Das Juliusspital. Ärztin in stürmischen Zeiten - Nadja Beinert - E-Book
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Das Juliusspital. Ärztin in stürmischen Zeiten E-Book

Nadja Beinert

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Beschreibung

Der zweite Teil der opulenten Familiensaga aus dem 19. Jahrhundert: Die Frauen der Familie Winkelmann kämpfen darum, als Ärztinnen Menschen helfen zu dürfen Würzburg Ende des 19. Jahrhunderts Ebenso wie ihre Großmutter Viviana Winkelmann kämpft Henrike für das Recht der Frauen auf ein selbstbestimmtes Leben – und die Zulassung zum Medizinstudium: Ihr Wunsch zu heilen ist so stark, dass sie heimlich als Reserve-Wärterin in der Irrenanstalt des Juliusspitals arbeitet, das dieser Tage wegen der Entdeckung der "Zauberstrahlen" von Professor Röntgen kopfsteht. Ihr Traum ist es, als Irrenärztin das Leid der Geisteskranken zu lindern und bei dem vielgerühmten Professor Rieger im Spital zu studieren. Als Henrike sich jedoch in einen französischen Medizinstudenten verliebt, kommen ihre Geheimnisse ans Licht. Kurz darauf wird Würzburg von der Tuberkulose heimgesucht, und plötzlich geht es für Henrike um Leben und Tod. Ihr Traum von der Medizin und die Abschaffung des Immatrikulationsverbotes für Frauen rücken in weite Ferne. Geschichte lebendig werden zu lassen, ist die große Leidenschaft der Zwillingsschwestern Claudia und Nadja Beinert: Fünf historische Romane haben sie bereits gemeinsam geschrieben. Das spannende Thema »Frauen in der Medizin« hat sie zu ihrer großen Familiensaga um mehrere Generationen von Ärztinnen und das Julius-Spital in Würzburg inspiriert. »Ärztin aus Leidenschaft« war der erste Band der Familiensaga und erzählt die Geschichte von Henrikes Großmutter Viviana Winkelmann, die von ihrer eigenen Familie verstoßen wird.

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Seitenzahl: 747

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Nadja Beinert / Claudia Beinert

Das Juliusspital. Ärztin in stürmischen Zeiten

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Ebenso wie ihre Großmutter Viviana Winkelmann kämpft Henrike für das Recht der Frauen auf ein selbstbestimmtes Leben – und die Zulassung zum Medizinstudium: Ihr Wunsch zu heilen ist so stark, dass sie heimlich als Reserve-Wärterin in der Irrenanstalt des Juliusspitals arbeitet, das dieser Tage wegen der Entdeckung der »Zauberstrahlen« von Professor Röntgen kopfsteht. Ihr Traum ist es, als Irrenärztin das Leid der Geisteskranken zu lindern und bei dem vielgerühmten Professor Rieger im Spital zu studieren. Als Henrike sich jedoch in einen französischen Medizinstudenten verliebt, kommen ihre Geheimnisse ans Licht. Kurz darauf wird Würzburg von der Tuberkulose heimgesucht, und plötzlich geht es für Henrike um Leben und Tod. Ihr Traum von der Medizin und die Abschaffung des Immatrikulationsverbotes für Frauen rücken in weite Ferne.

Inhaltsübersicht

Motto

Personenverzeichnis

Mit Angst

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Mit Hoffnung

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Mit Mut

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

Nachwort

Bibliografie

Überall Professor Röntgen,

Die Begeist’rung will nicht end’gen,

Mir allein wird bei dem Klange

Dieses Namens schrecklich bange,

Und es faßt mich grauser Schrecken;

Mußte er denn auch entdecken,

Diese memento-mori-Strahlen?

In den Blättern und Journalen

Und in allen Auslagfenstern

Wimmelt’s heute von Gespenstern!

Schwarze graus’ge Krallenhände,

Wirbel, Rippen ohne Ende,

Grabentstiegene Skelette

Grinsen üb’rall um die Wette

In den Straßen, auf den Wegen,

Kalt und höhnisch mir entgegen,

Um mich im Traume noch zu pein’gen!

Ja, ich kann seit vielen Tagen

Mich nicht auf die Gasse wagen,

Darf, soll mich die Furcht nicht lähmen,

Kein Journal zur Hand mehr nehmen,

Und ich fühl’s, daß ich zum Schluß

Noch am Gruseln sterben muß!

Schreibt sodann auf meine Truhe,

Daß in mir, der ich hier ruhe,

Ward ein Opfer hingerafft

Der modernen Wissenschaft!

 

»Stoßseufzer eines Furchtsamen« von O. E. W.,

aus: Meggendorfer Humoristische Blätter 25, 74 (Mai 1896)

Personenverzeichnis

(Übersicht über die wichtigsten Charaktere, historische Persönlichkeiten sind mit einem *Sternchen versehen)

Die Familien Winkelmann-Staupitz und Hertz

Viviana Hedwig Winkelmann-Staupitz, Ärztin aus Leidenschaft, Lehrerin für wissenshungrige, junge Damen und Frauenrechtlerin.

Doktor Richard Staupitz, Ehemann von Viviana, praktizierender Arzt.

Henrike Maria Hertz, Tochter von Anton und Ella Hertz, Enkelin von Viviana Winkelmann-Staupitz. Sie besitzt die gleiche Leidenschaft für die Medizin wie ihre Großmutter.

Ella Pauline Hertz, geb. Winkelmann, Vivianas Tochter, Mutter sowie Haus- und Ehefrau. Ella hat ihre Gründe, ihre Tochter von Medizinstudien fernzuhalten.

Anton Oskar Hertz, Ellas Ehemann, Schwiegersohn von Viviana, Direktor des Oberbahnamts Würzburg der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen.

Am Juliusspital und an der Königlich Bayerischen Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, genannt »Alma Julia«

Rudolf Albert von Kölliker*,Professor für Anatomie, Experimentalphysiologie und Vergleichende Anatomie.

Konrad Rieger*, Professor der Psychiatrie und Oberarzt am Juliusspital.

Wilhelm Oliver von Leube*, Professor der Medizinischen Klinik, Pathologie und Therapie, Oberarzt am Juliusspital und als »Magenarzt Deutschlands« berühmt.

Anna Gertlein, Wärterin am Juliusspital auf der Magenstation von Professor von Leube.

Ruth, Wärterin in der Abteilung für weibliche Irre im Juliusspital.

Professor Theobald Pauselius, Rektor der Alma Julia.

Weiterhin

Isabella Stellinger, diebeste Freundin von Henrike Hertz.

Jean-Pierre Roussel, Medizinstudent an der Alma Julia, der Henrike den Kopf verdreht.

Karl Georg Reichenspurner, Beamtensprössling, dem Henrike den Kopf verdreht hat. Ihn soll sie heiraten.

Klara Oppenheimer*, Frauenrechtlerin und Frau mit Herz, später Würzburgs erste Kinderärztin.

Freifrau Auguste Groß von Trockau*, Frauenrechtlerin und Vorsitzende des Frauenheil-Vereins in Würzburg, Schriftstellerin.

Nicht zu vergessen

Professor Wilhelm Conrad Röntgen*sowieSeine Königliche Hoheit der Prinzregent Luitpold* aus dem Hause Wittelsbach.

Mit Angst

(1895–1897)

1

Dezember 1895

Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee war, Henrike. Es ist überfüllt hier drinnen.« Sobald sich deutlich mehr Damen als Herren in einem Raum befanden, fühlte Anton Hertz sich unwohl. Wenn es dann auch noch so emsig und aufgeregt wie in einem Taubenschlag zuging, wollte er am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen. Irritiert schaute er sich im Kaufhaus Rosenthal um. Hunderte aufgeregte Damen hatten sich für das moderne Freizeitvergnügen »Shopping« wie für einen Empfang beim ersten Bürgermeister zurechtgemacht. Anton lockerte seinen Krawattenschal, ihm war schrecklich heiß.

»Papa, ich finde den Ausflug ins Kaufhaus eine ganz hervorragende Idee!«, widersprach Henrike, warf mit einer kühnen Geste ihr halb offenes rotes Haar auf den Rücken und trat an der Seite ihrer Freundin Isabella der unüberschaubaren Warenauswahl entgegen, die mithilfe von Spiegeln, Lampen und reichlich Dekorationsstoffen wie auf einer Theaterbühne inszeniert war. Für Henrike stellten Kaufhäuser einzigartige Reisen in eine polierte Welt der Schönheit und des Reichtums dar. Sie boten die seltene Möglichkeit, dem alltäglichen Trott einer sechzehnjährigen jungen Dame aus gutbürgerlichem Haus zu entfliehen, die seit einigen Jahren lernte, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden, indem sie ihre Mutter auf Visiten begleitete, in der Töchterschule zu brillieren versuchte, Haltung in allen Lebenslagen einübte und im Klavierspiel unterrichtet wurde.

