Witchghost - Lynn Raven - E-Book

Witchghost E-Book

Lynn Raven

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Beschreibung

Mächtige Dynastien, ein rachsüchtiger Geist und ein undurchsichtiger Verbündeter

Seit ihre Familie durch dunkle Magie ermordet wurde, hat Cass der Hexerei abgeschworen. Der einflussreiche Hexer Wittmore hat sie bei sich aufgenommen und versucht sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie weigert sich. Als es jedoch zu mehreren mysteriösen Todesfällen in der Gegend kommt und Wittmores Tochter Sarah-Ann versucht, in einer Séance Kontakt mit dem letzten Opfer aufzunehmen, erscheint stattdessen Cass der Geist einer vor langer Zeit hingerichteten Hexe. Und offenbar trachtet jemand auch Cass nach dem Leben. Wem kann sie noch trauen? Dem gut aussehenden Luke, der ihr seine Hilfe anbietet? Oder verfolgt er womöglich ganz eigene Pläne?

Leser*innen von Lynn Raven erwartet eine unwiderstehliche Mischung aus Romantik und Spannung. Lynn Raven steht für atemberaubende Dark Fantasy voller leidenschaftlicher Intrigen und wundervoller Figuren – Suchtgefahr garantiert!

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Seitenzahl: 463

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Lynn Raven

Gefördert durch ein Stipendium der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur

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© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Serg Zastavkin, PKpix, andreiuc88, Social Media Hub, Darya Komarova)

he · Herstellung: bo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27500-6V001

www.cbj-verlag.de

Und wenn die Hexe wiederkehrt …

(Faun: Schrei es in die Winde)

1

Die Katze starrte mich an.

2

William

»Das ist nicht der Grund, weshalb wir hier sind.«

Das gellende Wiehern seines Pferdes, gefolgt von wildem Hufschlag hinter ihm, ließ ihn herumfahren. Er sah gerade noch, wie der Rappe ins Unterholz davonpreschte. Vorbei an … »Bartholomew …« Mit einem Knurren holte er Atem. Malcom, Sanderson, Simmons und Osborne waren ebenfalls auf die Lichtung getreten. »Was habt Ihr …« Er schaffte es nicht, sich ganz zu Wittmore umzudrehen. Sah die Bewegung des anderen nur aus dem Augenwinkel. Ebenso wie den Dolch. Schmal. Elegant. Die Waffe einer Frau. Sarahs. Die Klinge schlitzte ihm die Kehle auf. Die Klinge, die er ihr geschenkt hatte. Sein Schrei, halb Wut, halb Schmerz, wurde zu einem Gurgeln.

Er brach in die Knie.

Presste die Hände gegen die Kehle.

Würgte an seinem eigenen Blut.

Rang nach Atem.

Das Brennen in seinen Handflächen erwachte und erstarb sofort wieder. Bluthexerei!

»Tatsächlich sind wir hier, um Euch und Eure Anschuldigungen zum Schweigen zu bringen, Castairs.« Tadelndes Schnalzen. »Niemand kommt uns in die Quere. Auch Ihr nicht.« Wittmore hatte sich über ihn gebeugt. Zog seinen Kopf an den Haaren in den Nacken. Der Himmel war trüb. Wurde dunkel. »Ihr hättet niemals mit meinem Vater reden dürfen. Er war ein törichter alter Narr. Genauso ein Narr wie Ihr, William.« Ein leises Lachen. »Und er war genauso schockiert wie Ihr, dass auch ich mehr will. Mehr will als das, was dieser erbärmliche Coven mit seinen armseligen Gesetzen mir zugesteht.« Er ließ ihn los. Haltlos stürzte William vornüber. Gemurmel um ihn herum. Über ihm. Wittmores Knie erschien vor seinem Gesicht. Drückte das Gras nieder. Wieder beugte er sich über ihn. Der Dolch in seiner Hand war blutig. William hustete. Rang nach Atem. Spürte, wie sein Herz immer mühsamer schlug. Wittmore lachte leise. »Was wird wohl aus Eurer Dirne werden, nachdem ich sie dabei beobachtet habe, wie sie Euch die Kehle durchgeschnitten hat. Und ihren Dolch als Beweis vorzeigen kann. Besudelt mit Eurem Blut …« Wieder ein leises Lachen. »Lebt wohl, Castairs. Wir sehen uns in der Hölle wieder.« Damit stand Wittmore auf. Seine Schritte entfernten sich. Ebenso wie die der anderen.

William brachte keinen Laut heraus. Selbst sein Husten und Würgen endete. Irgendwann. So wie seine röchelnden Atemzüge. Und sein Herzschlag.

Nur sein Blut tränkte noch Minuten lang weiter den Boden. Auch als Elija Malcom, Walter Bartholomew, Noah Osborne, Fletcher Simmons, Jacob Sanderson und Thomas Wittmore längst fort waren.

3

Die Katze starrte mich an. Unverwandt. Reglos. Nur ihre Schwanzspitze zuckte. In der Luft hing der Geruch nach Minze.

»Verschwinde.« Ich rollte mich auf die andere Seite.

Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, schlief die Katze zusammengerollt auf ihrem Platz unter dem Fenster.

Mit einem Stöhnen ließ ich mich auf den Rücken fallen. Verfluchter Jetlag. Dabei hatte ich auf dem Flug von Paris weitestgehend geschlafen. Aber vielleicht war genau das der Fehler gewesen.

Ich erinnerte mich vage an die Fahrt vom Logan Airport hierher. Durch die Wälder Neuenglands. In den leuchtendsten Farben des Indian Summer. Mit einem Chauffeur, der die Zähne zu kaum mehr auseinanderbekommen hatte, als »Willkommen, Miss Castairs«, »Hier entlang, Miss Castairs«, »Ich nehme Ihr Gepäck, Miss Castairs« – das nur aus zwei Reisetaschen bestand – und »Bitte, steigen Sie ein, Miss Castairs«. Jeder weitere Versuch, mich mit ihm zu unterhalten, war an seinem höflichen »Ja, Miss Castairs« und »Nein, Miss Castairs« gescheitert.

Mit beiden Händen fuhr ich mir übers Gesicht und setzte mich auf. Die Katze blinzelte mich an, streckte sich gähnend, wandte mir den dreifarbig gefleckten Rücken zu und schlief weiter. Hatte ich ihr nicht vorhin gesagt, sie sollte sich verziehen? Ich glaubte, mich dunkel daran zu erinnern. Anscheinend hatte sie das nicht besonders interessiert. Typisch Katze.

Ein bisschen umständlich grub ich die Beine unter der Plüschdecke hervor und schob mich zum Bettrand. Ein Kissen rutschte zu Boden, landete nahezu lautlos in dem dicken, rostfarbenen Teppich. Der ganze Raum war in Ocker- und Orangetönen gehalten. Nur die Möbel waren aus einem hellen Holz, das aussah wie Ahorn. Die bodentiefen Fenster gegenüber dem Bett führten anscheinend auf einen Balkon hinaus. Die Sonne stand schon ziemlich tief. Was bedeutete, dass ich den halben Tag verschlafen hatte. Verflucht!

Da war ich also nun. Zurück in Amerika. Nachdem sie mich über den halben europäischen Kontinent durchgereicht hatten. Von einem der Großen und Mächtigen zum nächsten. Damit ich endlich mein Erbe annahm und mich von ihnen in seinem Gebrauch ausbilden ließ. Genau so, wie sie es wollten. Ein Erbe, das mich nach und nach meine gesamte Familie gekostet hatte. Und mein Zuhause. Und mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Etwas, das sie zutiefst schockierte. Eine der Castairs. Eine aus einer der ältesten und mächtigsten Familien überhaupt. Und sie kehrte tatsächlich allem, was ihnen wichtig und heilig war, den Rücken. Weigerte sich, sich in den Künsten der Hexerei unterweisen zu lassen. Unfassbar.

Und unmöglich hinzunehmen.

Sollten sie verflucht sein!

Und inzwischen lief ihnen die Zeit davon. Sobald ich volljährig war, konnten sie sich ihre Weiterreicherei abschminken. Dann konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Und auch über das Geld meiner Familie verfügen. Nicht, dass ich nicht jetzt schon meine Quellen gehabt hätte. Granny hatte die feinen Herren und Damen mit ihren Ambitionen und Intrigen zur Genüge gekannt. Immerhin war sie lange Zeit eine von ihnen gewesen. Entsprechend hatte sie Vorkehrungen getroffen. Aber das mussten sie nicht wissen.

