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Als die Frauen operieren lernten: die große Familiensaga um eine Frau, die im 19. Jahrhundert Ärztin werden will Würzburg im 19. Jahrhundert: Bankierstochter Viviana Winkelmann träumt davon, Ärztin zu werden – obwohl Frauen seit 1800 nicht mehr studieren dürfen. Als die junge Frau sich unstandesgemäß verliebt und schwanger wird, wirft ihre Familie sie aus dem Stadtpalais. Um sich und ihre kleine Tochter Ella über Wasser zu halten, verdingt sich die einst vornehme Viviana als Gehilfin in der Apotheke des renommierten Würzburger Juliusspitals. Doch soll das wirklich alles sein, was sie als Frau im Leben erreichen kann? Sie belauscht Vorlesungen berühmter Ärzte am Spital und lernt Professor Virchow kennen, der einer Weltsensation auf der Spur ist. Ihre Zukunft, das spürt sie, liegt als Ärztin im Spital – auch wenn ihr dadurch nicht nur der eigene Bruder zum erbitterten Feind wird. Die Zwillingsschwestern Claudia und Nadja Beinert haben gemeinsam bereits fünf historische Romane geschrieben; Geschichte lebendig werden zu lassen, ist ihre große Leidenschaft. Mit der Familiensaga »Das Juliusspital« um mehrere Generationen von Ärztinnen und das Juliusspital in Würzburg wenden sie sich dem spannenden Thema »Frauen in der Medizin« zu. Der zweite Band der Familiensaga, »Das Juliusspital. Ärztin in stürmischen Zeiten«, erzählt die Geschichte von Viviana Winkelmanns Enkelin Henrike, die darum kämpft, Psychologie studieren und im Juliusspital als Irren-Ärztin arbeiten zu dürfen.
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Seitenzahl: 774
Veröffentlichungsjahr: 2020
Nadja Beinert / Claudia Beinert
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Als die Frauen operieren lernten: die große Familiensaga um eine Frau, die im 19. Jahrhundert Ärztin werden will
Würzburg im 19. Jahrhundert: Bankierstochter Viviana Winkelmann träumt davon, Ärztin zu werden – obwohl Frauen seit 1800 nicht mehr studieren dürfen. Als die junge Frau sich unstandesgemäß verliebt und schwanger wird, wirft ihre Familie sie aus dem Stadtpalais. Um sich und ihre kleine Tochter Ella über Wasser zu halten, verdingt sich die einst vornehme Viviana als Gehilfin in der Apotheke des renommierten Würzburger Juliusspitals. Doch soll das wirklich alles sein, was sie als Frau im Leben erreichen kann? Sie belauscht Vorlesungen berühmter Ärzte am Spital und lernt Professor Virchow kennen, der einer Weltsensation auf der Spur ist. Ihre Zukunft, das spürt sie, liegt als Ärztin im Spital – auch wenn ihr dadurch nicht nur der eigene Bruder zum erbitterten Feind wird.
Motto
Verzeichnis wichtiger Personen
Mit Herz
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Mit Verstand
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Mit Gefühl
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Nachwort
Bibliografie
Gott dem Allmächtigen zu Lob und Ehr
und den armen Christen zu Trost und Ergötzlichkeit,
errichtet er ein Spital für allerhandt Sorten Arme,
Kranke, unvermögliche auch schadhafte Leut,
die Wundt und anderer Arzenei notdürftig sind,
desgleichen für verlassene Waisen
und dann für überziehende Pilger und dürftige Personen.
Aus der Stiftungsurkunde des Juliusspitals von 1579,
Julius Echter von Mespelbrunn
(Historische Persönlichkeiten sind mit einem * versehen.)
Familie Winkelmann
Viviana Hedwig Winkelmann, Tochter von Johann und Elisabeth Winkelmann
Viviana will zu einer Zeit Ärztin werden, in der Frauen Klugheit und Lernfähigkeit grundsätzlich abgesprochen werden.
Ella Pauline Winkelmann, Vivianas Tochter
Sie ist der Grund dafür, dass Viviana mit ihrem alten Leben bricht.
Elisabeth Felicitas Winkelmann, Mutter von Viviana, Ehefrau von Johann Gottlieb Winkelmann
Ihr Einsatz gilt vor allem dem tadellosen Ruf der Familie.
Johann Gottlieb Winkelmann, Vivianas Vater und Ehemann von Elisabeth Winkelmann
Er ist der Direktor des Privatbankhauses Winkelmann, dem enormer Schaden durch Vivianas »Verfehlung« droht.
Valentin Franz Winkelmann, Vivianas älterer Bruder, Sohn von Johann und Elisabeth Winkelmann
Risikofreudiger Bankier im Privatbankhaus Winkelmann, der unheilbar krank ist.
Dorette Veronica Winkelmann, Valentins Ehefrau
Die Liebe zu ihrem Mann ist unendlich. Dorette sehnt Nachwuchs herbei.
Constanze Ernestine Hebestreit, Vivianas Tante, Schwester von Elisabeth Winkelmann
Das stumme Familienmitglied, das stets Schwarz trägt.
Ernestine Viktoria Hebestreit, Vivianas Großmutter
Seit dem Tod ihres Mannes spricht sie dem Wein immer mehr zu und plaudert – zum Schrecken der Familie.
In der Apotheke des Juliusspitals
Ferdinand Carl*, Apotheker.
Otto Hauser, Geselle des Apothekers.
Ein Stößer.
Am Juliusspital und an der Königlich Bayerischen Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, genannt »Alma Julia«
Rudolf Ludwig Karl Virchow*, Professor für Pathologische Anatomie und Pathologie.
Karl Friedrich von Marcus*, Professor für Medizinische Klinik sowie für Spezielle Pathologie und Therapie; Oberarzt am Juliusspital.
Franz von Rinecker*, Professor der Arzneimittellehre sowie Kinderkrankheiten; Direktor der Medizinischen Poliklinik.
Rudolf Albert Kölliker*, Professor für Anatomie, Experimentalphysiologie und Vergleichende Anatomie.
Hubertus von Hardenberg, ein aufstrebender Student der Kinderheilkunde, den Viviana in ihr Herz lässt.
Doktor Richard Staupitz, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Rudolf Virchow und ein ziemlich grimmiger Mensch – zumindest auf den ersten Blick.
Weiterhin
Paul Zwanziger, ein Steinbildhauer und, wenn man Elisabeth Winkelmann glauben will, auch »Schänder unverdorbener Fräulein«.
Oberin Ignatia, nimmt sich in Not geratener Mädchen und Frauen an, ausnahmslos.
Roswitha Höpfer und Ursula Schleich, zwei bildungshungrige Frauen, die den Anfang im Kampf um Frauenrechte in Würzburg wagen.
Magda Vogelhuber mit ihren Kindern Wenke und Bruno, aus dem Pleicher Viertel.
Sowie
zahlreiche Patienten im Juliusspital, die im Wartesaal des Todes auf Heilung hoffen.
April 1850
Nur einen halben Tag war es her, dass ihre Kindheit jäh zu Ende gegangen war. Ganz sicher würde sie den achtundzwanzigsten April nie mehr vergessen – und was an ihm geschehen war auch nicht, sollte sie diese Sache überhaupt überleben. Vor Verzweiflung biss Viviana sich in die zu einer Faust geballte Hand, bis sie den Schmerz nicht länger ertrug. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie schwanger war!
Obwohl ihre Eltern nichts von ihrer Verfehlung wussten, konnte sie nicht einfach so weitermachen wie bisher: sich in der nächsten Stunde brav in das Himmelbett legen und ruhig schlafen, sich am kommenden Morgen frisieren und putzen lassen und dann an der Seite ihrer Mutter schön und strahlend die Gäste empfangen. Mit denen sie natürlich nicht allzu verfänglich plauschen durfte. Eine junge Dame hatte vor allem zuzuhören, ihre Beine nicht übereinanderzuschlagen und mit jeder Geste ihr sanftes Wesen zu unterstreichen.
Was Viviana brauchte, war ein Plan, der ihr vorgab, wie sie jetzt vorgehen sollte. Nur leider hatte sie überhaupt keine Ahnung, was man in einer solchen Notlage in ihren Kreisen tat. Die Zeit spielte gegen sie, das immerhin wusste sie. Die Zeit war ihr erster Gegner. Danach kamen vermutlich ihre Eltern, die sie liebte. Sie war verwirrt und konnte seit einem halben Tag keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Sie musste zu Paul in die Mühlgasse, wie immer heimlich. Eine junge Dame hatte nicht allein unterwegs zu sein und schon gar nicht im ärmsten Viertel der Stadt. Aber Paul war ihre einzige Hoffnung in diesem ganzen Schlamassel, womöglich wusste er Rat. Paul, ich liebe dich, schoss es ihr durch den Kopf, und ich halte es keine Stunde länger alleine aus!
Viviana öffnete die Tür und horchte nach unten, ihre Hand schmerzte noch immer. Ihre Zähne hatten undamenhafte Abdrücke auf den Fingern hinterlassen. Sie schob ihren Kopf noch etwas weiter durch den Türspalt. Es war still im Haus. Alles schien wie jeden Abend unter der Woche zu sein. Vermutlich saß ihr Vater im ersten Stock des Hauses im Herrenkabinett und las, während sich ihre Mutter in ihr Orchideenzimmer zurückgezogen hatte. Und ihr Bruder Valentin arbeitete sicher noch unten im Kontor des vornehmen Stadthauses, das innerhalb der Familie nur das »Palais« genannt wurde. Das Kontor befand sich im Erdgeschoss des Hauses und war über einen seperaten Eingang zu betreten. Stolz führte Valentin Kunden oft zuerst ins Kontor und danach über die breite Eingangstreppe in das erste Obergeschoss des Hauses, um im großen Salon auf die Geschäfte anzustoßen. Mit seinen beiden Salons, dem Herrenkabinett und der Küche war das erste Geschoss so etwas wie der öffentliche Bereich des Hauses.