»Frauen sollten möglichst von Warenhäusern ferngehalten werden«, war Anton überzeugt und atmete tief durch, während Henrike sich an den glitzernden Waren kaum sattsehen konnte.

»Aber warum denn fernhalten, lieber Herr Hertz?« Isabella griff nach einem ausgestellten Parfüm, sprühte es sich auf den Handrücken und sog genüsslich den schweren Duft von Sandelholz und Vanille ein. »Es ist doch eine wunderbare Ablenkung vom langweiligen Alltag, ein Paradies für junge Damen«, wagte sie, dem Vater ihrer besten Freundin zu gestehen.

Eine Gruppe Damen neben ihnen bewunderte das Parfüm »Vere Novo«, welches das Haus Guerlain in diesem Jahr neu herausgebracht hatte. Für Henrike sah allein schon der Flakon nach einer sündhaft teuren Sache aus.

Anton tupfte sich mit seinem Stofftuch die Stirn unter dem Zylinder. »Langweilig?«, fragte er dann verwundert, hatte aber Schwierigkeiten, die Mädchen wegen des Lärms und der Aufregung gut zu verstehen. »Wie können Haushaltsführung und Töchterschule langweilig sein? Ihr lernt für euer Leben! Warenhäuser hingegen sind Verkaufsmaschinen, die die weibliche Psyche manipulieren«, sagte er und schaute empört in Richtung der Fenster. Konnte denn niemand dieses stickige Gebäude einmal ordentlich durchlüften? Anton sehnte frische Luft herbei.

»Und die männliche Psyche manipulieren Warenhäuser etwa nicht?«, fragte Henrike verständnislos, woraufhin sich einige Damen auffällig nach ihnen umdrehten.

Steifen Schrittes führte Anton sie vom Parfümtresen weg. Die Blicke der Damen waren ihm unangenehm, auch wenn seine Tochter nicht zum ersten Mal frei aussprach, was sie dachte. »Die männliche Psyche ist nicht so leicht manipulierbar, Liebes. Sie ist gefestigt genug. Anders als die weibliche.«

Henrike lächelte verschmitzt, als sie entgegnete: »Aber hast du vorhin nicht gesagt, du bräuchtest bald einen neuen Zylinder, nachdem du das Modell in der Auslage unten gesehen hattest? Ist das keine Manipulation deiner Psyche? Ich finde deinen alten noch sehr gut erhalten.«

Als Henrike merkte, dass ihrem Vater so schnell keine passende Erwiderung einfiel und er sich erneut etwas hilflos im überfüllten Kaufhaus umschaute, wollte sie ihn nicht bloßstellen. »Aber vor allem sind wir ja wegen Mama hier. Wir wollten etwas Schönes für sie aussuchen. Du kannst am Heiligen Abend doch nicht ohne ein Geschenk vor sie hintreten.«

»Weihnachten ohne Geschenke? Das geht nicht, Herr Hertz!«, war auch Isabella überzeugt und strich über einen ausgestellten Fuchspelzumhang. »Das tut man einer Dame einfach nicht an.« Nach einer kurzen Atempause flüsterte sie Henrike ins Ohr: »Und schon gar nicht, wenn man sie wahrhaft liebt.« Die Mädchen kicherten, wie so oft, wenn sie über die Liebe sprachen.

»Natürlich suche ich ihr ein Geschenk aus, etwas anderes hatte ich gar nicht vor, nur deshalb bin hier«, stammelte Anton. Bei der Eisenbahn war in den letzten Wochen so viel zu tun gewesen, dass er die Weihnachtseinkäufe darüber beinahe vergessen hätte. »Ich möchte deiner Mutter ein schönes Armband kaufen«, verkündete er. »Das wünscht sie sich schon länger.«

»Die Schmuckabteilung ist im zweiten Obergeschoss«, wusste Isabella sofort. »Wir beraten Sie bei der Auswahl, Herr Hertz, einverstanden?«

Henrike und Isabella führten den steifen Anton auf die neue Rolltreppe, und kurz darauf standen sie vor einem gläsernen Verkaufstresen, unter dessen Glasplatte die Schmuckstücke so verführerisch funkelten wie Kronjuwelen. Gold, Silber, Edelsteine, wohin Henrike auch schaute. Sie hatte noch nie so viel Schmuck auf einem Haufen gesehen.

Anton ließ sich ein goldenes Armband mit Diamanten zeigen, das Isabella ihm vorgeschlagen hatte, aber als er den Preis hörte, gefiel es ihm dann doch nicht mehr so gut. Zumindest aber, dachte er, haben sie im Kaufhaus Festpreise im Gegensatz zu den vielen kleinen Läden in der Domstraße und um den Markplatz herum, wo gefeilscht werden muss, bis es peinlich für beide Seiten wird.

Der Verkäufer zeigte ihm nun zwei Armbänder im rückwärtigen Tresen, die etwas preiswerter waren und sofort auf Antons Interesse stießen. Die nächsten Kunden warteten schon ungeduldig neben ihm.

»Meine Ella mag Blau sehr gerne«, verriet Anton dem Verkäufer, der genauso fein gekleidet war wie die meisten der einkaufenden Damen. Dagegen wirkte Antons altmodischer Gehrock in die Jahre gekommen, obwohl er in ihm wie immer eine gute Figur machte. Henrike lächelte. Ihr Vater liebte ihre Mutter, das bemerkte Henrike in Momenten wie gerade eben, wo er für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick, als er ihren Namen aussprach, verträumt geschaut hatte. Und für Anton Hertz, der sich öffentlich stets jede zärtliche Berührung und jedes private Wort verbot, kam dies gar schon einer Übertretung seiner eigenen Regel gleich. Da schritt er doch viel lieber stolz und steif durch die Stadt und schwärmte vom bayerischen Schienenverkehr.

»Armbänder mit blauen Steinen, ja, die sind dort drüben«, sagte der Verkäufer und wechselte erneut mit Anton den Verkaufstresen. Zwischendurch schielte der Verkäufer immer wieder zu den anderen Kundinnen, die langsam ungeduldig wurden. Anton beeindruckte das nicht im Geringsten, er wollte sich für die Auswahl Zeit nehmen. Das Geschenk war schließlich für seine Ella bestimmt.

»Ich glaube, dein Vater kommt zwei Minuten ohne uns zurecht.« Isabella zog Henrike mit sich fort, vorbei an Damen- und Herrenuhren, die zusammen hunderttausend Mark wert sein mussten. »Ich wollte dir die neueste Modelieferung aus Paris zeigen.« Isabella stoppte vor einer Gruppe von lebensgroßen Puppen, wovon eine ein elegantes Festkleid trug und einen Hut, der so groß wie das Dach eines Regenschirms war.

»Voilà! Das ist sie.« Isabella nahm den übergroßen Hut vom Kopf der Puppe, die nun glatzköpfig dastand, ebenso ihren eigenen Winterhut und setzte sich das neue Modell auf. Der übergroße Hut war aufgeputzt mit sommerlichen Blumen und einer riesigen gelben Schleife aus Tüll.

Für Henrikes Geschmack war er zu groß und zu auffällig. »Willst du ihn zum Diner mit der Champagnerfamilie Siligmüller tragen? Nächste Woche?«

Isabella betrachtete sich im Spiegel neben den Puppen. »Aber nur, wenn er dir auch gefällt.«

»Bellchen, dein Verehrer wird begeistert sein!«, war Henrike überzeugt und seufzte dennoch.

»Für dich finden wir auch noch den Richtigen, Rike.« Mit diesen Worten setzte Isabella Henrike den Pariser Hut auf und strich ihr dabei durch die kupferroten Haarsträhnen, die im Licht der Kaufhausbeleuchtung zu funkeln schienen.

Henrike schloss die Augen und stellte sich vor, wie ein junger Herr ihr entgegenkam. Einer, der ihr endlich einmal gefallen würde. Er muss geistreich sein, sanft und humorvoll, dachte sie sehnsüchtig. Und gerne mit mir diskutieren wollen. Liebe zur deutschen Sprache und seinen eigenen Kopf haben, und nicht nur nach der Pfeife seiner Eltern tanzen. Er sollte mich respektieren, mit all meinen Vorzügen und Schwächen und immer ehrlich und aufrichtig zu mir sein. Am liebsten wäre mir ein Poet wie der große Dichter Goethe.»Ich glaube, der einzige Mann, der mir mein Herz zu stehlen vermag, liegt seit Jahrzehnten in Weimar begraben.«

»Du redest doch nicht etwa schon wieder vom alten Goethe!«, echauffierte sich Isabella gespielt.

Zwei ältere Damen drängelten sich an Henrike vorbei, aber sie war in Gedanken versunken und bemerkte gar nicht, dass sie im Weg stand. Henrike liebte alles, was Goethe je geschrieben hatte. Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde.

