Das Herz des Dämons - Lynn Raven - E-Book
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Das Herz des Dämons E-Book

Lynn Raven

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Beschreibung

Band 2 der Bestseller-Vampirromanze

Er ist ihre große Liebe. Der attraktive, rätselhafte Highschool-Rebell Julien hat die Welt der jungen Dawn auf den Kopf gestellt und jetzt will sie nichts weiter als mit ihm glücklich sein. Doch Julien sucht verzweifelt nach seinem verschwundenen Zwillingsbruder. Als Juliens ältester Todfeind auftaucht, spitzt sich diese Suche dramatisch zu und in der Halloween-Nacht muss nicht nur Dawn alles aufs Spiel setzen ...

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Seitenzahl: 565

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DIE AUTORIN

Foto: © Katja Theiß

Lynn Raven lebte in Neuengland, USA, ehe es sie trotz ihrer Liebe zur wildromantischen Felsenküste Maines nach Deutschland verschlug. Nachdem sie zwischenzeitlich in die USA zurückgekehrt war, lebt sie heute wieder in der Nähe von Mainz und ist unter den Namen Alex Morrin und Lynn Raven als Fantasyautorin ausgesprochen erfolgreich.

 

 

Weitere lieferbare Titel bei cbt:

 

Der Kuss des Dämons

Der Kuss des Kjer

Werwolf

Der Spiegel von Feuer und Eis (unter dem Namen Alex Morrin)

Lynn Raven

Das Herz des Dämons

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© 2009 Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Alle Rechte dieser Ausgabe bei cbt/cbj Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Carolin Liepins

Covermotiv: Shutterstock.com (goldnetz, YuriyZhuravov, Amanda Carden, Relight Motion, Tusumaru, Jag_cz)

MI, Herstellung: AnG

ISBN: 978-3-641-24107-0V003

www.cbt-jugendbuch.de

 

 

 

 

Für Robert J. – meine »42«undKate – den Fels in der Brandung

Er starrte in die beiden Scheinwerfer, die viel zu schnell aus der Dunkelheit auf ihn zurasten und ihn blendeten – wie gelähmt. Den Arm in die Höhe reißen; die Augen vor dem grellen weißen Licht schützen; ein Reflex, der zu spät kam. Der Schmerz nahm ihm den Atem. Mit einem Schrei presste er die Lider zusammen. Die Hände vorm Gesicht wankte er rückwärts. Eine Hupe heulte. Irgendwo jenseits der Qual, die sich von seinen Augen in seinen Schädel fraß, setzte sein Verstand ein: Hupe. Auto. Straße. Weg! Runter! Runter! Blind und vollkommen orientierungslos schaffte er einen taumelnden Schritt. Noch einen. Sein verletztes Bein trug ihn nicht. Er stolperte, kämpfte um sein Gleichgewicht. Bremsen kreischten. Wieder heulte die Hupe. Ein Schlag riss ihn in die Höhe. Krachend prallte er auf Metall, dann auf etwas verwirrend Feuchtweiches …

Der Gestank von verbranntem Gummi hing in der Luft. Sekundenlang lag er benommen und reglos auf dem Boden. Dann kam der Schmerz. Zusätzlich zu dem, der schon die ganze Zeit in seinem Kopf und dem Rest seines Körpers war. Seine Augen brannten, als hätte man Säure hineingegossen. Obwohl sie offen waren, war alles um ihn nur Schwärze und Schlieren. Zähe Tränen verschmierten sein Gesicht.

Er wollte sich in die Höhe stemmen. Es gelang ihm nicht, den Schrei zu unterdrücken, als die Knochen in seinem Arm und seiner Schulter sich gegeneinanderverschoben. War das Blut, was ihm über die Haut rann? Ein Motor lief in der Nähe. Autotüren schlugen. Stimmen erklangen, seltsam hohl und verzerrt. Noch einmal wollte er sich hochstemmen, biss die Zähne zusammen, um sich nicht durch ein Stöhnen oder einen neuerlichen Schrei zu verraten. Der Schmerz pflanzte Übelkeit in seine Eingeweide. Er zitterte am ganzen Körper. Zog sich mühsam kaum eine Armlänge über den Boden, fort von den Stimmen. Seine Schulter schrammte gegen den Stamm eines Baumes. Der Atem entfuhr ihm als würgendes Zischen. Er erinnerte sich: Bäume säumten die verlassene Landstraße. Dahinter öffnete sich die Dunkelheit eines Waldes. Wenn er …

»Da drüben!« Die Worte drangen durch das quälende Hämmern in seinem Schädel.

Nein! Dieu! Nein! Abermals grub er die Finger in Laub und Erde und versuchte tiefer in die Schwärze zwischen den Baumstämmen zu gelangen.

Mondlicht schimmerte in der Pfütze. Die Nacht war eine Gnade. Keine Sonne, kein Brennen, als stünde seine Haut in Flammen. Kein greller glühender Schmerz, der sich in seine Augen fraß, sie tränen ließ, ihn blind machte. Er streckte die Hand zitternd nach dem Regenwasser aus. Ballte sie zur Faust, ließ sie ins Laub fallen. Sein Schädel pochte. Warum? Warum würgte er jeden Bissen, den er gegen den Ekel hinunterzwang, wieder aus? Warum? Er hatte andere essen sehen, trinken sehen. Warum konnte sein Magen nicht bei sich behalten, was sie auch aßen? Warum? Was war falsch mit ihm? Seit er zu sich gekommen war, saß Schmerz in seinen Eingeweiden. Schmerz, der nichts mit seinen gebrochenen Knochen oder den anderen Verletzungen zu tun hatte. Schmerz und … Hunger … Gier, die mit jedem Tag schlimmer wurde. Gier nach etwas, irgendetwas … Er wusste nicht, was. Schloss die Augen. Ebenso wenig, wie er wusste, wo er war. Seine Hand krallte sich ins Laub. Der Name der Stadt: ohne Bedeutung – Darven Meadow. Er wusste nicht, wo sie lag. Er wusste nicht, warum er hier war. Da war nur ein Gefühl … ein Gefühl, etwas … tun zu müssen. Irgendwo … hier? Und … Worte … in der Dunkelheit:

Schmutzige Tricks

Noch vor ein paar Wochen war ich der Auffassung, es gäbe nichts Schlimmeres als eine Matheklausur nach einer schlaflosen Nacht, an deren Ende man obendrein noch verschlafen hatte. Inzwischen hatte ich meine Meinung geändert. Es gab Schlimmeres: Gesprächsthema Nummer eins der hiesigen Highschool zu sein. Und das ohne Unterlass, seit ich wieder zur Schule durfte.

Gereizt knallte ich die Autotür zu.

»Was auch immer es ist: Die Vette kann nichts dafür«, erklang der Kommentar von der Fahrerseite her über das schwarz spiegelnde Autodach.

Na prima. Genau das, was mir heute Morgen zu meinem Glück noch gefehlt hatte: ein klugscheißender Freund. Ich sah ihn böse an. Jeder andere hätte sich daraufhin wahrscheinlich alle weiteren Bemerkungen für mindestens die nächste Stunde, wenn nicht sogar für den Rest des Tages, verkniffen. Julien DuCraine? – Fehlanzeige! Er ließ sich von meinem mörderischen Blick nicht einschüchtern, sondern erwiderte ihn sogar mit leisem Spott. Zumindest soweit ich das sagen konnte, denn seine Augen waren wie immer hinter seiner dunklen Brille verborgen, die er nur abnahm, wenn er mit mir allein war – und die Lichtverhältnisse es zuließen. Eine seiner Brauen hatte sich jedoch ganz leicht gehoben.

»Verrätst du mir den Namen der Laus?« Julien schwang seinen Rucksack über die Schulter und schloss seine Tür so leise, als wolle er mir zeigen, wie man eine Corvette Sting Ray richtig behandelte.

»Laus?«

»Die Laus, die dir über die Leber gelaufen ist. – Oder der Grund für deine schlechte Laune.«

Ich schnaubte. »Kannst du dir das nicht denken?«

»Sag’s mir!« Die Corvette gab ein Blinken von sich, als er die Zentralverriegelung und die Alarmanlage aktivierte, ehe er den Schlüssel in einer Tasche seiner Motorradjacke verschwinden ließ.

»Sie!« Mit einer scharfen Bewegung nickte ich zur Schule hin. »Ich bin es leid, angeglotzt zu werden wie die Hauptattraktion einer Freak-Show.«

Wie jeden Tag der vergangenen Woche waren wir Ziel mehr oder weniger verstohlenen Starrens der ganzen Schule – zumindest hatte ich den Eindruck, dass es die ganze Schule war. Die Blicke der männlichen Hälfte galten der schwarz glänzenden Corvette Sting Ray, die zwischen Julien und mir auf dem Schülerparkplatz der Montgomery-High stand. Die der weiblichen Hälfte waren auf mich und Julien gerichtet, und ich war bereit, jede Wette einzugehen, dass einige davon eine gute Portion Mordlust enthielten. Immerhin hatte ich mir den bestaussehenden Jungen der ganzen Schule geangelt. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Ja natürlich … ich ihn mir geangelt. Eigentlich war es genau andersherum gewesen. Und ich fragte mich nach wie vor jeden Morgen, wenn ich mir im Spiegel begegnete, was Julien eigentlich an mir fand; an mir mit meinem schulterlangen dunkelblonden Haar, den grüngrauen Augen und dem schmalen Gesicht. Juliens Behauptung, es sei auf eine atemberaubende Weise bezaubernd, konnte ich nicht nachvollziehen. Und dass ich ausgerechnet meinem Großvater Radu ähnlich sehen sollte – Radu, den man auch »den Schönen« nannte – fand ich eher befremdend.