Valentin war das lauteste Familienmitglied, fand Viviana. Ständig rauschte er lärmend über die Flure. Er hatte viel zu besprechen und vor allem weltmännisch zu verkünden, ständig eingehüllt in den Qualm seiner Zigarren. Ihn würde sie bestimmt hören, befände er sich gerade in einem der Salons, an denen sie vorbeimusste, um zum Ausgang zu gelangen.
Die Uhr im Herrenkabinett schlug acht. Der tiefe Ton hallte durch alle Etagen des Palais und zeigte an, dass der Tag im Hause Winkelmann zu Ende ging. Als angesehene Bankiersfamilie führten ihre Mitglieder ein Leben von solch unumstößlicher Regelmäßigkeit, dass sich Viviana statt des immergleichen Tagesablaufs schon öfter mehr Unvorhersehbarkeit und Überraschung gewünscht hatte. Gerade aber war es ihr nur recht, dass zwischen acht und neun Uhr abends jeder mit sich beschäftigt und dies wohl die einzige Stunde war, zu der sie ungesehen fortkam.
Viviana stürzte zurück zum Fenster ihres Zimmers und schaute in den dunklen Abendhimmel hinaus. Er war wolkenverhangen, wie schon seit Wochen. Ein Schauder lief ihr eiskalt den Rücken hinab. Die dunkle Hälfte des Tages war die Zeit der Ehrlosen, der Diebe, der Irren und der in Not Geratenen. Zu denen nun auch sie gehörte. Aber sie musste zu Paul! Keine Minute länger hielt sie es ohne ihren Liebsten aus. Nur er konnte sie trösten und wusste womöglich Rat. Keine ganze Stunde blieb ihr für den verbotenen Ausflug.
Viviana holte ein paar Münzen aus dem Beutel in der Frisierkommode und legte sich Pelerine und Schute an. So leise es ihr in den Schnürstiefeletten möglich war, verließ sie ihr Zimmer und stieg die Treppen hinab. Alles blieb ruhig. Nur das gedämpfte Klappern von Tellern und Töpfen war zu hören. Das Personal war in der Küche beschäftigt. Viviana verließ das Haus durch den Dienstboteneingang.
Die ersten Schritte in der Hofstraße tat sie noch zögerlich. Die Dunkelheit war ihr unheimlich. Viviana lief möglichst nah an den Nachbarhäusern entlang, denn ihre Mutter und Valentin konnten sie von den Fenstern, die zur Straße hinausgingen, noch sehen. Bald rannte sie. Sie wollte zu den Kutschen, die am Paradeplatz standen.
Ihr Herzschlag beruhigte sich nicht einmal, als sie hinter den zugezogenen Vorhängen eines Zweispänners saß. Die Kutsche zog an und holperte über Würzburgs Straßen. »Schneller, schneller«, murmelte sie aufgeregt. Die Fahrt kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Zu Fuß hätte sie zehn Minuten zu Paul gebraucht. Zu Fuß hätte sie jedoch von Freunden und Bekannten der Familie gesehen werden können. Nicht auszudenken, wenn diese verbreiteten, in welchem Viertel sich die Tochter des Bankhauses Winkelmann zur Abendzeit herumtrieb – und dann auch noch ohne Begleitung.
Das Pleicher Viertel, kurz »Pleich« genannt, war das ärmste der Stadt. Dort wohnten Dirnen, gesellschaftlicher Aussatz, wie Valentin es nannte, sowie die Ärmsten der Armen. Und Paul.
Viviana stieg aus, gab dem Kutscher eine Münze und bat ihn, auf ihre Rückkehr zu warten. Sie raffte die Röcke und lief auf das Eckhaus in der Mühlgasse zu. Ein eisiger Wind schnitt ihr ins Gesicht, beinahe riss er ihr die Schute vom Kopf.
Nervös glitt ihr Blick an dem alten Mietshaus hinauf. Das Wetter hatte es samt den Nachbarhäusern über die Jahre hinweg vergrauen lassen. Stroh klaffte aus dem Gebälk, und die Fensterläden hingen schief in den Scharnieren, wie die müden Augenlider eines Sterbenden. Auf der Straße roch es unangenehm nach Brackwasser und dem Inhalt ausgeleerter Nachttöpfe. Viviana war geruchsempfindlicher geworden, Übelkeit stieg in ihr auf.
»Paul, bist du da?«, rief sie. Hoffentlich hatte Meister Gruber ihren Liebsten nicht kurzfristig wegen eines Auftrags außerhalb der Stadt geschickt. Ein Recht, das er sich für seinen besten Steinmetzgesellen vorbehielt. Beim letzten Mal hatte sie als Erkennungszeichen ein Steinchen an Pauls Fensterscheibe geworfen, aber dafür brachte Viviana gerade weder die nötige Treffsicherheit noch Geduld auf. Da die Eingangstür zum Mietshaus nur angelehnt war, drängte sie hinein, jede Minute war kostbar. Punkt neun Uhr würde ihr Vater an ihr Bett kommen, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Das war ihr allabendliches Ritual, wenn nicht Bankgeschäfte es verhinderten.
Im Hausflur war es so schwarz wie in einer Berghöhle. Hier drinnen roch es noch schlimmer als auf der Straße, sodass Viviana unwillkürlich das Gesicht verzog. »Paul?«, rief sie die Treppe hinauf. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Am liebsten hätte sie geweint. Paul, bitte sei da! Sie nahm die ersten Stufen.
Plötzlich stand jemand vor ihr. Anhand der Umrisse vermutete sie, dass es sich um eine Frau handelte. Eine Dirne? Sie wich zwei Stufen zurück. Auch deswegen hatten die Eltern ihr untersagt, ein Viertel wie die Pleich jemals zu betreten. Irgendwo hinter ihr fiepte es.
»Des is fei ned des richtiche Haus, Mädle«, brummte die Frau und drängelte sich an Viviana vorbei. »Die Königliche Residenz is am annere Ende der Stadt!«
Viviana brauchte einen Moment, bis sie die Worte, die schnell und ohne Punkt und Komma aneinandergereiht worden waren, wirklich verstand. In der Töchterschule wurde großer Wert auf eine deutliche, korrekte Aussprache gelegt.
Als die Frau die Haustür öffnete und Mondlicht in den Flur fiel, blieb ihr Blick an deren schäbigem grauen Schultertuch mit Fransen hängen, das sie an Rattenfell erinnerte. Sofort zog sie ihre pelzverbrämte Pelerine fester um die Schultern.
Als wäre Magie im Spiel, stand Paul mit einem Mal vor ihr. »Viviana?«
Ihn würde sie auch in völliger Dunkelheit erkennen. Endlich!
Er nahm ihre Hände in die seinen und küsste ihre Daumenkuppen. »Was machst du denn um diese Zeit allein hier?«
»Ich bin … ich muss … wir haben …«, begann sie aufgeregt und spähte nervös den Treppenflur hinauf und hinab. Oben schimpfte jemand hinter einer Tür. »Es ist dringend und nur für deine Ohren bestimmt.«
Paul führte sie aus dem kalten Treppenhaus zu seinem Zimmer hinauf. Seine Hand war warm, und obwohl nur ein schwaches Feuer im Herd seiner kleinen Kammer brannte, fror Viviana bald nicht mehr.
Er zog die löchrigen Vorhänge vor die Fenster. »Ich wusste nicht, dass du kommst. Sonst hätte ich stärker eingeheizt.« Er deutete auf einen Haufen Holzscheite in der Ecke. »Ein paar davon wollte ich mir aufheben. Falls der Winter vorhat, bis in den Mai zu bleiben.«
Viviana nahm wieder Pauls Hand und schaute sich um. Seit dem besonderen Nachmittag im Januar – als Vivianas Eltern mit Valentin geschäftlich nach Bamberg gereist waren – hatte sich nicht viel verändert. Die strohgestopfte Matratze in der Ecke, ein Stuhl mit Arbeitskleidung daneben, ein Herd sowie ein Tisch, auf dem die beiden einzigen Teller standen, die Paul besaß. Wie beim ersten Mal roch es nach Mörtel, nach Paul. Reste davon klebten an seiner Hose. Paul war trotz aller Einfachheit oder vielleicht gerade deswegen so anziehend. Seitdem sie an diesem Januarnachmittag miteinander geschlafen hatten, hatten sie sich nicht wiedergesehen. Viviana war einfach nicht von zu Hause weggekommen, ihre Tante Constanze hatte sie überwacht, als würde sie etwas ahnen.
Sie schaute zu ihm auf, in seine braunen Augen, deren Blick sie sich hilflos ausgeliefert fühlte, drang er doch bis in ihr Herz vor und wärmte sie von innen; Paul war einzigartig. Er trug sein schwarzes Haar weder gescheitelt noch pomadisiert, es stand ihm je nach Wetterlage mehr oder weniger wild vom Kopf ab. Nie lag es brav an. Paul hatte stets ein Lächeln auf den Lippen und nette Worte für jedermann, ganz sicher sogar für die Frau mit dem Ratten ähnlichen Schultertuch im Hausflur. Dafür bewunderte sie ihn, damit hatte er ihr Herz erobert.
Er küsste die Bissspuren auf ihrem Zeigefinger. »Sag schon, was ist geschehen?« Er schob ihr die Schute auf den Rücken und fuhr ihr durch die Korkenzieherlocken, die seitlich die Ohren bedeckten, während das Haar am Hinterkopf zu einem geflochtenen Knoten aufgesteckt war.
»Ich habe solche Angst.« Viviana barg ihr Gesicht in beiden Händen.