»Konzentrier dich auf die Lebenden, nicht auf die Toten!«, forderte Isabella. »Schau mal, der dort mit dem zurückgekämmtem Haar und den etwas vorstehenden Augen. Das wäre doch einer für dich.« Sie hatte Mühe, nicht in lautes Lachen auszubrechen. »Der sieht dem guten Goethe doch irgendwie ähnlich, findest du nicht?«

»Der ist mindestens dreißig! Und damit viel zu alt!«, entrüstete Henrike sich halb ernst, halb im Spaß. »Den jungen Goethe möchte ich!« Die meisten jungen Herren in Würzburg gefielen ihr allein schon deswegen nicht, weil sie arrogant und großspurig auftraten, aber vor allem schrecklich unromantisch waren.

»Und was hältst du von dem?« Isabella zeigte auf einen vornehm gekleideten, jüngeren Herrn, der sympathisch wirkte und zudem kaum älter als sie selbst zu sein schien. Er betrachtete ein paar Lederhandschuhe unweit des Ankleideraumes, dann hob er den Blick. Er hatte wohl gespürt, dass er beobachtet wurde.

Er lächelte, als sich sein Blick mit dem von Henrike traf. Henrike schaute darauf sofort peinlich berührt weg.

»Komm!«, raunte Isabella ihr zu und führte sie in Richtung des Ankleideraumes, wo die Abteilung für Winter-Accessoires begann. Der junge Herr betrachtete nun einen vornehmen Pelzmuff.

Henrike war der vorschnelle Vorstoß unangenehm, sie blieb stehen. Wenn der sympathische Mann meinem geliebten Goethe nur etwas ähneln würde, sinnierte sie, hätte er sich längst wortreich und reimend bei mir vorgestellt. Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?

»Ich weiß nicht«, entschuldigte sie ihr Zögern. »Vermutlich gefalle ich ihm gar nicht.«

»Henrike, du bist bezaubernd. Ich kenne keinen Mann, dem du nicht gefällst!« Entschlossen nahm Isabella den ausladenden Pariser Hut von Henrikes Kopf, setzte ihn sich selbst wieder auf und trat mit eleganten Schritten vor den jungen Herrn.

Henrike flüchtete sich kurzerhand in den Ankleideraum, die ganze Sache war ihr zu peinlich. Sie verschloss die Tür mit dem kleinen samtbehangenen Fenster hinter sich, um wirklich in Sicherheit zu sein. Als sie sich umwandte, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Die Ankleide war wie ein kleiner Salon ausgestattet, mit plüschigem Teppich, einer Chaiselongue und einem Tisch, auf dem eine Dose mit in Silberpapier eingewickelten Süßigkeiten stand. Aber das war nicht der Grund für ihren Schreck. Sondern die Person, die mit ihr im Raum war und sich nun halb hinter der Chaiselongue in der Ecke des Raumes verkrochen hatte. Erschrocken schaute sie zu Henrike, als richtete die ein Gewehr auf sie.

Die Frau trug lediglich einen dünnen, ungebleichten Leinenkittel. Ihre Füße waren nackt, obwohl es eiskalter Winter draußen war. Es musste sich um eine Bettlerin handeln, die sich verlaufen hatte. War die Weihnachtszeit nicht vor allem eine Zeit der Nächstenliebe? Henrike wollte der reglosen Frau gerade eine Münze reichen, als es vor dem Ankleideraum laut wurde. »Wir suchen eine vom Rieger!«, rief jemand in befehlsgewohntem Ton, sodass es in der gesamten Verkaufsetage zu hören war. »Hat jemand sie gesehen?«

Eine vom Rieger? Henrike legte die Münze auf den Tisch neben die Bonbonschale, sprang zur Tür und schob den Vorhang des kleinen Fensters etwas beiseite. Soweit sie erkennen konnte, waren die Gendarmen mindestens zu viert. Ein Hund kläffte neben der glatzköpfigen Puppe, deren Tüllhut Isabella noch immer auf dem Kopf trug. Wohl ein Gendarm, den Henrike nicht sehen konnte, rief: »Wir suchen eine Irre aus dem Juliusspital. Sie ist entflohen!«

Unruhe kam auf und Getuschel.

Henrike hielt die Luft an. Das Juliusspital war ein grässlicher Ort. Ihre Eltern vermieden es tunlichst, auch nur über das Krankenhaus an der Juliuspromenade zu sprechen. Wahrscheinlich nannte ihre Mutter die Straße vor dem Spital deswegen auch immer noch bei ihrem alten Namen: »Untere Promenade«.

Henrike ließ den Vorhang wieder sinken und presste sich mit dem Rücken gegen die Tür. Eben noch hatte sie Mitleid mit der Frau »vom Rieger« gehabt, aber nun, da sie wusste, dass diese eine Irre war, bekam sie es mit der Angst zu tun. Die Hände wurden ihr feucht, und ihr Herz schlug schneller. Über Irre sprach man in ihren Kreisen selten, aber wenn man es tat, fielen dabei stets die Worte »gefährlich« und »unberechenbar«. Irre stellten eine Bedrohung für den guten Ruf und die Gesundheit einer großbürgerlichen Familie dar.

»Sie muss gefunden und wieder weggesperrt werden!«, kam es von draußen. Die Stimme näherte sich dem Ankleideraum.

Bevor Henrike den Ankleideraum verließ, schaute sie die zerbrechlich wirkende Frau noch einmal an, der in diesem Moment eine einzige Träne die Wange hinablief.

»Nicht zurück«, flüsterte die Frau. »Nie wieder zurück.« Ihre Augen blickten starr zur Tür und erinnerten Henrike an die Augen einer Toten.

Jemand schlug ungeduldig gegen die Tür des Ankleideraumes.

Henrike fuhr erschrocken herum.

»Bitte nicht«, wimmerte die Irre kaum hörbar. Die Frau rührte Henrike, sodass sie es nicht übers Herz brachte, sie zu verraten. Kurz entschlossen breitete sie ihre Mantille über der Frau aus, dann öffnete sie die Tür der Ankleide einen Spalt weit. Sie machte sich so breit wie möglich, um den Herren den Blick in die Ankleide zu verstellen. »Ja, bitte?«

»Oh, verzeihen Sie«, sagte der Gendarm. Er errötete bei Henrikes Anblick, die zur besseren Tarnung vorher noch schnell den obersten Knopf ihrer Bluse geöffnet hatte und nun ihre Hand zum nächsten führte.

»Ich probiere eine neue Mantille«, log sie, das Herz in ihrer Brust hämmerte wild. Sie sah, wie sich ihr Vater, der durch sein kupferrotes Haar aus der Masse der feinen Damen herausstach, nach ihr umschaute. Als er sie entdeckte, kam er mit dem Zylinder vor der Brust auf den Ankleideraum zu. Isabella stand immer noch bei dem sympathischen Herrn und unterhielt sich mit ihm. Hoffentlich sprach sie mit ihm über die Auswahl des richtigen Pelzmuffs. Das war ihr allemal lieber, als dass sie Henrikes Vorzüge anpries. Die beiden waren die Einzigen, die noch einigermaßen entspannt schienen, obwohl doch eine Irre im Kaufhaus gesucht wurde.

»Die Störung … tut mir … tut mir leid«, stotterte der junge Gendarm und tat sich offenbar schwer, den Blick von ihr zu nehmen.

»Komm weiter, Franz!«, mahnte ihn sein Kamerad.

Henrike schloss die Tür der Ankleide wieder. Vorsichtig, als befände sich ein wildes Tier unter ihrer Mantille, nahm sie das Kleidungsstück von der verängstigten Frau.

»Danke«, formten deren trockene Lippen tonlos.

Erst jetzt schaute Henrike sich das Gesicht der seltsamen Person genauer an. Ihre Haut war aschgrau und ihre Züge eingefallen, dabei konnte sie kaum älter sein als sie selbst. Ihre Vorderzähne jedenfalls waren tadellos. Als die Frau sich so mühsam wie eine Achtzigjährige erhob, wurde Henrike die Situation unheimlich. Ob die Irre sie jetzt doch noch anfallen würde? Die Münze lag noch immer neben der Bonbonschale.

Fluchtartig verließ Henrike den Ankleideraum, schloss die Tür hinter sich und lief ihrem Vater und Isabella in die Arme.

»Du siehst ja ganz blass aus, Rike«, stellte Anton sofort fest, »bitte nimm etwas mehr Haltung an.«

»Du hast mich ganz schön hängen lassen«, flüsterte Isabella Henrike mit einem vielsagenden Blick zu. »Er wäre an dir interessiert gewesen.«

Henrike schüttelte peinlich berührt den Kopf. Zu ihrem Vater sagte sie in wenig überzeugendem Tonfall: »Es geht schon.« Sie hatte gerade ihre erste Irre gesehen und war heil davongekommen. Eigentlich sollte sie froh sein. Sie nahm wieder eine damenhafte Haltung an.