»Ich schätze, da gibt es nur eine Möglichkeit.« Julien hatte flüchtig in Richtung Schule gesehen. Jetzt zog er den Rucksack über der Schulter zurecht und kam aufreizend langsam mit der ihm eigenen raubtierhaften Eleganz um die Schnauze der Vette zu mir herum. Alles an ihm war pure Perfektion. Seine Züge; das dunkle, fast schwarze Haar, dessen Spitzen inzwischen ganz leicht seine Schultern streiften; der schlanke Körper … Er war schön – jedes andere Wort wäre ihm nicht gerecht geworden. Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Wenn es zu irgendwelchen Ohnmachtsanfällen unter den weiblichen Gaffern kam, war das ganz allein seine Schuld. Auch seine Rückansicht war nämlich alles andere, als zu verachten. Ich musste es wissen. Ich wohnte mit ihm im gleichen Haus. Und schlief mit ihm in einem Bett. – Nicht dass er mehr zugelassen hätte, als dass ich mich in seine Arme kuschelte, um meinen immer wiederkehrenden Albträumen zu entkommen. Darüber hinaus war meine Tugend bei ihm so sicher wie das Gold in Fort Knox. Sehr zu meinem Missfallen.

Schwindelerregend dicht vor mir blieb er stehen. Er war größer als ich, sodass ich ein Stück zu ihm aufsehen musste.

»Und welche Möglichkeit wäre das?« Warum erschien mir der Kontrast zwischen seiner außergewöhnlich hellen Haut und seinem dunklen Haar heute stärker als sonst? Vielleicht weil ihm ein paar Strähnen in die Stirn gefallen waren?

»Du musst mit mir Schluss machen.« Er sagte das so vollkommen ernst, dass mir einen Moment der Mund offen stehen blieb – ziemlich genau so lange, bis er sich zu mir beugte und mit seinen Lippen meine streifte.

»Das ist nicht witzig.« Ich versuchte ärgerlich zu klingen und gleichzeitig seine Berührung in einen richtigen Kuss zu verwandeln. Ein paar Sekunden ließ er mich gewähren, dann zog er sich ein kleines Stück zurück und sah wieder auf mich herab.

»Nein?« Er strich mir sacht über die Wange – und glitt mit den Fingerspitzen über die empfindliche Stelle direkt unter meinem Ohr, ehe er die Hand endgültig wegnahm. »Stell dir vor: Du würdest in die Annalen dieser Schule eingehen als das Mädchen, das Julien DuCraine in die Wüste geschickt hat.« Wieder verriet seine Stimme nichts, doch inzwischen war ich lange genug mit ihm zusammen, um jenen Hauch eines Grinsens um seinen Mund zu erkennen.

»Bei deinem Ruf würden sie genau das Gegenteil denken, nämlich dass du mich abserviert hast. Wie all deine anderen Freundinnen vor mir. – Und selbst wenn sie mir glauben würden: Das würde mich doch mindestens genauso zu einem Tratsch-Thema machen.« Ich verschränkte die Hände in seinem Nacken. »Also vergiss das mit dem Schlussmachen ganz schnell wieder.«

»Sicher?«

»Absolut!«

»Na, wenn das so ist …« Das Lächeln, mit dem er sich zu mir beugte und mich erneut küsste, war diesmal voller spöttischer Arroganz.

Ich schmiegte mich fester an seine Brust und seufzte leise.

»Dawn?« Julien räusperte sich über mir.

»Hmmm?«

»Ich hoffe, dir ist bewusst, dass wir den anderen gerade noch mehr Grund zum Tratschen geben. Vielleicht solltest du mich loslassen.«

Einen Moment sah ich ihn mit zusammengekniffenen Augen und schief gelegtem Kopf an, dann löste ich mich mit deutlichem Widerstreben von ihm und machte einen Schritt zurück, während ich gleichzeitig möglichst unauffällig an ihm vorbei zur Schule spähte. Natürlich hatte er recht. Inzwischen gaffte auch der allerletzte Schüler der Montgomery – inklusive des einen oder anderen Lehrers.

Ich warf einer Gruppe jüngerer Mädchen, die gerade an uns vorbeikam und tuschelnd die Köpfe zusammensteckte, ohne uns aus den Augen zu lassen, einen vernichtenden Blick zu. Keine von ihnen hatte den Anstand, rot zu werden, stattdessen brachen sie in albernes Gekicher aus, während sie weitergingen. Ein paar von ihnen sahen sogar noch einmal über die Schulter zurück. Idiotische Gänse!

Seufzend schlang ich mir die Tasche über die Schulter. »Ich muss noch mein Spanisch-Buch aus dem Spind holen und Mr Javarez reißt mir den Kopf ab, wenn ich wieder zu spät in seinen Unterricht komme.«

Julien bedachte mich mit einem Grinsen. »Dann sind wir schon zwei, denen dieses Schicksal droht. – Hast du etwas dagegen, wenn wir den Tratsch noch ein bisschen mehr anstacheln?«

»Was hast du vor?« Ich maß ihn mit einem skeptischen Blick.

Sein Grinsen wurde geradezu teuflisch. »Das.« Er legte den rechten Arm um meine Schultern und zog mich fest an seine Seite. Seine Hand hing täuschend entspannt über dem Riemen meiner Tasche herab.

»Oh, das.« Mit einem ganz ähnlichen Grinsen schob ich meinen Arm unter seine Jacke und umschlang ihn von hinten. Einen Moment spielte ich sogar mit dem Gedanken, meine Hand in seine Jeanstasche zu stecken – das hätte den Klatsch regelrecht überkochen lassen –, hakte dann aber nur züchtig den Daumen in eine Gürtelschlaufe. »Geht klar.« Ich verschränkte die Finger meiner freien Hand mit seinen, stellte mich kurz auf die Zehenspitzen, um mir einen weiteren Kuss zu stehlen, und zog ihn dann mit mir. Julien ließ mich gewähren und war obendrein so gnädig, die Schritte seiner langen Beine meinen kürzeren anzupassen.

Wir hatten den Weg zum Schulgebäude noch nicht mal zur Hälfte hinter uns gebracht, als jemand meinen Namen rief. Unter Juliens Arm drehte ich mich um.

Neal und Tyler kamen quer über den Rasen auf uns zu, anstatt den gepflasterten Fußweg ein paar Meter weiter zu benutzen. Hinter den beiden konnte ich Neals dunkelroten Mustang erkennen, der ein Stück entfernt am gegenüberliegenden Ende des Schülerparkplatzes stand. Neal lächelte mir zu und begrüßte Julien mit einem schlichten Nicken. Dass sein Blick dabei ein paar Sekunden zu lang auf Juliens Arm um meine Schultern und unseren Händen hängen blieb, entging mir nicht. Und Julien noch viel weniger. Ich konnte spüren, wie er sich anspannte. Na klasse! Nur mit Mühe unterdrückte ich ein Stöhnen. Testosteron sollte zu den illegalen Drogen gezählt und verboten werden. – Auch wenn die beiden während meiner Zeit im Krankenhaus so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen haben mochten und davon absahen, einander im Fechttraining weiterhin mit halblegalen Tricks das Leben sauer zu machen, war doch klar, dass es nur eine Kleinigkeit brauchte und sie würden wieder aneinandergeraten. Weil es etwas gab, das sie beide wollten – mich. Dabei hatte ich noch nicht einmal geahnt, dass Neal in mich verliebt war, bis ich zufällig einen Streit zwischen ihm und Julien mitbekommen hatte. Tyler grinste und winkte und verhinderte im letzten Moment, dass sein Freund einem Junior voll ins Bike lief, der auf dem Weg zu den Fahrradständern verbotenerweise über den Rasen preschte.

»Sei nett!«, zischte ich so leise, dass nur Julien mich hören konnte.

Ich wurde mit einem Blick aus dem Augenwinkel heraus bedacht. Julien senkte den Kopf, sodass seine Haare nach vorne fielen und sein Gesicht vor den anderen leicht verbargen. Dann hob er die Oberlippe und zeigte mir seine Eckzähne.

Ich schluckte meinen Schrecken herunter. »Lass das!« Wenn mein Gebiss nur halb so beeindruckend gewesen wäre wie seines in diesem Moment, hätte ich vielleicht auch die Zähne gefletscht. So musste ich mich darauf beschränken, ihn unter der Jacke energisch in die Seite zu zwicken.

Er schien es gar nicht zu merken. Dennoch hatten seine Eckzähne wieder ihre normale Länge, als er mir »Nur weil du es willst. Und nur solange er kapiert, dass du zu mir gehörst« zuknurrte und sich anschließend die Haare aus dem Gesicht strich, als sei absolut nichts geschehen.