»Ich bin ja da.« Er ließ von ihrem Haar ab und zog sie an seine Brust, über der er selbst bei der Kälte dieser Tage nur ein einfaches, wollenes Hemd trug. »Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
»Es ist so … so … so«, schluchzte sie. Im Schutz der verrußten Zimmerwände schmiegte sie sich an ihn. Seine Wärme vermochte sie sogar durch ihre Pelerine hindurch zu spüren. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. »Ich wusste nicht, dass es so schnell und so leicht passieren kann«, gestand sie.
Mit dem Zeigefinger hob Paul ihr Kinn von seiner Brust. »Was meinst du, Liebste?«
Viviana löste sich von ihm. Sie schaute an sich hinab, ihr Blick blieb auf ihrem Bauch haften. Dann, auf der Suche nach den richtigen Worten, irrte ihr Blick im Zimmer umher. Sie wusste von zwei schwangeren Dienstmädchen aus dem Umfeld ihrer Familie, dass diese von ihren Liebsten beschimpft und nicht mehr beachtet worden waren, sobald sich ihre Bäuche gewölbt hatten.
Viviana holte tief Luft. Vielleicht dreißig von den sechzig Minuten blieben ihr noch. Das Feuer erlosch in diesem Moment im Herd. »Ich bin schwanger«, brachte sie kaum hörbar heraus.
Pauls Blick zeigte Verwirrung und glitt von ihrem Gesicht auf ihren Leib. »Du bist …?«
Ohne das Feuer im Herd war es dunkel im Zimmer. »In mir wächst ein Kind heran«, sagte sie mit zittriger Stimme.
Paul ging an den Herd und schichtete einige Holzscheite aufeinander, als helfe ihm die abgewandte Tätigkeit, die Neuigkeit zu verdauen. »Bist du ganz sicher?«
Viviana nickte beklommen. Als die Blutung zum ersten Mal aussetzte, hatte sie dem noch keine Beachtung geschenkt. Erst nachdem sie zum dritten Mal weggeblieben war, war ihr ihr Zustand klar geworden. Mit einer Schwangerschaft ließen sich auch die Müdigkeit, ihre festeren Brüste und die Übelkeiten der jüngsten Wochen erklären. Die Schwangerschaft hatte das Ende ihrer Kindheit eingeläutet. Sie würde Mutter werden.
»Paul, ich brauche deinen Rat.« Viviana wurde vehementer. »Wir brauchen einen Plan, wie es jetzt weitergehen soll, und das in den nächsten fünfzehn Minuten.« Die Schwangerschaft betraf mitnichten nur sie beide. Deswegen konnte sie auch nicht einfach ins Palais zurückkehren und so tun, als sei nichts geschehen. Als sei die Welt für sie, für ihre Familie und das Privatbankhaus Winkelmann noch in Ordnung.
Paul fuhr sich durchs Haar, in dem noch Staub von der Arbeit hing und es matt schimmern ließ. »Ich wollte mich erst hocharbeiten als Steinmetz, angesehen und gefragt im ganzen Land werden, um dann offiziell um deine Hand anhalten zu können. Ich wollte eine überlebensgroße Marienstatue als Geschenk für deine Eltern …«
»Wir brauchen jetzt eine Lösung, nicht erst in einigen Jahren!«, fiel Viviana ihm aufgeregt ins Wort.
Paul nahm sie bei den Schultern. »Beruhige dich, Vivi. Solange wir uns lieben, wird alles gut. Gleich morgen früh halte ich bei deinen Eltern um deine Hand an.«
»Aber sie werden dich als Ehemann für mich nicht akzeptieren! Zumindest nicht, solange du nur Geselle bist. Wer weiß, ob sie es überhaupt einmal täten. Mama will einen Kommandanten für mich!«
Je aufgeregter Viviana wurde, desto ruhiger sprach Paul: »Weißt du, was ich gerade denke?« Er nahm sie in die Arme. »Da wächst ein Kind in dir, von dir und mir gemacht. Ein Zeugnis unserer Liebe.«
Ein Zeugnis unserer Liebe, hallte es in Viviana nach, während Paul weitersprach: »Vermutlich wird es mein handwerkliches Geschick und deine Neugier und Schönheit haben. Das wäre eine ungewöhnliche Mischung.« Sein Finger hatte eine Haarsträhne gefunden, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, er spielte damit. »Lass uns wenigstens einen Moment, in dem wir uns über das Kind freuen.« Seine warmen Hände streichelten ihre Wangen.
Wider jede Regel küsste sie ihn, und er erwiderte ihren Kuss, der warme Wellen durch ihren Leib schickte. Sie fühlte sich geborgen bei ihm. Wenn sie so nah bei ihm war, vergaß sie alles um sich herum, sogar für einen Augenblick die ungewollte Schwangerschaft.
»Was sollen wir nun tun?«, flüsterte sie, nachdem sie sich widerwillig von seinen Lippen gelöst hatte. Sie sah nur einen einzigen Ausweg: es wie Romeo und Julia zu halten.
Er streichelte ihren Bauch. »Du solltest es so schnell wie möglich deinen Eltern sagen. Sie sind das eigentliche Problem bei der Sache. Und ich werde alles tun, damit es dir gut geht.«
»Mama und Papa einweihen? So schnell?« Viviana verlor die neu gewonnene Zuversicht auch sofort wieder. Für ihre Eltern hatten Verfehlungen jeder Art in der Familie von Bankdirektor Winkelmann nichts verloren. Das schadete ihrem Ansehen in der Stadt und damit auch den Geschäften des Bankhauses. Seit zwei Generationen wirtschaftete die Bank nun schon erfolgreich. Die Familie war stadtbekannt. Seit zwei Generationen stand der Name Winkelmann weit über Würzburg hinaus für Zuverlässigkeit, faire Handelskredite und für tadelloses Verhalten. Und dieses verband man nicht nur mit dem Direktor des Bankhauses, sondern auch mit dessen Familie, die sechzehnjährige Tochter eingeschlossen.
Viviana sackte zusammen, sodass Paul sie stützen musste. Es war einer der wenigen Momente, in dem sie ihre Fassung verlor. Anmut und Geduld, wurde ihre Mutter nicht müde zu betonen, seien wichtige Voraussetzungen für eine Tochter des gehobenen Bürgertums, um später als Ehefrau und Mutter mit der Verantwortung für den gesamten Haushalt zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft zu werden. Und in der Töchterschule wurde fleißig daran gearbeitet, sie mit Geduldsübungen wie Sticken genau auf diese Aufgaben vorzubereiten. Über Kunst oder gar Politik, über die Paul gerne erzählte, verlor in der Schule niemand ein Wort.
»Soll ich dich zu deinen Eltern begleiten und dir beistehen?«, bot Paul an und korrigierte: »Euch beistehen? Dir und unserem Kind?« Er lächelte weich.
Viviana schüttelte den Kopf, so verheißungsvoll »unser Kind« auch klang. Im Palais kamen die reichsten Bürger, die Honoratioren und hohen Beamten der Stadt zuerst im Erdgeschoss für Finanzgeschäfte und dann für Feierlichkeiten in der Salonetage darüber zusammen. Ihre Mutter war für ihre exklusiven Diner-Veranstaltungen berühmt. Zu diesen festlichen Abendmahlzeiten wurden ganz nach französischer Art mindestens fünf Gänge gereicht. Es widersprach allen gesellschaftlichen Regeln und Sitten, ihre Eltern darum zu bitten, sie einem einfachen Steinmetzgesellen, der sich nicht einmal das Würzburger Bürgerrecht leisten konnte, zur Frau zu geben.
Viviana begann, durch das kleine Zimmer zu schreiten. Paul und ich gemeinsam im Palais, das ist nicht die Lösung, dachte sie als Erstes. Zumindest nicht jetzt, dazu ist unsere Beziehung noch viel zu frisch. Kein Mädchen ihres Standes, keine ihrer Freundinnen oder der Fräuleins aus der Töchterschule hatte es bisher gewagt, sich so deutlich unter Stand zu verlieben, geschweige denn voreheliche Zärtlichkeiten auszutauschen. Wäre sie ähnlich mittellos wie Paul, hätte er sie von der Stelle weg heiraten können, und sie wäre mit ihm und ihrem Kind von Baustelle zu Baustelle gezogen, wo auch immer die Kunst ihn hinrief. Aber dank ihrer Eltern war sie nicht mittellos und wie jedes andere Familienmitglied für den tadellosen Ruf der Winkelmanns verantwortlich.
Paul stellte sich ihr in den Weg und ergriff ihre Hände. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich nie in Schwierigkeiten bringen wollte.« Paul schloss die Augen, als wollte er Tränen der Rührung zurückhalten, während er sprach: »Bevor ich dich traf, gab es für mich nur die Arbeit am Stein. Aber du … du hast mein Leben verändert. Zum ersten Mal tut es mir leid, dass ich keiner dieser bürgerlichen Gehrockträger bin, die deine Eltern so schätzen. Kein Beamter, kein Arzt oder Kommandant.«
Vermutlich habe ich mich ja gerade deshalb in dich verliebt, dachte Viviana. Weil du weder ein steifer noch erwartungsvoller, breit gescheitelter Bürgerlicher bist wie all die Herren, die meine Eltern als potenzielle Anwärter auf meine Hand ins Palais einladen. Erst Paul hatte ihr Würzburg als Ganzes gezeigt. Vor ihm hatte sie ihre Heimatstadt nur von unten und von ihrer hübschen, aufpolierten Seite gesehen. Doch Paul hatte sie sowohl heimlich auf die Türme der Stadt als auch in die ärmlichen, schäbigen Viertel geführt, ihr von seinen Träumen erzählt und davon, wie er mit seiner Kunst die Welt verändern und wildfremde Menschen in ihrem tiefsten Inneren berühren wollte. Ein Lächeln huschte über Vivianas Züge. Ihren ersten Kuss hatte sie von Paul auf dem Turm der Pleicher Kirche Sankt Gertraud erhalten. »Wenn du ein Beamter wärst«, sagte sie nun melancholisch, »wärst du nicht Paul. Du wärst ein anderer Mensch.«
Wie viel Zeit blieb ihr noch bis zum Neun-Uhr-Schlag? Ob ihr Vater schon seine Lektüre beendet und das Herrenkabinett verlassen hatte?