Anton deutete auf die Innentasche seines Gehrocks. »Ich habe ein silbernes Armband mit hellblauen Beryllsteinen für deine Mutter gekauft. Das Christusfest kann jetzt also kommen.«

»Schön«, antwortete Henrike einsilbig und ging auch auf die weiteren Erzählungen ihres Vaters über die Auswahl in der Schmuckabteilung nur mit einem »Gut« oder »Aha« ein.

»Ich bezahle noch schnell den Hut und kläre die morgige Abholung durch unser Personal.« Isabella eilte zum Kassenraum.

Bevor sie zurück ins Erdgeschoss fuhren, wandte Henrike sich noch einmal zum Ankleideraum um und erschrak, als die Tür dort offen stand. »Ich möchte schnell nach Hause«, bat sie. Nie wieder zurück, hörte sie die Frau aus dem Ankleideraum in ihrer Erinnerung sagen. Was war das doch für eine unheimliche Begegnung gewesen.

Anton rief eine Kutsche, die zuerst Isabella zu Hause absetzte und danach in die Eichhornstraße fuhr.

Das Dienstmädchen lief ihnen entgegen, als sie gerade aus der Kutsche stiegen. »Es ist etwas Schlimmes passiert.«

»Ella?« Panisch schaute Anton zu den prächtigen Fenstern der Wohnung im zweiten Obergeschoss des Bürgerhauses mit der Nummer fünf hinauf.

»Die ehrenwerte verwitwete Frau Winkelmann ist im Palais verstorben«, berichtete das Dienstmädchen.

Anton atmete erleichtert aus.

»Urgroßmutter, nein!«, rief Henrike. Sie hatte sich zuletzt mit ihrer Urgroßmutter gestritten, weil Elisabeth ihr Heiratskandidaten aufzudrängen versucht hatte. Und jetzt sollte es keine Möglichkeit mehr zur Aussöhnung geben?

Als Henrike sich kurze Zeit später mit ihrer Mutter auf den Weg zum Palais machte, war sie in Gedanken aber nicht nur bei der verstorbenen Elisabeth Winkelmann. Die Frau mit dem toten Blick ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Hätte sie sie doch den Gendarmen ausliefern sollen? Ihr Kittel hatte nicht einmal Taschen gehabt, in denen sie Geld oder etwas zu essen hätte aufbewahren können. Schauriger hätte ihr geliebter Goethe keinen Roman schreiben können.

2

1. Januar 1896

Ella erwachte, weil ihr der unangenehme Geruch von Verdorbenem seltsam säuerlich in die Nase stieg. Sie wollte sich umschauen, doch das grelle Licht blendete sie, sodass sie nur blinzeln konnte. Sie tastete um sich wie eine Blinde. Das metallene Bettgestell fühlte sich kalt und die Bettwäsche rau an. Wie war sie in ein fremdes Bett gekommen?

Es wurde dunkler neben Ella. Ein ihr unbekannter Mann mit einem kunstvoll gedrehten Schnauzbart trat vor sie, so viel konnte sie bei aller Unschärfe doch erkennen. Wer war er? Panisch tastete sie nach ihrer Kleidung. Sie trug nur ein leinenes Hemd, das auf ihrer Haut und den empfindlichen Brustwarzen scheuerte. Wo war sie, und wer hatte sie entkleidet? Sie machte die Augen wieder zu. Sie wusste nur, dass sie zuletzt vor dem Grab ihrer Großmutter gestanden hatte.

Während der säuerliche Geruch ihr weiterhin in der Nase biss, sah sie sich erneut in Trauer vereint neben ihrer Mutter Viviana und ihrer Tochter Henrike auf dem Friedhof stehen. Beim Griff zur Weihwasserschale hatte sich plötzlich alles um sie herum zu drehen begonnen. Der brennende Schmerz im Oberbauch war urplötzlich da gewesen. Sie hatte sich gekrümmt, und ihr war schwarz vor Augen geworden.

»Frau Hertz?«, holte eine freundliche Stimme sie aus der Erinnerung zurück.

Vorsichtig öffnete Ella die Augen, nur langsam gewöhnte sie sich an die Helligkeit. Noch immer war der Mann mit dem kunstvollen Schnauzbart über sie gebeugt. Er trug einen weißen, vornehmen Kittel mit Goldknöpfen, einem dünnen Mantel ähnlich. Neben ihm und in Ellas Griffweite hing ein Seil von der Decke mit einer Schlaufe am Ende, bei dessen Anblick sie sofort an einen Galgen dachte. Würde sie sterben?

»Frau Hertz, ich bin Professor von Leube. Sie sind zusammengebrochen und befinden sich nun auf der Magenstation des Königlichen Juliusspitals«, erklärte er ihr laut, deutlich und langsam.

Im Juliusspital? Unter Würgen erbrach Ella sich in einen Spucknapf, den ihr eine Wärterin hinhielt. Seit vielen Jahren mied sie das Spital um jeden Preis. Sie spähte zu den anderen Patientinnen. Sie lagen zu acht in dem kahlen Saal, in dem das Auffälligste die mit Kreide beschriebenen Schiefertafeln über den Betten waren.

»Die Hauptsymptome für die Diagnose Ulcus ventriculi pepticum sind Schmerzen und Magenblutung mit oder ohne Perforation«, sagte Professor von Leube und wandte sich dabei einer Gruppe junger Herren hinter ihm zu, von denen er wie ein Heiliger bewundernd angeschaut wurde.

Ella drehte sich mühsam im Krankenbett auf die Seite und versuchte, sich die Mundwinkel mit einem Tüchlein zu säubern. Selten hatte sie sich elender gefühlt. Ich, im Spital? Allein der Gedanke bereitete ihr schon Schmerzen.

»Achten Sie besonders auf die Art des Schmerzes«, erklärte Professor von Leube seinen Studenten. »Der Schmerz wird von den meisten Patienten als von einer ganz konkreten Stelle ausgehend beschrieben, von der aus er in den Rücken und den Bauch ausstrahlt.« Er wandte sich wieder an Ella. »Ist das korrekt, Frau Hertz?«

Ella nickte kurz, dann reichte sie der Wärterin, die den Spucknapf nach wie vor bereithielt, das Mundtuch zurück. Vier Jahrzehnte lang habe ich das Spital nicht mehr betreten, rechnete Ella zurück. Am liebsten hätte sie sich unter ihrer Bettdecke verkrochen wie das kleine Mädchen, das sie seit Jahrzehnten nicht mehr war. Aber der Professor kam noch näher und ebenso die Studenten, die sich über sie beugten, als sei sie nun die wundersame Erscheinung. So viele und so tief, dass Ella bald nur noch ein kleines Stück von der Decke des Krankensaals sehen konnte, von der sich der weiße Farbanstrich in Schichten löste und an der augenscheinlich Blut klebte. Bei dem Gedanken, wie es dorthin gelangt sein könnte, lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken.

»Frau Hertz«, sagte Professor von Leube und rückte sich den Krawattenknoten zurecht. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Das ist eine ganz normale Visite, und wir werden Ihnen nicht wehtun, soweit es sich vermeiden lässt.« Er setzte sich auf ihre Bettkante und lächelte väterlich. »Beschreiben Sie uns Ihren Schmerz bitte genauer.«

Bis auf einige Erkältungen war Ella noch nie krank gewesen, aber selbst das bekam sie vor Schock nicht über die Lippen. Sie sah den Professor nur weiterhin völlig verunsichert an. Neben seinem kunstvollen Schnauzbart waren seine warm blickenden, braunen Augen mit der kleinen, runden Brille am augenfälligsten. Er wirkte sympathisch. Aber Professor von Leube ist Teil des Spitals und damit Teil meines Schmerzes, Teil meines Unglücks, dachte sie im nächsten Moment.

»Frau Hertz, hören Sie uns?« Professor von Leube beugte sich noch tiefer zu ihr hinab, und auch die Wärterin bemühte sich, Ellas Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem sie sagte: »Frau Hertz, sagen Sie dem Professor bitte, welche Art von Schmerz Sie verspüren. Können Sie das?« Sie hielt noch immer den Spucknapf in der Hand.

Ella fühlte sich in dem Spitalshemd, als wäre sie nackt. Und wo war ihr neues Armband, das Anton ihr zu Weihnachten geschenkt hatte? Auf dem Friedhof hatte sie es noch getragen.

