Maultier misshandelt und so zum Auskeilen gebracht hatte. Mit diesem Ausgang hatte sie aber sicher nicht gerechnet. Dumme Gans!, dachte Luzius missmutig und sammelte rasch die heil gebliebenen Feigen ein. Über den Rest würden sich in wenigen Minuten die Bettler hermachen, die bereits mit hungrigen Augen herübersahen.

Luzius tunkte einen leeren Leinensack in den nahen Marktbrunnen und legte das kühle Nass vorsichtig über Robins Verletzung.

»Es hätte noch schlimmer kommen können«, tröstete er den schimpfenden Mann. Die Beule würde wieder verheilen, aber das Loch in der Geldkatze würde bleiben. Dennoch hätte Robin sein Auge verlieren können. Luzius hatte gute Lust, dem Mädchen die Leviten zu lesen, aber der wahre Schuldige saß bereits in Lavals Unterricht und freute sich über sein Zuspätkommen.

Als Luzius auf dem Weg ins Universitätsviertel eine der reifen blauen Früchte kostete, die Robin ihm als Dank in die Hand gedrückt hatte, kamen ihm längst vergangene Tage in den Sinn. Süß und körnig hatten die Feigen damals geschmeckt, doch seit langer Zeit hinterließen sie einen bitteren Geschmack und schmerzvolle Erinnerungen. Sie schmeckten nach all den Tränen, die er sich verwehrte. Tränen um eine Liebe, die einst so vollkommen war, als hätte Gott sie selbst gestiftet.

Der Unterricht an der Medizinschule wurde oft schon mit der Prim um 6 Uhr eröffnet. Obwohl der heutige Unterricht erst zur siebten Morgenstunde begann, damit die Studenten die Gelegenheit bekamen, an der Frühmesse teilzunehmen, hatten Professor Lavals Vorlesungen zur Krankheitslehre bereits angefangen. Als sich Luzius auf leisen Sohlen in den kleinen Lehrsaal am Ende des Cuprum-Korridors schlich, fühlte er Miguels hämischen Blick auf sich ruhen. Er spürte die Niedertracht des anderen fast körperlich. Noch bevor er einen Platz in der Nähe der Wand erreichte, räusperte sich Laval laut und vernehmlich. Obwohl die Luft hinter den hohen, meterdicken Mauern zu allen Zeiten kühl war, hatte Luzius das Gefühl, als brenne sie in diesem Augenblick. Nichts hasste Professor Laval so sehr wie verspätete Studenten, die es wagten, seine Ausführungen zu unterbrechen. Doch obwohl Luzius frei von jedem schlechten Gewissen war, wusste er, dass er sich Erklärungen sparen konnte. Laval wollte sie nicht hören.

Niemand sagte auch nur ein einziges Wort. Lediglich Miguel Alvarez vollführte eine Handbewegung, die den Kopf vom Hals trennte. Sein schadenfrohes Grinsen wirkte böse und hinterhältig. Luzius spürte die großen Quader des rauen Sandsteins im Rücken. Langsam, als habe ihn eine Schlange im Visier, legte er die verschwitzten Hände auf den Rücken und beruhigte sie am kühlen Stein.

Lavals verhärmte Züge wirkten streng und unduldsam. »Luzius Gassner!«, schnappte der Lehrer. »Wenn Ihr schon zu spät kommt und uns alle in unserer Konzentration stört, werdet Ihr uns nun etwas über die unterschiedlichen Qualitäten des Pulses erläutern.« Laval lehnte sich in seinem Scherenstuhl zurück und bildete mit den Fingern eine Pyramide. In seinen dunklen Augen funkelte der ganze Unmut über Gassners Zuspätkommen. »Nun, junger Mann, ich höre!«, schnaubte er, als Luzius nicht im selben Atemzug antwortete.

Luzius schluckte. Er atmete die Gedanken all jener, die froh waren, dass sie sich ducken und unauffällig im Hintergrund verschwinden konnten. Luzius’ Blick suchte die grobe Mauer auf der anderen Seite des Raums. Im Stillen zählte er anhand der Sandsteinquader die verschiedenen Pulsarten auf. Sein Mund fühlte sich trocken und ausgedörrt an. Genau wie die lederartigen Birnen, die daheim am Bodensee zum Christfest in ein Brot eingebacken wurden. Einmal atmete er noch tief durch, damit seine Stimme nicht dem schrillen Quieken einer verängstigten Maus glich.

»Wir unterscheiden acht große Ordnungen des Pulses«, begann er schließlich. »Den schnellen, den großen, den regelmäßigen, den vollen, den gesunkenen, den leeren, den fadenförmigen und den ameisenförmigen Puls.«

Laval erhob sich, legte die Hände auf den Rücken und wanderte zum Fenster. Eine Weile sah er schweigend hinaus, bevor er sich zu einem Nicken herabließ. »Welche Pulsart ist die gefürchtetste?«

»Wir gehen davon aus, das sich der gesunkene, der ameisenförmige und der leere Puls für den Patienten am gefährlichsten auswirken.«

»Und wie wird behandelt?«, presste der Lehrer mit säuerlicher Miene hervor, während er Luzius nicht aus den Augen ließ.

Bevor Luzius weitersprach, trocknete er seine verschwitzten Hände am Stoff des Talars. »Mit einer herzwirksamen Pflanzenverordnung wie Digitalis purpurea«, entgegnete Luzius mit fester Stimme. Er wollte dem Professor keinen Grund zum Tadel geben, weil er all die Straf- und Extradienste verabscheute, die dieser ihm allzu gerne auferlegte. In Luzius’ Augen dienten sie allenfalls der Schikane und hielten ihn nur unnötig lang von den Krankensälen fern, wo zu allen Stunden jede Hand gebraucht wurde.

»Der Rote Fingerhut also! Eine Möglichkeit«, gab der Lehrer zurück und legte die Stirn in Falten. »Was noch?«

»Eine andere Möglichkeit wäre eine Zubereitung aus Maiglöckchen, Meerzwiebeln oder Adonisröschen.«

Laval sah ihn lange an. »Dem ist fürs Erste nichts hinzuzufügen.« Inzwischen hatte er sich vor seinem Lesepult positioniert. Dort nahm er seine Augengläser ab und musterte die Schüler mit zusammengekniffenen Augen.

Der Rest der Stunde verlief nun ruhig, und die Scholaren zeichneten auf, was der Professor vortrug.

In der kurzen Pause, welche den Studenten zum Anspitzen ihrer Gänsekiele gewährt wurde, stieß Claude Luzius den Ellenbogen in die Seite. »Mann, du bist ganz blass«, kicherte er neckend. »Lass dich von dem alten Ekel nicht ins Bockshorn jagen.«

Luzius nickte. Das hatte er nicht vor. Laval war nicht der Grund seiner Sorge.