Nicht mehr lange und ich war frei. In der Nacht von All Hallows’ Eve, um genau zu sein. Beziehungsweise drei Tage danach, wovon sie laut meiner Geburtsurkunde ausgehen mussten. Dann war ich sie endgültig los. Und genau deshalb war mein Gastgeber – und Vormund auf Zeit – dieses Mal auch einer der Richter. Ein deutliches Indiz dafür, wie verzweifelt sie waren. Dass er eine Tochter in meinem Alter hatte, war vermutlich auch nur purer Zufall. Ich schwang die Beine über den Bettrand und stand auf. Der Teppich war wunderbar weich. Mein Rücken knackte, als ich mich streckte. Okay. Heiße Dusche – »Ihr Zimmer verfügt über ein eigenes Bad, Miss Castairs.« –, dann die Küche und etwas zu essen finden – »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Miss Castairs. Was auch immer Sie brauchen, bedienen Sie sich. Nur keine Scheu.« – und dann das wohlerzogene Mädchen geben und seine Ehren begrüßen.

Das Badezimmer war ein Traum, mit seiner freistehenden Wanne und einer riesigen Dusche. Dazu eine Fensterfront, die über den scheinbar endlosen Wald hinter dem Haus blickte. Und durch die man nachts beim Baden die Sterne beobachten konnte.

4

Ann

»Ich kann das nicht, Papa.« Ann hasste sich selbst für den hilflosen, fast … verzweifelten … Ton in ihrer Stimme.

»Was soll das heißen: ›Ich kann das nicht‹?« Unwillig sah ihr Vater von seinem Arbeitstisch auf. »Wenn du es nicht kannst, wirst du es lernen. Obwohl ich es dir inzwischen ja bei Gott oft genug erklärt habe.«

»Das ist es nicht …« Wie immer machte er keinen Hehl daraus, dass er sie für eine Versagerin hielt. Und wie immer tat es unendlich weh.

»Was ist es dann?« Allmählich wurde sein Ton immer ärgerlicher. Unwillkürlich machte Ann einen Schritt von ihm weg. Er hatte sie noch nie geschlagen. Aber seit einigen Monaten war sie sich nicht mehr sicher, ob er das tatsächlich auch in Zukunft nicht tun würde.

»Es ist nicht recht …«

»Was recht ist und was nicht, entscheide immer noch ich.« Ärgerlich traf es immer weniger. Da war eine seltsame Wut …

Ann presste die Handflächen zusammen. »Ich finde es nur einfach nicht richtig, Cassandra mit Magie an unseren Coven binden zu wollen. Oder sie dazu zu bringen, zu lernen, was es heißt, eine Hexe zu sein, wenn sie es gar nicht …«

Sein Schnauben schnitt ihr das Wort ab. »Du findest es nicht richtig? Du?« Er lachte höhnisch. »Ich will dir mal etwas sagen, junge Dame: Wenn du nicht so eine Enttäuschung wärst, müsste ich nicht zu solchen Mitteln greifen. Deine Mutter – Gott hab sie selig – war eine mächtige und geachtete Hexe. Ich bin einer der Richter dieses Covens. Das wird man auch nicht, weil man ein Versager ist. Und du? Du bist eine Schande für unsere Familie.« Ein abfälliges Kopfschütteln. »Und dann willst du mir erzählen, dass du etwas ›nicht richtig‹ findest? – Ich glaube, du überschätzt dich gerade ganz massiv, mein Fräulein.« Er schnaubte. »Ich will die Macht der Castairs zurück in unserem Coven.« Für eine Sekunde zuckte es hart an seinem Kiefer. »Ich habe schon genug dafür bezahlt. Die letzte Castairs gehört mir.« Er sah sie wieder an. Ein kleines, barsches Rucken mit dem Kopf. »Und jetzt komm her, damit ich dir den Zauber noch einmal erkläre. Es darf dir kein Fehler unterlaufen …«

»Wenn es so wichtig ist, warum kannst du dann nicht selbst …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.

Der Blick ihres Vaters wurde mörderisch. Seine Stimme klang gepresst vor Zorn. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, junge Dame. Wenn ich sage, du tust etwas, dann tust du es. Ohne Widerrede. Und ohne Fragen. – Und jetzt komm endlich her. Ich habe nicht ewig Zeit, mich mit dir zu beschäftigen.«

»Ja, Papa.« Die Hände noch immer ineinandergeschlungen trat sie neben ihn. Die Augen starr auf die Tiegel auf der Arbeitsfläche und den Folianten daneben gerichtet. Darum bemüht, ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie mit den Tränen kämpfte.

5

Die heiße Dusche und frische Sachen vertrieben den letzten Rest von Jetlag. Zumindest für den Moment. Und erinnerten mich daran, dass das Frühstück im Flugzeug heute meine letzte Mahlzeit gewesen war. Wobei man bei einem Erste-Klasse-Flug nicht mäkeln konnte. Aber wenn ich keine Lust darauf hatte, dass mein Magen demnächst anfing zu knurren, hieß mein nächstes Ziel wohl »Küche und Kühlschrank«.

Irgendwer hatte mein Gepäck neben der Tür abgestellt, während ich geschlafen hatte. Etwas, das mir so gar nicht behagte. Vor allem, weil ich rein gar nichts davon mitbekommen hatte.

Da mein Zimmer anscheinend am Ende des Korridors lag, gab es nur eine Richtung. Ich schaffte es bis zum Ende der Treppe aus dunklem Holz, die ins Erdgeschoss führte und in einer ebenso dunklen Eingangshalle endete, als aus dem hinteren Teil des Hauses plötzlich Stimmen erklangen und nur ein paar Sekunden später ein Pärchen aus einem Durchgang neben den letzten Stufen auftauchte. Als sie mich bemerkte, blieb sie so abrupt stehen, dass er um ein Haar in sie hineingelaufen wäre. So zierlich, wie sie gebaut war, hätte er sie damit wahrscheinlich glatt von den Füßen geholt. Allerdings brauchte sie nicht lange, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Ihr Lächeln hatte etwas absolut Ansteckendes.

»Du musst Cassandra sein. – Ich bin Sarah-Ann.« Sie verzog den Mund. »Aber Ann reicht vollkommen. Sarah klingt so …« Ihre Geste verriet, was sie von ihrem Namen hielt. »… sagen wir: nicht gerade cool.« Sie kam auf mich zu, deutete hinter sich. »Das ist Luke.« Ich wurde mit einem lässigen Salut bedacht. Er war offensichtlich einer von den gut aussehenden, coolen Typen, nach denen sich alles, was weiblich war, umdrehte.

Ich verkniff es mir im allerletzten Moment, Darth Vaders »Nein, ich bin dein Vater« zu zitieren.

Anns Händedruck war erstaunlich fest. Ihre Hände selbst waren allerdings eiskalt.

Das also musste die Tochter des Richters sein. Und er? Ihr Freund? Unwahrscheinlich, dass sie Single war. Nicht bei diesem Aussehen. »Cass.« Weder Mom noch Granny hatten mir je verraten, wer auf die grandiose Idee gekommen war, mich nach dieser griechischen Seherin zu nennen. Und Dad hatte sowieso geschwiegen wie ein Grab. Ich schob möglichst unauffällig die Hände in die Taschen meiner Jeans, sah mich demonstrativ um. »Beeindruckend.« Mehr fiel mir zu der dunklen Täfelung, der ebensolchen Treppe, den schweren Teppichen und den Tischchen mit den Blumenvasen unter den Gemälden nicht ein. Zumindest nicht, ohne ihr zu nahe zu treten, wenn sie diesen Stil mochte.

Das Lächeln wurde zu einem Lachen. »Manche bezeichnen es als ›erdrückend‹ … wenn sie nett sind.« Sie warf einen kurzen Blick hinter sich. »Nicht wahr?«

Sein Schulterzucken hatte fast etwas Spöttisches. »Ich bin immer nett.« Vollkommen selbstverständlich legte sein Arm sich von hinten um ihre Taille. Aha. Freund.

Sie schnaubte, dann lehnte sie sich gegen ihn. »Wir hatten damit gerechnet, dass du früher aufwachst. Mein Vater ist in seinem Arbeitszimmer.« Mit einer kleinen Bewegung nickte sie zu einer Tür hinter mir. »Er hat gesagt, er empfängt dich, sobald du herunterkommst.«

Empfängt. Oha. »Dann sollte ich ihn wohl nicht länger warten lassen.« Mein Magen musste sich also wohl oder übel noch etwas gedulden.

Das Arbeitszimmer des Richters unterschied sich nicht sonderlich von denen meiner vorherigen Gastgeber. Deckenhohe Bücherregale entlang der Wände, Vitrinen mit irgendwelchen alten Folianten oder Kunstgegenständen mitten im Raum, schwere Teppiche auf dem wie poliert glänzenden Boden und ein ausladender Schreibtisch.

Richter Ambrose Wittmore war an den Schläfen schon grau. Aber ansonsten verriet nichts sein Alter. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich ihn auf Anfang fünfzig geschätzt. Nur war ich in so etwas nicht besonders gut.