»Es brennt ein bisschen«, antwortete sie schließlich und rieb sich das Handgelenk, an dem sich das Armband befunden hatte. Jahrzehntelang hielt der Schmerz mit dem Spital in ihr nun schon an. Anton, bitte hole mich hier heraus!, bat sie in Gedanken und schaute am Professor vorbei zur Tür, der seinen Studenten nun erklärte: »Die meisten Patienten mit einem peptischen Magengeschwür, einem Ulcus ventriculi pepticum, beschreiben den Schmerz, den sie verspüren, als brennend und häufig nicht länger als eine Viertelstunde andauernd. Viele Betroffene fühlen sich dabei wie zusammengeschnürt.«

Unvermittelt nickte Ella.

Die Wärterin strich ihr beruhigend über die Schulter, aber Ella rülpste vor Aufregung, während der Galgen über ihrem Bett baumelte. »Ihre persönlichen Sachen habe ich im Stationsschrank eingeschlossen«, sagte die Wärterin leise.

»Wir untersuchen jetzt Ihren Magen, Frau Hertz«, kündigte Professor von Leube an. »Das ist eine Standarduntersuchung. Haben Sie keine Angst.«

Die Wärterin half Ella wieder zurück in die Bettmitte. Sie hatte weiche, warme Hände, deren Berührungen guttaten. Professor von Leube schlug Ellas Decke bis zu den Oberschenkeln zurück. Ella riss vor Schreck die Augen weit auf.

»Es muss sein«, sagte die Wärterin mitfühlend. »Ohne die tägliche Visite kann der Professor den Verlauf Ihrer Krankheit nicht beurteilen.«

Ella hielt die warmen Hände der Wärterin fest, während Professor von Leube ihren Bauch abtastete. Noch nie war sie von jemand anders als Anton an dieser Körperstelle berührt worden. Professor von Leube stellte ihr Fragen zu ihrer Krankengeschichte und zu Vorerkrankungen, die Ella einsilbig beantwortete. Ich im Juliusspital?, war alles, woran sie nach wie vor denken konnte.

»Student Kannengießer, Sie dürfen.« Der Professor wies mit der Hand auf Ella, als wäre sie eine Ware im Schaufenster des Kaufhauses Rosenthal und erklärte den umstehenden Studenten: »Und übrigens haben wir in den letzten Jahren hier im Spital beobachtet, dass bei fünf bis zehn Prozent aller Todesfälle ein Magengeschwür eine der Ursachen dafür war.«

Ella wollte lieber sterben, als diese entwürdigende Situation noch länger durchzustehen. Sie schloss die Augen, damit sie das Befingern ihres Leibes wenigstens nicht mehr mit ansehen musste.

»Das Durchfühlen verdickter Geschwürstellen oder eines Tumors setzt großes technisches Geschick voraus«, fuhr Professor von Leube fort.

Ella sah helle Punkte vor ihren geschlossenen Augenlidern tanzen, sie blinzelte. Geschwüre? Diesen Begriff nahm ihre Mutter regelmäßig in den Mund. Ein Geschwür war die Zerstörung von Haut oder Schleimhaut, die stets eine Narbe zurückließ. Anders als Wunden durch Verletzungen entstanden Geschwüre nicht durch Unfälle, sondern durch Infektionen, Tumore oder andere gestörte Körperreaktionen. Aber Ella war immer gesund gewesen und hatte bei sich niemals irgendeine gestörte Körperreaktion bemerkt, von den jüngsten Magenschmerzen einmal abgesehen. Aber Magenschmerzen sind nichts Besonderes, war Ella überzeugt, kaum erwähnenswert.

»Patienten mit einem Geschwür klagen wie andere Magenkranke über dyspeptische Erscheinungen wie Völlegefühl, Oberbauchschmerzen oder Magenbrennen. Daneben sind saures Aufstoßen, Sodbrennen und Bluterbrechen typisch. Ich vermute, liebe Frau Hertz, dass die Untersuchung Ihres Erbrochenen mit Kongopapier einen erhöhten Gehalt an Säure und natürlich Blut ergeben wird.«

Unter ihren nunmehr halb geschlossenen Lidern hervor sah Ella, wie die Wärterin dem Professor den Napf mit ihrem Erbrochenen hinhielt. Allein von dem Geruch, der daraus aufstieg, musste sie schon wieder würgen. Zwei Betten weiter pupste die Patientin ungeniert.

Professor von Leube betrachtete den Inhalt des Spucknapfes so detailverliebt wie ein Gemälde. »Der Magen verdaut sich selbst durch zu viel Magensäure«, erklärte er Ella.

Während ihr halb verdauter Nahrungsbrei wie eine Trophäe unter den Studenten herumgereicht wurde, entschied Ella, das Spital noch heute zu verlassen. Sie musste Anton eine Nachricht schicken oder ihre Mutter um Hilfe bitten, was ihr aber unangenehm war. Um keinen Preis wollte sie jemandem Umstände bereiten, weswegen sie auch ihre nächtlichen Brechanfälle vor ihrer Familie verschwiegen hatte. Ebenso wie ihre Magenschmerzen, die sie bereits seit einer geraumen Weile plagten. Und schon gar nicht hatte sie ihrer Mutter davon erzählt, die sie beim ersten Anzeichen einer Erkältung stets wie eine Schwerkranke behandelte. Vermutlich war es auch Viviana gewesen, die für ihre Unterbringung im Spital verantwortlich war. Ella hatte ihr nie von ihrem Schmerz mit dem Spital erzählt.

»Anhand der Anamnese und meiner Untersuchung das Erbrochene der Patientin betreffend …«, der Professor machte eine Pause, weil sich in diesem Moment eine andere Patientin übergab, und bedeutete der Wärterin mit einem Wink, sich um die Frau zu kümmern, erst danach sprach er weiter: »… können wir so gut wie sicher sein, dass wir hier den Fall eines peptischen Geschwürs vorliegen haben.« Er zeigte auf die Schiefertafel am Kopfende des Bettes, auf der in Kreidebuchstaben Ellas Name geschrieben stand. Bei den Patientinnen in den Nebenbetten waren auf den Tafeln unter deren Namen bereits die Diagnose und die verordnete Arznei zu lesen.

Professor von Leube nahm Ellas Hand. »Sie sind nicht die erste Patientin, die sich im Spital etwas fürchtet und der ärztliche Untersuchungen wenig Freude bereiten.« Er lächelte fürsorglich und aufrichtig, wie an seinen Augenfältchen deutlich erkennbar war.

Ella nickte ungläubig, während sie gleichzeitig hin und her überlegte, wie sie ihrem Ehemann schnellstmöglich Bescheid geben könnte, damit er hierherkäme, um sie zu retten. Eine neue Welle von üblen Gerüchen schwappte zu ihr herüber, eine seltsame Mischung von saurer, halb verdauter Nahrung, von Reinigungsmitteln und Angstschweiß. Sie biss die Zähne zusammen. Hoffentlich würden Anton und Henrike ihr Leben lang gesund bleiben. Das Spital war eine Gefahr für ihre Familie.

Schwungvoll erhob sich Professor von Leube von Ellas Bett. »Einige Fälle von Magengeschwüren heilen nach Wochen, andere erst nach Jahren«, sagte er, während die Wärterin zu Ella zurückkam und sie wieder zudeckte, was sich wie eine kleine Befreiung anfühlte. Aber hatte der Professor nicht gerade von Wochen gesprochen, die sie hierbleiben sollte?

»Student Kolbinger, was sind die häufigsten Ursachen für Magengeschwüre?«

»Unzweckmäßige, schwer verdauliche Nahrung«, antwortete der Student nach einigem Überlegen, »feuchte Wohnungen, Missbrauch von Spirituosen. Oft auch der Genuss von scharfen Speisen, wenn ich mich recht erinnere.«

Ein anderer Student, der seine Hand auf das Gestänge am Fußende von Ellas Krankenbett gelegt hatte, als gehöre ihm das Bett und ihr Körper, fügte noch hinzu: »Eigentlich sind sämtliche unverdaulichen Speisen ein Problem, weil für sie viel Säure im Magen gebildet werden muss. Mit der vielen Säure kommt die Magenschleimhaut nicht klar.«

Ella zog ihre Knie unter der Decke an. Sie wusste von Magenkranken, die irgendwann diesen seltsam sauren Geruch nicht einmal mehr von sich abschrubben konnten.

»Welche Ursache hat Student Kolbinger vergessen?«, fragte der Professor in die Runde.

Lange wusste niemand eine Antwort, bis eine Frauenstimme selbstsicher vortrug: »Erbrechen und Magengeschwüre können auch durch zu viel Aufregung und zermürbende Gedanken hervorgerufen werden.«

Trotz ihrer Schmerzen kam Ella im Bett hoch. »Mutter?«

Viviana drängte sich mit Henrike an der Hand durch die Studentengruppe bis zu Ellas Bett vor. Die Aufmerksamkeit der angehenden Ärzte galt nun Viviana und nicht mehr Professor von Leube.

Ella wiederum hatte nur Augen für ihre Tochter Henrike, die das Spital niemals hätte betreten sollen. Anstelle von Henrike wäre besser Anton gekommen.