Obwohl der Rektor die Lesegeschwindigkeit so festgelegt hatte, dass die Studenten das gesprochene Wort protokollieren konnten, las Professor Laval seine Texte so schnell, dass die elf Scholaren bald ihre liebe Not hatten, das Gehörte auf Pergament zu bringen oder in Wachstäfelchen zu ritzen. So ging es bis zur Terz um 9 Uhr.

Von 9 Uhr bis zur Sext um 12 Uhr hörten sie Pharmazie. Die Mittagspause endete um 3 Uhr nach dem Mittagsläuten. Bis zum Vespergebet, zu dem sich Lernende wie Lehrende um sechs in der Kirche trafen, arbeiteten die Schüler im Hospital. Danach fanden bis um 9 Uhr abends weitere Vorlesungen statt, und später traten zwei Scholaren ihre Nachtwache in den Krankensälen an.

Der Ruf der Eule hallte bereits durch die engen Gassen Montpelliers, als Luzius das kleine schäbige Haus im Judenviertel verließ und zur Medizinschule eilte. Die Schule und das Hospital lagen die Rue des Jardines hinunter, ein großes, wehrhaftes Sandsteingebäude inmitten des Universitätsviertels. Freilich legte er jeden Tag ein ordentliches Stück Weg bis zur Universität zurück, doch er wohnte gern in der Nähe des Jüdischen Bades. Die Leute waren freundlich und der Mietzins billig. Die Mikwe lag in völliger Dunkelheit neben den anderen hohen Stadthäusern. Die teils baufälligen Gebäude wirkten in der Dunkelheit gebrechlich und körperlos. Lediglich die Mauervorsprünge bildeten in der Finsternis ein paar hervortretende Schatten.

Luzius achtete darauf, dass der Saum seines Talars nicht in die Schmutzlöcher geriet, denn die Lehrer sahen es nicht gerne, wenn der sandgebürstete Boden des Hospitals mit Schlieren von Matsch und Unrat verunreinigt wurde. Luzius’ Schritte zeugten von Eile. Sie erzählten von der leisen Furcht, die ihn jedes Mal beschlich, wenn er nach Sonnenuntergang allein durch die fast unbeleuchteten Straßen Montpelliers hastete. Nur hier und da qualmte eine Pechfackel einsam vor sich hin und warf ihren trüben Schein auf den schmierigen Weg.

Ein kurzer Blick zum Himmel versprach einen gelungenen Vortrag im Fach Astronomie. Luzius liebte die Astronomie, und Professor Ezra Rosenzweig zählte neben Professor Ibn Faris zu seinen bevorzugten Lehrern.

Rosenzweig hatte Luzius oft zum Pessachmahl eingeladen. Sein Haus lag ebenfalls in unmittelbarer Nähe zum Jüdischen Bad. Luzius liebte das ungesäuerte Brot und das für die Schabbatfeier typische Eintopfgericht aus Fleisch, Zwiebeln und Bohnen, das traditionell mit gekochten Eiern serviert wurde. Genau wie Professor Ibn Faris hatte ihm Rosenzweig außergewöhnlich viel Zeit auch außerhalb des Unterrichts geschenkt.

Zwei Katzen schrien in ihrem Liebesrausch, ehe sie sich wieder voneinander lösten und dicht an Luzius vorbeisprangen. Er kam ins Stolpern, fing sich aber wieder. Als er sich umdrehte, um den beiden etwas nachzurufen, erkannte er plötzlich, dass ihm jemand folgte. Die Fackel hatte ihr Licht nur einen Augenblick auf die finstere Gestalt geworfen, die genau wie er den Talar des Lernenden trug. Das dunkle Haar fiel dem Unbekannten auf die breiten Schultern, und sein Gesicht mit der geraden Nase erinnerten Luzius sofort an Miguel Alvarez. War ihm der Spanier schon wieder gefolgt? In der unheimlichen Stille der finsteren Gasse schwoll sein Herzschlag an und trommelte gegen die Rippen.

Luzius ahnte wohl, warum Miguel ihn verabscheute. Dennoch fühlte er sich keiner Schuld bewusst. Claude vertrat ohnehin die Meinung, dass es keiner besonderen Gründe bedurfte, sondern dass Miguel einfach ein durch und durch schlechter Mensch war. Er hatte sein Examen an der Universität von Bologna nicht bestanden und erhoffte sich nun an der medizinischen Universität zu Montpellier mehr Erfolg. In der Medizinschule machte Miguel im Beisein ihrer Studienbrüder gern und oft schlechte Witze auf Luzius’ Kosten. Leider war es Miguel in letzter Zeit immer häufiger gelungen, die gemeinsamen Kameraden auf seine Seite zu locken. Es verging keine Woche, ohne dass Alvarez zu einem Saufgelage einlud, das ohne Ausnahme im Hurenhaus endete. Und genau dort, so vermutete Luzius, hatte er sich Miguels Feindschaft zugezogen.

Luzius fühlte sich bereits nach wenigen Bechern Wein unwohl. Deshalb trank er, im Gegensatz zu seinen Studienbrüdern, meist nur mäßig. Er hasste es, wenn ihm der Alkohol den Verstand vernebelte und seine Sinne täuschte. Und ein Hurenhaus hatte er bislang lediglich im Auftrag der Medizinschule von innen gesehen. All das missfiel dem Spanier offensichtlich so sehr, dass er Luzius bereits mehrfach verprügelt hatte. Obwohl Miguel ihn um mehr als eine Haupteslänge überragte und ihn, was die Schlagkraft betraf, leicht in die Tasche steckte, war es Luzius bisher immer gelungen, mit einem blauen Auge davonzukommen.

Nun aber schlug ihm das Herz bis zum Hals, denn Luzius spürte, wie sein Verfolger immer näherkam, und fast war ihm, als streiften Miguels Finger seinen Talar. »Lauf!«, mahnten ihn seine Sinne, und Luzius begann zu rennen. Die Häuser zogen wie schwarze Riesen an ihm vorüber. Er achtete weder auf den Boden vor sich noch auf irgendetwas anderes. War der Weg denn immer so lang? Luzius fühlte seine Beine müde werden, und bald war ihm, als klebten seine Sohlen in zähem Harz.

Endlich lichtete sich die schmale Gasse, und vor ihm erhoben sich das mächtige Schulgebäude und die angrenzende Ca­thédrale Saint-Pierre mit ihren beherrschenden Rundsäulen, die das Dach über dem Hauptportal trugen. Mit letzter Kraft riss Luzius das knarzende Tor auf und hetzte ins Innere der Kirche.

Kerzenlicht und ein vielstimmiger Gesang nahmen ihn in Empfang. »Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis. Laudamus te …«, sangen die kleinen Knaben in ihren weißen Chorgewändern. Eigentlich war die Abbaye de Sainte-Marie de Valmagne ihr Zuhause, aber der Blitz hatte in die alte Klosterkirche eingeschlagen und das Gebäude stark beschädigt. Schwer atmend ließ sich Luzius auf die knarrende Bank fallen und schloss erschöpft die Augen. Er wollte Atem holen und einen Moment zur Ruhe kommen, keiner sollte ihm ansehen, wie entkräftet er war.