Er hatte auf mein Klopfen mit einem deutlichen »Herein« geantwortet. Jetzt erhob er sich hinter seinem Schreibtisch, während ich die Tür hinter mir schloss.

»Cassandra, willkommen in meinem Haus. Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Flug.« Er deutete auf einen der Sessel vor seinem Schreibtisch. »Setz dich.«

Erfahrungsgemäß hatte ich diese Begrüßungsansprachen schneller hinter mir, wenn ich das brave Kind spielte und mich genauso benahm, wie sie es erwarteten. Wie ich wirklich war, würden sie früh genug feststellen. Also setzte ich mich.

»Danke. Wie ein Erster-Klasse-Flug so ist. Und danke, dass Sie mich haben abholen lassen. Ich hätte mir aber auch ein Taxi nehmen können.« Wäre vielleicht unterhaltsamer gewesen.

»Unsinn. Dir einen Chauffeur zu schicken, war ja wohl das Mindeste.« Er winkte ab. »Hast du deinen Aufenthalt in Paris genossen?«

Ich hob gelangweilt die Schultern. Hoffentlich war dieser Small Talk bald vorbei. »Paris ist eine tolle Stadt …«

»… die dich leider auch nicht dazu verleiten konnte, deine Studien aufzunehmen. –«

Halleluja. Er kam zur Sache.

Der Richter verschränkte die Hände auf der Tischplatte, musterte mich. »Was wir alle sehr bedauern. – Natürlich ebenso sehr, wie den Verlust deiner Mutter und deiner Großmutter. Agatha war eine … beeindruckende Frau.«

Vor der jeder Einzelne von euch den Schwanz eingezogen hat. Und die euch zum Teufel gejagt hat, als ihr Mom vorschreiben wolltet, wen sie heiraten soll. Anscheinend bedeutete bei seinen Ehren »zur Sache kommen« nicht auch zwingend zum Punkt zu kommen. – Leider.

»Entsprechend ist es mir eine Ehre, mich jetzt um ihre Enkeltochter kümmern zu dürfen.«

Ich rang mir ein höfliches Lächeln ab. Jedem einzelnen meiner bisherigen Gastgeber traute ich zu, die Finger bei dem Feuer, das Mom und Dad getötet hatte, im Spiel gehabt zu haben. Und dann bei Grannys Unfall keine zwei Wochen später.

»Umso mehr, da ich hoffe, dich davon überzeugen zu können, doch dein Erbe anzunehmen. Ein Talent wie das deine …«, er deutete ein Kopfschütteln an, »… es wäre eine unendliche Verschwendung, es nicht zu kultivieren.«

Ich unterdrückte das Schnauben im letzten Moment. Woher wollte er etwas über mein Talent wissen?

»Entsprechend kannst du natürlich mit jeder Unterstützung rechnen, die du für deine Studien brauchst.«

Das klang, als wäre es für ihn beschlossene Sache, dass ich endlich tun würde, was sie alle von mir erwarteten. Never ever.

»Und sollte es dir helfen, Luke zu benutzen …«

Wie bitte? Anscheinend sprach mein Gesichtsausdruck Bände. Der Richter lächelte.

»Offenbar ist es dir entgangen. Nun ja, man kann ja auch von jemandem ohne Ausbildung nicht erwarten, dass er solche Dinge erkennt: Luke ist ein Vertrauter.«

Dieses Mal holte ich scharf Luft. Die Katze. Dieser miese Bastard. Na warte.

»Natürlich soll er sich dauerhaft mit Sarah-Ann verbinden, wenn sie so weit ist.« War da gerade Missbilligung in seinem Ton? Ach? Hieß das, sein Töchterchen war nicht der Überflieger, den er gerne hätte, oder hatte er etwas gegen diesen Luke? »Aber ich denke, vorübergehend würde nichts dagegen sprechen …«

»Das wird nicht nötig sein.« Die Brauen seiner Ehren hoben sich. Anscheinend war er es nicht gewohnt, dass ihm jemand so einfach ins Wort fiel. »Ich will nichts mit der Hexerei zu tun haben. Meine Entscheidung steht fest. Und daran wird sich auch nichts ändern.«

Für den Bruchteil einer Sekunde war der Ärger in seinem Gesicht nicht zu übersehen. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Nun, wir werden sehen …«

Ich hob die Schultern. »Wie Sie …« Sein Handy beendete meinen Satz. Also hatte man hier zumindest Empfang. Wenigstens ein Lichtblick.

»Entschuldige.« Für mein Gefühl fast ein bisschen zu hastig griff er danach. »Wittmore? W-« Wer auch immer am anderen Ende war, ließ ihn anscheinend nicht ausreden. Und was auch immer er zu ihm sagte: Der Richter wurde schlagartig kalkweiß. »Das kann nicht … – Warum sollte er das … – Ja, ich weiß, dass man das auch bei Walter … – Ja, natürlich ist mir bewusst … – Ist die Polizei schon … – Verdammt. – Ja, selbstverständlich komme ich. Sorg dafür, dass sie nicht zu viel herumschnüffeln, bis ich da bin. Nach der Sache mit Walter will ich nicht noch mehr Aufmerksamkeit.« Er stand so heftig auf, dass er gegen seinen Schreibtisch stieß. »Es ist mir egal, wie du das machst. Tu es!«

Polizei? Na, da sieh mal einer an. Da war wohl doch nicht alles so wunderbar in der heilen Welt seiner Ehren. Nur passte es dem Richter offenbar gar nicht, dass irgendetwas davon nach außen drang.

Und es war wichtig genug, dass er sich selbst darum kümmerte.

Ich stand auf, während er schon um den Schreibtisch herum kam. Mit einer Handbewegung wies er zur Tür, legte mir zugleich die andere auf den Rücken und schob mich regelrecht durch den Raum und aus ihm hinaus.

»Ich fürchte, wir müssen unsere Unterhaltung hier fürs Erste beenden.« Er machte eine kleine, bedauernde Geste. »Ein unschöner Zwischenfall bei einem Freund.« Sein Schulterzucken sollte wohl gleichgültig sein. »Nichts von Bedeutung.« Ja, klar. »Sieh dich in aller Ruhe um und fühl dich wie zu Hause. Wir sehen uns beim Abendessen.« Damit ließ er mich tatsächlich stehen und schloss die Tür zu seinem Arbeitszimmer hinter mir.

Einen Moment sah ich das dunkle Holz an. Und konnte ein dünnes Lächeln nicht unterdrücken. Da hatte es jemand aber verdammt eilig. Ich drehte mich um, als ein leises, fast spöttisches Klatschen hinter mir erklang.

»Also, so schnell hab selbst ich es nicht geschafft, aus dem Arbeitszimmer des Richters zu fliegen.«

Luke. Genau der Typ, mit dem ich ein paar Takte zu reden hatte. Er lehnte nachlässig an der Wand, verschränkte gerade die Arme vor der Brust.

»Was hast du angestellt?«

»Was machst du hier?« Scheinbar ebenso nachlässig ging ich auf ihn zu.

»Ich soll dir das Haus zeigen. – Also?«

»Wo ist Ann?«

Er verzog das Gesicht. »Bei ihren Studien.«

»Und du wirst dabei nicht gebraucht?« Direkt vor ihm blieb ich stehen. Er war nur etwas über einen halben Kopf größer als ich. Seine Augen schimmerten in einer Mischung aus Blau und Grün. Augen, in denen man sich verlieren konnte.

»Nope.« Er nahm die Hände herunter. Fast sah es so aus, als wollte er sie in die Hosentaschen schieben. Er ließ es. »Also?«

»Die Macht ist also stark bei diesem hier.« Na ja, nicht ganz Yoda, aber nahe dran. Seine einzige Reaktion war ein kurzes Zucken um seine Lippen. Das ich nicht deuten konnte. Auch gut. »Klartext: Du bist also ein Vertrauter?«

In einer winzigen Bewegung neigte er den Kopf. »Beantwortest du Fragen immer mit Gegenfragen?«

Ich setzte ihm zwei Finger auf die Brust. Genau unters Brustbein. Dahin, wo man nicht viel Kraft brauchte, dass es wehtat. Er hob eine Braue. Sagte aber nichts. »Ich mag Tiere. Ich habe auch kein Problem mit Katzen.«

»Ach …«

»Ja, ach.« Ich verstärkte den Druck meiner Finger ein klein wenig. Sein Blick ging zu seiner Brust, kehrte zu meinem Gesicht zurück. Seine Braue rutschte ein Stückchen weiter in die Höhe. »Was ich nicht mag, sind Spanner.«

Das Grinsen war schlagartig da. »Du redest im Schlaf, wusstest du das?«

Ich hob meinerseits eine Braue. »Sollte ich das nächste Mal, wenn eine Katze oder irgendein anderes Tier in meiner Nähe ist, auch nur den Hauch von einem Verdacht haben, dass du mit dabei bist, kannst du dich schon mal von deinen zukünftigen Söhnen und Töchtern verabschieden.«

»Sagte das Mädchen, das nichts mit der Hexerei zu tun haben will.« Er stieß ein Schnauben aus.