»Frau Winkelmann-Staupitz, guten Morgen«, sagte der Professor und straffte sich vor Viviana. »Genau darauf wollte ich hinaus: Auf den Einfluss des Gemüts auf den Magen. Sie wissen allerdings, dass die Besuchszeiten erst später beginnen?«

»Guten Morgen, Professor von Leube.« Viviana deutete ein Nicken an. »Verzeihen Sie die Störung Ihrer Visite, aber ich musste unbedingt nach meiner Tochter sehen. Nach ihrem Zusammenbruch gestern habe ich mir große Sorgen gemacht.«

Ella konnte Henrike ansehen, wie sehr ihr der Anblick der Patientinnen im Krankensaal zusetzte. Ihre Tochter sah sich bedrückt um, vermutlich, weil sie zuvor noch nie so viel Elend gesehen hatte. Ella war überzeugt, dass ihre Tochter spüren konnte, welches Unheil vom Juliusspital ausging.

Gleichzeitig hatte Ella, deren Hand Viviana unter der Decke nun liebevoll ergriff, den Professor jedoch nach wie vor beobachtet. Dessen Gesichtszüge hatten sich während der Antwort ihrer Mutter zusehends verhärtet.

»Wenn wir bei allen Müttern eine Ausnahme machen würden …«, begann er in einem Ton, der kaum noch fürsorglich und freundlich klang. Ella kannte diese Art von Reaktion auf so selbstbewusste Frauen wie ihre Mutter bereits besser, als ihr lieb war, und ihr Herz zog sich zusammen.

»Lautet Ihre Diagnose unverändert auf Ulcus ventriculi pepticum?«, fragte Viviana ihrerseits nun ebenfalls kühler. Unter ihrem Winterhut trug sie ihr langes gelocktes Haar nur halb zusammengenommen, was Ella nie wagen würde. Anton schätzte es, wenn seine Angetraute ihr Haar in der Öffentlichkeit in einem kunstvoll frisierten Knoten trug.

Die Studenten begannen zu tuscheln. Henrike wiederholte leise: »Ulcus ventriculi pep… was?«

Die Wärterin strich Ella erneut ermutigend über die Schulter und erklärte ihr und Henrike: »Das ist ein Magengeschwür, das von der Übersäuerung des Magens herrührt.«

Ella und Henrike beobachteten, wie die Wärterin im Folgenden einer Patientin beim Aufstehen half, sie an den langen Tisch in der Raummitte führte und dort auf einen Stuhl setzte. Sie tat es mit großem Geschick, mit Geduld und einer Ruhe, die Ella als beruhigend empfand. Wäre die Wärterin nicht, sie würde – auch ohne, dass Anton sie hier herausholte – aus dem Spital flüchten. Die Wärterin war äußerst zierlich und schmal gebaut, mit Armen so dünn wie Ästchen. Es war Ella ein Rätsel, woher sie die Kraft nahm, die um vieles größeren und schwereren Patienten im Bett zu wenden und sie beim Gehen zu stützen. Ihre weiße Schürze über dem grauen Kleid war mit allen möglichen Flecken besudelt. Einzig die weiße Haube schien noch sauber zu sein.

»Ja, es ist ein Ulcus ventriculi pepticum. Das Geschwür sitzt an der vorderen Magenwand«, hörte Ella den Professor mit ungeduldigem Unterton sagen. »Ein Karzinom können wir ziemlich sicher ausschließen. Mehr bespreche ich nur unter Kollegen. Wenn Sie genauere medizinische Informationen brauchen, Frau Winkelmann-Staupitz, schicken Sie Ihren Ehemann vorbei.«

Mit demütigenden Situationen wie diesen war Ella aufgewachsen. Sie zerrissen ihr das Herz, denn sie wusste, wie sehr diese ihre Mutter verletzten, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Ella schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Gerade spielte ihre Diagnose keine Rolle für sie. Gerade litt sie am Schmerz ihrer Mutter. Hier im Spital hatte Viviana ihre Leidenschaft für die Medizin entdeckt und Freude am Helfen und Heilen gefunden. Hier hatte sie ihre Säbel mit den Professoren Virchow und von Rinecker gewetzt und viel von Professor von Marcus gelernt, sodass sie eine gute Ärztin geworden war, auch wenn sie sich offiziell nicht so nennen durfte. Ella erinnerte sich vor allem an die Zitronenplätzchen, mit denen Professor von Marcus und seine Frau sie als kleines Mädchen gefüttert hatten. Professor von Marcus war für sie wie ein Großvater und der Mentor ihrer Mutter gewesen.

Zwar hatte Viviana nie studiert und vor einer Kommission von Professoren ihre medizinische Fachprüfung abgelegt, aber vor Richard und vor Professor von Marcus hatte sie alle Fragen korrekt beantwortet und auch bei den praktischen Vorführungen geglänzt. Damals war Ella zehn Jahre gewesen.

Seit nunmehr dreißig Jahren heilte ihre Mutter an der Seite von Richard, Ellas Ziehvater. Seit dreißig Jahren gingen Ellas Eltern in die ärmeren Viertel der Stadt, um jene Kranken und Presshaften zu untersuchen, die es nicht bis ins Spital schafften. Es waren Eisenbahnarbeiter aus dem Grombühler Viertel, Dienstboten, Tagelöhner und Handwerker, wie Ellas leiblicher Vater Paul in seinen jungen Jahren einer gewesen war, bevor er später als Bildhauermeister berühmt wurde. Seit mehr als vierzig Jahren rümpften vor allem die Bürgerlichen die Nase über Viviana Winkelmann-Staupitz.

Ella dachte oft, dass kluge Frauen ein Giftstachel im Fleisch der Gesellschaft waren, unliebsame Elemente, die man unbedingt loswerden wollte, weil sie wehtaten. Als Tochter einer – wenn auch heimlichen – Ärztin hatte sie alle Höhen und Tiefen miterlebt. Wann immer ihre Mutter im Kampf für das Recht der Frauen auf Bildung nicht vorankam, hatte dies Ella doppelt und dreifach getroffen, und sie hatte alles dafür gegeben, ihre Mutter wieder aufzumuntern.

»Kein Karzinom also«, sagte Viviana gefasst, aber Ella hörte aus ihrer Stimme ganz deutlich die Enttäuschung darüber heraus, dass Professor von Leube eine Frau als Menschen zweiter Klasse behandelte. »Das ist eine sehr gute Nachricht.« Vivianas Blick glitt gedankenverloren zum Fenster. Ella meinte, ihre Mutter sehne klügere Zeiten herbei.

»Frau Hertz braucht jetzt Bettruhe, regelmäßige Überwachung und leichte Kost«, erklärte die Wärterin nun beschwichtigend, der die aufgewühlte Stimmung wohl ebenfalls nicht entgangen war, und Professor von Leube nickte daraufhin.

»Bettruhe könnte ich auch zu Hause halten«, wagte Ella einen Vorstoß mit dünner Stimme. »Und leichte Kost wäre gleichfalls kein Problem.« Sie setzte sich im Bett auf.

Henrike beeilte sich hinzuzufügen: »Zu Hause ist es viel behaglicher und riecht zudem nicht so nach … na ja … so streng, so komisch sauer.« Einige Studenten lächelten über ihren Kommentar, einer flüsterte seinem Kommilitonen etwas zu und grinste anzüglich dabei.

Aber Professor von Leube schüttelte den Kopf. »Frau Winkelmann-Staupitz, erklären Sie Ihrer Tochter doch bitte, warum sie besser hierbleiben sollte und es in einem Krankenhaus gottgegeben anders riecht als im heimeligen Salon«, verlangte von Leube. Doch bevor Viviana auf die Schnelle etwas erwidern konnte, wandte er sich bereits ab, wobei sein langer weißer Kittel mit den goldenen Knöpfen auffällig aufflog. »Fahren wir nun mit unserer Visite fort und schauen uns als Nächstes ein malignes Karzinom an«, sagte er zu seinen Studenten und schritt zuversichtlich ans Bett einer weiteren Patientin. Kurz schenkte die Wärterin Ella und Viviana noch ein mitfühlendes Lächeln, dann folgte sie dem Professor.

Ella sackte kraftlos ins Bett zurück. Ich soll wochenlang im Spital bleiben? Ihr Magen brannte wie Feuer, aber sie sagte nichts, weil es ihre Situation nur noch verschlimmert hätte.