Die kleinen Sänger hatten Luzius nicht bemerkt, und so gelang es ihm, die Kirche wieder ungesehen zu verlassen. Jetzt war es höchste Zeit, die letzten Meter zum Universitätsgebäude anzutreten. Draußen war alles still, und obwohl Luzius ahnte, dass Miguel ihn nicht mehr verfolgte, saß ihm noch immer die Angst in den Knochen.

Er betrat die Medizinschule unter den wachsamen Augen zweier überlebensgroßer Löwen. Hier vertrat der in Stein gehauene Leu die Schlange des Asklepios. Der griechische Gott der Heilkunst wachte im Inneren des mächtigen Gebäudes. Unter den zuckenden Flammen der beiden Feuerschalen wirkte die Gestalt des griechischen Gottes kühl und überlegen, und der weiße Marmor, aus dessen Tiefen der Bildhauer ihn geschaffen hatte, unterstrich diesen Eindruck. Über zahlreiche, teils halsbrecherisch steile Stufen gelangte Luzius schließlich zum Astronomieturm hinauf. Dort standen die Scholaren in schwindelnder Höhe auf dem schmalen Balkon, der den Turm von allen Seiten umschloss. Von Miguel Alvarez aber fehlte jede Spur …

Keiner der Schüler konnte sich der besonderen Stimmung des Astronomieunterrichts entziehen, denn Professor Rosenzweig war ein begnadeter Lehrer, der es verstand, den Geist seiner Schüler am Licht der Sterne zu entzünden.

Ezra Rosenzweig hegte immer die Hoffnung, irgendwann einen neuen Stern zu entdecken. »Heute wäre eine geeignete Nacht«, brummte er leise vor sich hin, während er in der Mitte des übergroßen runden Tisches eine gewissenhaft gezeichnete Himmelskarte ausbreitete. Als er sich umsah, bemerkte er, dass Miguel Alvarez nicht zugegen war. Ganz offensichtlich hatte der faule Grobian es vorgezogen, sein Wissen in einem verlotterten Hurenhaus der Stadt zu erweitern. Rosenzweig sollte es nur recht sein. Seine Schüler wirkten gelassener, wenn der aufgeblähte Spanier es vorzog, den Vorlesungen fernzubleiben.

Seitdem der stolze spanische Pfau das Gerücht verbreitete, Luzius Gassner trage ein dunkles Geheimnis unter seinem Talar, wurde Luzius von seinen Kameraden zunehmend gemieden, manche seiner Studiengenossen verabscheuten ihn sogar. Als Miguel dann noch behauptete, Gassner sei ein Sodomit, hatte er dafür gesorgt, dass er von der Gemeinschaft fast völlig ausgeschlossen wurde. Rosenzweig atmete jeden Abend auf, wenn er sah, dass das Licht in Luzius’ Kammer brannte. Oder wenn er wusste, dass der fleißige junge Mann seinen Nachtdienst im Hospital aufgenommen hatte. Einen Lichtblick gab es unter all der Schwärze allerdings noch, und das war Claude Mercier.

Bislang hatte sich der junge Franzose nicht von den boshaften Gerüchten beeindrucken lassen. Ihn sah man nach wie vor häufig an Luzius’ Seite. Über all seine anderen Scholaren konnte Rosenzweig nur den Kopf schütteln. War das nicht die gleiche vernichtende Feindschaft, welche die Juden zu einem verfolgten Volk hatte werden lassen? Als Brunnenvergifter hatte man sie verschrien. In ihnen die Auslöser der Pest gesehen. Man dichtet uns Ritualmorde an Christenkindern und Hostienfrevel an, dachte Rosenzweig bitter. Gerüchte, die aus Mitmenschen Bestien werden ließen … Im Stillen bat er den Ewigen um Hilfe. Auf dass er die Verblendung von diesen jungen Ochsen nehmen möge.

Das Astrolabium ermöglichte den Scholaren nach der Einstellung von Datum und Uhrzeit eine exakte Positionsbestimmung der Planeten. Umgekehrt war es ihnen möglich, mithilfe der Standpunkte eines Sterns das Datum seiner Wiederkehr vorauszusagen. Im Laufe der letzten Jahre hatte diese sehr anspruchsvolle Arbeit eine umfangreiche Himmelskarte sowie ein eindrucksvolles Modell des geozentrischen Weltbilds hervorgebracht.

Heute überspannte der Nachthimmel die Welt mit einem samtenen Mantel, dessen geheimnisvolles Muster Gott allein kannte. Professor Rosenzweig wollte wissen, welche ungewöhnlichen Monde es am Himmel zu unterscheiden galt.

»Den blauen Mond und den Blutmond«, gab Luzius zur Antwort.

Es war eine Freude mitanzusehen, wie der gelehrige junge Mann das Wissen wie ein ausgedörrter Schwamm in sich aufnahm. Sicher würde aus ihm einmal ein hervorragender Medicus werden, dachte Rosenzweig und nickte. »Und nun seid so gut und erklärt, was bei diesen Monden zu beachten ist«, bat der Lehrer, während seine Hand den Handlauf des Balkons umschloss.

»Wenn der vierte Vollmond innerhalb dreier Monate vom Himmel leuchtet, wird der Mond blau. Zu dieser Zeit sollen alle Wasseranwendungen unterbleiben. Also Wickel, Bäder, Trinkkuren. Aber auch Klistiere und Waschungen«, sagte Luzius, während Claude die Planeten auf dem Tischmodell so anordnete, dass der blaue Mond aufzog.

»Und während des Blutmondes? …«, fragte Rosenzweig und verschränkte die Hände auf dem Rücken.

»… gelten andere Regeln. Schon Trota di Ruggiero von Salerno und Hildegard von Bingen betonten, dass ein Aderlass allenfalls während der ersten sechs Tage nach dem Vollmond angebracht sei. Weil allein der Mond die Gezeiten im Leib des Menschen beeinflusst. Beide warnten aber ausdrücklich vor dem Blutmond. Seine Kräfte sind schwer vorhersehbar. Sie künden oft von großem Unheil in der Welt. Jeder Eingriff, der nicht unbedingt sofort durchgeführt werden muss, sollte in jedem Fall auf die Tage nach dem Blutmond verschoben werden.«

Vor einiger Zeit hatte das französische Königshaus von Professor Rosenzweig verlangt, einen geeigneten Tag zur Entfernung eines tiefsitzenden Geschwürs bekanntzugeben, welches den Monarchen seit Langem quälte. Diesen zu ermitteln, verlangte neben dem fachgerechten Umgang mit dem Astrolabium auch weitreichende medizinische Kenntnisse. Selbstredend hatte Ezra Rosenzweig die Daten bereits errechnet. Doch zur Freude seiner Scholaren betraute er nun auch sie mit der Ermittlung des geeigneten Tages und der rechten Stunde. Mit den genauen Angaben zur Geburt Charles VIII. reichte Professor Rosenzweig das scheibenförmige Messinstrument dem ersten Scholaren. Wollte man ein korrektes Messergebnis erzielen, galt es, eine Reihe komplizierter Einstellungen zu beherrschen. Die zehn Studenten waren sich selbst nach langer Diskussion nicht einig. Erst Claude Mercier und Luzius Gassner brachten ein wenig Licht ins Dunkel der widersprüchlichen Empfehlungen.