Ich legte den Kopf zur Seite. »Um dich zu kastrieren, brauche ich keine Hexerei. Da reicht ein schönes, scharfes Küchenmesser. – Aber vielleicht nehm ich auch eine Schere. Möglichst stumpf. Und rostig.«

Sein Lächeln hatte plötzlich etwas Gezwungenes. Ich erwiderte es zuckersüß. Und ließ es verblassen, während ich einfach nur die Hand sinken ließ und einen Schritt zurücktrat. Wir Castairs hatten den Ruf, zu meinen, was wir sagten. Und es auch wahr zu machen. Ich schob die Hände in die Hosentaschen. »Ich denke, ich sehe mir das Haus alleine an.«

6

Etwas, das man immer und überall tun konnte, war Laufen. Egal, ob in Paris, Berlin, London oder New York. Es gab immer irgendwo einen großen Park oder ein Waldstück, das ausreichend Platz bot. Und das Beste daran: Man war allein! Die wenigsten der erlauchten Hexengesellschaft trabten woanders als im Fitnessstudio oder ihren privaten Gyms. Und selbst wenn sich einer dazu durchrang, mich zu begleiten – oder mir einen Bodyguard mitschickte, wie mein letzter Gastgeber – spätestens, wenn ich von den sauber geharkten Wegen abbog und querfeldein lief, war ich sie los. Und damit war die Sache erledigt. Okay. Der Bodyguard war etwas hartnäckiger gewesen. Bis ich ihn ein paar Mal im Nirgendwo einfach »verloren« hatte. Ups.

Hier war es genauso. Ann war keine besonders begeisterte Sportlerin. Vielleicht ließen ihr auch ihre »Studien« keine Zeit dazu. Luke beschränkte sich auf anzügliches Grinsen und gelegentliche Bemerkungen, konzentrierte seine Aufmerksamkeit allerdings weitestgehend auf Ann. Außerdem hatte meine Ansage wohl gewirkt. Die Katze war mir zwar häufiger im Haus begegnet. Allerdings ohne ihn!

Und anscheinend war der Richter der Auffassung, dass ich nicht so dämlich wäre, mich hier draußen zu weit von seinem Anwesen zu entfernen. Nun ja, »weit« war relativ.

Ich stoppte bei einem umgestürzten Baumstamm, stellte den Fuß darauf, verschränkte die Hände auf dem Knie und lehnte mich vor, das andere Bein gestreckt. Wenn ich ehrlich war, war ich heute mehr außer Atem als gestern. Und ich hatte heute Morgen irgendwann jedes Zeitgefühl verloren. Ich richtete mich auf, sah mich um. Seit wann war es so still? Oder fiel es mir erst jetzt auf, weil ich es bisher über dem Geräusch meiner Schritte und meines Atems nicht wahrgenommen hatte? Ich nahm den Fuß vom Baumstamm, rieb die Handflächen mehr aus Reflex gegeneinander. Sofort war das vertraute Prickeln da. Mit einem leisen Fluch ließ ich die Hände wieder sinken. Drehte mich langsam um mich selbst. Ein Windstoß fuhr durch die Zweige. Die Blätter bewegten sich träge. Wie in Zeitlupe. Verursachten keinen Laut. Fast wirkten sie grau. Keine Spur mehr vom Gold und Kupfer des Indian Summer.

Ein Blatt segelte zu Boden. Nein, sank zu Boden. Als würde es durch Wasser gleiten. Landete auf den Falten eines bodenlangen Rockes. Der untere Teil dunkel von Feuchtigkeit und Erde. Eingerissen. Was …? Mein Blick zuckte hoch. Über den hellen Stoff, ein geschnürtes Mieder. Spitze am Ausschnitt. Auf der einen Seite heruntergerissen. Genau wie der Ärmel. Ein schmales, blasses Gesicht. Dunkelblondes Haar. Die Frisur zerzaust und aufgelöst … Für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns in die Augen. Ihre waren grün. Tief. Dunkel. Weit aufgerissen. Ihr Blick zuckte zur Seite, eine Bewegung, als wollte sie sich zur Seite werfen, vor irgendetwas fliehen … da war nur noch Unterholz vor einem weiteren umgestürzten Baum. Irgendwo hoch über mir schrie ein Adler. Blätter fegten raschelnd über den Boden, wirbelten in einem wilden Tanz durcheinander.

Ich tat einen tiefen Atemzug. Noch einen. Löste meine Hände voneinander. Meine Handflächen schienen in Flammen zu stehen, so fest musste ich sie zusammengepresst haben. ›Die Toten tun dir nichts, Cassandra‹, hatte Granny immer gesagt. ›du musst nur die Lebenden im Auge behalten. Und jene, die zurückkommen.‹ Sofern ich also keine Halluzinationen hatte … oder Ann und Luke mir einen Streich spielten … oder der Richter der Meinung war, mich erschrecken zu müssen, um mich dazu zu bringen, mich mit meiner Gabe zu befassen … gab es hier einen Geist?

Vorsichtig stieg ich über den Baumstamm hinweg. Ging zu der Stelle hinüber. Das Laub auf dem Boden war nass. Lag locker übereinander. Ich kauerte mich hin. Da war nichts zu sehen. Nicht der geringste Abdruck. Oder irgendein anderer Hinweis, dass hier jemand gestanden hatte.

Abermals sah ich mich um, während ich mich aufrichtete. Durch die Spitzen der Bäume fiel Sonnenschein. Die Blätter leuchteten wieder in ihren normalen Farben. Das leise Rascheln und Wispern des Waldes lagen in der Luft. Und noch etwas anderes … Stimmen. Als würde jemand eine … Rede halten? Aus der Richtung, in die ich eben noch gelaufen war. Noch einmal ließ ich den Blick über die Bäume wandern, versuchte mir ihr Aussehen, irgendwelche Besonderheiten einzuprägen, damit ich die Stelle wiederfand. Dann kletterte ich zurück über den Baumstamm und ging in Richtung der Stimmen. Weiter den Trampelpfad entlang, dem ich bisher gefolgt war. Langsamer diesmal.

Nach und nach wurden die Stimmen lauter, wehte der Wind immer wieder Wortfetzen zu mir herüber, ohne dass ich sie verstanden hätte. Ich blieb abrupt stehen, als der Trampelpfad zwischen den Bäumen endete. Direkt am Rand eines Friedhofs. Auf dem sich eine ziemlich große Trauergemeinde an einem offenen Grab versammelt hatte. Selbst auf die Entfernung erkannte ich den Richter, direkt neben ihm Ann und hinter ihr Luke. Eben setzte sich einer nach dem anderen in Bewegung, um dem Toten noch einmal seinen Respekt zu zollen und der tief verschleierten Witwe die Hand zu schütteln oder sie in den Arm zu nehmen. Alle. Außer Luke. Er war ein gutes Stück zurückgetreten und wartete in der nächsten Grabsteinreihe, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Kaum verhohlen gelangweilt wanderte sein Blick über die Anwesenden. Als er unvermittelt auch in meine Richtung ging, machte ich einen Schritt tiefer zwischen die Bäume. Warum, wusste ich selbst nicht.

Es war schneller vorbei, als ich dachte. In der Ferne hörte man immer wieder Autotüren und Motoren. Schließlich ging auch die Witwe. Stille machte sich breit. Aber irgendwie fehlte ihr dieses Friedliche, das ich von anderen Friedhöfen kannte.

Ich löste mich aus den Schatten der Bäume und ging zwischen den Grabsteinen hindurch. Je weiter ich mich vom Waldrand entfernte, umso neuer wurden die Gräber. Anscheinend lagen die Familienmitglieder beieinander. Keine Mausoleen, wie man es eigentlich erwartet hätte. Nur Grabsteine. Auf denen auch nicht mehr stand als der Name und die Daten des Toten. Im besten Falle noch ein ›Gattin des‹, ›Gatte der‹ oder ›Sohn, Tochter von‹ …

Granny hatte mir von diesem Friedhof erzählt. Die Mitglieder der alten Familien legten sehr viel Wert darauf, hier begraben zu werden. Die Castairs hatten irgendwann mit dieser Tradition gebrochen. Sehr früh sogar, wenn man dem Datum auf dem jüngsten Grabstein meiner Familie hier glaubte. Und sowohl Mom als auch Granny hatten bereits zu Lebzeiten ebenfalls ausdrücklich auf dieses ›Privileg‹ ›verzichtet‹.

Es war unmöglich, die drei frischen Gräber zu übersehen. Ich ging an den Reihen entlang.