Pauls Liebe zu ihr war ein Teil der Lösung. Den anderen Teil würde sie wohl oder übel mit ihren Eltern ausmachen müssen, daran führte kein Weg vorbei. »Ich muss es ihnen sagen. Besser heute als morgen.« Unbewusst nahm Viviana bei diesen Worten wieder die gewohnte aufrechte Haltung an, als stünde sie bereits im royalblauen Salon vor ihren Eltern, scharf beäugt von der goldgerahmten Ahnin an der Wand. Sie zog ihre Schute auf den Kopf zurück und band sie fester.
Paul kniete vor ihr nieder. »Viviana Winkelmann, ich werde immer für dich und unser Kind da sein.«
»Du bist der Richtige für mich«, flüsterte sie ihm gestärkt von seiner Liebe und seinem Beistand zu.
Doch wollte sie den heutigen Abend überstehen, war es allerhöchste Zeit, in die Hofstraße zurückzukehren.
Kurz darauf saß Viviana wieder in der Mietkutsche und fuhr von dicken Vorhängen von der Würzburger Nachtwelt abgeschirmt Richtung Hofstraße. Vielleicht hätte sie Paul doch mitnehmen sollen? Mit jeder Minute, die er nicht mehr bei ihr war, kehrte die Unsicherheit zurück. Ihr Puls beschleunigte sich wieder.
Um sich von ihren Gedanken an Paul abzulenken, schob sie den schweren Vorhang auf ihrer Seite beiseite. Der Zweispänner verließ gerade die Pleich und bog auf die Untere Promenade ein. Am Wochenende flanierten dort jene Bürger Würzburgs, die es nicht an die vornehmen Diner-Tische des gehobenen Bürgertums schafften. Dazu zählten die besseren Handwerker wie Pauls Meister Gruber sowie die weniger erfolgreichen Kaufleute und unteren Beamten, das »Schergenvolk«, wie ihr Bruder Valentin diese Menschen zu schimpfen beliebte.
Viviana fröstelte, als das Juliusspital auf einmal vor ihr auftauchte. Ein Spital war für sie nichts anderes als ein Wartesaal des Todes, der oftmals letzte Aufenthaltsort der Armen. Sie hatte den mächtigen Bau zuvor noch nie genau betrachtet. Einmal war sie Paul ins Spital zum alten Gartenhaus gefolgt und froh gewesen, als sie es wieder verlassen hatten.
Viviana beschaute den Bau, um sich abzulenken. Das Vorderhaus des Juliusspitals zog sich fast die gesamte obere Hälfte der Promenade entlang. Mit seiner zweigeschossigen Front, dem Mansardengeschoss und den vielen großen Fenstern wirkte es wie eine Festung. Viviana wollte den Vorhang schon wieder zuziehen, als ihr Blick auf einer sargähnlichen Kiste vor dem Eingang des Spitals hängen blieb, die gerade von zwei Männern durch das Torgebäude getragen wurde. Gleichzeitig hielt ihre Kutsche, weil mehrere Fußgänger die Promenade querten.
»Eine Totenlade«, flüsterte sie und erschauderte. Sie hatte gehört, dass arme Familien ihre Toten oftmals für Forschungszwecke an das Spital verkauften, damit sie das Geld für die Beerdigung zusammenbekamen. Viviana musste unvermittelt an Irma denken, die früher als Dienstmädchen im Palais gearbeitet hatte. Ihre Mutter war so großzügig gewesen, eine Versicherung beim Dienstboten-Institut für Irma abzuschließen, damit das mittellose Mädchen im Krankheitsfall in einem der Spitäler der Stadt behandelt werden konnte. Vor nunmehr zwei Jahren war Irma im Juliusspital an den Folgen eines Zahngeschwürs gestorben. Damals hatte ihre Mutter ihr strikt verboten, das Mädchen im Spital zu besuchen. Erst jetzt, in diesem Moment, verstand Viviana auch, warum. Das Juliusspital war ein angsteinflößender Ort, aus dem man nicht mehr lebend herauskam, in ihm wurde der Keim des Todes gesät.
Der Arzt der Familie, Doktor Hammerschmidt, hatte ihnen, nachdem Irma gestorben war, erzählt, dass die Kranken, sobald sie das Spital betraten, kein Verfügungsrecht mehr über ihre Körper hätten. Sie würden ab diesem Zeitpunkt nurmehr Objekte für die medizinische Lehre und Forschung sein. Von Professor Kölliker, einem der Spitalsprofessoren, der auch schon Gast an der Tafel ihrer Mutter gewesen war, wusste Viviana außerdem, dass die Kranken den Würzburger Medizinstudenten während der Vorlesungs-, Praktika- und Examenszeit zur Verfügung stehen mussten, weil diese am Juliusspital ausgebildet wurden. Viviana war deshalb froh, dass die Familie Winkelmann sich einen Hausarzt wie Doktor Hammerschmidt leisten konnte.
Ihr wurde übel, als sie nach der Totenlade nun auch noch eine hochschwangere Frau auf das Torgebäude des Spitals zuhumpeln sah. Mit einem Ruck fuhr die Kutsche wieder an. Viviana streckte den Kopf aus dem Fenster, um der Schwangeren nachzuschauen. Ob die Frau und das Kind wenigstens eine kleine Chance besaßen, das Spital lebend zu verlassen? Unvermittelt legte sie die Hand auf den Bauch und strich darüber. Sie war froh, nicht auf den Wartesaal des Todes angewiesen und immer warm angezogen zu sein sowie keinen Hunger leiden zu müssen. Dies alles hatte sie in der Nacht mit Paul aufs Spiel gesetzt.
Viviana zog den Vorhang wieder vor das Fenster und klopfte gegen die Kutschwand, damit der Mann auf dem Bock schneller fuhr. Sie wollte weg vom Spital und der Unteren Promenade. Vermutlich war es bereits kurz vor neun Uhr, und ihr Vater beauftragte gerade das Dienstmädchen, den Most zu erwärmen, den er dann immer höchstpersönlich und meist an ihrer Mutter vorbei in ihr Zimmer schmuggelte. Ob er sie verstoßen würde, wenn er von der Schwangerschaft erfuhr? So etwas hatte es in Würzburg schon gegeben.
Allein bei der Vorstellung, ohne ihre Familie leben zu müssen, wurde Viviana ganz beklommen zumute. Mit eiskalten Fingern klammerte sie sich an die Kutschbank. Beschwörend sprach sie ein Gebet zur Herzogin des Frankenlandes, zur heiligen Mutter Maria: »Oh, Mutter der Gnade, der Christen Hort, bist Zuflucht der Sünder, des Heiles Port, Du Hoffnung der Erde, des Himmels Zier, bist Trost der Betrübten, mein Schutzpanier.«
Die Zeilen wiederholend, schaffte sie es bis in die Hofstraße, ohne dass sie vor Angst den Verstand verlor. Sie betrat ihr Zuhause durch den Dienstboteneingang. Nie zuvor war ihr das Palais, das gestern noch ihr friedliches, beschützendes Zuhause gewesen war, so unheilvoll vorgekommen.
Es war mucksmäuschenstill im Haus. Im Empfangsbereich im ersten Obergeschoss des Hauses angekommen, warf sie einen Blick auf die Zimmer, die vom Empfangsbereich abgingen. Sowohl die Tür zum großen Salon mit dem anschließenden Herrenkabinett als auch die zum kleineren, royalblauen Salon waren geschlossen. Noch am Nachmittag war das Haus mit Vorfreude auf Papas Geburtstagsfeier erfüllt gewesen. Ihre Mutter sprach schon seit einigen Tagen darüber, mit welchen Details sie den Jahrestag ihres Gatten auszurichten gedachte.
Bei dem Gedanken an ihre Mutter wurde es Viviana noch einmal mulmiger. Heute Nachmittag hatte Elisabeth Winkelmann noch gestrahlt. Welchen Ausdruck ihr Gesicht wohl annehmen würde, wenn sie von der Schwangerschaft erfuhr? Von dieser Verfehlung, die wie eine Last, wie ein unauslöschlicher Makel auf Vivianas Schultern lastete, der sie von nun an begleiten und für immer ihre Schwachstelle sein würde, die sie auf die Knie zwang.
Verzweifelt presste sie ihre Schute vor die Brust und ging leise die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe wurde sie unruhiger, mit jeder Stufe ging sie noch gebückter. Als sie im dritten Obergeschoss angekommen war, schlug die Wanduhr neun. Das wäre geschafft!
»Vivi, warum trägst du deine Pelerine im Haus?«
Sie fuhr zusammen. Die Schute fiel zu Boden. Zögerlich wandte sie sich um. Ihr Vater schritt aufrecht und selbstsicher, ganz der erfolgreiche Geschäftsmann, die Treppe hinauf und auf sie zu. Er hielt ein Glas gefüllt mit Most in der Hand.
»Papa, ich … es ist so …«, begann sie und brachte es doch nicht übers Herz, ihrem Vater mitten ins Gesicht zu lügen. Sie hob die Schute auf und drehte sie zwischen ihren Händen, sodass sich die auf ihr befestigten Stoffblumen zu lösen drohten.