»Wir sollten notieren, dass der geeignetste Tag in die Zeit des abnehmenden Mondes fällt.«

Claude nickte zustimmend zu Luzius’ Berechnung. »Allerdings sollte der Mond weder im Zeichen des Krebses noch im Zeichen der Zwillinge und auf keinen Fall im Löwen stehen«, ergänzte er.

»Da wir wissen, dass sich das Geschwür seiner Majestät am Kopf befindet, wäre es nahezu unverantwortlich, wenn der Mond im Zeichen des Widders stünde«, fügte Luzius hinzu und suchte nach Rosenzweigs bestätigendem Blick.

»Weil ich in offene Münder und leere Denkblasen blicke, bitte ich euch zu erläutern, weshalb der Widdertag am wenigsten geeignet ist«, ermunterte Professor Rosenzweig seine tüchtigsten Schüler.

Luzius straffte seinen Rücken. »Nun, weil jedes Tierkreiszeichen einem bestimmten Organ oder einer Region des menschlichen Leibes zugeordnet wird«, begann er. »Und das Sternbild des Widder beherrscht nun einmal die Kopfregion. Ebenso wie dem dunklen Skorpion die Geschlechtsorgane zugeordnet werden«, erklärte Luzius belustigt und tat einen großen Schritt in Alberts Richtung, der entsetzt zurückwich. »Schon einmal was davon gehört?«, fragte er seinen Studienbruder mit belustigter Miene.

Albert nickte knapp und trat einen weiteren Schritt zurück. Dabei stolperte er über seine eigenen Füße, was seinen Kameraden ein höhnisches Lachen entlockte. Er wollte nicht in der Nähe dieses Sodomiten sein. Immerhin galt die körperliche Liebe unter Männern als widerwärtig und abartig. Die Priester verteufelten jede Art der Sexualität, die nicht der Zeugung von Nachkommen diente, und bezeichneten sie als Sodomie. Alberts Miene sagte mehr als 1.000 Worte. Er selbst wollte das Schauspiel nicht versäumen, wenn Miguel den Hinterlader endlich beim Kirchengericht zur Anzeige brachte und mit den Bütteln in die Judengasse kam. Verbrennen würden sie den Widerling!, dachte Albert. Verbrennen!

2

Noch lag der Tau auf dem silbrigen Grün der alten Olivenbäume. Ihre ehrwürdigen Kronen, die im morgendlichen Zwielicht wie knorrige Wächter aus einer anderen Zeit wirkten, raschelten im Wind. Die elf Scholaren hatten sich schon vor dem ersten Morgenlicht im Jardin des Plantes, dem Heilpflanzengarten der Medizinschule, getroffen, um die Kräuterbeete zu wässern und die letzten Heilpflanzen des Jahres zu ernten. Im Schutz der Zypressengänge wollte jede duftende Pflanzenseele gehegt und gepflegt werden. So bescherte der auf unterschiedlichen Ebenen angelegte Garten den jungen Männern zu allen Jahreszeiten viel Arbeit. Neben den gängigen Heilpflanzen aus ganz Europa beherbergte die grüne Lunge von Montpellier auch ungewöhnliche und exotische Pflanzen, wie etwa den Arabischen Jasmin oder die Hand Buddhas. Mit ihren fingerartigen Fruchtständen war die Zi­­tronatzitrone ein Gast aus dem fernen Indien. Gemeinsam mit anderen seltenen Gewächsen verströmte sie einen schweren, fast animalischen Duft.

Zur Morgenbesprechung hockten die Schüler zu Füßen Professor Rosenzweigs, der seinen schwarzen Talar mit einer derben Gartenschürze schützte und erste Anweisungen erteilte. »Claude und Luzius, ihr beschneidet den Laurus und erntet die letzten Beeren des Sambucus, bevor ihr euch ins Gartenhaus begebt, wo bereits all die stumpfen Sicheln und Messer darauf warten, dass ihr ihnen zu neuer Schärfe verhelft«, ordnete er mit ruhiger Stimme an.

Der sanfte, stille Mann unterrichtete neben Astronomie und Astrologie auch Botanik. Er fügte sich beinahe nahtlos in die Umgebung des Gartens, und Luzius würde sich nicht wundern, wenn er eines Tages als Faun zwischen den Beeten entschwinden würde.

In der Kühle ging die Arbeit leicht von der Hand, und so beeilten sie sich, bis zum Mittagsläuten fertig zu werden. Die Scholaren arbeiteten zügig und unterhielten sich leise. Ezra Rosenzweig, der Maître Botanicus, hasste jeden Lärm und liebte die Stille.

»Steht da, als hätte er nichts zu tun!«, raunte Claude Luzius zu und deutete in Richtung der arabischen Wasserläufe, die links und rechts neben der prächtigen Zypressenallee verliefen und dem Garten mit ihren filigranen Springbrunnen eine fast spielerische Leichtigkeit verliehen. »Miguel beobachtet dich. Ist er dir heute etwa schon wieder gefolgt?«

»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte Luzius und setzte seine Arbeit mit einem unguten Gefühl fort. Als er selbst unauffällig über die Schulter blickte, war der Spanier bereits verschwunden.

Claude beschnitt den Lorbeer sorgfältig und verlieh den ausladenden Büschen geometrische Formen. So stand bald eine große Kugel zwischen Pyramiden und einem etwas missglückten Kegelstumpf. Indessen überlegte Luzius, ob sie auch dieses Jahr die letzten schwarzen Beeren des Holunders zu Wein verarbeiten würden. Im Winter hatte ihnen das aromatische Gebräu gute Dienste geleistet, sie hatten damit ein kaltes Lungenfieber niedergekämpft. Der Holunder wärmte den ausgekühlten Leib und regte zum Ausschwitzen der krank machenden Säfte an. Neben der Weidenrinde brauchten sie im Hospital auch die weißen, nach Honig duftenden Blüten für einen lindernden Aufguss.

»Und? Hast du dich entschieden?«, unterbrach Claude nach einer Weile die geschäftige Stille.