Arthur Bartholomew.

Thomas Malcom.

Walter Sanderson.

Alle innerhalb der letzten zwei Wochen gestorben. Und nun auch noch Brent Simmons vor drei Tagen. Kein Wunder, dass die Polizei ermittelte. Beziehungsweise der Richter keinen gesteigerten Wert auf ihre Ermittlungen legte. Vermutlich konnte er froh sein, dass noch niemand das Wort »Serienkiller« oder »Psychopath« in den Mund genommen und damit das FBI auf den Plan gerufen hatte. Garantiert hatte auch irgendjemand an diversen Strippen gezogen oder andere Möglichkeiten genutzt, damit Simmons so schnell begraben worden war. Warum wohl? Gab es etwas, das die erlauchten Herrschaften zu verbergen hatten? Würde mich sehr wundern, wenn es nicht so war.

Bartholomew und Sanderson waren damals mit dem Richter zusammen bei uns aufgeschlagen, um mit Mom und Granny potentielle »Verbindungen« für mich zu besprechen. Die gemeinsame Macht von zwei angepissten – um es nett auszudrücken – Castairs-Frauen war im ganzen Haus spürbar gewesen. Und hatte die drei mit ziemlicher Sicherheit auch bis an die Grenzen unseres Zuhauses begleitet. Ebenso wie die deutliche Ansage, sich nie wieder bei uns blicken zu lassen. Dass sie es trotzdem noch mehrmals – wenn auch auf anderem Wege – versucht hatten, hatte Granny fuchsteufelswild gemacht. Was sie auch an keiner Stelle verborgen hatte. – Nur ein paar Wochen, nachdem Mom und Granny sie endgültig zum Teufel gejagt hatten, waren Mom und Dad von dem Feuer überrascht worden. Ein Feuer, dessen Ursache nie geklärt worden war. Und dann hatte Granny ihren »Unfall« gehabt …

»Kann ich Ihnen helfen, Miss?« An Simmons Grab packten zwei Totengräber gerade ihre Schaufeln aus. Ein dritter kam auf mich zu. Von der anderen Seite des Friedhofs rumpelte ein Bagger den Weg entlang, den sie während der Zeremonie wohl außer Sicht geparkt hatten. Ich zwang mich, die Fäuste wieder zu öffnen. Das Brennen in meinen Handflächen zurückzudrängen. »Haben Sie sich verlaufen, Miss?« Am Nachbargrab blieb er stehen und stützte sich auf seine Schaufel. »Oder kannten Sie einen von den Herren?« Seinem Tonfall nach zu urteilen, wäre das wohl nicht wirklich etwas Gutes.

»Ich bin hier nur zu Besuch.« Bei der Wahrheit bleiben, ohne zu viel zu erzählen, war immer das Beste. »Die sind aber ziemlich schnell hintereinander gestorben.« Und sollten meinetwegen in der Hölle verrotten.

»Und nicht freiwillig, wenn Sie mich fragen, Miss.« Er nickte zu Bartholomews Grab hin. »Der hat seinen Wagen frontal gegen einen Baum gesetzt. Aber so richtig volle Kanne.«

Ach? »Könnte auch ein Unfall gewesen sein.«

Mein Einwand wurde mit einem deutlich verächtlichen Schnauben beiseite gewischt. »Auf einer schnurgeraden Strecke? Am helllichten Tag? Nee, Miss. Und besoffen war er auch nicht.«

Okay.

»Der …«, diesmal ging das Nicken Richtung Sanderson, »… hat den falschen Ausgang genommen. Ist durchs Fenster im zweiten Stock. Und untendrunter war so ein alter Eisenzaun mit Spitzen. Schaschlik, sag ich da nur.«

Mahlzeit.

»Und der da …«, seine Hand wedelte zu Simmons offenem Grab. Er ignorierte den schrillen Pfiff seines Kollegen, »… hat sich das Genick in seinem Pool gebrochen.« Er verschränkte die Finger über dem Ende des Schaufelstiels. »Ich kenn den Leichenbeschauer. Quincy. Der sagt, er hatte ein Riesenloch am Hinterkopf. So an der Seite. Hat sich eindeutig den Schädel am Beckenrand aufgeschlagen.« Bedeutungsvoll hob er die Brauen. »Und jetzt verraten Sie mir mal, Miss, wie man das schafft, sich seitwärts den Schädel am Poolrand einzuschlagen?« Er beantwortete seine Frage selbst. »Schwierig, oder? Es sei denn, jemand hat nachgeholfen. – Jaja, ich komm ja gleich. Seht ihr nicht, dass ich mich mit der hübschen, jungen Lady hier unterhalte?« Seine Handbewegung galt den anderen Totengräbern, ohne dass er es für nötig gehalten hätte, sich umzudrehen. »Der alte Malcom … sie sagen, es wäre ein Schlaganfall gewesen. Aber der war noch topfit. Und ein richtiger Gesundheitsfanatiker. Hat immer nur frisches Gemüse und so’n Zeug eingekauft. War deshalb regelmäßig bei meiner May auf dem Bauernmarkt. Da trifft einen doch nicht so einfach der Schlag – wenn Sie wissen, was ich meine, Miss. Hat außerdem jeden Tag seine Runden hier im Wald gedreht. Da haben sie ihn auch gefunden. Ein Stück weiter da hinten.« Er wedelte in die Richtung, aus der ich gekommen war. »Na ja, Sie …« Wieder ein Pfiff. Dieses Mal gefolgt von einem Hupen des Baggers. »Ja, ja. Schon gut.« Er tippte sich mit zwei Fingern an eine nicht vorhandene Hutkrempe. »Sie hören es, Miss. Mein Typ wird verlangt. Die Jungs kriegen scheinbar nichts geregelt ohne mich.« Den Kopf zur Seite gelegt, sah er mich eindringlich an. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Am besten halten Sie sich von diesen Leuten fern. Alle, wie sie hier liegen. Die bringen nichts Gutes. – Schönen Tag noch, Miss.«

»Danke. – Und danke für den Tipp.«

Schon auf dem Weg zu seinen Kollegen winkte er mir über die Schulter zu.

Der Regen war schneller gewesen als ich. Zwar nicht viel, aber trotzdem genug, dass ich nass wurde. Die schweren, dunklen Wolken waren erstaunlich rasch aufgezogen. Eigentlich kaum, dass ich den Friedhof verlassen hatte. Und wenn es eine Abkürzung zum Anwesen der Wittmores gab, kannte ich sie natürlich noch nicht. Zu allem Überfluss waren die Tropfen so eisig und hart gewesen, dass sie sich schwer ignorieren ließen. Entsprechend sehnte ich mich nach etwas Heißem zu trinken, als ich die vordere Küche des Hauses betrat und meine Schuhe neben der Tür abstreifte. Ich konnte kaum schnell genug reagieren, als etwas Dunkles auf mich zuflog. Erst in der allerletzten Sekunde schaffte ich es, das Handtuch aufzufangen, ehe es zu Boden fallen konnte.

»Gute Reflexe.« Luke lehnte an der Küchenzeile, die Hände in den Hosentaschen. »Kaffee ist gleich fertig.«

Wenn ich ehrlich war, war ich genau diesem Duft gefolgt. »Woher wusstest du, dass ich komme?«

Mit einem kurzen, halben Lächeln hob er abwehrend die Hände. »Ich habe die Hintertür gehört. Und da alle im Haus sind, beziehungsweise seine Ehren niemals die Hintertür benutzen würde, konntest nur du es sein.« Er schob die Hände zurück in die Taschen. »Dass es regnet, ist auch nicht zu überhören.«

»Aha.« Ich drückte mir mit dem Handtuch das Wasser aus den Haaren, ehe ich es mir um die Schultern legte. Ein trockenes Shirt wäre auch nicht schlecht. »Und was verschafft mir das Vergnügen deiner Fürsorge?«

Die Kaffeemaschine gab ein letztes Blubbern und Spucken von sich. Luke nahm zwei Tassen aus dem Schrank. Goss sie voll. »Du trinkst ihn mit Zucker?«

Ich hob eine Braue.

»Pointers findet die Angewohnheiten von uns Zweibeinern sehr interessant.«

Pointers. Die dreifarbige Katzendame. Die offenbar eine Vorliebe für die Kissen unter meinem Fenster hatte. »Und du findest nichts dabei, von ihren Beobachtungen zu profitieren?«

»Nein.« Er sah zu dem gut bestückten Messerblock auf der Arbeitsplatte hin. Der keine Armlänge neben der Kaffeemaschine stand. Dann ging sein Blick zu mir. Wieder dieses Grinsen, das ich inzwischen nur zu gut kannte.

»Setz dich schon mal. Ich bring dir deinen Kaffee. – Zwei oder drei?«

»Was?« Ich ging hinüber zum Küchentisch und ließ mich auf einen der Stühle sinken.