Ich verbiss mir die Frage, worauf er seine Besitzansprüche begründete, und fauchte stattdessen: »Neandertaler!« Zu mehr blieb mir gar keine Zeit, denn inzwischen hatten Neal und Tyler uns erreicht. Vermutlich hätte ich wissen müssen, dass ich in dieser Diskussion nicht das letzte Wort haben würde – zumindest im übertragenen Sinn: Julien hob meine Hand an seine Lippen und hauchte mir einen Kuss auf die Knöchel. Okaaay, dieser Claim war also hiermit für alle Anwesenden gut sichtbar abgesteckt. – »Neandertaler« war eine bodenlose Untertreibung.

Dass seine Botschaft bei Neal angekommen war, verriet die Art, wie der die Zähne zusammenbiss. Ich zwickte Julien erneut – und diesmal zuckte er tatsächlich zusammen.

Tyler war natürlich nicht entgangen, was zwischen Neal und Julien abging. Jetzt verdrehte er theatralisch die Augen.

»Solltet ihr Sekundanten brauchen: Ich stehe nicht zur Verfügung.« Er ignorierte die Blicke, die ihn trafen, schob die Hände in die Hosentaschen und wechselte ungerührt das Thema. »Wie es scheint, ist das Bohemien noch nicht ganz aus dem Rennen, was den Halloween-Ball angeht.«

»Wie das?« Julien wandte seine Aufmerksamkeit aufreizend langsam von Neal zu Tyler. Unter seiner Jacke führte er meine Hand von seiner malträtierten Seite zu seiner Gürtelschlaufe zurück.

»Ron hat mich gestern Abend angerufen. Offenbar hat Prinzessin Cynthia ihren Daddy so lange bearbeitet, bis er sich einverstanden erklärt hat, das Bohemien auf seine Kosten so weit in Ordnung bringen zu lassen, dass der Ball doch dort stattfinden kann.«

Neal sah mich mit Hundeaugen an. »Dekorieren müssen wir aber trotzdem immer noch selbst.« Er verzog das Gesicht.

Ich seufzte. »Wäre auch zu schön, um wahr zu sein, wenn wir es nicht müssten.« Wie Neal gehörte auch ich zum »Dekorationsteam« – ebenso wie Julien, der von Mr Barrings nachträglich dazu verdonnert worden war. Als Ersatz für Mike, dem ein Aufschlag beim Volleyball das Handgelenk gebrochen hatte. Juliens Aufschlag, um genau zu sein. Und auch wenn sein Gips Anfang dieser Woche runtergekommen war, fiel Mike natürlich immer noch aus, was das Heben und Tragen von schweren Sachen anging, sodass Julien nach wie vor keine Chance hatte, sich aus der ganzen Geschichte herauszuwinden. Auch wenn ich bezweifelte, dass er das überhaupt versuchen würde. Immerhin hatte er, während ich im Krankenhaus lag, alles darangesetzt, seinen Stundenplan meinem so weit wie möglich anzupassen, damit er auch wirklich auf mich aufpassen konnte.

»Das Ganze ist aber ziemlich kurzfristig, oder? Steht denn schon fest, ab wann …« Ich hielt mitten im Satz inne. War das Beth, die da von den Fahrradständern her auf uns zukam und gerade etwas, das verdächtig nach einer Luftpumpe aussah, in ihre Tasche stopfte? Ich kniff die Augen zusammen. Tatsächlich! Sichtlich außer Atem und zerzaust, aber eindeutig Beth, eigentlich Elizabeth Ellers, und wie immer vom Kajal über den Lippenstift, die Bluse und den Rock bis zu den halbhohen Schnürstiefeln ganz in Schwarz. Auch Julien blickte ihr jetzt entgegen und Neal und Tyler hatten sich ebenfalls zu ihr umgedreht. Sie waren offenbar genauso verblüfft wie ich, denn gewöhnlich fuhr Beth einen Käfer, der vermutlich doppelt so alt war wie sie selbst.

»Was hast du mit deinem Käfer gemacht?«, erkundigte ich mich erstaunt, als sie uns erreichte.

»Nichts.« Elend sah sie mich an. »Zumindest nichts, von dem ich wüsste. Als ich gestern Abend nach meiner Schicht im Ruthvens heimwollte, ist er nicht mehr angesprungen. Richard hat mich gefahren, sonst hätte ich laufen müssen.« Sie wandte sich den Jungs zu. »Ihr versteht doch was von Autos. Ich brauche eure Hilfe. – Er macht nur noch ›klick‹.«

»Krick?«, wiederholten alle drei unisono. Ich verbiss mir ein Grinsen.

»Ja, ›klick‹. – Was kann das sein?« Hoffnungsvoll sah sie von einem zum anderen.

Tyler rieb sich den Nacken. »Der Grund für dein ›klick‹ kann alles Mögliche sein.«

»Klingt für mich nach der Zündung«, mutmaßte Neal. »Und er springt überhaupt nicht mehr an? Macht er denn sonst noch irgendetwas? Irgendwelche Geräusche?«

Unglücklich schüttelte Beth den Kopf und begann haarklein zu schildern, was ihr Käfer noch tat oder nicht mehr tat, während wir zur Montgomery hinübergingen. Die Theorie: »Vielleicht ist es ja nur die Batterie«, wurde sowohl von Tyler als auch Julien geäußert – jedoch beide Male verworfen, da Beth beteuerte, ihre Batterie sei noch kein halbes Jahr alt und sie habe das Licht ganz bestimmt nicht versehentlich brennen lassen. Sie unterbrachen ihre Fachsimpelei und Ferndiagnosen gerade lange genug, um Susan, die auf den letzten Metern vor der Treppe zum Schulgebäude auf uns wartete, mit einem mehrstimmigen »Hi!« zu begrüßen. Mike war nirgends zu entdecken.

»Wo hast du deinen Bruder gelassen?« Erst seit sie Julien als meinen Freund akzeptiert hatte und – zusammen mit den anderen – bereit war, ihn in unserer Clique zu dulden, begann sich der Riss, den unsere Freundschaft zuvor durch ihre Ablehnung bekommen hatte, wieder zu schließen.

»Zu Hause. Krank. Wahrscheinlich eine Magen-Darm-Grippe. Zumindest hat er die ganze Nacht dem Toilettenschüssel-Gott gehuldigt. Und jetzt ist er kurz davor, zu sterben.« Sie strich sich eine Strähne ihres dunklen Haares zurück, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Jungs sind ja solche Babys!« Den letzten Satz sagte sie laut genug, dass ihn jeder in unserer Umgebung hören konnte. Hinter uns erklang ein leises Schnauben. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Julien Beth, Neal und Tyler sich selbst überlassen und zu mir und Susan aufgeschlossen hatte. Susan zwinkerte mir zu, doch dann stockte sie auf der Hälfte der Treppe zum Haupteingang mitten im Schritt.

»Was macht denn die Polizei hier?« Neugierig verrenkte sie sich den Hals, um einen Blick auf den weiß-silbernen Wagen zu werfen, der von hier aus gut sichtbar auf dem Lehrerparkplatz stand. Wir waren nicht die Einzigen, die langsamer gingen – oder sogar stehen blieben.

»Meinst du, sie haben es rausgekriegt?«, fragte ich halblaut und sah zu Neal zurück.

»Was?«

»Die Sache mit dem Virus …«

Schlagartig wurde er blass. Er und Ron hatten vor einiger Zeit einen Computervirus zusammengebastelt und auf das Schulsystem losgelassen. Alle PCs hatten zwar gestreikt, aber es war kein Schaden entstanden. Dennoch hatte unser Schulleiter, Mr Arrons, geschworen, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Kein Wunder, dass Neal erst nach einem Räuspern seine Stimme wiederfand. »Das kann … eigentlich nicht sein.«

»Meint ihr, Arrons würde deshalb tatsächlich den Sheriff rufen?« Tyler sah von einem zum anderen.

Ebenso wie Beth und Susan zuckte ich die Schultern. Genau genommen traute ich unserem Direktor ziemlich viel zu; immerhin hatte er vor nicht allzu langer Zeit versucht, mir eine Beziehung mit Julien zu verbieten, und sogar damit gedroht, meinen Onkel über uns – und vor allem über Juliens Ruf an der Schule – in Kenntnis zu setzen.

»Wenn wir weiter nur hier herumstehen, werden wir es nie erfahren.« Neal straffte die Schultern, schob sich zwischen uns hindurch, stieg die Steinstufen vollends hoch und stieß die Glastür auf. Dahinter herrschte Gedrängel und ein Stimmengewirr, als wäre man unversehens in einem Bienenstock gelandet. Wir tauschten erneut unbehagliche Blicke und drängten uns zwischen den anderen hindurch, um zu unseren Spinden zu gelangen. Bis wir unvermittelt am Rand eines nahezu perfekten Halbkreises, der sich vor einer Spindreihe gebildet hatte, zu einem abrupten Halt kamen. Julien blieb so dicht hinter mir stehen, dass ich ihn beinah spüren konnte.