Luzius beschattete die Augen vor der Sonne, die inzwischen etwas höher stand. So konnte er den schmalen Franzosen, dessen Gesichtszüge immer leicht übernächtigt wirkten, besser sehen. »Ja«, sagte er und nickte. »Ich habe mich entschlossen, die Heimreise anzutreten, vorausgesetzt, ich bestehe auch das letzte Examen. Weißt du, ich möchte nicht mehr in dieser Angst leben, ständig verfolgt zu werden. Selbst wenn ich liebend gerne noch eine Weile hier im Hospital bleiben würde.«

Claude nahm den Strohhut ab, den sie während der Gartenarbeit gegen das Barett tauschten, und fächelte sich Luft zu. »Du hast doch mich!«, sagte er entrüstet, setzte den Hut wieder auf und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Miguel tut dir nichts. Er ist einfach ein Marktschreier und neidet dir deinen Erfolg bei den Hebammen. Außerdem wird er nie ein Medicus werden. Das heißt, er wird dich mit seinem Anblick schon bald nicht mehr behelligen.«

Luzius nickte zustimmend. Dennoch wollte er sich endlich wieder frei bewegen können.

»Vielleicht kann sich Alvarez mit seinem medizinischen Wissen als Henker versuchen«, spottete Claude.

»Da hast du recht«, entfuhr es Luzius lachend. »Das Wissen um den menschlichen Leib ist bei etlichen Henkern besser ausgebildet als bei den Medici.«

»Aber du kannst es trotzdem nicht erwarten, in deine kalte, neblige Heimat zurückzukehren, was? Und das alles nur wegen dieses Hurensohns?«

Luzius nickte abwesend. »Am Bodensee ist es nicht neblig und kalt«, gab er nach einer Weile leise zurück und schob die Unterlippe vor. »Zumindest nicht immer. Und die lichtweißen Nebelfrauen gehören einfach dazu. Unter ihren schimmernden Netzen, die sie im Herbst aus Wasser und Luft weben, bewahren sie unsere ältesten Geheimnisse. Es ist schön dort, weißt du«, er sah einen Augenblick ins Leere, »sehr schön sogar«, flüsterte er dann mehr zu sich selbst.

»Ich glaube dir ja!«, beschwichtigte ihn Claude. »Und so stürmisch wie in meiner Heimat ist es am Lac de Constance sicher nicht«, fügte er mit einem freundschaftlichen Lachen hinzu.

Luzius hob die Schultern und versetzte der Luft einen leichten Tritt. »Wessen Heimat wird schon das ›Ende der Welt‹ genannt?«, fragte er mit einem Zwinkern.

Claude war am äußersten Rand des Frankenreichs daheim. Dort, wo der Atlantik von allen Seiten gegen das schroffe Land peitschte und als nächster Halt das Land der Angelsachsen gegenüberlag.

»Finis Terrae ist nicht das Ende der Welt. Es ist der Anfang«, parierte Claude und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.

»Vielleicht im Bretonischen. Aber im Lateinischen bedeutet ›Finis Terrae‹ nun mal ›das Ende der Welt‹, und daran wirst auch du nichts ändern«, gab Luzius erheitert zurück. Doch in seiner Heiterkeit schwang ein Hauch von Trauer mit. Jedes Gewässer barg eine große Gefahr. Jakob, sein Onkel, hatte während des letzten Christmonds den Tod in den Fluten des Bodensees gefunden. Wenn die Herbststürme darüber hinwegrasten, wurde aus dem sanften blauen Saphir eine reißende Bestie. Einem gefährlichen Raubtier gleich, schlugen die tückischen kurzen Wellen ihre Reißzähne dann in das Ufer und fraßen alles, was sich ihnen in den Weg stellte: Steine, Erde, Bäume und manchmal auch Menschen.

Während Luzius die glänzenden Dolden des Holunders in seinen Korb legte, spürte er, wie seine Wangen ganz warm wurden. Normalerweise verwehrte er sich jeden Gedanken an die alte Heimat am Bodensee. Doch nun versetzte ihm das Heimweh einen schmerzhaften Stich.

»Dann wirst du bald wieder in Seefelden sein. Und was tust du dort?«

Luzius stutzte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Seefelden war seine Heimat. Aber war er dort überhaupt noch willkommen?

Als Luzius wenige Wochen später an der Seite seiner Studienbrüder den großen Innenhof der Medizinschule betrat, wärmten die letzten Strahlen der Herbstsonne den ockerfarbenen Sandstein. Es war ihr letzter Prüfungstag, und ihnen blieb noch reichlich Zeit.

»Lass den Unsinn!«, brummte Claude, als Luzius im Vorbeigehen ein paar grüne Nadeln von einer der mächtigen Zy­­pressen abstreifte. Sie bewachten den hohen Eingang zum Theatrum Anatomicum wie eine Reihe mahnend erhobener Finger.

»Unsinn? Wer von uns beiden ist denn der närrische Kindskopf? Ich liebe eben ihren besonderen Duft. Er tröstet mich und erzählt ein wenig von zu Hause. Ihr himmelstrebender Wuchs erinnert mich an die Eiben im Pfarrgarten zu Seefelden. Die Eiben gehörten zu meinen Lieblingsplätzen.«

Claude schenkte ihm ein Lächeln, das irgendwo zwischen Mitgefühl und Bewunderung schwebte.

Nun schlenderten sie in den steinernen Innenhof, der die Krankensäle vom Anatomiesaal trennte. Luzius setzte sich neben einen alten, knorrigen Ölbaum, dessen Wurzeln durch eine Trockensteinmauer begrenzt wurden, und drehte das Gesicht zur Sonne.

Die fiebrige Atmosphäre der Krankensäle hatte es Luzius besonders angetan. Im Umkreis der vielen Elenden vergaß er manchmal sogar seine eigenen Kümmernisse. Auch Claude wusste, dass sein Gefährte die leicht Übelkeit erregende Mischung aus alkoholischer Lösung und menschlichem Leid liebte. Was ihm und seinen Kameraden tagtäglich eine neue Herausforderung war, bedeutete für Luzius Trost und Hingabe. In Claudes Augen war der schmächtige Mann der geborene Medicus. Im Hospital fühlte er sich gebraucht, und sein Herz wog weniger schwer, wie auch in der knapp bemessenen Zeit, die er mit Claude verbrachte. Immer wieder hatte sich der Bretone gefragt, was der Grund für Luzius’ tiefe Traurigkeit sein mochte. Er hatte es ihm nie verraten, und Claude hatte seinen Kameraden nicht weiter bedrängt.

Ein großer gelb-schwarzer Feuersalamander flüchtete und verbarg sich im lichten Schatten der hohen Zypressen.

»Sieh nur, ein Feuersalamander!«, rief Claude begeistert. »Wusstest du, dass der Feuersalamander in Alchimistenkreisen als höchstes Wesen verehrt wird?«

Luzius nickte.

»Die Mythologie bezeichnet ihn sogar als Elementargeist, und böse Zungen behaupten, er könnte sich ganz nach Belieben in ein rothaariges Weib verwandeln und die Lenden der Männer verbrennen«, wisperte Claude geheimnisvoll.

Luzius’ Blick verdüsterte sich unmerklich. »Eine Rothaarige also, hm?«, entgegnete er kühl.

»Hattest du schon mal eine?«, wollte Claude wissen und sah auf Luzius’ kupferfarbenes Haar, das dem Freund in weichen Wellen bis zum Kinn reichte.