»Löffel Zucker.«

»Hat Pointers dir das nicht verraten?«

»Sie hat’s nicht so mit Zahlen. – Also?«

»Vier.«

Zu meinem Erstaunen verkniff er sich jeden Kommentar, löffelte einfach nur die weißen Kristalle in eine der Tassen, trug sie zum Tisch und stellte meine vor mich. Erneut ging sein Blick zur Arbeitsplatte und dem Messerblock. Neben dem die Zuckerdose stand. Wieder dieses schnelle Grinsen. Eindeutig spöttisch diesmal. Es war noch immer da, als er die Zuckerdose neben meiner Tasse platzierte.

»Sicher ist sicher.« Er setzte sich mir gegenüber und legte die Hände um seine Tasse.

»Sicher wärst du, wenn du ein Glas Erdnussbutter und einen Löffel dazugestellt hättest.«

»Aber Mrs Black muss ich noch nicht zu dir sagen?«

»›De boze geest is slecht, en slecht ben ik niet‹.« Ich nippte an meinem Kaffee. Stark. Eigentlich, wie ich ihn mochte. Aber zu wenig Zucker. Ich gab einen weiteren Löffel dazu, rührte um, kostete wieder. Gut. »Also?«

»›Also‹ was?«

»Was mir die Ehre deiner Fürsorge verschafft?«

»Du warst auf dem Friedhof.« Er machte eine kleine Handbewegung. »Und ehe du irgendetwas sagst: Nicht nur ich hab dich gesehen.«

»Und das ist ein Problem, weil …«

»… gewisse Leute der Meinung sind, dass du etwas mit den Toten der letzten Zeit zu tun hast.«

Für eine Sekunde vergaß ich, dass ich einen Schluck Kaffee hatte nehmen wollen. Dann konnte ich das Schnauben nicht unterdrücken. »Ernsthaft?«

»Du findest das witzig?« Seine Braue hob sich.

»Was sonst?« Ich nippte an meinem Kaffee.

»Ich würde keinen gesteigerten Wert darauf legen, von ihnen des Mordes bezichtigt zu werden.«

»Nur hab ich dummerweise ein wasserdichtes Alibi. Sogar für mehr als einen Toten.« Ich stellte meine Tasse zurück auf den Tisch. »Ich war in Paris. Und das kann die ganze Familie Saint Germain bezeugen. Immerhin haben sie mich die letzten Tage kaum aus den Augen gelassen.«

»Warum wohl?«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Sein Schulterzucken war abfällig.

»Im Ernst?« Mein Lachen war es ebenso. »Schon vergessen: Ich will nichts mit dieser ganzen Hexerei zu tun haben. Ich bin fertig damit. Sie hat mich schon genug gekostet.«

Er hob eine Braue. Zum Teufel, warum erzähle ich ihm das?

»Anscheinend sind sie der Meinung, dass die Castairs-Macht selbst bis über den großen Teich reicht. Oder reichen würde. – Auch noch aus dem Grab heraus.«

Daher wehte also der Wind. Das ergab dann schon deutlich mehr Sinn. Es gab Flüche, die an eine Person gebunden werden konnten. Und dann interessierte es nicht mehr, ob die oder der, der sie gewirkt hatte, noch am Leben war oder nicht. »Sie denken, meine Großmutter hat sie verflucht?«

»Immerhin soll es gewisse … Unstimmigkeiten zwischen ihr und einigen Häuptern der großen Familien gegeben haben. Von denen jetzt vier tot sind. – Sagen zumindest die Gerüchte.«

»Aha.« Und da ich die Letzte der Familie Castairs war, war ich diejenige, die man zur Rechenschaft ziehen würde. Sippenhaft ließ grüßen. Und das tiefste Mittelalter gleich mit.

»Außerdem sind sie sehr … unzufrieden mit dir.« Er sah mich über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg an, ehe er selbst einen Schluck nahm.

»Lass mich raten: Weil ich mich selbst hier nicht davon überzeugen lasse, mich irgendwelchen ›Studien‹ zu widmen.«

In einem wortlosen Salut hob er seine Tasse.

»Und du sollst mich dazu bringen, es doch zu tun? Oder was ist der Zweck dieser Unterhaltung?«

Sein Schnalzen war abfällig. »Was du tust, geht mich nichts an. Im Gegenteil. Eine dilettantische Hexe zu begleiten, reicht mir.« Die Kaffeetasse in der Hand schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. »Nein. Das hier war reine Freundlichkeit meinerseits. Mach daraus, was du willst. – Außerdem wollte ich einen Kaffee.« Er ging zur Tür, blieb aber im Rahmen noch mal stehen und drehte sich zu mir um. »Ach ja. Nur so als kleine Vorabinformation: Ann hat ein paar Freundinnen zu einer Pyjamaparty eingeladen …«

»Freundinnen?« Ich hatte mich auf meinem Stuhl umgedreht. Es fiel mir nicht schwer, das Wort zynisch klingen zu lassen.

»Natürlich.«

»Natürlich. – Und alles Hexen, nehme ich an.«

»Natürlich. – Alles junge und …«, er verzog das Gesicht, »… äußerst begabte Hexen.«

»Aha.«

»Und du bist natürlich auch eingeladen.«

»Natürlich.« Ich nickte gewichtig.

»Allerdings will sie dir das selbst sagen. Nachher beim Essen, glaube ich.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich dachte, du wüsstest es vielleicht ganz gerne vorher. Dann kannst du dir überlegen, ob du dir vier gackernde Junghexen antust und sie fürs Erste ruhigstellst, oder ob du es dir allein gemütlich machst und den Richter vor den Kopf stößt. Wir sehen uns beim Abendessen. – Der Wetlook steht dir übrigens.«

Er ging, ehe ich die Kaffeetasse nach ihm werfen konnte. Einen Moment sah ich ihm nach. Dann wandte ich mich wieder meinem Kaffee zu. Warum erzählte er mir das alles? Was zum Teufel bezweckte er damit?

Ich beugte mich über den Tisch, legte die Hand dorthin, wo seine zuvor gewesen waren. Das Kribbeln erwachte augenblicklich. Nur einen kurzen Moment … Nein. Ich ballte die Hand zur Faust. Zog sie zurück, presste beide fest gegen die Kaffeetasse, konzentrierte mich auf die Hitze an meinen Handflächen, bis das Kribbeln vergangen war. Nein!

Noch immer beide Hände um die Tasse gelegt, nahm ich einen weiteren Schluck. Starrte in die dunkle Flüssigkeit. Ließ sie kreisen.

Er hatte recht. Nahm ich nicht an Anns Pyjamaparty teil, stieß ich den Richter – mal wieder – vor den Kopf. Vor allem, nachdem diese Party garantiert seine Idee gewesen war. – Drei von Anns Freundinnen, Ann und ich. Ergab nach allen Gesetzen der Mathematik fünf. Fünf Hexen. Die ideale Zahl für einen kleinen Zirkel. – Wer diese Nachtigall nicht hörte, war stocktaub. Und mehr als begriffsstutzig obendrein.

Nahm ich teil, bewies ich – zumindest nach seiner Auffassung – wenigstens etwas guten Willen. Und erkaufte mir damit ein bisschen Zeit. Ich drehte den Henkel auf die andere Seite. Mit ziemlicher Sicherheit kannten die vier die Geschichte dieses Ortes. Und die Geistergeschichten, die man sich erzählte.

Bis dahin würde ich sehen, was ich in der Bibliothek des Richters selbst herausfand. Und vielleicht konnte ich auch noch das eine oder andere über Luke erfahren.

7

Das mit den »gackernden Junghexen« war deutlich übertrieben. Aber ich hätte es eindeutig begrüßt, wenn er mich gewarnt hätte, dass die Pyjamaparty noch am selben Abend stattfinden sollte. Und ich nach dem Abendessen gerade noch Zeit für eine Dusche gehabt hatte, bevor sie auftauchten.

Wahrscheinlich wusste Ann nur zu gut, dass mir klar war, wessen Idee das alles gewesen war. Denn sie wirkte erstaunlich verlegen, fast unsicher, als sie mir die drei vorstellte: Melissa. Dunkelblond, mit täuschend sanften, braunen Augen. Die ein Selbstbewusstsein ausstrahlte, das beinah erschreckte. Dabei war sie – zumindest im ersten Moment – weder arrogant noch überheblich. Anscheinend nur sehr von ihren Fähigkeiten überzeugt.

Die beiden anderen, Alice und Isabelle, standen eindeutig in ihrem Schatten. Alice hatte einen dunklen, fast schwarzen Bob, dessen Ansatz verriet, dass sie eigentlich deutlich heller war. Bei Isabelle war es umgekehrt. Ihr Weißblond hatte irgendwie etwas … Falsches. Als versuchten sie beide etwas zu sein, was sie nicht waren.