Vielleicht war es ja ratsam, zuerst den nachsichtigeren Vater einzuweihen, und nicht beide Elternteile gleichzeitig. »Können wir reden? Allein?« Bang schaute sie zum Orchideenzimmer, in dem sich ihre Mutter um diese Zeit häufig aufhielt.
»Ohne deine Mutter?« Ihr Vater war ihrem Blick gefolgt. »Nun gut, ausnahmsweise«, sagte er schließlich und schritt mit dem Mostglas in der Hand voran in Vivianas Zimmer.
»Was ist passiert, dass du deine Pelerine im Haus trägst?«, verlangte er einmal mehr zu wissen. Sein Ton wurde weicher, als er sie genauer betrachtete: »Du zitterst ja, Vivi. Ist dir kalt? Bist du krank?« Er stellte das Mostglas beiseite, führte Viviana zu ihrem Bett und legte ihr seinen nach Kräutertabak riechenden Gehrock um die Schultern.
»Ich, ich …« Am liebsten hätte Viviana ihm gleich hier und jetzt alles gebeichtet, aber das Wort »schwanger« wollte ihr einfach nicht über die Lippen gehen. Auf der Stirn ihres Vaters zeigten sich nun tiefe Falten, wie immer, wenn er sich Sorgen machte.
»Ich bin … es ist … ich wusste nicht …« Sie nahm mehrere tiefe Schlucke vom Most, als hätte sie den ganzen Tag noch nichts zu trinken bekommen. Dann sagte sie: »Gewissermaßen bin ich wirklich krank«, und trank gleich noch einmal, bevor sie ihm offenbarte: »In mir wächst ein Kind, Papa.«
»Grundgütiger!« Johann G. Winkelmann zog die Hand von seiner Tochter zurück, als hätte sie die Pocken. Sein erschrockener Blick sprach Bände. »Mein kleines Mädchen hat sich einem Mann hingegeben?«
Viviana erhob sich vom Bett. »Es war nur dieses eine Mal, und Paul ist anders, Papa. Ich liebe ihn«, sagte sie leise, aber voller Überzeugung.
»Bist du dir sicher mit der Schwangerschaft?«, fragte er.
Viviana wollte ihrem Vater nichts von den ausbleibenden Monatsblutungen erzählen. Das war ein Thema, über das man, wenn überhaupt, nur unter Frauen sprach. »Ziemlich sicher«, gestand sie schuldbewusst. Drei Mal war ihre Monatsblutung schon ausgeblieben, die Brüste schmerzten ihr, oft wurde ihr plötzlich übel, und sie war tagsüber oft müde. »Ich weiß nicht, was ich nun tun soll. Aber auf jeden Fall will Paul mir bei allem helfen, soweit es ihm möglich ist. Er übernimmt Verantwortung«, betonte sie.
Johann Winkelmann nahm den Gehrock von den Schultern seiner Tochter und sprach, als hätte er ihr gar nicht richtig zugehört: »Bevor du die Schwangerschaft deiner Mutter beichtest, soll sie Doktor Hammerschmidt erst einmal bestätigen. Ich lasse sofort nach ihm schicken. Elisabeth ist noch bei ihren Pflanzen. Wenn du Glück hast, bleibt sie noch länger dort.«
»Papa?« Viviana trat zu ihrem Vater und umarmte ihn, als sähe sie ihn zum letzten Mal in ihrem Leben. »Es tut mir leid.«
Doch ihr Vater, nun ganz der sachliche Bankdirektor, erwiderte die Umarmung nicht. »Bleib du hier in deinem Zimmer, bis der Doktor kommt!«, sagte Johann lediglich, dann entzog er sich ihrer Umarmung und verließ den Raum.
Eine halbe Stunde später traf der Familienarzt im Palais ein. Viviana hatte den beleibten Mann zuletzt vor zwei Monaten gesehen, als er Großmutter Ernestine neues Digitalis für ihr schwaches Herz verschrieben hatte. Doktor Hammerschmidt trug sein dichtes Barthaar lang und hatte sogar auf seinem breiten Nasenrücken kleine Härchen. Er atmete schwer und geräuschvoll, solange sie ihn kannte. Als angesehener Allgemeinmediziner, und vor allem als der teuerste, ging er bei der Hälfte der Würzburger Bürgersfamilien ein und aus.
Auf seine Anweisung hin urinierte Viviana in ein Fläschchen, danach betrachtete er ihre Augen genauer. Dafür kam er ihr ungebührlich nah. Sein schwerer Atem roch nach Schweinsbraten. Immerhin berührte er sie nicht.
»Zuallererst spiegelt es sich in den Augen einer Frau wider, ob sie befruchtet wurde. Schwangere weisen ungewöhnlich tief liegende Augen auf«, erklärte der Arzt an Johann Winkelmann gewandt, »und die Pupillen werden sehr klein.«
Viviana schaute den Hausarzt sogar noch ängstlich an, als er längst von ihr weggetreten war, ihr Urinfläschchen mit spitzen Fingern in der Hand hielt und es im Licht einer Öllampe beschaute. »Kein Zweifel, weder was den Urin noch was die Augen betrifft.« Er schüttelte den Kopf, dass sein Doppelkinn wackelte.
»Nicht schwanger?«, fragte Johann, und auch Viviana hoffte plötzlich doch noch auf eine Wendung ihres Schicksals. Vielleicht rührte die Übelkeit von verdorbenem Essen her. Aber warum war dann nur sie betroffen, und warum blutete sie schon seit Monaten nicht mehr? Litt sie an einer anderen Frauenkrankheit, die Einfluss auf die Blutung hatte?
»Ich muss Sie enttäuschen, Herr Bankdirektor Winkelmann.« Der Arzt holte Papiere und einen Stift aus seiner Tasche. »Ihre Tochter ist ganz sicher schwanger.«
Johann kniff die Lippen zusammen, als hätte er Schmerzen. So verharrte er auch noch, als er dem Arzt die Frisierkommode als Schreibplatz wies. Der zierliche Damenstuhl verschwand unter dem massigen Hintern von Gregor Hammerschmidt.
Viviana verfolgte das weitere Geschehen hinter einem Tränenschleier und lauschte der schweren Atmung des Arztes, der nur kurz von seiner Schreibarbeit aufschaute: »Seit wann bluten Sie nicht mehr, Fräulein Winkelmann?«
»Seit Februar«, gab sie kleinlaut zurück und war heilfroh, dass sie sich vor ihm nicht frei machen musste.
»Danke, das war es dann erst mal.« Der Doktor hievte sich hoch und überreichte Johann Winkelmann das Rechnungsschreiben.
»Ich bringe Sie noch zur Tür«, bot Johann an.
»Papa?«, rief Viviana ihn zurück, als der Doktor ihr Zimmer bereits verlassen hatte.
Die Hand an der Klinke drehte Johann sich noch einmal um. Der sonst so stattliche, hochgewachsene Geschäftsmann mit einnehmender Ausstrahlung schien Viviana vor lauter Sorge geradezu geschrumpft zu sein. So hatte sie ihn bisher nicht einmal nach einem verlustreichen Geschäft oder nach dem Tod seines hochverehrten Vaters, dem Begründer des Bankhauses Winkelmann, gesehen. »Werdet ihr mich fortschicken?«, wollte sie wissen.
»Rede zuerst mit deiner Mutter, danach entscheide ich«, lautete seine Antwort. Dann zog er die Tür hinter sich zu und ließ Viviana allein zurück.
»Ach Paul, wenn du mir jetzt nur beistehen könntest.« Viviana wollte ihre Knie vor die Brust ziehen, aber mit der steifen Krinoline unter ihrem Rock war das unmöglich. Ihr war zum Weinen zumute, aber wenn sie jetzt schon zusammenbrach, was sollte dann erst werden, wenn sie das Gespräch mit ihrer Mutter suchte? Die eigentliche Herausforderung stand erst noch bevor.
Jeden Erfolg in ihrem Leben hatte Elisabeth Felicitas Winkelmann mit der Anschaffung einer Orchidee gefeiert. Die Orchidee war die exzentrischste Anverwandte des Pflanzenreichs, die exquisiteste aller Duftpflanzen, die Königin der Blumen. Stolz glitt ihr Blick über die kunstvoll geblasenen Exemplare, die auf kleinen Tischen stehend, die lange Wand des Zimmers wie ein Schmuckband zierten. Sieben Orchideen waren es inzwischen, für sieben Triumphe, die sie in den vergangenen zwanzig Jahren mit solch einem Kunstwerk gekrönt hatte. Elisabeth hatte sich für gläserne Exemplare entschieden, weil sie ihre Lieblingspflanze tagtäglich in vollem Blütenstand betrachten wollte. Echte Orchideen blüten jedoch nicht das ganz Jahr über. Zudem galt es als ein Wunder, eine echte Orchidee unter europäischen Licht- und Klimabedingungen am Leben erhalten zu können. Die Anschaffungskosten für eines dieser gläsernen Kunstwerke lagen preislich dennoch kaum unter denen für eine echte Orchidee. Die gläsernen Pflanzen, die in wochenlanger Arbeit aus der Glasmacherpfeife des begabtesten böhmischen Glasbläsers gezogen wurden, fand Elisabeth sogar noch schöner als die echten. Gerade strich sie über die gläserne Blüte der blauen Vanda. An keinem Tag im Jahr verloren ihre Orchideen ihr stolzes Aussehen. Sie glänzten bei Regen und bei Sonnenschein. An keinem Tag wiesen sie auch nur einen einzigen Makel wie blasse Blüten oder graue Blätter auf.