Der blieb ihm die Antwort schuldig. Stattdessen kickte er einen Stein über den Boden, den Claude geschickt abfing und zurückschoss. »Langsam wird es Zeit«, sagte Luzius nach einem prüfenden Blick zum Stand der Sonne.

»Fürchtest du dich vor unserem letzten Examen?«

Luzius schüttelte den Kopf. »Wir haben unzählige Stunden mit Professor Ibn Faris im anatomischen Unterricht zu­gebracht, weshalb sollte ich mich also heute fürchten?« Alles, was mir Angst macht, ist Miguel, dachte er. Wenn Luzius diese letzte Prüfung bestand und sich fortan Medicus nennen durfte, würde er dennoch bis zum nächsten Frühjahr in Montpellier bleiben müssen. Die letzte Reisegruppe vor dem Winter hatte die Stadt an diesem Morgen verlassen.

»Und heute Abend feiern wir!«, sagte Claude überschwänglich und klopfte seinem kleineren Kameraden freundschaftlich auf die Schulter.

Luzius spürte die erwartungsvolle Freude seines Studienbruders wie ein heiteres Sonnenrad, dessen wärmende Strahlen ihn berührten. Dahinter spürte Luzius aber auch Beklemmung und leichte Sorge über ein mögliches Scheitern.

Seit seiner Kindheit war Luzius mit scharfen Sinnen ausgestattet. Diese Hellsichtigkeit hatte sich im Lauf der Jahre noch mehr verstärkt. Allein durch eine einfache Berührung vermochte er die Gefühle und Gedanken seines Gegenübers zu erspüren. Daneben besaßen seine Hände die Gabe, den Schmerz zu lindern und das Gefängnis der Angst zu durchbrechen. Schon immer war ihm, als könnten seine Hände hören. Was während seiner Kindheit wie ein Fluch gewesen war, hatte sich später als ein Geschenk Gottes erwiesen. Zumindest hatte Tante Elisabeth das immer behauptet. Immerhin stellte diese besondere Gabe die beste Voraussetzung für den Beruf des Medicus dar.

»Auch wenn du nichts verträgst und bereits nach einem einzigen Krüglein Gebranntem unter dem Tisch liegst, wirst du heute mitkommen, oder?«

Luzius nickte zögernd.

»Das Saufen wirst du nie lernen, dafür fehlt dir einfach die Masse. Aber den Doktorschmaus musst du trotzdem mit uns feiern. Wann bekommt man schon die Gelegenheit, die Welt davon zu unterrichten, dass das Lernen ein Ende hat, dass wir uns jetzt Medici nennen dürfen und uns von all den Quacksalbern, Steinschneidern und Scharlatanen unterscheiden? Sicher begleiten uns auch einige Wehmütter beim Umzug durch die Stadt!«, neckte er mit einem Zwinkern.

Claude schenkte den Gerüchten, die Miguel über Luzius verbreitete, keinen Glauben. Selbst wenn dem so wäre, dass Luzius Männer liebte, störte er sich nicht daran. Im Gegenteil, er kannte einige Männer, die ihrem eigenen Geschlecht zugetan waren. Manchmal fühlte er sich selbst in einer Art und Weise zu Luzius hingezogen, die er sich nicht erklären konnte und die sicher alles andere als schicklich zu nennen war.

Luzius schüttelte den Kopf. »Du und deine ewigen Weibergeschichten!«, spottete er.

Claude war ein großer Weiberheld vor dem Herrn, aber im Grunde seines Herzens war der sehnige Franzose mit dem dunklen Haar ein warmherziger Kamerad, der sich stets um ihn sorgte und gern noch viel mehr Anteil an seinem Leben gehabt hätte, als er ihm gestattete.

»Im Ernst, was wäre das Leben ohne dralle Weiber. Ihre rosigen Schenkel sind doch geschaffen, uns Männern bereits auf Erden das Paradies zu zeigen. Und was wäre das Leben erst ohne süßen Wein? Er ist es doch, der den Leib in seinem Inneren zusammenhält!«

»Du bist ein Esel, und ein dummer obendrein! Aber in deinen wenigen lichten Momenten bist du ein passabler Freund«, konterte Luzius und lachte. Der einzige, fügte er im Stillen hinzu.

Claude grinste und vollführte einen übertriebenen Kratzfuß. Obwohl er der Einzige war, den Luzius in seiner Nähe duldete, verzichtete er nun auf eine Berührung, wusste er doch, wie sehr Luzius jeglichen Körperkontakt verabscheute. Der kleine Mann, dessen Heimat der Bodensee war und der hier im Land der Franken lebte, um die wahre Medizin zu erlernen, hatte im Lauf der Jahre eine Mauer aus Wissen und Unnahbarkeit um sich errichtet. Nur an besonderen Tagen konnte Claude sie an wenigen Stellen durchbrechen. Manchmal fragte sich der Bretone, was er eigentlich wirklich von Luzius wusste. Er musste sich eingestehen, dass das nicht viel war.

Als die schwere Tür des Anatomischen Theaters mit einem scharfen Ächzen ins Schloss fiel, entstieg den eisernen Feuerschalen ein geheimnisvolles Brausen, und die Flammen erhoben sich. Der warme Feuerschein hüllte die elf Scholaren in zart schmelzendes Licht und erweckte den ockerfarbenen Sandstein zum Leben. Doch selbst das lebendige Licht vermochte die Sinne nicht von dem alles durchdringenden, süßlich-schweren Geruch abzulenken, der ihnen bereits auf der Schwelle in die Nase stieg.

Die Säle der Anatomie lagen inmitten des Innenhofs, der das Zentrum der Medizinschule zu Montpellier bildete. Heute, am Tag der Herbst-Tagundnachtgleiche, schwoll das Feuerrad noch ein letztes Mal mit hitziger Glut über die Stadt, bevor die Tage endgültig wieder kürzer wurden. Heute gelang es nicht einmal den wehrhaften Mauern im Inneren der ehemaligen Klosteranlage, die Kühle der Nacht zu bewahren. Mit dem Vorraum bildete das Anatomische Theater einen Korridor, der in einem komplex gestalteten, sehr hohen Raum endete. Entlang der Wände standen mehrere mannshohe Regale. Auf den massiven Brettern ruhten eine Vielzahl dickwandiger Gläser, deren Inhalt einem empfindsamen Gemüt ein Schaudern bescherte. Einzelne Gefäße beherbergten in einer alkoholischen Lösung ganze Augäpfel, menschliche Herzen, ein Gehirn oder Teile eines Lungenflügels. In einigen befanden sich Ungeborene in den unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung. Mit ihren knospenden Gliedern und der Nabelschnur erinnerten sie an Wesen aus einer anderen Welt. Bottiche bargen abgetrennte Gliedmaßen und wieder andere menschliche Gewebe. Im flackernden Licht schimmerten die Präparate bleich und wächsern.