Ich hatte damit gerechnet, begafft zu werden wie eine Rarität. Melissa – Lissa – reichte mir die Hand, musterte mich eingehend von oben bis unten. »Hi. Du bist also Cassandra Castairs. Ich hoffe, es ist okay, wenn wir dich auch einfach nur ›Cass‹ nennen. Freut mich, dich kennenzulernen. Immerhin bist du derzeit DAS Thema bei uns. Die Castairs-Hexe, die nicht hexen will. Und sich einen Teufel drum schert, was unsere alten Herrschaften wollen. – Was ich persönlich sehr cool finde.« Das ›Ich bin gespannt, ob du doch was draufhast‹ hing unausgesprochen zwischen uns. Dabei hatte sie ein Lächeln auf ihren blassrot nachgezogenen Lippen, das ihrem Ton die Härte nahm. Alice und Isabelle – Izzy – waren weniger direkt und auch deutlich … zurückhaltender, aber anscheinend auch keine gackernden – zumindest keine gaffenden – Hühner. Mit ein bisschen Glück konnte der Abend doch ganz angenehm werden.

Vor allem, nachdem der Nachmittag schon ein Reinfall gewesen war. Genauer genommen die Bibliothek des Richters. Bei jemand seines Kalibers hatte ich Regale voller alter Folianten erwartet, ähnlich wie bei Granny. Wissen und Abhandlungen, vielleicht sogar hart an der Grenze des Erlaubten. Zumindest aber etwas über die Geschichte dieser Gegend. Stattdessen: Standardwerke. Über alles Mögliche. Aber nicht das, was ich gesucht hatte. Allerdings hatte ich herausgefunden, dass seine Bibliothek mit einer Alarmanlage gesichert war. Ich hatte noch keine fünf Minuten einen Fuß in den Raum gesetzt und gerade begonnen, mich zwischen den Regalen umzusehen, als seine Ehren ebenfalls auftauchte. Und es nach einem kurzen Moment der Verblüffung anscheinend wohlwollend zur Kenntnis nahm, dass ich der Eindringling war. Fürsorglich hatte er mir das Regal mit den ›Basiswerken‹ gezeigt, mit denen eine ›junge, unerfahrene Hexe‹ am ehesten ›zurechtkommen‹ würde, ehe er mir viel Erfolg bei meinen ›Studien‹ wünschte und wieder gegangen war.

Und mich mit einem seltsamen Gefühl zurückgelassen hatte.

Hätte ich auf Marshmallows in heißer Schokolade aufgelöst gestanden, wäre der Abend auf jeden Fall ein voller Erfolg geworden, angesichts der Massen an Süßkram, die sich in diversen Schalen und Schüsseln zwischen mir und den anderen häuften. So löste die Tatsache, dass ich nichts davon wirklich mochte, eine gewisse Schockiertheit aus. Vor allem bei Izzy und Alice. Ann war es regelrecht peinlich. Fast, als hätte sie Angst, ich könnte einfach gehen, weil ich nicht bei der Aussicht auf einen riesigen Zuckerschock in Verzückung ausbrach. Okay, zugegeben, wenn es um Kaffee ging, hielt ich es wie Mom. Er musste schwarz wie die Nacht, heiß wie die Hölle und süß wie die Sünde sein. Aber ansonsten? – Süßigkeiten, nein danke. Ihre Erleichterung war nicht zu übersehen, als ich mir die einzige Schüssel mit gesalzenem Popcorn schnappte und grinsend verkündete, dass sie mit ihrem Süßkram glücklich werden konnten, aber ich das hier nicht zu teilen gedachte.

Anns Zimmer war deutlich größer als meines, wenn auch ziemlich ähnlich eingerichtet. Sah man einmal von den Bergen aus Decken und Kissen ab, die derzeit auf dem Boden verteilt lagen. Und etwas, das wohl so eine Art »Arbeitsecke« war: ein nicht übermäßig großer Holztisch, über den ein einfaches weißes Leinentuch gebreitet war, das bis auf den Boden reichte und sich dort noch zu Falten bauschte. Darauf eine Schale mit diversen kleinen Halbedelsteinen, einige geschliffen, andere roh. Daneben ein kleiner Metallkessel auf einem dreibeinigen Fuß über einem Bunsenbrenner. An den Wänden darüber waren hölzerne Borde, auf denen Bücher und alte Folianten neben Säckchen und Tiegeln, wahrscheinlich mit Kräutern oder Ähnlichem, standen. Kleine Kästchen aus verschiedenen Hölzern und Stein, die wohl andere Utensilien und »Werkzeuge« enthielten. Kerzen in mehreren Farben und verschiedenen Größen …

Als wäre es das Normalste der Welt, schlenderten die drei zu Anns Arbeitsecke, begutachteten die Borde und den Tisch.

»Hast du was Neues?« Lissa schaute über die Schulter zu Ann, die ihnen in einem kleinen Abstand gefolgt, allerdings ein Stück hinter ihnen stehen geblieben war. Waren die vier so gut befreundet, dass sie einander von jeder neuen Errungenschaft erzählten?

»Was ist das denn?« Izzy griff nach einem Kästchen, das noch hinter den Kerzen auf einem der oberen Borde gestanden hatte. Schwer zu erkennen.

Ich holte scharf Luft. Hielt sie unwillkürlich eine Sekunde an, als sie es dann aufklappte und herausnahm, was darin war. Auch wenn die vier möglicherweise tatsächlich alles teilten: Die Dinge einer anderen Hexe ohne ausdrückliche Erlaubnis einfach zu berühren, war absolut tabu. Hexerei konnte äußerst nachtragend sein.

Das Messer wirkte aus der Entfernung alt und abgenutzt. Es sah aus, als wäre Stoff – oder irgendwelche Fäden – um den anscheinend vollkommen zerkratzten Griff gewickelt. Etwas Dunkles schien an der Schneide zu kleben. Mom hätte mir die Ohren lang gezogen, wenn ich meine Sachen in einem solchen Zustand einfach weggepackt hätte. Von Granny ganz zu schweigen. Sie hätten so etwas nur akzeptiert, wenn irgendwelche Zauber an den Gegenstand gebunden gewesen wären. Aber selbst dann hätte man ihn nicht in einem Kästchen bei den anderen Sachen aufbewahrt, sondern in einem anderen Raum oder sogar vergraben. Am besten in geweihter Erde. Oder zumindest an einem Ort, an dem er nicht zu finden war. Auch in Hunderten von Jahren nicht.

Und tatsächlich schien Ann auch alles andere als begeistert. Zumindest war sie erstaunlich schnell neben Izzy, nahm ihr das Messer aus der Hand und verstaute es wieder in dem Kästchen, das sie entschieden zuklappte und an seinen Platz zurückstellte. Den Gesichtern nach zu urteilen, hatte keine der drei mit einer solchen Reaktion gerechnet. Für eine Sekunde hing ein seltsames Schweigen in der Luft.

»Das ist etwas, das Papa mir gezeigt hat. Ich übe noch …«

Die anderen tauschten Blicke. Lissas perfekte Brauen hatten sich zusammengezogen. »Dein Vater? Wow …«

Anns Blick wurde schmal. Lissa hob abwehrend die Hände und kehrte in die Mitte des Raumes zu den Decken und Kissen zurück. »Ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich hätte nur nicht gedacht, dass er im Augenblick dafür Zeit hat. Vor allem, so wie er sonst drauf ist. Du weißt schon, mit seinem ›Frauen sollen die Hexerei von Frauen lernen und Männer von Männern‹ und dem ganzen Getue …« Sie wedelte mit der Hand, während sie sich mit überkreuzten Beinen auf ihrem Kissen niederließ.

Ich verbiss mir den Kommentar im allerletzten Moment. Lieber Himmel, das war schon kein Mittelalter mehr, das ging schon Richtung Steinzeit. Kein Wunder, dass Mom und Granny nichts mit dem Richter und seinen Freunden zu tun haben wollten.

»Denkt ihr wirklich, Mr Simmons Tod war ein Unfall?« Izzy und Alice waren Lissa gefolgt und setzten sich ebenfalls. Izzy stellte die Frage, als wäre es das Normalste auf der Welt, und angelte nach der Marshmallow-Schüssel.

Lissa ließ ein abfälliges Schnalzen hören. »Denkt ihr, dass das bei Bartholomew, Malcom und Sanderson Unfälle waren?«

»Was soll es denn sonst gewesen sein?« Ann sank neben Lissa in den Schneidersitz.

Schweigend setzte ich mich auf ihre andere Seite.

»Selbstmord?« Izzy klang nicht wirklich überzeugt.