»Ella, mein Schmetterling«, sagte Viviana leise und tupfte ihr eine verirrte Träne von der Wange. »Professor von Leube ist für seine unfehlbaren Diagnosen bekannt. Er ist ein guter Arzt, und hier im Spital wirst du mit allem Nötigen versorgt.«

Henrike traute sich doch noch, auf Ellas Bettkante neben ihrer Großmutter Platz zu nehmen. Verunsichert wickelte sie eine Haarsträhne um den Zeigefinger. »Muss sie wirklich …«, begann sie, »Großmama, du bist doch eine so gute Ärztin. Warum kannst du Mama nicht zu Hause überwachen und versorgen? Das wäre doch die Lösung!« Kühn warf Henrike ihr halb offenes rotes Haar auf den Rücken zurück. »Unsere Familie ist voller Ärzte, aber trotzdem soll Mama«, sie senkte ihre Stimme, »noch länger in diesem grässlichen Juliusspital bleiben?«

Unwillkürlich nickte Ella bei dem Wort »grässliches Juliusspital«. Henrike war der Sturm in der Familie. Die ungeduldigste der drei Winkelmann-Frauen, ein rothaariger Wirbelwind. Dabei sowohl ganz eindeutig eine Winkelmann als auch ein Ebenbild ihres Vaters. Ihr kupferrotes Haar und die weit auseinanderstehenden Augen hatte sie genauso von Anton geerbt wie ihr bestimmendes Wesen.

Ellas größtes Glück war Henrike, die sie unbedingt vor einem so zermürbenden Schicksal wie dem ihrer Mutter beschützen wollte. Zum Glück hatte sie das Interesse ihrer Tochter in Richtung Literatur lenken können. Als emsige Leserin wurde man weder angefeindet noch beschimpft und niemals mit Dreck beworfen.

»Professor von Leube ist der beste Magenarzt Deutschlands«, betonte Viviana abermals. »Sollte es zu einem Durchbruch deines Geschwürs kommen, ist er schnell zur Stelle und kann sofort operieren. Magengeschwüre können selbst im Heilungsprozess noch durchbrechen. Deshalb wäre es lebensgefährlich, dich jetzt nach Hause zu lassen, Ella.«

Die Frau, an deren Bett sich die Studentengruppe und Professor von Leube gerade befanden, gab in diesem Moment ein schreckliches Stöhnen von sich, sodass Ella und Viviana dorthin schauten. Henrike allerdings warf Professor von Leube einen bösen Blick zu, der vom Leiden seiner Patientin unbeeinträchtigt weiterhin über den Magenkrebs dozierte: »Der hochverehrte Professor Virchow war der Meinung«, erklärte er gerade, »dass der hauptsächliche Faktor für die Entstehung eines Karzinoms solch häufige Reize wie Traumen sowie Entzündungs- und Geschwürprozesse seien.«

»Aber Großmama, wir sollten Mama nicht bei diesem Professor lassen. Hast du nicht bemerkt, wie unhöflich er dich behandelt hat?«, beharrte Henrike.

»Ist schon gut, das waren bloß unbedachte Worte. Er ist vermutlich mit dem falschen Fuß aufgestanden«, wiegelte Viviana ab.

Ella war jedoch überzeugt, dass ihre Mutter es besser wusste.

»Ich würde so nicht mit mir reden lassen! Wenn Großpapa Richard das gehört hätte, er hätte den Professor zumindest ermahnt«, war Henrike überzeugt. »Und außerdem sehen alle Kranken hier so bleich und unglücklich aus. Wie soll man denn da gesund werden? Ist Krankheit außerdem nicht etwas Intimes?« Ihr Blick glitt zum Bett nebenan, in dem eine übergewichtige Frau lag, deren nacktes Bein halb unter der Decke hervorschaute. Die Wärterin tupfte ihr den Schweiß vom Gesicht. Im Hintergrund bewegte sich von Leube mit der Gruppe von Studenten an das nächste Krankenbett, wo der Professor erneut nach der Wärterin verlangte. Er rief sie »Wärterin Anna«. Dann wurde die nächste Patientin vor der Studentenschar entblößt.

»Die beste Betreuung bekommst du unbestritten im Spital«, sagte Viviana in einem Tonfall, den Ella seit ihrer Kindheit kannte und der keinen Widerspruch mehr zuließ. »Ihr könnt Ellas Gesundheit doch nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen, nur weil es hier schlecht riecht!« Viviana schaute ihrer Tochter dabei tief in die Augen. »Hier bist du medizinisch sogar noch besser versorgt als in der Privatklinik von Professor von Leube. Denn im Notfall kommt hier das geballte Wissen aller Ärzte zusammen. Ich will kein Risiko eingehen.«

Ellas Magen krampfte schon, wenn jemand das Wort »Spital« nur flüsterte. »Ich werde mich zusammenreißen«, sagte sie leise, wagte aber nicht darüber nachzudenken, was die nächsten Stunden und Tage bringen könnten. Sie schaute sich erneut um, und ihr fiel auf, dass einige Studenten Henrike beobachteten, obwohl der Professor noch immer vor ihnen dozierte. Soeben hielt er einen Schlauch hoch, begleitet von den Worten: »Die Einführung der Magensonde ist eine unbedeutende Operation, die sehr leicht zu erlernen und mit großer Sicherheit auszuführen ist. Ich verweise auf meine entsprechende Vorlesung über die Krankheiten des Magens und des Darms, die jeden zweiten Dienstagvormittag stattfindet.«

»Mama, was hältst du davon, wenn ich dir zur Ablenkung ein paar Bücher vorbeibringe?«, schlug Henrike vor.

»Das ist nett von dir«, sagte Ella nach einer Weile, dachte aber im gleichen Moment, dass sie ihrer Tochter das Spital eigentlich bis auf Weiteres ersparen wollte. »Bitte gib die Bücher deinem Vater mit, wenn er mich besuchen kommt, Rike.«

»Wir vermissen dich zu Hause, Mama.« Henrikes Stimme klang nun traurig. »Auch Papa macht sich Sorgen. Er sagt, dass ohne dich nichts seine Ordnung hat. Ohne dich schläft er ziemlich schlecht. Er wird ins Spital kommen, sobald er bei der Eisenbahn-Gesellschaft entbehrlich ist.«

Ella war gerührt von Henrikes Bericht. Normalerweise schlief Anton ausgezeichnet, nicht einmal eine vorbeifahrende Dampflok konnte ihn wecken.

Ella bekam von ihrer Mutter einen Abschiedskuss auf die Stirn gedrückt und ließ sich von Henrike noch versprechen, nicht wieder herzukommen. Als die beiden den Krankensaal gerade verlassen wollten, ging alles ganz schnell. Die Patientin im Nebenbett fing an zu zittern, keuchte und spie gelbe Galle. Henrike schrie vor Schreck auf, Ella zog sich ihre Bettdecke bis unters Kinn.

Als Erste sprang Viviana zu der Leidenden, las die Diagnose auf der Kreidetafel und drehte die Frau auf die Seite, damit sie ihr Erbrochenes nicht einatmete und daran erstickte.

Ella musste zum ersten Mal mit ansehen, wie ein Mensch mit dem Tod rang. Im nächsten Moment war auch Professor von Leube bei der Patientin, seine Studentenschar folgte ihm wie ein Schatten. Er gab Wärterin Anna genaue Anweisungen, die daraufhin sofort zur Tat schritt. Dann wandte er sich Viviana zu. »Gehen Sie jetzt!«, verlangte er ungehalten. »Ich bin hier der Arzt!« Als Viviana zögerte, setzte er noch hinzu: »Verlassen Sie endlich meinen Krankensaal!«

Ella presste sich die Hände auf die Ohren. Diese Feindseligkeit hatte sie noch nie ertragen. Und lebend hier wieder herauskommen? Das würde sie vielleicht auch nicht mehr.

3

2. Januar 1896

Der ruhige Conrad war nicht die Art von Forscher, von der man Sensationelles erwartete. Er erinnerte Albert viel zu sehr an sich selbst. Conrads besondere Fähigkeit lag in der genauen und gewissenhaften Detailarbeit, er war ein Experimentalphysiker vom alten Schlag. Fast zärtlich ging er mit seinen physikalischen Apparaturen um. Wer meine Apparaturen schlecht behandelt, ist mein Feind, pflegte Conrad zu sagen.

Albert lächelte milde, denn er selbst hielt es ähnlich mit seinem Mikroskop auf dem Schreibtisch. Und noch eine Tatsache gefiel ihm besonders an den aktuellen Geschehnissen. Conrad, dem er freundschaftlich verbunden war, war einer der wenigen Professoren in deutschen Landen, der ohne Abitur zum Studium zugelassen worden war und sich deswegen nicht in Bayern hatte habilitieren dürfen. Die Würzburger Kreise bezeichneten diesen Umstand als »des Professors Fleck im Lebenslauf«. Albert fand diesen Fleck hervorragend, er passte ganz wunderbar zu dem, was er gerade in den Händen hielt. Die von Conrad gemachte Entdeckung, deren Beschreibung er gerade in den Händen hielt, war dessen nachträgliche Rechtfertigung an das Königreich Bayern mit Ausrufungszeichen!