Doch in der ganzen Medizinschule war man sich einig, dass Joseph das schaurigste Präparat darstellte. Joseph, so nannten sie den abgetrennten Kopf, der in einem weiteren Glasgefäß ruhte. Als der Henker von Montpellier den mehrfachen Dieb enthauptet hatte, durfte die Medizinschule den Kopf für Studienzwecke behalten. Josephs Augen traten ein wenig aus den Höhlen, und noch immer war sein Mund zum Schrei geöffnet. Der Legende nach stimmte Joseph von Zeit zu Zeit ein schauriges Lied an. Wer es hörte, dem blieb angeblich nicht mehr viel Zeit.

»Na, hört ihn einer von euch singen?«, wollte Claude wissen und sah in die Runde.

»Wenn Joseph seine Stimme erhebt, singt er vielleicht für dich!«, presste Miguel hervor und drängte Luzius grob an die Wand. Hastig eilte er dann an seinen Studienbrüdern vorbei in den Lehrsaal.

»Großmaul!«, brüllte ihm Luzius nach.

Ihre bodenlangen Talare wirbelten den Staub der vergangenen Jahre auf, und bevor sie zu ihrem allerletzten Examen antraten, glitt so mancher ihrer Gedanken noch einmal zurück zum Anfang ihrer Lehrzeit. Wie rasch die Jahre vergangen waren. Sicher dachten jetzt einige an einen Lieblingssatz Professor Ibn Faris’: »Inschallah! Oder, wie ihr Christen zu sagen pflegt: Ohne Gottes Wille vermag der Mensch nichts!«

Luzius hoffte, dass es Gottes Wille war, dass er heute diese Prüfung bestand.

Als Professor Ibn Faris in die Gesichter seiner elf Scholaren sah, erkannte er in jedem etwas anderes. Jedem war ein anderer Weg vorherbestimmt. Wenn er noch heute, im Namen Allahs, elf neue Medici von den Ordnungen und Richtlinien der Medizinschule entband, so war er auf einen ganz besonders stolz: Luzius Gassner, den kleinen Mann aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Ihn hätte er gerne noch ein Weile hierbehalten. Schon vom ersten Tag an hatte sich der schmächtige rothaarige Mann als äußerst geschickt erwiesen. Geschickter als all die anderen, die er jemals unterrichtet hatte. Allem voran hatte es Gassner die Frauenheilkunde angetan, was an sich schon etwas Besonderes war. Dabei war ihm gelungen, was vorher noch keinem Scholaren gelungen war: Die Wehmütter duldeten ihn nicht nur während der Geburt, sie schickten sogar nach ihm, wenn sich eine Niederkunft lange hinzog.

»Als angehende Medici werdet ihr alle ein letztes Mal die Gelegenheit erhalten zu zeigen, was ihr im Lauf der letzten Jahre gelernt habt und welche Art Anatom aus euch geworden ist.« Ein erwartungsvolles Lächeln umspielte das kantige Gesicht des Professors, als sich alle Studenten in dem Oval eingefunden hatten. Ihr Wissen war bereits in den Fächern Astronomie und Astrologie geprüft worden. Des Weiteren hatten sich die angehenden Medici in Botanik, Pharmazie und Krankheitslehre bewähren müssen und war ihr Wissen in den zwölf Traktaten, den Summulae logicales von Petrus Hispanus abgefragt worden. Nun folgte noch das Examen in Anatomie und Chirurgie. Ihren Eid auf Hippokrates und die Dekrete der Lehranstalt würden sie erst später während des mehrtägigen Doktorschmauses leisten. Dann zogen sie in einem bunten Umzug durch die Stadt und feierten ihren Erfolg.

In der Mitte des Raumes lagen nun auf hochbeinigen Tischen die Leichen zweier Menschen: ein Verbrecher, der die gerechte Strafe in der Hinrichtung gefunden hatte, und eine Frau aus dem Hurenhaus. Die junge Hübschlerin war in ihrer Kindsnot gestorben.

Miguel stand Luzius gegenüber. Die bevorstehende Prüfung bereitete ihm die allergrößte Sorge. Wäre diese verdammte Befragung nicht gewesen, er hätte bereits in der Frühe begonnen, sich zu besaufen. Miguel rieb sich das Kinn. Nur ein einziges Mal würde er Luzius gerne auf der Seite der Versager sehen! Doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde ihm der Allmächtige diesen Wunsch nicht erfüllen, denn allem Anschein nach sah Luzius den folgenden Stunden völlig gelassen entgegen. Zumindest seine Haltung strahlte eine Ruhe aus, von der Miguel nur träumen konnte. Aber wovor sollte sich dieser Hurensohn auch fürchten? Schließlich fielen Luzius sämtliche Antworten, die Professor Ibn Faris ihnen stellte, immer in den Schoß.

In Miguels Kopf tobte ein rasender Stier, der sich nur mit äußerster Mühe bändigen ließ. Er fand die Anatomie scheußlich, und er konnte sich weitaus Besseres vorstellen, als hier in Montpellier zu hocken! Er hasste es abgrundtief, bis zu den Ellenbogen in den widerlich stinkenden Eingeweiden irgendwelcher Leichen zu stecken, und er hasste seinen Vater, der darauf bestand, einen Medicus in der Sippe zu haben.

Auf den Tischen und Ablageflächen lagen, sorgsam geordnet, die Instrumente für das nachfolgende Examen bereit. Neben Sägen und Messern in allen Größen warteten grobe Zangen, gebogene Haken und spitze Nadeln darauf, von kundiger Hand in das leblose Fleisch getrieben zu werden. All diese Instrumente zerteilten den menschlichen Leib, bis nur noch eine ausgeweidete Hülle übrig blieb, die nach abgeschlossener Untersuchung wieder mit den Organen befüllt und mit Nadel und Faden verschlossen wurde. Miguel sah den folgenden Stunden mit Grauen entgegen. Sollte er das Examen abermals nicht bestehen, blieb ihm nur noch Salerno, um ein Medicus zu werden.

Die allermeisten Universitäten wurden von der heiligen katholischen Kirche zu Rom getragen. Diese Lehranstalten verwendeten für den anatomischen Unterricht, wenn es ihn denn gab, ausschließlich Schweine- oder Hundekadaver. Sie befolgten auch die eherne Regel, wonach ein Medicus niemals in das Fleisch eines lebenden Menschen schneiden durfte. Für diese blutige Arbeit gab es Steinschneider, Feldscher und Bader. Der Papst hatte für all seine Lehranstalten ein Edikt erlassen, wonach es den Scholaren bei schwerer Sünde verboten war, den Leib zu zerschneiden. Denn am Tag des Jüngsten Gerichts durfte nur derjenige auf das ewige Leben hoffen, dessen Leib unversehrt war.