»Guten Abend, Mama«, vernahm Elisabeth die bange Stimme ihrer Tochter hinter sich. Sie nickte zum Zeichen dafür, dass Viviana diesen intimen Raum betreten durfte. Elisabeth duldete nur wenige Personen im Orchideenzimmer. Niemand außer ihr durfte die gläsernen Pflanzen berühren. Abgesehen von der wöchentlichen Reinigung war dem Personal der Zutritt verboten.
Elegant kam Elisabeth in ihrem Promenadenkleid vom Stuhl hoch. Sie trat vor ihre Tochter und küsste sie mütterlich auf die Stirn. »Kannst du nicht schlafen?«
Viviana schüttelte den Kopf. »Ich wollte dich nicht stören. Verzeih.«
Der Schlag der Wanduhr im Salongeschoss zeigte Elisabeth an, dass es bereits elf Uhr war. »Was gibt es Wichtiges? Du weißt doch, dass eine junge Dame zu dieser späten Stunde eigentlich im Bett zu liegen hat. Ich lasse nach Henna rufen, damit sie dir aus den Kleidern hilft.«
»Ich …«, begann Viviana zögerlich, »ich habe mich verliebt, Mama.«
Elisabeth griff nach den Händen ihrer Tochter. Es war das erste Mal, dass Viviana mit ihr über die Liebe zu einem Mann sprach. »Aber das ist doch eine freudige Nachricht.« Vergeblich suchte sie in den Augen ihrer Tochter nach Begeisterung oder Freude.
In den ersten Monaten ihrer Ehe hatte Elisabeth vor lauter Aufregung, Verliebtheit und Freude zunächst nicht schlafen können. Freude auch darüber, mit Johann Winkelmann den zukunftsträchtigsten und beeindruckendsten Mann ganz Würzburgs für sich gewonnen zu haben. Besiegelt mit einem vierzehnkarätigen Ring aus Roségold und mit Diamanten an ihrem Ringfinger. Bald darauf war ihr eheliches Glück noch von zwei wundervollen Kindern gekrönt worden. Gottes Segen lag auf ihrem Leben.
Elisabeth lächelte über die Aussicht, dass eine baldige Hochzeit die Familie und das Bankhaus einmal mehr in das glänzende Licht der Würzburger Öffentlichkeit rücken würde. »Nun sag mir nur noch, ob es sich um Kommandant von Öllkau handelt oder um den jungen Herrn Wittberger.« Elisabeth schaute ihre Tochter erwartungsvoll an. »Ich würde dir zu Kommandant von Öllkau raten. Er hat noch eine glänzende Karriere vor sich, ausgezeichnete Manieren, und außerdem verkehrt er in königlichen Kreisen. Angeblich berichtet er über polizeiliche Vorkommnisse in Würzburg direkt an den König. Seine Zelebrität wächst mit jedem Tag und …«
»Ich liebe keinen von beiden!«, fuhr Viviana dazwischen. »Ich habe mich in Paul Zwanziger verliebt.«
Elisabeth merkte auf. Der Name Zwanziger war ihr bisher weder auf einer der erlesenen Tanzveranstaltungen der Harmonie-Gesellschaft noch auf einem der Bälle, den der Verband der Privatbankiers einmal jährlich in Würzburg abhielt, untergekommen. »Ist er von außerhalb?«, fragte sie und wurde langsam unruhig. Sie konnte Viviana ansehen, dass etwas nicht stimmte.
»Paul ist ein ehrlicher junger Mann aus der Pleich und der beste Steinmetz weit und breit«, antwortete Viviana hastig. Jetzt war es endlich heraus. »Er hat die einzigartigen Bildhauerarbeiten am Zeller Tor ausgebessert. Er wird eines Tages sehr berühmt …«
»Einer aus dem Handwerkerstand?«, unterbrach sie Elisabeth harsch, die vor Empörung das Blut in ihren Pulsadern pochen spürte. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
Statt zu antworten, senkte Viviana betreten den Blick, was für Elisabeth das eindeutige Zeichen war, dass ihre Tochter nicht log oder sich einen Scherz mit ihr erlaubte.
Sie schob Viviana aus dem heiligen Orchideenzimmer. »Das soll Johann mitanhören!« Aufgebracht schloss Elisabeth ihr Zimmer ab. »Bitte deinen Vater in den royalblauen Salon und schicke unbedingt das Personal zu Bett!«, befahl sie und rauschte an ihrer Tochter vorbei den Flur entlang. »Im Salon entscheiden wir über deine Bestrafung. Ein einfacher Hausarrest wird in diesem Fall ganz sicher nicht genügen.«
Der royalblaue Salon war der kleinere der beiden Salons im Palais und ebenso wie das Orchideenzimmer das Revier ihrer Mutter. Hierhin lud sie ihre Damen und auch Gäste, die von weiter her kamen, ein, um bei einer Tasse indischen Tees Handarbeiten zu verrichten und Neuigkeiten auszutauschen. Dabei war auch Viviana regelmäßig an ihrer Seite. Im royalblauen Salon hatte Elisabeth mit ihrer Tochter geübt, die richtige Haltung zu bewahren und vor allem, worüber Viviana jetzt heftig schlucken musste, junge Herren zu empfangen, die als zukünftige Ehemänner für die einzige Tochter des Hauses aussichtsreich erschienen. Darunter waren auch Kommandant von Öllkau und der junge Herr Wittberger gewesen. Für keinen von beiden hatte sie jedoch große Sympathie empfunden, beide hatten ihr Herz nicht berührt.
Viviana war mit ihrem Vater bereits im Salon, als ihre Mutter erschien. Elisabeth setzte sich nicht wie sonst auf das brokatgesteppte royalblaue Kanapee, von dem der Salon seinen Namen hatte, sondern blieb zwei Schritte davor stehen und schaute auf ihre Tochter hinab. Sie war wie ausgewechselt. Im Schein des Kronleuchters wirkte sie in ihrem Promenadenkleid kühl und unnahbar. Das Kleid betonte ihre schmalen Schultern und ihre jungfräuliche Taille. Als Elisabeth den Arm nach Johann ausstreckte, trat dieser an ihre Seite.
Viviana stand allein am Fenster.
»Unsere Tochter bildet sich ein, einen Handwerker zu lieben!«, erklärte Elisabeth ihrem Ehemann, wandte sich für den nächsten Satz aber schon wieder Viviana zu. »Und du hast diesen … diesen«, sie bekam das Wort »Steinmetz« vor Entrüstung offensichtlich nicht über die Lippen, »du hast diesen Handwerker also bereits getroffen, oder weshalb sonst nimmst du an, du seist in ihn verliebt?«
Viviana schaute hilflos zu ihrem Vater. Am besten war immer noch Ehrlichkeit. »Einmal habe ich mich aus dem Haus geschlichen, als ihr verreist wart, und ein anderes Mal habe ich einen Besuch bei Theresa vorgeschoben«, führte sie aus. »Aber die wusste nichts davon«, log sie und fühlte sich dabei so unwohl, dass ihre Kehle eng wurde.
»Du hast uns belogen?«, fragte Johann kopfschüttelnd und leise.
»Es tut mir leid, dass ich euch enttäusche.« Sie kannte die Regeln in- und auswendig, denen sich eine Bankierstochter zu fügen hatte, aber in den Armen von Paul hatten sie keinerlei Bedeutung mehr gehabt.
»Das wird ab sofort ein Ende haben. Du wirst ihn nicht wiedersehen. Das muss dir klar sein!«, ereiferte sich Elisabeth. »Weißt du eigentlich, was es für die Familie bedeutet, hätte man dich mit ihm zusammen gesehen?«
Viviana verstand nur: Du wirst ihn nicht wiedersehen. Ein Leben ohne Paul war für sie aber nicht vorstellbar. Er war der einzige Mensch, der sie wirklich verstand. Sie liebte ihn, und er war der Vater ihres Kindes.
»Welche Bestrafung hältst du für angemessen, Johann?«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter undeutlich fragen. Die Antwort ihres Vaters verstand sie nicht, stattdessen vernahm sie, wie von einer Geisterstimme gesprochen, nur: Du wirst ihn nicht wiedersehen. Du wirst ihn nicht wiedersehen.
»Viviana!«, verlangte Elisabeth. »Hörst du uns überhaupt zu?«
Die straffte ihren Rücken, als sie merkte, dass der strenge Blick ihrer Mutter sie von oben bis unten musterte. »Paul ist …«, sagte sie dann. »Ich bin …«
»Ich will diesen Namen nie wieder hören!« Elisabeth hatte sich bereits umgedreht und hielt auf die Tür zu. »Entschuldigt mich jetzt. Ich brauche frische Luft!« Sie hatte die Hand gerade auf die Klinke gelegt, als Johann sie bat: »Bitte bleib! Unsere Tochter hat dir noch etwas zu sagen.«
Viviana wurde steif vor Angst, hatte sie doch schon darauf gehofft, mit der Verkündung der Schwangerschaft bis zum morgigen Tag warten zu können, wenn sich ihre Mutter vielleicht wieder etwas beruhigt hätte. Zumal es ihr hier im Salon, unter den Augen der goldgerahmten Urgroßmutter an der Wand, noch schwerer fiel, ihre Verfehlung in Worte zu fassen. Wenn allein schon ein Treffen mit Paul ihre Mutter derart in Rage brachte, wie würde sie dann erst reagieren, wenn sie von der vorehelichen Schwangerschaft erfuhr? Sollten sie die Beichte nicht doch lieber vertagen? Sie alle waren nach dem langen Tag erschöpft und gereizt obendrein.
»Sag es ihr!«, forderte ihr Vater nun streng und unnachgiebig.