Gut zwei Dutzend der Metalltüren standen offen. Bei einigen waren die Besitzer gerade dabei, ihre Bücher und übrige Habe wieder einzuräumen. Es herrschte angespanntes Schweigen. Nur vereinzelt war verhaltenes Flüstern zu hören.

»Ich wiederhole meine Frage: Wem von Ihnen gehört dieser Spind?« Mr Arrons Stimme klang geradezu angewidert, während er sich umsah. Hinter ihm begutachteten zwei Männer in den dunklen Uniformen der County Police den Inhalt eines durchsichtigen Plastikbeutels. »Also? Ich warte nicht mehr lange! Ersparen Sie mir die Mühe, in der Belegungsliste nachsehen zu müssen.«

»Das ist meiner.«

Ich schloss die Augen, als Juliens Stimme erklang, riss sie aber sofort wieder auf, als er sich an mir vorbeischob. Meine Hand streifte seine. Er drehte sich nicht um, sondern ging vollkommen gelassen auf die beiden Officers und unseren Direktor zu. Mit einem Schlag war es still genug, um eine Stecknadel fallen zu hören. Mr Arrons Miene war ein unausgesprochenes: »Natürlich. Wer sonst.« Der ältere der Polizisten sah von dem Plastikbeutel in seiner Hand zu Julien. Auch sein Gesichtsausdruck war abweisend, ja beinah angeekelt. Sein Kollege spielte mit den Handschellen an seinem Gürtel.

»Hast du uns irgendwas zu sagen, Junge?«, erkundigte der Ältere sich frostig und hob den Beutel ein winziges Stück höher.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Nicht dass ich wüsste, Sir«, knurre Mr Arrons, wurde aber von dem zweiten Beamten mit einer Geste darum gebeten, ihnen das Weitere zu überlassen.

Der andere musterte Julien aus schmalen Augen. »Du gibst also zu, dass das hier dir gehört?«

Julien warf nur einen kurzen Blick auf den Beutel, ehe er die Schultern hob. »Sie haben es anscheinend in meinem Spind gefunden, also muss es das wohl.«

Eine Sekunde lang wirkten die Officers verblüfft, dann wich ihre Verblüffung überdeutlichem Missfallen.

»Dann gibst du auch zu, dass es sich bei dem Inhalt dieses Beutels um Crystal in Tablettenform handelt?«

Ein Raunen ging durch den Korridor. Juliens Hand schloss sich fester um den Riemen seines Rucksacks.

»Ich denke, wir sollten die Angelegenheit in meinem Büro klären«, lenkte Mr Arrons die allgemeine Aufmerksamkeit mit einem Räuspern auf sich, bevor Julien antworten konnte. »Mr DuCraine: Sie kennen den Weg ja. Begleiten Sie die Officers. – Die anderen gehen in ihre Klassen!«

Seine Worte wurden mit Murmeln und Füßescharren beantwortet, während die Versammlung sich mehr oder weniger widerstrebend auflöste. Natürlich, keiner wollte den zweiten Akt des Dramas um Julien – dem man ohnehin eine dunkle Vergangenheit nachsagte – verpassen. Der Gedanke hinterließ einen bitteren Geschmack in meinem Mund.

»Wer hätte das gedacht: Julien dealt mit Crystal. – Arme Dawn.« Die Worte waren gerade laut genug, dass jeder sie hören konnte. Die Stimme kannte ich nur zu gut. Cynthia! Natürlich war das hier ein gefundenes Fressen für sie, ließ sie doch auch sonst keine Gelegenheit aus, um mir das Leben zur Hölle zu machen. Schließlich hatte Julien sich für mich entschieden und war nicht ihr ins Netz gegangen. Gewöhnlich war ich schlagfertig genug, um ihre Bemerkungen mit irgendeinem passenden Kommentar zu quittieren, doch dieses Mal … nichts. Mein Kopf war wie leer gefegt. Nur am Rand bekam ich mit, wie ihr momentaner »Freund« den Arm um sie legte und etwas zum Rest ihrer Clique sagte, was Grinsen und Gelächter hervorrief. Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit hing mein Blick an Julien, der zwischen den Polizisten den Korridor zum Büro des Direktors hinunterging, ohne auf Cyns Bemerkung zu reagieren oder sich noch einmal umzudrehen. Einer der beiden hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt, als rechne er damit, Julien würde versuchen davonzulaufen.

»Das gilt auch für Sie, Ms Warden. Sie sind nicht vom Unterricht befreit.« Mr Arrons Stimme ließ mich zusammenzucken.

»Komm schon, Dawn.« Susan hatte meinen Ellbogen ergriffen und zog mich sanft, aber bestimmt in Richtung des Klassenraums, in dem ich jetzt eigentlich Spanisch hatte. Einen Moment stand ich noch vollkommen regungslos, dann ließ ich mich mitzerren. Beth, Tyler und Neal folgten dicht hinter mir.

Nur langsam setzte mein Verstand wieder ein. Drogen! Und ausgerechnet Crystal. Ich hatte irgendwo mal davon gehört oder gelesen. Eine relativ neue Designerdroge. Um einiges tückischer als das ganze andere Zeug, das sowieso im Umlauf war. Und Polizei und Richter gingen äußerst ungnädig mit Leuten um, die damit dealten. Nicht dass ich eine einzige Sekunde glaubte, Julien könnte tatsächlich etwas mit diesem Zeug zu tun haben – auch wenn er nicht abgestritten hatte, dass es ihm gehörte.

Susan schob mich durch die Tür, bedachte mich mit einem besorgten Blick, murmelte etwas und eilte nach einem letzten Zögern in ihren Literaturkurs zwei Säle weiter. Beth rieb meinen Arm, dann folgte sie Susan, während Neal und Tyler sich ebenfalls auf den Weg in ihre Klassen machten. Ich tappte zu meinem Stuhl, sank darauf und starrte meine Tasche vor mir auf dem Tisch an. Ich konnte die Augen der anderen auf mir spüren, während sie nach und nach in den Raum kamen und sich setzten. Immer wieder hörte ich meinen Namen in ihrem Flüstern und Zischeln. Der Platz hinter mir blieb frei. Normalerweise saß Julien in Spanisch dort.

»¡Buenos días, señores! Les ruego que me presten atención. Tenemos clase de español. Para charlar tienen ustedes el descanso.« Wie durch einen Nebel registrierte ich, wie Mr Javarez seine Unterlagen auf den Lehrertisch knallte. »Tuve el gusto de corregir sus deberes de anteayer. Y sólo se me ocurre una expresión al calificar sus esfuerzos: lamentables.«

Mein Spanischbuch lag noch immer in meinem Spind. Um mich her kehrte Stille ein. Die Blicke blieben. Mr Javarez begann unsere ach so erbärmlichen Arbeiten zurückzugeben. Seine schneidenden Kommentare waren nicht mehr als ein Rauschen im Hintergrund.

Würden die Polizisten Julien mitnehmen? Bestimmt. Er hatte ja nicht geleugnet, dass das Crystal ihm gehörte. Und selbst wenn er es getan hätte, wäre es sinnlos gewesen. Sie hätten ihm kein Wort geglaubt. Ich krallte die Finger ineinander. So viel zu: unschuldig bis zum Beweis der Schuld. Mr Arrons war nur daran interessiert, den guten Ruf seiner Schule zu schützen. Er würde nicht verhindern, dass Julien verhaftet wurde. Vielleicht hatten sie ihn ja schon weggebracht? Meine Fingerknöchel wurden unter meinem eigenen Griff weiß. Jemand, der verdächtigt wurde mit Crystal zu dealen, kam garantiert in Untersuchungshaft. Sie würden ihn einsperren. – Mein Magen zog sich zusammen. Das durfte nicht passieren! Wie lange würde es dauern, bis ein Richter die Kaution für ihn festsetzte? Wie hoch war so etwas bei Drogen? Mein Taschengeld war immer üppig gewesen und ich hatte einen Teil davon gespart, aber das würde vermutlich niemals reichen. Und mein Erbe … Darüber konnte ich noch nicht verfügen. Erst beim nächsten Besuch meines Großonkels sollte das alles geklärt werden.

»¿Podría prestarme un poquito de su preciosa atención, Señorita Warden?«

Und wenn es gar keine Kaution gab? Was würde geschehen, wenn er zu lange nicht trinken konnte? Wenn sein Hunger zu groß wurde? Würde er die Gier irgendwann nicht mehr beherrschen können? Jemanden angreifen? Was, wenn jemand merkte, dass er … anders war?

»¡Señorita Warden! ¡Estoy hablando con usted!«

Er hatte selbst gesagt, dass es vieles an seinesgleichen gab, wofür diverse Stellen Unsummen bezahlen würden – und dass deshalb niemand davon erfahren durfte, dass es so etwas wie ihn gab. Und wenn er jetzt … Wenn er nicht trinken konnte und der Hunger ihn so sehr schwächte, dass sie glaubten, er sei krank, und einen Arzt holten – oder ihn ins Krankenhaus brachten. Was, wenn sie bei irgendwelchen Bluttests …

»Ms Warden!« Mr Javarez’ Hand klatschte vor mir auf die Tischplatte. Ich zuckte zusammen und starrte ihn an. Sie durften Julien nicht einsperren! Mein Stuhl krachte gegen den Tisch hinter mir, als ich aufsprang, mich in einem Wirbel zu Boden segelnden Papiers an Mr Javarez vorbeidrängelte und zur Tür hinaushastete.