»Mr Malcom hatte einen Schlaganfall.« Mit einem Kopfschütteln tunkte Alice ein Marshmallow in ihre Tasse. »Er kann ja wohl kaum Selbstmord begangen haben.«

»Was ist mit Mord?« Mit der Tasse in der Hand beugte Lissa sich vor und nahm sich ebenfalls ein Marshmallow.

Izzy verschluckte sich fast. War ihr Blick eben tatsächlich für einen Sekundenbruchteil in meine Richtung gegangen? »Lass das bloß niemanden hören. Und am allerwenigsten den Richter.«

»Leute, wir reden von richtig mächtigen Hexen. Aus den ältesten Familien der Gegend. Wer sollte denen schon was anhaben können?«

»Eine andere Hexe? Vielleicht eine, die mächtiger ist?«

Diesmal ging Izzys Blick tatsächlich zu mir.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich war’s nicht.«

»Aber vielleicht ja deine Großmutter.« Mit fragend gehobenen Brauen sah mich jetzt auch Lissa an.

Ich lachte. »Klar. Weil wir Castairs-Frauen ja auch jeden verfluchen, der uns mal schräg von der Seite anschaut.« War ihnen auch nur ansatzweise klar, dass sie bei jeder anderen Castairs mit dem Feuer gespielt hätten? Granny hätte auf eine solche Anschuldigung deutlich anders reagiert. Vor allem, wenn sie vor Zeugen ausgesprochen worden war.

»Na, da soll aber einiges mehr gewesen sein …«

»Warum fragen wir ihn nicht selbst?« Geradezu unschuldig sah Alice von einem zum anderen.

Ann war schlagartig leichenblass.

Lissa beendete ihren Satz nicht.

Das Marshmallow in Izzys Hand verharrte auf halbem Weg zu ihrem Mund. Sie neigte den Kopf. »Vielleicht haben wir heute mehr Erfolg als beim letzten Mal. Immerhin ist er noch nicht so lange tot.«

»Beim letzten Mal?« Es rutschte mir einfach heraus. Sie hatten gerade nicht wirklich das vor, was ich befürchtete?

Alice zuckte die Schultern. »Wir haben versucht den Geist einer anderen Hexe zu beschwören.« Ihr Blick huschte wie sichernd zu Lissa, wanderte weiter zu Ann. »Außer Kerzengeflacker, kalter Luft und aufgewirbeltem Staub hatten wir leider nicht wirklich viel Erfolg.«

Izzy poppte das Marshmallow in ihren Mund, kaute kurz und nickte. »Aber dieses Mal sind wir ja auch zu fünft.«

Wie bitte? »Wo-ho. Langsam.« Abwehrend hob ich die Hände. »Lasst mich da raus.«

»Warum?« Reines Unverständnis sprach aus Alice’ Ton. Zumindest auf Lissas und Izzys Mienen stand die gleiche Frage.

Weil man die Toten in Frieden ließ. Im wahrsten Sinn des Wortes. »Weil ich nichts mit dem ganzen Hexenkram zu tun haben will. Schon vergessen?«

»Ach, komm schon. Was hat so eine kleine Séance mit ›Hexenkram‹ zu tun?« Mit einem abfälligen Schnauben griff Izzy nach dem nächsten Marshmallow. Machte zu viel Zucker eigentlich unzurechnungsfähig?

Lissa zog die Nase kraus. »Wisst ihr noch? Andrea Mitchell. Sie hat sich immer aufgeführt wie die allergrößte Hexe.«

»Stimmt. Mit ihren Ketten voller Amulette und irgendwelchen sinnlos zusammengestellten Halbedelsteinen. Sie hatte keine Ahnung, was sie da tat. War aber tatsächlich der Meinung, dass sie eine von uns wäre.« Izzys Blick ging bedeutsam zu mir. »Und dann hat sie auch noch andauernd irgendwelche Pseudo-Séancen abgehalten.« Sie tunkte den Rest Marshmallow in ihre Tasse. »Ich hab gehört, sie zieht es immer noch durch.«

»Wie kann man nur so dumm sein.« Ach? Alice’ leises Lachen war boshaft. »War es dein Bruder, der ihr die tote Katze an die Haustür gehängt hat, als ihre Familie mal nicht da war, Izzy?«

Wie bitte? Mit einem Schlag schmeckte das Popcorn bitter.

Izzy hob mit einem feinen Grinsen die Schultern. »Er denkt immer noch, dass ich es nicht weiß. – Aber irgendwer musste ihr wirklich mal klarmachen, was es heißt, eine Hexe zu sein.«

Ich würgte hinunter, was noch in meinem Mund war. Vielleicht sollte euch das auch mal jemand klarmachen?

»Hat sie eigentlich deshalb die Schule gewechselt? Oder war es der tote Frosch, der beim Sezieren in Biologie plötzlich mit ihr geredet hat?« Alice pustete in ihren Kakao. Fächelte die Dampfschwaden, die plötzlich erneut von ihm aufstiegen, in Lissas Richtung. Irgendetwas schien sich darin zu bewegen. Zu zucken. Wie ein toter Frosch, an dessen Beine man im Biologieunterricht Elektroden anlegt und Strom durchjagt.

Lissa strich mit den Fingern durch die Schwaden und sie zerstoben. »Keine Ahnung. Aber es war besser für sie, dass sie gegangen ist.« Sie überkreuzte die Beine. »Na, komm schon, Cass. Gegen so eine kleine Séance ist doch nichts einzuwenden. Was sagst du?«

Dass sich die Tore zur Hölle auftun müssen, damit ich mit euch freiwillig einen Zirkel bilde. Auch wenn es mir schwerfiel: Irgendwie brachte ich ein höflich ablehnendes Kopfschütteln zustande. »Dasselbe wie vorhin: Lasst mich da raus.«

Alice zog eine Schnute, zuckte dann aber die Schultern. »Wie du willst.« Sie sah auf ihre mit blauen Steinen besetzte Uhr. »Wenn wir uns beeilen, haben wir noch genug Zeit bis Mitternacht.« Entschieden stellte sie ihre Tasse vor sich auf den Boden und stand auf. Lissa und Izzy taten es ihr nach. Ann war die Letzte.

»Sind die ganzen Sachen noch oben?« Izzy wischte sich die Hände an ihren Jeans ab.

Auf Lissas Stirn erschien eine dünne Falte. »Wir hatten beim letzten Mal kein Salz mehr, oder?«

Ann nickte. »Ich hole ein Päckchen aus der Küche.« Sie ging zu ihrem Arbeitstisch, zog eine Schublade auf und holte etwas heraus. Anscheinend aus der hintersten Ecke. Einen Schlüssel. So, wie er glänzte, musste er neu sein.

Izzy runzelte die Stirn. »Wolltest du den nicht oben lassen?«

In der Andeutung einer Bewegung hob Ann die Schultern. »Ich hab ihn versehentlich eingesteckt. Macht der Gewohnheit.« Sie kam zu den anderen zurück und gab ihn Lissa. »Ihr könnt schon mal vorgehen. Aber seid leise. Und lasst euch von niemandem sehen.«

Lissa warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf. »Logisch. – Keine Angst. Dein Vater hat beim letzten Mal nichts gemerkt, er wird auch dieses Mal nichts merken.« Alice und Izzy nickten.

Ich sah von einer zur anderen. Luke hatte sich geirrt. Das hier waren keine gackernden Junghexen. Das hier waren bodenlos dumme Gänse.

Und vielleicht sollte sie irgendjemand im Augen behalten. Wo war Pointers, wenn man sie mal brauchte?

Ich drückte mich vom Boden hoch. »Auch wenn ich nicht mitmache, kann ich euch ja zusehen. – Wenn das in Ordnung ist?«

»Vielleicht kommst du ja doch auf den Geschmack.« Izzy grinste.

»Oder du kannst noch was lernen.« Mit einem leisen Lachen zwinkerte Alice mir zu.

Garantiert nicht. So sehr ich mich auch bemühte, mein Lächeln nicht gezwungen wirken zu lassen: Ich war absolut nicht sicher, ob es mir gelang.

Ein ausgestopfter Steinkauz starrte uns von einem Sparren herab aus seinen toten Glasaugen an. Lissa schloss die Speichertür hinter Alice und dirigierte mich mit einem Kopfnicken und einem »Geradeaus« tiefer in die staubig riechende Dunkelheit. Izzy war schon irgendwo vor mir. Das Geräusch eines Streichholzes, das angerissen wurde, dann flammte ein winziges bisschen Helligkeit auf, die zu einer Kerzenflamme wurde – und auf immer mehr Kerzen übersprang, bis sie einen Kreis aus Licht bildeten. Mit einem fünfzackigen Stern in seinem Inneren.

Lissa drängte sich an mir vorbei. »Auch wenn du nicht mitmachst, kannst du dich ja trotzdem an eine der Spitzen setzen.«