Vorsichtshalber, da er schon ahnte, dass die Neuigkeit Elisabeth einen Schlag versetzen würde, führte Johann seine Frau zum Kanapee. Da klopfte es an der Tür, und schon betrat Valentin, ohne eine auffordernde Antwort erhalten zu haben, den Salon. Er erfasste die angespannte Situation sofort, ging zum Tisch vor dem Kanapee und steckte sich leichthin einen Haselnusskeks aus der Kristallschale in den Mund. »Was hat Viviana denn verbrochen, dass ihr noch so spät auf seid?«, fragte er genüsslich kauend.
Viviana hätte ihren Bruder am liebsten fortgeschickt. Bevor Valentin begonnen hatte, sich als aufstrebenden Bankier so wichtig zu nehmen, dass er sie zeitweise wie eine Untergebene behandelte, waren sie einander sehr nah gewesen.
»Soll ich euch lieber alleine lassen?«, fragte Valentin nach einer Weile, nachdem seine erste Frage nicht beantwortet worden war. »Ich könnte im Kontor schon den Wechselvertrag für die Mainschifffahrts-Gesellschaft aufsetzen.«
Viviana nickte sofort, aber ihr Vater wandte ein: »Du bleibst! Das Problem betrifft uns alle.«
Viviana bemerkte, wie ihre Mutter bei dem Wort »Problem« zusammenzuckte und dass Schweiß auf der Stirn ihres Vaters stand. Jetzt fehlen nur noch Tante Constanze und Großmutter Ernestine, dann ist die Familie komplett!, dachte sie nervös. Und ich werde kein einziges Wort mehr herausbringen.
Valentin nahm auf einem der brokatgesteppten Stühle gegenüber dem Kanapee Platz und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. »Wo also wart ihr gerade stehen geblieben?«
Er benimmt sich, als hätte ihn Papa bereits zum Teilhaber des Bankhauses gemacht, dachte Viviana bitter. Dann nahm sie Haltung an, sah bei ihren nächsten Worten aber keinem Familienmitglied in die Augen, sondern fixierte den Boden, während sie murmelte: »Ich bin schwanger.«
Viviana hörte, wie ihre Mutter nach Luft rang, blickte aber nicht auf.
Lange sprach niemand ein Wort.
Schließlich fand Elisabeth Winkelmann als Erste ihre Stimme wieder: »Du hast dich vor der Ehe einem Mann …?«, den Rest des Satzes ersparte sie sich und den anderen Anwesenden. Fassungslos und kein bisschen graziös, so wie sonst, schüttelte sie den Kopf.
»Nur ein einziges Mal«, beteuerte Viviana. Paul war sehr behutsam mit ihr gewesen, aber seine Zärtlichkeiten verloren nun, wo sie in Elisabeths kreidebleiches Gesicht schaute, an Wert.
»Das kann nicht wahr sein!«, sagte Elisabeth mit bedrohlich tiefer Stimme. »Einer Winkelmann passiert so etwas nicht! Wozu haben wir so viel Zeit und Geld in deine Erziehung investiert?«
»Doktor Hammerschmidt hat ihre Schwangerschaft bereits bestätigt.« Johanns enttäuschter Blick ruhte vorwurfsvoll auf Viviana und schmerzte diese noch mehr als die harsche Art ihrer Mutter. »Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir den Schaden von der Familie abwenden können«, fuhr er fort, den Blick immer noch unverändert auf seine Tochter gerichtet.
Valentin hingegen schaute beherrscht zwischen seinen Eltern und Viviana hin und her. »Wer weiß außer uns davon?«, fragte er schließlich.
»Ich habe es nur Paul erzählt«, antwortete Viviana bemüht versöhnlich und fügte noch leise an: »Er freut sich auf das Kind.« Sie fühlte Übelkeit in sich aufzusteigen, gleich bekäme sie keine Luft mehr in diesem stickigen Salon.
»Du beliebst zu scherzen, Schwesterchen! Du willst doch nicht allen Ernstes einen Bastard zur Welt bringen. Damit setzt du den Ruf unserer Familie und des Bankhauses aufs Spiel! Und ein Ruf ist bei Weitem schneller ruiniert als wiederhergestellt. Deine Verfehlung würde sich schon bald in den Geschäftszahlen widerspiegeln.« Er erhob sich geschmeidig. »Dies wiederum würde uns über kurz oder lang in den Ruin und die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit treiben. All das hat es in Würzburg schon gegeben, und der Anlass dafür war geringer als ein uneheliches Kind von einem mittellosen Vater. Wir können uns schlichtweg keinen Bastard in der Familie leisten.«
»Ganz genau, einen Bastard wird es in der Familie Winkelmann niemals geben!«, schwor Elisabeth.
»Bastard!«, wiederholte Viviana fassungslos. Das Kind wurde von seinem Onkel und seiner Großmutter bereits als Bastard beschimpft? Sie verurteilten das kleine, hilflose Wesen in ihr, obwohl es noch nicht einmal auf der Welt war?
»Valentin hat absolut recht!«, stimmte nun auch Johann zu, ohne die Feststellung seiner Frau zu kommentieren. »Die Nachricht von deiner Schwangerschaft darf auf keinen Fall nach außen dringen.«
Elisabeth hatte sich mittlerweile wieder einigermaßen gefasst. Sie richtete die Falten am Rock ihres Promenadenkleides, dann straffte sie sich und verkündete: »Viviana sollte, so schnell es geht, Kommandant von Öllkau heiraten. Er wird das Kind als das seine ausgeben. Was denkst du, Johann?«
Der nickte nur gedankenversunken.
Viviana glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Von Öllkau, dieser seltsame Kommandant, der bislang nur über strategische Kriegsführung monologisiert hatte? Der kein bisschen liebenswürdig zu ihr gewesen war oder sich gar für sie interessiert hatte? »Bitte nicht«, war denn auch alles, was sie herausbrachte. Sie musste sich am Fensterbrett abstützen.
Valentin widersprach seiner Mutter nur wenige Sekunden nach ihr: »Von Öllkau ist ein stolzer Mann, der lässt sich keinen Bastard unterjubeln! Da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Nun, bislang ist mir noch nie zu Ohren gekommen, dass ein Mann nicht umgedacht hätte, fällt die Mitgift nur hoch genug aus«, erklärte Johann. »Was schlägst du denn als Alternative vor, Valentin, wenn wir den von uns hochgeschätzten Kommandant von Öllkau nicht als Schwiegersohn in Erwägung ziehen sollen?« Er rieb sich das Kinn, als wöge er gerade ein riskantes Kreditgeschäft ab.
Viviana fühlte sich als Zuschauerin eines Bühnenstücks, in dem sie doch die Hauptrolle spielte. Im Schein der vollen Salonbeleuchtung sprachen ihre Eltern und ihr Bruder über ihre Zukunft, als sei sie gar nicht anwesend.
Valentin trat vor Viviana hin und sah sie kühl und unverwandt an. »Wir lassen das Kind heimlich wegmachen«, sagte er entschlossen. Dann wandte er sich wieder seinen Eltern zu. »Der dicke Hammerschmidt weiß doch bestimmt, wie das geht.« Er zog eine Zigarre aus der Innentasche seines Gehrocks und roch genießerisch an ihr.
Niemand erwähnte, was die Bibel zu diesem Thema zu sagen hatte, was Viviana wunderte, denn Gottes Wort fand im Hause Winkelmann sonst stets Gehör. Ihre Familie war katholisch, wie fast alle Würzburger Bürger. In der Bibel, im zweiten Buch Mose, stand geschrieben, dass derjenige, der den Tod eines Fötus im Mutterleib verursachte, die gleiche Strafe zu erwarten hatte wie ein Mörder. Und die Strafe für einen Mörder war der Tod. Viviana begann zu zittern. Sie wollte keine Mörderin sein. »Mein und Pauls Kind soll leben«, sagte sie.
»Ich möchte den Namen Paul nie wieder in meinem Haus hören!«, erinnerte sie ihre Mutter, deren Zornesader an der Schläfe bereits wieder anschwoll. »Das sagte ich bereits! Du hast uns diese Suppe eingebrockt und wirst uns daher auch helfen, sie auszulöffeln!«
Die tiefe, kalte Stimme ihrer Mutter ging Viviana durch Mark und Bein, sodass sie erst nach einem tiefen Atemzug zu antworten wagte: »Ich helfe euch – wenn mein Kind nicht getötet wird.« Sie warf Valentin einen bösen Blick zu, den dieser aber unberührt weglächelte und sich daranmachte, seine Zigarre anzuschneiden.
Elisabeth stand so vornehm vom Kanapee auf, als befände sie sich auf einer großen Gesellschaft. Sie begab sich vor das goldgerahmte Bildnis ihrer Großmutter. Hedwig Maria Ortleb war eine starke Frau in den Wirren der Französischen Revolution gewesen. Stolz überblickte Vivianas Urgroßmutter den royalblauen Salon.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, wusste Elisabeth nach einem langen Blick auf Hedwigs Porträt. »Darf ich, Johann?«
Viviana schöpfte Hoffnung.
Ihr Vater nickte ihrer Mutter auffordernd zu. »Was auch immer mit Geld möglich ist, will ich möglich machen«, sagte er noch, bevor Elisabeth ihnen ihre Überlegungen mitteilte. »Es gibt einen geistlichen Orden in der Stadt, von dem ich gehört habe, dass Frauen dort anonym entbinden können. Die Schwangere verschwindet hinter den klösterlichen Mauern, sobald der Bauch nicht länger zu verbergen ist. Nach ihrer Niederkunft werden die Neugeborenen dann an andere Eltern gegeben.«
Viviana beobachtete, wie Valentin nun ebenfalls vor das goldgerahmte Porträt seiner Ahnin trat. »Eine gute Idee. Wir könnten das Ganze mit einem Jahr in der Ferne erklären. Für ein Mädchen von Stand ist es ja nicht unüblich, sich bei Verwandten im Ausland mit der fremden Sprache und den dortigen Sitten vertraut zu machen.« Er zog an seiner Zigarre.