»Wo zum Teufel wollen Sie hin, Dawn?«, donnerte er mir hinterher. Ich rannte den Korridor hinunter, ohne mich umzudrehen. Sie durften Julien nicht mitnehmen!

Mrs Nienhaus sah mich von ihrem Platz hinter dem Tresen überrascht an, als ich ins Sekretariat stolperte. Ich war vollkommen außer Atem. Ein Sprint quer durch die Schule war nicht das, was die Ärzte mit »schonen« gemeint hatten, als sie mich aus dem Krankenhaus entließen. Sichtlich besorgt stand sie auf und kam auf mich zu.

»Lieber Himmel, Ms Warden, was ist denn geschehen?«

Ich blinzelte sie an. Die Polizisten würden Julien wegen Drogenhandels verhaften und einsperren. Und dann wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich das verhindern konnte.

»Die Officers … Julien … wo sind sie?«

»Es tut mir leid, aber sie sind schon weg.«

Weg? Lieber Gott, nein! »Wie lange?«

»Sie haben sie gerade verpasst. – Soll ich Sie zur Schulschwester bringen? Sie sind bleich wie der Tod, Kind.«

Ich schüttelte den Kopf, knallte die Tür hinter mir zu und hetzte abermals den Korridor hinunter. Mir war nicht bewusst gewesen, wie viel Zeit schon vergangen war. Wenn es sein musste, würde ich behaupten, dass das Crystal mir gehörte. Sie durften nur Julien nicht einsperren.

Mir war schwindlig und übel, als ich die Treppen zum Haupteingang hinuntertaumelte. Mit einem Gefühl der Benommenheit blieb ich auf der letzten stehen. Der Streifenwagen stand nicht mehr auf dem Parkplatz. Ich war zu spät.

»Dawn?«

Ich fuhr mit einem Keuchen herum. »Julien?«

Er stand oben direkt vor dem Haupteingang, den Türgriff noch in der Hand. Jetzt kam er mit langen, schnellen Schritten die Stufen herunter auf mich zu. Ich warf mich in seine Arme, noch bevor er mich endgültig erreicht hatte.

»Ich hatte Angst, sie hätten dich mitgenommen!«, sagte ich in sein Hemd und drückte ihn noch fester an mich.

Einen Moment hielt er mich schweigend fest und ich glaubte zu spüren, dass er mir einen Kuss aufs Haar hauchte, doch dann schob er mich ein Stück von sich weg und musterte mich eindringlich.

»Mir geht es gut«, versicherte ich rasch, ehe er etwas sagen konnte.

Über der dunklen Brille zogen seine Brauen sich zusammen. »Natürlich. Ungefähr so gut wie einer drei Tage alten Leiche.« Er nahm mich auf die Arme und trug mich zu einer der steinernen Bänke bei den Tischen auf dem Rasen, wo er mich behutsam absetzte. Ich protestierte nicht, auch wenn das Schwindelgefühl bereits wieder nachließ. Von seiner Hand baumelte der Plastikbeutel mit den Tabletten. Noch immer sichtlich besorgt ging er vor mir in die Hocke und sah mich forschend an.

»Mir geht es gut. Wirklich! – Ich bin nur ein bisschen außer Atem.« Ganz leicht berührte ich seine Wange. Er wandte den Kopf ein wenig und küsste mein Handgelenk. »Ich hatte Angst, sie hätten dich mitgenommen.«

Die Sorge wich ein Stück weit aus seinen Zügen, als er lächelte. Hart und kalt. »Arrons hat mir einen Gefallen getan, als er das Ganze in sein Büro verlegte. Drei Menschen konnte ich dazu bringen, mir zu glauben. Vor der halben Schule wäre das unmöglich gewesen. – Du musst dir keine Sorgen mehr machen: Es ist alles geregelt.«

»Geregelt? Was …?« Ich beendete den Satz nicht, als mir klar wurde, was er meinte. Meine Hand sank in meinen Schoß. Er hatte die Gedanken und Erinnerungen von Mr Arrons und den Polizisten manipuliert. Offenbar hatte er das Begreifen in meinem Gesicht gesehen, denn er nickte.

»Es war alles ein großes Missverständnis. Ein bösartiger Streich, den ein Schüler dem anderen spielen wollte. Das hier«, er hielt den Beutel mit dem Crystal in die Höhe, »ist kein Meth, sondern es sind nur banale Vitaminpillen. Vielleicht nicht vollkommen harmlos, dafür aber absolut legal und so gut wie überall zu bekommen. Sie haben sich selbst davon überzeugt. – Das und nichts anderes wird in ihrem Bericht stehen.«

Der Anblick der weißen Tabletten ließ mich schaudern. »Wer tut so etwas? Ich meine, dir Drogen unterschieben …«

Julien hob knapp die Schultern. »Ich weiß es nicht. Eines ist allerdings sicher: Niemand an dieser Schule könnte es sich leisten, einen gut vierstelligen, wenn nicht sogar fünfstelligen Betrag aus dem Fenster zu werfen, nur um mir etwas anzuhängen. – Mach dir keine Sorgen …«

»Und wenn …« Allein der Gedanke machte mir Angst. »… wenn es etwas mit mir zu tun hat? Und Samuel?« Ich schlang die Arme um mich.

Juliens Hand an meiner Wange hatte etwas unendlich Beruhigendes. »Du meinst, weil wir nicht wissen, ob die Explosion ihn tatsächlich mit sämtlichen seiner Freunde erwischt hat? Oder ob einer oder mehrere davon vielleicht nicht anwesend waren und einer von ihnen jetzt seinen Platz einnehmen will? Weil wir nicht wissen, ob er tatsächlich der Einzige war, der Befehle erteilt hat, oder ob es am Ende sogar jemanden gab, der noch hinter ihm stand?« Er neigte den Kopf. »Egal ob es etwas mit Samuel und seinen Plänen mit dir zu tun hat und wer auch immer dahintersteckt: Es kann gut möglich sein, dass jemand mich aus dem Weg räumen wollte, damit derjenige freie Bahn hat, um an dich heranzukommen.«

Ich grub mir die Finger fester in die Arme. Julien setzte sich neben mich und zog mich an seine Brust.

»Wer auch immer es war, er wusste genau, dass ich auf dem Revier tatsächlich auf Dauer ein paar sehr ernste Probleme gehabt hätte. Drei Menschen in einem geschlossenen Raum zu manipulieren, funktioniert noch, aber selbst dabei hängt alles vom Timing ab und kostet einiges an Kraft. Aber ein ganzes Polizeirevier?« Bedächtig schüttelte Julien den Kopf. »Das kannst du vergessen. Ganz nebenbei wäre das ein massiver Verstoß gegen unsere Gesetze gewesen.«

Nicht dass Julien sich besonders um diese Gesetze scherte, aber … selbst er kannte Grenzen. »Die Nachricht hätte die Fürsten erreicht und dich dadurch noch mehr in Schwierigkeiten gebracht.«

»So oder so, er hätte es geschafft, dass ich von dir ›abgezogen‹ worden wäre.« Julien legte seine Hände über meine und löste behutsam meinen Klammergriff. »Aber letztendlich ist alles ja noch mal gut gegangen. Ich werde in nächster Zeit ein wenig vorsichtiger sein müssen – und ich werde noch besser auf dich aufpassen.«

»Aber was ist … Julien?« Verwirrt hielt ich inne, als ich merkte, dass sein Blick über mich hinwegging.

Er schien mich nicht gehört zu haben. Zögernd richtete er sich auf, die Brauen in einer Mischung aus Verblüffung und Argwohn zusammengezogen, die Augen fest auf etwas hinter mir gerichtet. Ich drehte mich um. Ein silberner Ferrari, der bis eben anscheinend halb verborgen hinter einigen der anderen Wagen auf dem Parkplatz gestanden hatte, setzte sich jetzt in Bewegung und hielt auf die Ausfahrt zu. Zwei Gestalten saßen darin. Ob Männer oder Frauen hätte ich nicht sagen können.

»Wer ist das?« Etwas an Juliens Reaktion weckte Unbehagen in mir.

»Das …« Sein Blick irrte zu mir. »… konnte ich nicht erkennen. Dazu waren sie selbst für mich zu weit weg.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Aber ich wüsste niemanden an der Schule, der einen silbernen Ferrari fährt …«

Angespannt sah Julien dorthin, wo der Ferrari verschwunden war.