Die Medizinschulen zu Montpellier, Salerno und Bologna waren indessen von den Städten selbst errichtet worden. Sie unterrichteten ihre Scholaren neben der Viersäftelehre nach Galenos und weiteren medizinischen Standardwerken auch in Anatomie und Chirurgie, was ihnen die Welt mit einem besonderen Ansehen dankte. Selbstverständlich ging es auch in Montpellier nicht ganz ohne kirchliche Erlässe. Aber Rom war weit weg und der Bischof von Tours, dem Montpellier verpflichtet war, kein allzu bigotter Mann. So gestattete er der Medizinschule die Untersuchung einiger weniger Leichname im Jahr, wenn es sich bei den Toten um Selbstmörder oder Hingerichtete handelte. Manchmal besprach sich Professor Ibn Faris aber auch mit dem Henker und bat um weitere Leichname, die er anschließend auf Kosten der Stadt beisetzen ließ.

Voller Abscheu betrachtete Miguel die grausigen Instrumente, die in seiner Hand so schwer wogen, als wären sie aus Stein. In seinen Augen glichen sie den Werkzeugen des Satans. Als Miguel in Luzius’ Richtung sah, bemerkte er in dem glatten Gesicht keinen Anflug von Widerwillen, ja nicht einmal den Hauch von Ekel. In diesem Moment hasste er ihn mehr denn je, allein schon wegen seines Gleichmuts. Sicher glänzt der kleine Bastard in den nächsten Stunden wieder mit seinem Wissen, dachte Miguel voller Unmut. Wenn Luzius nicht in den Krankensälen zu finden war, trieb er sich im Jardin des Plantes herum. Den »Seelenleser« nannten ihn die Patienten im Hospital. Seelenleser, pah!, dachte Miguel zornig und ballte die Hand zur Faust. Dabei war Luzius einfach nur ein Günstling seiner Lehrer. Dieser widerwärtige Sodomit!

Heute Abend würde Miguel den unumstößlichen Beweis dafür erbringen. Denn nicht einmal Luzius würde sich heute Abend der ausgelassenen Feierlaune entziehen können. Und dann würde Miguel dafür sorgen, dass der Rotschopf tiefer als sonst in den Becher sah. Für alles Weitere hatte Miguel bereits einen besonderen Freund eingeladen. Einen Freund, der es griechisch mochte …

3

Als Professor Ibn Faris das Leinen entfernte und den kalten Leib des Hingerichteten freilegte, erhoben sich wohl annähernd 100 Fliegen in einer lebenden Wolke. Ihr Summen glich einer nervtötenden Melodie. Die Zersetzung des Leichnams hatte bereits deutlich begonnen und sämtliche Stadien der Verwesung durchlaufen, von der Gluthitze dieses Herbsttages noch vorangetrieben. Der alles durchdringende, widerwärtig süßliche Geruch war unvergleichlich. Er haftete wie Pech am Haar, an den Händen und den schweren Talaren.

Auf dem geblähten Leib der Leiche zeichnete sich bereits das Netz der einzelnen Gefäße ab. Grünblau schimmerte das Geflecht der Adern durch die wächserne Haut. Die Totenflecke an den Füßen leuchteten in dunklem Lila. Sie sahen aus wie ein Strumpf, der dem Toten bis zum Oberschenkel reichte. Die Hände wirkten wie mit einem Handschuh bekleidet. Auch sie hatten eine tiefdunkle lila Farbe angenommen, die immer heller wurde und schließlich knapp unter den Ellenbogengelenken endete. Die erloschenen Augen des Mannes starrten an die rußgeschwärzte Decke.

Ibn Faris hatte seinen Unterricht immer äußerst temperamentvoll gestaltet. Während seine dunkle Bassstimme durch die hohen Räume hallte, wanderte er häufig im Lehrsaal auf und ab. Dann schossen seine Fragen wie Pfeile durch die Luft und trafen jene, deren Blick leer und vom Saufgelage der vergangenen Nacht noch immer verhangen waren. Auf diese Weise nahm er jetzt auch die letzte Prüfung seiner Scholaren ab. Die Frage nach der Todesart sowie dem Zeitpunkt des Todes hatte er bereits gestellt und blickte nun in die Runde seiner Studenten.

»Allem Anschein nach haben wir es hier mit einer missglückten Leibesstrafe zu tun. Das Eisen des Henkers war offensichtlich nicht heiß genug, sodass es die Blutung nicht gestillt hat«, begann Miguel.

Das Gesicht des Spaniers erinnerte Luzius an weißen Käse. Den Ekel, den er nach wie vor angesichts eines Leichnams empfand, suchte er mit seiner aufgekratzten, vorlauten Art zu überspielen.

»Offensichtlich handelt es sich um einen Langfinger«, fügte Miguel spöttisch hinzu und sah in die Runde seiner Kameraden, wo er sich Unterstützung erhoffte. Doch sie blieben stumm und regungslos. »Nachdem ihm der Henker die Hand abgeschlagen hat, ist er wohl elendig verblutet«, referierte Miguel weiter. Dabei verschränkte er die Arme vor der Brust, als könnte ihn das vor einer falschen Antwort bewahren. »Sicher hat er die Strafe verdient«, mutmaßte er weiter, »schließlich ist es nicht mehr als recht …«

»Genug jetzt!«, unterbrach ihn Ibn Faris barsch. »Als Medicus steht es dir nicht zu, über das Strafmaß zu urteilen, und schon gar nicht, solang du nicht die Vorgeschichte kennst. Nichts als Vermutungen, und die haben in meinem Anatomiesaal nichts verloren! Verstanden?«

Dieser dreckige Perser!, dachte Miguel voller Ingrimm. In Gedanken spie er ihm vor die Füße. Er wagt es, untadelige Christenmenschen zu dieser Schandtat zu zwingen! Doch immerhin war er Luzius und allen anderen mit seiner Antwort zuvorgekommen. Ein Gefühl der Genugtuung durchströmte ihn und minderte für einen Augenblick seine Übelkeit.

Luzius stand ihm gegenüber auf der rechten Seite des Toten. Miguel betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Während Luzius’ weiße Haut einem Laken von den Bleichwiesen glich, erinnerte sein welliges Haar an flüssiges Metall. Es betonte sein mädchenhaftes Gesicht, das nicht einmal den Schatten eines Bartes zeigte, und einer Kappe aus Fuchspelz glich. Miguel hatte sich schon oft gefragt, wie ein Bursche eine so ebenmäßige Haut haben konnte? In seinem weibischen Gesicht störte nicht eine einzige Narbe, die verweichlichten Züge wirkten wie aus einem Guss. Sicher verteilte er regelmäßig den Samen der Knaben, die ihm zu Willen waren, auf seinem bleichen Gesicht, dachte Miguel voller Abscheu. Oh, er wünschte sich nichts mehr, als Luzius in flagranti mit einem Burschen zu erwischen …

Dann sah er in Luzius’ Augen. Selten war er ihm so nah gewesen. Diese Augen, dachte er angestrengt. Sie wirkten … Er überlegte. Ja, wie wirkten sie? Als der Perser eine Frage an ihn richtete, schob er den Gedanken, der sich ihm aufdrängte, eilig beiseite.