Johann gesellte sich zu Elisabeth und Valentin. »Wir könnten die Vespuccis in Italien als Alibi hernehmen.«
Wieder stand Viviana abseits von ihnen und allein.
»Die Vespuccis könnten mehr als nur unser Alibi sein«, sagte Elisabeth. »Wir könnten Viviana nach der Niederkunft für einige Monate tatsächlich zu ihnen schicken.«
Johann nickte, erneut in Gedanken versunken. »Niemand wird an unserer Geschichte zweifeln, wenn Viviana in Gesprächen hin und wieder einige italienische Wendungen einstreut und von der Schönheit des Apennins schwärmt.« Er wandte sich wieder Viviana zu. Valentins Zigarrenqualm hüllte ihn ein. »Wirst du dich dem fügen, Viviana?«
Doch schon warf Elisabeth ergänzend ein: »Zu dieser Möglichkeit gehört natürlich auch, dass du diesen Schänder junger Damen nie wiedersehen wirst.«
Viviana musste sich erneut am Fensterbrett festhalten. Die Beine wurden ihr weich und drohten wegzuknicken. Der Salon begann, sich um sie zu drehen. Paul niemals wiederzusehen war unvorstellbar. Ein Leben ohne Paul war kein Leben, sondern nur eine einzige, andauernde Ohnmacht.
»Wir müssen als Familie zusammenhalten.« Johann war der Einzige, der merkte, dass es Viviana nicht gut ging, und nun zu ihr trat. »Es geht nur so«, mahnte er nachsichtiger und stützte sie, indem er sie unter dem Arm fasste. »Vielleicht kommen wir und das Bankhaus dann einigermaßen glimpflich davon.«
Viviana wollte ihre Mutter gerade dahin gehend korrigieren, dass Paul kein Schänder war, als sie glaubte, eine Bewegung in ihrem Bauch zu spüren. Es fühlte sich wie ein zartes Flattern an, wie der erste Flügelschlag eines Schmetterlings. Als wollte ihr Kind mitreden, als wollte es sich ihr vorstellen. Sie fasste sich an den Unterleib. Das Kind in ihr wollte leben, und wie es aussah, waren eine heimliche Geburt und nicht leibliche Eltern immer noch besser als Valentins Vorschlag der Kindstötung im Mutterleib. Sie musste das Leben ihres Kindes um jeden Preis schützen.
»Ich bin einverstanden«, sagte sie und konnte doch nur daran denken, dass das Ungeborene in ihr in Liebe gezeugt worden war. Es sollte leben und von seinen neuen Eltern geliebt werden, mochte ihr das in diesem Moment auch noch so unglaublich vorkommen. Denn welches Kind wurde schon in einer Familie glücklich, die es verachtete und als Bastard abstempelte!
»Dann lasst uns endlich zu Bett gehen«, sagte Valentin, zog noch einmal an seiner Zigarre und verließ nach einem Nachtgruß den Salon. Elisabeth und Johann folgten ihm kurz darauf ohne ein weiteres Wort.
Viviana sackte auf das royalblaue Kanapee und strich über ihren Bauch. Sie ließ ihren Kopf auf die Brust sinken und ihren Tränen freien Lauf. Zwar hatte ihre Familie sie nicht verstoßen, aber Paul und ihr Kind würde sie hergeben müssen.
Viviana erinnerte sich an die Schwangere, die sie wenige Stunden vorher noch von der Kutsche aus ins Juliusspital hatte humpeln sehen. Immerhin musste sie dankbar dafür sein, dass ihr die Geburt in einem Spital erspart blieb und sie wenigstens in einem Kloster entbinden durfte. Dennoch wollten weder Dankbarkeit noch Erleichterung in ihr aufkommen. Mit dem Zeigefinger, auf dessen Bissspuren Paul vorhin noch zärtlich einen Kuss gedrückt hatte, wischte sie sich die Tränen von den Wangen.
Mit jedem Atemzug wurde die Vorstellung schlimmer, sich nach der Geburt im Oktober von dem kleinen Wesen in ihr verabschieden zu müssen. Am besten wäre es wohl, einfach nicht mehr daran zu denken, aber der kleine Schmetterling in ihr erinnerte sie mit jedem Flügelschlag daran.
Mai 1850
An vorlesungsfreien Tagen wie dem heutigen wollte er mindestens drei Sektionen schaffen. Rudolf trat vor die Bretterwand, wo er seine Taschenuhr an einen rostigen Nagel gehängt hatte. Die Uhr mit Schildpattüberzug hatte einst seinem pommerschen Großvater gehört. Die filigranen Zeiger zeigten elf Uhr an.
Er lag ausgezeichnet in der Zeit. Vor einer Stunde hatte er bereits den vierten Leichnam des Tages eröffnet. Noch eine Stunde blieb ihm bis Mitternacht. Mondlicht drang durch das große Fenster in das alte anatomische Theater und fiel auf die Sitzreihen der Tribüne, die notdürftig aufgestellten Holzstützen und bis auf den Tisch, auf dem der Selbstmörder lag.
Die äußere Beschau war bereits abgeschlossen, das Hirn seziert und alles Notwendige so weit schriftlich im Sektionsprotokoll festgehalten. Für den Bauchraum und die inneren Organe benötigte er kaum noch mehr als eine Dreiviertelstunde. Danach würde er seiner Verlobten noch schreiben müssen. Seine Rose wurde schnell traurig, wenn sie zu lange nichts vom ihm hörte. Im Sommer sollte ihre Hochzeit stattfinden.
Rudolf trat rechts neben den Toten an den Sektionstisch zurück. Dessen Kopf war nach links geneigt. Er reinigte seine Brille, nahm das Seziermesser und schnitt den Toten vom Kinn bis zur Schambeinfuge am Einschussloch zwischen den Brustwarzen vorbei in einer einzigen Bewegung auf. Je mehr Kraft er dabei anwandte, desto schneller glitt das Messer durch die Haut. Der Schnitt gelang ihm so glatt, wie seine bisherige Kariere verlaufen war – bis zur Entlassung aus der Charité.
Der Abschied von Berlin war ihm nicht schwergefallen, nur Rose hatte viel geweint. Rudolf hingegen hatte sich in der fränkischen Provinzstadt bereits gut eingelebt. Vor einem guten halben Jahr war er als Professor für Pathologische Anatomie an die Julius-Maximilians-Universität berufen worden. In Würzburg ging es kollegialer zu als an der Charité. So viel konnte er schon sagen.
Rudolf eröffnete die Bauchhöhle und prüfte den Stand des Zwerchfells. Dabei fiel ihm im kleinen Becken eine rötliche Flüssigkeit auf. Diese Beobachtung sowie auch die Lage der Organe, sogenannte ungehörige Inhalte in der Bauchhöhle sowie Farbe und Aussehen der Eingeweide notierte er. Ungehörig war, was dort nicht hingehörte. Eiter zum Beispiel war ungehörig. Er lieferte Hinweise auf Krankheiten zu Lebzeiten.
Noch mit dem Schreibgerät in der Hand, schaute er dem Verstorbenen ins gelblich wächserne Gesicht. Armer Teufel, dachte er. Der junge Mann war, zehn Tage nachdem er sich mit einem Revolver in die Brust geschossen hatte, gestorben und dem Juliusspital zur Verwendung für wissenschaftliche Sektionen übergeben worden. Der Tote hatte keine Angehörigen, gehabt, die Anspruch auf seinen Leichnam hätten erheben können. Und es war Rudolfs größte Angst, eines Tages so einsam zu enden wie dieser Tote.
Nach der Inaugenscheinnahme der Bauchhöhle widmete er sich jenem Bereich des Leichnams, den die meisten seiner Kollegen fälschlicherweise »Brusthöhle« nannten. Denn der Mensch besaß mehr als nur eine Brusthöhle: Da waren schon einmal die zwei getrennten Brustfellsäcke und demnach auch zwei Brustfellhöhlen, hinzu kam noch die Herzbeutelhöhle. Korrekt sprach man deshalb von der Sektion der »Brusthöhlen«. Der Plural machte den kleinen, aber feinen Unterschied. Und ein anatomischer Pathologe hatte fein zu denken und fein zu arbeiten. Nichts anderes kam für Rudolf infrage.
Die Oberfläche des Brustfells war von einer schmutzig gelblichen Schicht bedeckt. Er prüfte die Pleurasäcke, leicht geronnenes Blut trat aus der Brustkorbvene. Die Ergebnisse notierte er und dachte an Rose, und wie er sie nach ihrer Hochzeit vom Heimweh kurieren könnte. Sie war von äußerst zartem Gemüt, sein Röschen, und er wollte, dass sie glücklich wurde. Glücklich mit ihm, hier in seiner neuen Heimat Würzburg. Rudolf hatte nicht länger in Berlin bleiben können, so sehr Rose ihn auch angefleht hatte. An seinem letzten Geburtstag, dem achtundzwanzigsten, hatten sie sich deswegen unschön gestritten. Und noch immer befand sich Rose in dem Glauben, Berlin nicht für länger verlassen zu müssen.
Er schnitt das übergroße Herz aus dem toten Leib und eröffnete es auf dem Beistelltisch. Die Menge und die Beschaffenheit des noch im Herzen enthaltenen Blutes waren relevant für die Ermittlung von Todesursachen. Aufgeschnitten fand er eine innerlich rot getränkte Haut vor. Die Muskulatur war grau-rot und von auffallend gelben Streifen durchsetzt. Der Tote hatte an einer Herzbeutel- und einer Herzmuskelentzündung gelitten. Noch Schlimmeres vermutete er, im Lungenbereich zu finden, wo die Revolverkugel das meiste Unwesen getrieben hatte.