Von einer Sekunde zur anderen war mir schlecht. »Heißt das, sie wissen, dass du … hier bist?«

Juliens Blick kehrte zu mir zurück. »Keine Ahnung. Aber selbst wenn sie es wissen, bedeutet das nur, sie haben gemerkt, dass ich nicht mehr in Dubai bin. Für alles andere müssen sie erst Beweise haben, ehe sie zum Rat gehen können. – Und es kann genauso gut sein, dass sie sich nur davon überzeugen wollten, ob die Cops mich mitnehmen oder nicht.«

Alles andere … Ich schlang die Arme wieder fester um mich. Dieses »alles andere« war die Tatsache, dass Julien sich für seinen Zwillingsbruder Adrien ausgeben musste, um bei mir bleiben zu können, da er, Julien Du Cranier, offiziell nach Dubai verbannt war. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Jagd eröffneten. Die Jagd auf Julien beziehungsweise seinen Zwillingsbruder, von dem sie annehmen würden, dass er Julien war, wenn sie uns unsere Täuschung weiter glaubten. Seinen Zwillingsbruder, nach dem Julien in jeder Minute, die er es wagte, mich allein zu lassen, verzweifelt – und bisher erfolglos – suchte. Und wenn es nur den Hauch der Gefahr gab, dass irgendjemand an mich heranzukommen versuchte, würde er es noch weniger wagen, mich allein zu lassen. Aber wenn jetzt vielleicht auch andere – wie der ominöse Ferrarifahrer – nach ihm suchten, war es umso wichtiger, dass Julien seinen Bruder zuerst aufspürte.

Mit einer brüsken Bewegung fuhr Julien sich mit der Hand durchs Haar. »Was auch immer dahintersteckt: Spekulationen bringen uns nichts. Für heute sind ihre Pläne wohl zumindest nicht aufgegangen. Und für die Zukunft sind wir gewarnt.« Er zog mich von der Steinbank hoch. »Du solltest in Spanisch zurückgehen, bevor du noch mehr Ärger bekommst.«

»Und du?« Auch wenn von einem Moment auf den anderen jegliche Anspannung von ihm abgefallen zu sein schien, wusste ich doch, dass dem nicht so war. Er war lediglich ein Meister darin, es mich nicht merken zu lassen, wenn er sich Sorgen machte.

»Ich war auf dem Weg, das hier«, er raschelte mit dem Crystal, »in der Chemiesammlung den Ausguss hinunterzuspülen, als ich dich zum Haupteingang rennen hörte. – Lass uns wieder reingehen. Ich komme in Spanisch nach, sobald ich das Zeug entsorgt habe.«

Die Finger ineinander verschränkt, stiegen wir Hand in Hand die Treppe zum Haupteingang wieder hinauf. Der Plastikbeutel war in Juliens Jackentasche verschwunden. Als wir von der Sonne in den Schatten des Gebäudes traten, merkte ich, wie er sich noch etwas mehr entspannte.

Erst als wir uns an dem Gang, der in den naturwissenschaftlichen Bereich führte, mit einem flüchtigen Kuss trennten, gab er meine Hand frei und ich hastete in Spanisch zurück.

Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, empfing Mr Javarez mich mit einem ungnädigen Kommentar. Seine Miene wurde auch nicht freundlicher, als ich etwas davon murmelte, mir sei schlecht geworden, und auf meinen Platz schlich. Meine Tasche lag noch immer auf dem Tisch. Obenauf prangte meine Spanischarbeit: eine Zwei minus.

Als sich die Tür einige Zeit später erneut öffnete und Julien hereinkam, legte sich jäh vollkommene Stille über den Saal. Die ganze Klasse gaffte ihn fassungslos an. Mit einer beinah verächtlich wirkenden Bewegung schob er die dunkle Brille zurecht, ehe er gelassen zwischen den Tischen hindurchging, seinen Rucksack auf den Boden fallen ließ und mit der ihm eigenen nachlässigen Eleganz auf seinen Stuhl sank. Selbst Mr Javarez wirkte für einen sehr langen Augenblick verblüfft, fing sich dann aber wieder und zerrte eine weitere Arbeit unter seinen Unterlagen hervor.

»Supongo que esta nota debe ser un error suyo, Señor DuCraine, ¿verdad?« Er ließ die Blätter vor Julien auf den Tisch segeln.

Ich drehte mich auf meinem Stuhl um. Auch die anderen um ihn herum reckten die Hälse. Jemand schnappte nach Luft.

Julien warf nur einen kurzen Blick auf die grüne Eins im oberen Eck der Seite, dann stopfte er die Arbeit achtlos zu seinen anderen Sachen. »Sie haben recht. Ein absolutes Versehen. Kommt nicht wieder vor.«

Ich verdrehte innerlich die Augen. Julien sprach nicht nur fließend Spanisch, sondern auch Deutsch, Italienisch, Russisch und Tschechisch – neben seiner eigentlichen Muttersprache Französisch und jener anderen Sprache, die nur Lamia und Vampire beherrschten. Trotzdem waren seine Noten bisher verheerend schlecht gewesen. Was Hausaufgaben anging, hatte er nur den geringstnötigen Aufwand betrieben, um nicht direkt wieder von der Montgomery zu fliegen. Wozu auch? Immerhin hatte er bereits einen Abschluss in Mathematik und einen in Physik von zwei der angesehensten europäischen Universitäten vorzuweisen – zusammen mit einem in Musik von einem berühmten österreichischen Konservatorium. Zudem hatte er ursprünglich nichts anderes vorgehabt, als seinen verschwundenen Bruder zu finden und ganz nebenbei dessen Auftrag zu Ende zu führen, um die Ehre seiner Familie zu bewahren: das Mädchen aufspüren, das die nächste Princessa Strigoja werden konnte, und es töten. Als er herausgefunden hatte, dass ich dieses Mädchen war, war es bereits zu spät gewesen. Ich hatte sein Herz gestohlen und er brachte es nicht mehr über sich, den Auftrag der Fürsten auszuführen.

Erst seit feststand, dass er bei mir bleiben würde, tat er für die Schule gerade so viel, um zusammen mit mir versetzt zu werden, damit wir im Abschlussjahr die gleichen Kurse belegen konnten.

Dass das Schrillen der Schulglocke das Ende der Stunde verkündete, bewahrte ihn vor Mr Javarez’ Wutausbruch und etlichen Stunden Nachsitzen.

Als hätten sie sich abgesprochen, erwarteten Beth, Susan, Neal und Tyler mich wieder vor dem Klassenraum. Auch sie waren zunächst zu verblüfft, um irgendetwas zu sagen, als Julien mit mir zusammen in der Tür erschien. Doch während sie mit überraschter Erleichterung reagierten, nachdem sie sich von ihrem ersten Schock erholt hatten, ergingen sich andere in den nächsten Stunden in wilden Spekulationen darüber, warum Julien nicht verhaftet worden war.

Damit hatte die Schule neben: »Dawn Wardens Onkel wollte sie dem Teufel opfern und Julien DuCraine hat sie im letzten Moment gerettet. Dabei ist ihr Haus in die Luft geflogen«, und: »Dawn und Julien wohnen zusammen im alten Hale-Anwesen. Allein! Ohne Erwachsene!«, ein Klatschthema mehr: »War alles wirklich nur ein Missverständnis oder dealt Julien DuCraine tatsächlich mit Crystal und hat es nur irgendwie geschafft, die Cops zu täuschen?«

Dass der Halloween-Ball – für den ich immer noch kein Kostüm hatte – unaufhaltsam näher rückte und wir nach wie vor nicht genau wussten, wo er stattfinden würde, schien darüber beinah in Vergessenheit zu geraten.

Hatten uns in den Tagen, seit ich wieder zur Schule gehen durfte, lediglich Getuschel und Blicke verfolgt, wurden die Pausen jetzt zu einem wahren Spießrutenlauf. Ich war mehr als einmal froh darüber, wenn Julien beschützend die Arme um mich legte. Doch je weiter der Morgen voranschritt, umso deutlicher merkte ich, wie sein Ärger mit jeder Bemerkung höherkochte. Als er zu Beginn der Mittagspause einen dieser Idioten gegen eine Wand drückte, hielt ich die Luft an. Und wagte erst weiterzuatmen, als Julien – nachdem er dem Typen einen zweiten Stoß versetzt hatte – wieder zurückgetreten war. Zusammen sahen wir dem Kerl nach, wie er sich schleunigst den Gang zur Bibliothek hinunter davonmachte. Juliens Hände waren zu Fäusten geballt. An seiner Wange zuckte es, so fest hatte er die Zähne zusammengebissen. Alles an ihm war angespannt. Eigentlich hatte er mich zum Mittagessen in die Cafeteria begleiten wollen, um sicherzustellen, dass ich etwas aß – und um selbst ein wenig den »Anschein« zu wahren –, aber allein der Gedanke, ihn zu zwingen, all die Blicke zu ertragen, verursachte mir ein mulmiges Gefühl.

»Kommst du für eine Viertelstunde allein klar?« Seine Stimme klang noch immer gepresst. Nur langsam sah er mich an. »Ich muss mal kurz an die frische Luft.«

Rasch nickte ich. »Natürlich. Oder soll ich …«

»… mitkommen? – Nein danke.« Er bedachte mich mit einem verkniffenen Lächeln. »Wir treffen uns in der Cafeteria.«

Als ich die Hand nach ihm ausstreckte, wich er rasch einen Schritt zurück, und ich ließ sie eilig sinken. »Okay.« Was hätte ich auch anderes sagen sollen?

Julien nickte noch einmal kurz und ging dann schnell den Gang hinunter. Ich wartete, bis er um die Ecke verschwunden war, ehe ich mich in Richtung Cafeteria aufmachte.

Schon in der Schlange an der Essensausgabe ertappte ich mich dabei, wie ich immer wieder zur Tür sah. Appetit hatte ich keinen mehr, deshalb ließ ich mir einen Grünkernburger mit Pommes geben. So konnte ich schon nach ein paar Bissen behaupten, es würde mir nicht schmecken, und den Rest stehen lassen. Ich hoffte nur, dass ich es schaffte, überhaupt etwas davon hinunterzuwürgen. Susan und Beth saßen an unserem üblichen Tisch und winkten mir zu, noch bevor ich sie richtig entdeckt hatte. Ron war bei ihnen, pickte in Ketchup ersäufte Pommes von seinem Teller und unterhielt sich dabei mit einem Jungen aus einer Klasse unter uns, den ich nur als JT kannte und der sich vom Nachbartisch herüberlehnte – und mich angaffte, als hätte ich irgendeine Krankheit, während ich näher kam und mich schließlich setzte. Auch von den anderen Tischen zog ich Blicke auf mich und löste Getuschel aus. Ich verdrängte die Frage, ob sie das auch so offensichtlich getan hätten, wenn Julien bei mir gewesen wäre.

Neal und Tyler waren nirgends zu sehen. Doch Susan hatte mitbekommen, dass die beiden vom Coach der Fechtmannschaft – in der Neal der unangefochtene Champion war, nachdem Julien sich nach wie vor weigerte, ihr beizutreten – auf dem Weg hierher aufgehalten worden waren.

»Wo hast du Julien gelassen?« Beth sah über meine Schulter, als erwarte sie, dass er sich jede Sekunde hinter mir materialisieren würde.

»Er hat was in der Vette vergessen. Kommt aber gleich nach.« Wie leicht mir so etwas neuerdings von den Lippen ging. Anscheinend bekam ich allmählich Übung darin – selbst wenn es darum ging, meine beste Freundin zu belügen. Erneut schaute ich zur Tür. Von meinem Platz aus brauchte ich nicht mehr zu tun, als den Kopf ein wenig zu heben. Mir gegenüber runzelte Susan die Stirn.

»Du bist aber nicht plötzlich Vegetarierin geworden, oder?«, erkundigte sie sich unüberhörbar skeptisch und wies mit ihrem Messer auf meinen Teller.

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Keine Sorge. Ich wollte nur mal testen, wie das Zeug schmeckt.«

»In der Schulkantine?« Susan riss entsetzt die Augen auf. »Glaub mir, Dawn, das ist absolut der falsche Ort für derartige Geschmackstests.« Gebannt verfolgte sie, wie ich meine Gabel in den Grünkernburger senkte und ein Stück in den Mund schob. Ich kaute – noch immer von ihr beobachtet, als wäre ich ein hochinteressantes Experiment –, kaute … kaute … und würgte den Brocken hinunter. »Und?«

Schulterzuckend schob ich mein Tablett ein Stück zu ihr hin. »Möchtest du probieren?« Meiner Meinung nach war das Zeug ungenießbar. Aber es sollte Menschen geben, die so etwas mochten. Vielleicht gehörte Susan ja dazu? Doch sie zog die Nase kraus.

»Bestimmt nicht! Danke! Alles deins!«

Nein, alles fürs Geschirrband. Ich seufzte innerlich, pickte mir eine Pommes heraus und knabberte lustlos daran.

»Zeig mal.« Ron beugte sich an Beth vorbei und grub vollkommen skrupellos seine Gabel in den Burger. Unter unseren Blicken kaute er, runzelte die Stirn und schluckte schließlich. Er betrachtete mich und meinen Teller nachdenklich. »Kann es sein, dass du das nicht mehr magst?«, wollte er dann wissen. Nicht nur mir fiel die Kinnlade herunter. Allerdings … wenn es darum ging, Essen loszuwerden, war ich nicht wählerisch. »Bedien dich!« Ich wollte ihm mein ganzes Tablett zuschieben, doch Beth verhinderte es.

»Wie kann man nur so verfressen sein? Lass Dawn wenigstens die Pommes!«, schalt sie.

Schönen Dank auch, Beth! Ron schaute tatsächlich geknickt drein und beschränkte sich dann darauf, den Grünkernburger auf seine Gabel zu spießen und auf seinen eigenen Teller zu transportieren. Na ja, zumindest war mein Plan zum Teil aufgegangen. Ich nahm mir eine weitere Pommes und biss ein Stück davon ab.

»Gehst du heute Abend mit ins Ruthvens?« Susan trank einen Schluck Limo. »Wir wollten uns um acht dort treffen.«

Bei der Erinnerung daran, was beim letzten Mal passiert war, als ich mich mit Susan und dem Rest der Clique im Ruthvens hatte treffen wollen, zog ich unwillkürlich die Schultern hoch. Offenbar entging das den anderen nicht.

»Natürlich mit Julien«, schob Susan hastig nach. Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Damals – bei ihrer Geburtstagsparty – hatte sie ihn nämlich ausdrücklich nicht dabeihaben wollen. Als Resultat war ich an jenem Abend von einer Gruppe Typen stattdessen auf dem Abbruchgelände in der Nähe des Klubs herumgehetzt worden. Das glaubten zumindest meine Freunde. Die Wahrheit sah ein klein wenig anders aus. Nicht dass ich vorhatte, sie ihnen zu offenbaren und damit ihre Todesurteile zu unterschreiben.

»Ich frag ihn. Vielleicht hat er ja Lust.« An ihr vorbei sah ich zur Tür der Cafeteria. Inzwischen war das eine verdammt lange Viertelstunde. An der Essensausgabe nahm Tyler sich gerade ein Tablett vom Stapel und reihte sich in die Schlange ein.

»Wir müssen uns auch unbedingt mal wieder zu einem DVD-Abend treffen. Oder zu einer Runde Scharade.«

Beth lehnte sich kichernd auf ihrem Stuhl zurück. »O ja, Scharade. – Nicht böse sein, Dawn, aber ich würde Julien zu gerne mal beim Scharadespielen erleben.«

Irritiert löste ich den Blick von der Tür und schaute sie an. »Ich werd ihn fragen, ob er mal Lust dazu hat.«

Die Stirn gerunzelt beugte Susan sich über den Tisch. »Du bestimmst aber schon noch selbst über dein Leben – ich meine, zumindest ob du etwas mit deinen Freunden unternehmen willst, oder? Sei mal ehrlich, Julien lässt dich ja keine Sekunde aus den Augen, wenn er es irgendwie vermeiden kann. Ihr wohnt zusammen in einem Haus … Ich finde … das ist schon irgendwie ziemlich … na ja, strange.«

Ich sah mit einer Mischung aus Frustration und Ärger zu ihr hinüber. Wenn sie gewusst hätte, wie strange mein Leben war, seit ich mit Julien zusammen war, hätte sie eventuell darüber nachgedacht, die netten Herren in den weißen Kitteln mit diesen ganz gewissen Jacken zu rufen – oder vielleicht besser gleich einen Exorzisten.

»Keine Sorge. Ich treffe meine Entscheidungen schon selbst. Und ich kann tun und lassen, was ich will. Er sperrt mich zu Hause nicht irgendwie in einen Käfig oder so.« Mein Ton verriet Susan offenbar, dass sie gerade gefährlich am Rand eines riesigen Fettnapfes entlangbalancierte. So wie ich es beabsichtigt hatte.

»Wenn du mich fragst, würde ich ihm genau das zutrauen.«

Ich fuhr herum. Hinter mir stand Neal und drückte sich ein Taschentuch gegen die Lippe. Es war rot. Das konnte nur eins bedeuten … O großer Gott! Auch die anderen sahen geschockt auf. Die Füße meines Stuhls kreischten über den Boden.

»Was ist passiert? Wo ist Julien?« Ich war schneller auf den Beinen, als er zurückweichen konnte.

»Dein Freund ist ein Freak, Dawn.«

»Und du ein Idiot, Neal! – Wo ist er?«, fuhr ich ihn an.

Er maß mich mit zusammengekniffenen Augen und ich ballte die Fäuste, während ich gleichzeitig einen Schritt auf ihn zumachte. Endlich wies er mit dem Kinn zur Cafeteriatür. »Im Jungsklo am Hauptkorridor. Als ich ihn zuletzt gesehen hab, meinte er, ich solle mich verziehen, ehe er mir an die Kehle geht.« Er schnaubte. Grob schob ich ihn weg, stieß dabei einem Jungen, der gerade hinter Neal vorbeiging, das Tablett aus den Händen, das krachend auf den Boden schlug und seine Last überallhin verspritzte. Ich drängelte mich durch die übrigen Schüler in der Cafeteria und rannte in den Korridor.

»Dein Freund ist komplett irre!«, rief Neal mir nach, als wolle er sicherstellen, dass es auch ja die gesamte Schule mitbekam. Verdammter Idiot! Und so etwas hatte ich mal für einen Freund gehalten.

Ich erreichte das Jungsklo in Rekordzeit, riss die Tür auf und sah mir selbst aus einem gesprungenen Spiegel entgegen. Der scharfe Geruch ließ mich beinah einen Schritt zurückweichen. Wie in drei Teufels Namen hatte Neal Julien hier reingekriegt? Jenseits der Mauer, die die Waschbecken von den Toiletten und Urinalen trennte, krachte es. Mein Herz klopfte hart, als ich mich dem Durchgang näherte und in den bis in Augenhöhe gefliesten Raum dahinter spähte. Ein umgeworfener Plastikmülleimer. Gebrauchte Papierhandtücher lagen über den Boden verteilt, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgefahren. Zwei demolierte Toilettentüren. Eine war in der Mitte durchgebrochen, die Einzelteile hingen nur noch in ihren Angeln. Die zweite ragte verkantet aus ihrem Rahmen. Von einem der Urinale war ein Stück Rand abgebrochen. Julien stand einen knappen halben Meter vor der Wand direkt neben dem Durchgang. Mehr als ein gutes Dutzend Fliesen war zerschlagen. Die in seiner direkten Nähe hatten rote Schmieren. Jeder seiner Atemzüge war ein Zischen.

»Julien?«, sagte ich leise und vorsichtig.

Ganz langsam drehte er mir den Kopf zu. Aus seiner Kehle kam ein Knurren. Er fletschte die Zähne. Ich musste seine Augen nicht sehen, um zu wissen, dass sie tiefschwarz waren. Ein kleiner Teil von mir fragte sich, ob er mich überhaupt erkannte. Wieder ein Knurren. Erst jetzt wurde mir klar, dass es kaum verständliche Worte waren, rau und guttural. »Hau! Ab!«

»Julien, ich …«

Er bewegte sich so schnell, dass ich unwillkürlich einen Schrei ausstieß. Plötzlich war ich zwischen ihm und dem Rahmen des Durchgangs gefangen. Seine Zähne waren unübersehbar viel zu lang für einen Menschen. Ich presste mich gegen die schmale Mauer und versuchte das Zittern in meinem Inneren zu beherrschen. Er stemmte eine Hand über meinem Kopf gegen die Fliesen. An seinen Knöcheln hing Blut, zu viel, um nur von Neals Lippe zu sein. Die andere schloss sich um meine Kehle. Ich schluckte und bog den Kopf zurück, so weit ich konnte. Seine Oberlippe hob sich, er öffnete den Mund ein wenig. Wieder ein Knurren. Diesmal keine Worte.

»Julien …« Ganz langsam legte ich die Hände auf seinen Rücken, schob sie aufwärts Richtung Schultern. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Behutsam verstärkte ich den Druck, zog ihn an mich heran, sagte seinen Namen. »Julien Du Cranier.« Nicht das englische »Julien DuCraine«, unter dem ihn hier alle kannten, sondern die französische Variante. So wie er eigentlich hieß. Das Knurren wurde zu einem Zischen. Ich sprach seinen Namen noch einmal aus. Leise, sanft. Unter meinen Händen spannte sein Körper sich. Seine Zähne streiften meine Kehle. Direkt über dem Verband, den ich immer noch trug. Mein Puls hämmerte plötzlich viel schneller. Ein Wimmern kroch in meinem Inneren empor, als die Erinnerungen an Samuel hochkamen und das, was er getan hatte. Doch das hier war Julien! Nicht Samuel! Julien! Sein Atem schlug gegen meine Haut. Wieder ein Knurren – das in einem Stöhnen endete. Von einer Sekunde zur anderen war mehr als eine Armlänge Distanz zwischen uns. Und Julien wich weiter zurück, kopfschüttelnd, keuchend, warf sich herum und stürzte davon. Die Toilettentür knallte.

»Julien!« Irgendwie hatte ich nicht genug Luft, um seinen Namen zu schreien. Ich stieß mich von der Mauer in meinem Rücken ab und lief ihm nach. Im ersten Moment waren meine Knie so weich, dass meine Beine mir kaum gehorchen wollten. Draußen stolperte ich fast in Beth, Susan, Tyler und Ron hinein. Und Neal. Sowie einige andere, die sich das Schauspiel offenbar nicht entgehen lassen wollten. Ich drängte mich blindlings an ihnen vorbei und hastete hinter Julien her.

Als ich die Türen des Haupteingangs aufstieß, röhrte der Motor der Vette auf. Im nächsten Moment schoss sie rückwärts aus der Lücke, in der Julien sie heute Morgen abgestellt hatte, und gleich darauf mit quietschenden Reifen vom Parkplatz auf die Straße. Hupen heulten mehrstimmig. Bremsen kreischten.

Zu spät! Keuchend blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen. Hatte ich mir tatsächlich eingebildet, ihn einholen zu können?

»O Julien …« Ich presste die Hand in die Seite, wo sich schon wieder bei jedem Atemzug ein Stechen hineinwühlte. Was hatten die Ärzte gesagt, als sie mich aus dem Krankenhaus entlassen hatten? Ich solle mich noch mindestens zwei Wochen schonen? – Dazu war ich entschieden mit dem falschen Jungen zusammen.

»Shit, habt ihr das Klo gesehen?« – »Total demoliert.« – »DuCraine ist vollkommen durchgeknallt.« – »Dafür fliegt er!«, hörte ich unsere Gaffer hinter mir. Auf dem Absatz sammelte sich ein kleiner Menschenauflauf.

»Wenn er bis zur letzten Stunde nicht wieder da ist, kann ich dich heimfahren.«

Hätte ein anderer mir dieses Angebot gemacht, hätte ich es vielleicht angenommen. Und hätte Neals Stimme auch nur ein winziges bisschen bedauernd geklungen, hätte ich es möglicherweise sogar in Erwägung gezogen, ihm irgendwann in einer Million Jahren zu verzeihen – aber sein Ton war einfach nur widerlich selbstzufrieden.

Ich drehte mich zu ihm um. »Aber ansonsten ist noch alles gesund?«, zischte ich. Lieber würde ich auf allen vieren nach Hause kriechen, als zu ihm ins Auto zu steigen. »Was hast du zu Julien gesagt?«

»Dass er für dich nicht gut genug ist.«

»Was noch?« Dieser Meinung war Neal vom ersten Moment an gewesen und Julien wusste das. Da musste noch mehr passiert sein, um Julien so die Kontrolle verlieren zu lassen. »Was! Noch!«

Neal schob das Kinn vor. »Frag ihn doch selbst! Wegsperren sollte man diesen Irren. Was weiß denn ich, warum dein bescheuerter Freund so ausgetickt ist? Aber vielleicht braucht so ein Freak wie er ja auch gar keinen Grund, um komplett durchzudrehen und einem an die Gurgel zu gehen.«

»Du verdammter Idiot. Du hast ja keine Ahnung …« – wie nah Julien tatsächlich davor gewesen sein musste, genau das zu tun, wenn er wahrhaftig diese Worte benutzt hatte. Und vermutlich auf eine ganz andere Art, als Neal es erwartet hätte. Ich widerstand nur mit Mühe dem Drang, ihm die Hände gegen die Brust zu stoßen. »Lass Julien und mich einfach in Ruhe, okay! Bleib mir vom Leib und sprich mich – oder meinen Freund – nie wieder an.« Ich ließ ihn stehen, schob mich zwischen den anderen hindurch und marschierte ins Gebäude zurück. Und wie schon die ganzen letzten Tage folgten mir auch heute die Blicke der anderen. Ich hasste es, aber ich würde den Teufel tun und ihnen das zeigen.

Auf der Hälfte des Korridors zu den Spinden kam mir Mr Arrons mit hochrotem Kopf entgegen. »Wo ist Ihr Freund, Ms Warden?«, blaffte er mich an.

Wenn ich das gewusst hätte, wäre mir selbst auch bedeutend wohler gewesen.

Eine Antwort hatte unser Schulleiter aber offensichtlich gar nicht erwartet, zumindest gab er mir nicht die Chance, zu einer anzusetzen, ehe er schon die nächste Salve abfeuerte.

»Sagen Sie ihm, er hat Zeit bis morgen Mittag, ein Uhr, sich in meinem Büro einzufinden und sich den Konsequenzen seiner … Zerstörungswut zu stellen. Und ich würde ihm raten, mich nach der Geschichte eben und der von heute Morgen besser wirklich davon zu überzeugen, dass so etwas garantiert nicht wieder vorkommen wird. Taucht er nicht auf, verweise ich ihn von der Schule und erstatte Anzeige gegen ihn. – Haben Sie mich verstanden, Ms Warden?«

»Ja, Sir.« Ich nickte ergeben.

Wohl nicht ergeben genug, denn Mr Arrons plusterte sich weiter auf. »Ich hoffe sehr, dass Mr DuCraines schlechtes Benehmen nicht auf Sie abfärbt, junge Dame. – Und vergessen Sie nicht, Ms Warden, morgen Mittag, ein Uhr.« Er gönnte mir noch ein Nicken, dann strebte er in Richtung seines Büros. Ich schickte ihm einen bösen Blick hinterher. Natürlich war es Julien, der die Konsequenzen zu tragen hatte. Dass Neal seinen Anteil an alldem hatte, ahnte leider niemand. Aber selbst wenn, hätte es vermutlich auch keinen interessiert.