Aufgeregt schritt Albert Kölliker vor das Fenster seines Büros, die jüngste Ausgabe der Schriftenreihe der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in der Hand. Er war Ehrenpräsident der Gesellschaft und mochte Menschen, deren Kraft in ihrer Ruhe und Zurückhaltung lag. Als Züricher war ihm die Zurückhaltung fast schon angeboren. Aber nicht nur mit Spannung und Wohlwollen, sondern auch mit Unbehagen schaute er auf die Zukunft seines jüngeren Kollegen, der in jenem Jahr geboren worden war, in dem Albert in der Zeitschrift für wissenschaftliche Botanik erstmals die Existenz einzelliger Tiere behauptet hatte. Das lag fünf Jahrzehnte zurück. Verdammt, was war er doch alt geworden!

Albert dachte an seine ersten Jahre an der Würzburger Universität und am Juliusspital zurück, als er und Rudolf Virchow noch an den menschlichen Zellen geforscht hatten und Virchow als großer Begründer der Cellular-Pathologie und als Sieger aus ihrem kleinen Wettstreit hervorgegangen war. Omnis cellula a cellula! Albert war zu vorsichtig gewesen mit der schnellen Verbreitung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse, vermutlich hatte ihm damals das dafür notwendige wissenschaftliche Selbstbewusstsein gefehlt. Andererseits war er auch dankbar dafür, dass ihm jene öffentliche Aufregung um seine Person, die Kollege Virchow widerfahren war, erspart blieb. Albert hatte sich in Würzburg eingerichtet, seine alte Schweizer Seele war inzwischen »a weng frängisch« geworden – ein wenig fränkisch. Schon seit einigen Jahren lud Conrad eine ansehnliche Zahl von Doktoren, Professoren und anderen Freunden und Bekannten in seinen Institutsgarten zu Krocketspielen und Zitronenlikör ein. Diese Zusammenkünfte bereiteten Albert besonderes Vergnügen. Es waren Sonntage voller Entspannung und anregender Unterhaltungen, oft auch fern ihrer Fachthemen. Albert freute sich schon auf die nächste Einladung.

Er schlug das Schriftenheft der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft auf und führte sich den Grund seiner Aufregung im sanften Winterlicht am Fenster vor Augen. In seiner Vorstellung sah er das bedruckte Papier schon aufleuchten, so ungeduldig war er darauf, die Entdeckung bald vorgeführt zu bekommen. Eben weil er Conrad als zurückhaltenden und vorsichtigen Wissenschaftler kannte, war er überwältigt von dem, was der Freund als »Vorläufige Mitteilung« auf den letzten zehn Seiten des Schriftenbandes vor wenigen Tagen seinen naturwissenschaftlichen und medizinischen Kollegen zur Kenntnis gegeben hatte.

Über eine neue Art von Strahlen lautete der Titel der Mitteilung, die so nüchtern verfasst war, wie es Albert in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände selbst kaum möglich gewesen wäre.

Sie begann glänzend und auf den Punkt gebracht mit den Worten:

Lässt man durch eine Hittorf’sche Vakuumröhre die Entladungen eines größeren Ruhmkorff’s gehen und bedeckt die Röhre mit einem ziemlich enganliegenden Mantel aus dünnem, schwarzem Karton, so sieht man in dem vollständig verdunkelten Zimmer einen in der Nähe des Apparates gebrachten, mit Bariumplatincyanür angestrichenen Papierschirm bei jeder Entladung hell aufleuchten, fluoreszieren, gleichgültig ob die angestrichene oder die andere Seite des Schirmes dem Entladungsapparat zugewendet ist.

Je öfter Albert die »Vorläufige Mitteilung« las, umso aufgeregter wurde er. Er fühlte sich wie ein junger Student, der das erste Mal vom schier unendlichen Vermögen der Naturwissenschaften erfuhr. Zeit seines Lebens hatte er sich wenig mit der Physik beschäftigt. Physik hatte die letzten Jahrzehnte hindurch – soweit er das als Anatom beurteilen konnte – als »abgeschlossene Wissenschaft« gegolten. Kaum jemand wollte Physik studieren. Vorlesungen über Experimentalphysik wurden vor allem von Medizinern, Pharmazeuten und Chemikern besucht.

Albert verstand immerhin, dass Conrad keine neuen Apparaturen für sein Experiment konstruiert, sondern lediglich mit bereits existierenden Instrumenten wiederholt hatte, was andere Erforscher der Kathodenstrahlen schon mehrmals vor ihm experimentiert hatten. Einzig die Ummantelung der Vakuumröhre hatte er variiert und dafür ein anderes fluoreszierendes Material verwendet, die restlichen Änderungen waren kaum erwähnenswert. Er überflog einige der wichtigsten Textstellen.

Man findet bald, dass alle Körper für dasselbe durchlässig sind, aber in sehr verschiedenem Grad. Einige Beispiele führe ich an. Papier ist sehr durchlässig … dicke Holzblöcke sind noch durchlässig … Körperteilchen … bilden für die Ausbreitung ein Hindernis und zwar im Allgemeinen ein desto größeres, je dichter der betreffende Körper ist.

Albert hob den Blick und schaute durch das Fenster zum Pfründnerbau des Spitals hinüber. Links davor zerfiel das Gartenhaus, aus dem er vor vielen Jahren aus- und in die Neue Anatomie eingezogen war. In Gedanken las er die »Vorläufige Mitteilung« weiter; ganze Sätze kannte er inzwischen auswendig, so oft hatte er sie bereits gelesen.

Von besonderer Bedeutung … ist die Tatsache, dass photographische Trockenplatten sich als sehr empfindlich für X-Strahlen erwiesen haben … Hält man die Hand zwischen den Entladungsapparat und den Schirm, so sieht man die dunkleren Schatten der Handknochen in dem nur wenig dunklen Schattenbild der Hand.

Er ging die Schattenfotografien, die als Kontaktabzug der Fotoplatten entstanden waren, auf der Fensterbank durch. Conrad hatte sie ihm ausgeliehen. Da waren neben den besagten Handknochen auch Schattenbilder vom Profil einer Tür, eines Drahts auf einer Holzspule, eines in einem Kästchen eingeschlossenen Gewichtssatzes. Das Interessanteste für den Anatomen in Albert war aber unbestritten das Schattenbild von Berthas Handknochen, an denen der Ehering deutlich zu erkennen war. Conrads Ehefrau war einst eine einfache Gastwirtstochter gewesen, er hatte unter seinem Stand geheiratet. Noch so ein »Fleck im Lebenslauf«, den Albert an seinem Freund sympathisch fand.

Er nahm die Fotografie auf und hielt sie gegen das Licht des Fensters, sodass sie auf einer Höhe mit dem Gartenhaus neben diesem zu schweben schien. Das Juliusspital hatte seinen Ruf als erstes Universitätskrankenhaus inzwischen an die Charité abgeben müssen. Die Würzburger Medizinische Fakultät stand allerdings immer noch auf Rang drei der Medizinischen Fakultäten im Deutschen Kaiserreich. Und selbst das schien ihm noch zu hoch gegriffen; das alte Gartenhaus stand durchaus exemplarisch für den Zustand des Spitals. Die Studenten gingen lieber nach Berlin, die Zeit der großen Entdeckungen in Würzburg war vorüber. Dort bedurfte es vieler Reformen und Neubauten.

Allein sein begeisterter Freund und Kollege Wilhelm Oliver von Leube und vielleicht noch der verrückte Professor Rieger hielten die Fahnen für Würzburgs Medizinische Fakultät hoch, besaßen aber bei Weitem nicht die gleiche Anziehungskraft, mit der ein Virchow oder ein Schönlein die Würzburger Hörsäle gefüllt hatten. Maßgebend für den Ruhm eines Krankenhauses ist der Ruf seiner Ärzte. Die Zeit raste dahin, die Medizin entwickelte sich weiter, und in gleichem Maße wuchs der Anspruch an die deutschen Universitäten. Frauen wollten auf neuen Gebieten arbeiten und immer mehr lernen. In Würzburg war diese Entwicklung vor allem Viviana Winkelmann zu verdanken. Alberts Enkeltochter hatte bei ihr einen Sonntagskurs besucht und war begeistert gewesen. So viele Zeichen wiesen in Richtung einer neuartigen Zukunft. Das Spital jedoch trabte der Moderne wie ein müdes Pferd hinterher.

Albert beobachtete, wie der Wind lose Äste durch den Spitalgarten trieb. Berthas Hand auf dem Schattenbild schien nach dem maroden Gartenhaus zu greifen wie der Tod nach einem Seuchenkranken. Albert ließ die Fotografie sinken. Conrads Hochspannungsexperiment könnte ein Wendepunkt sein und dem Spital zu neuem Ruhm verhelfen. Conrads Entdeckung hatte das Potenzial, zu einer der größten in der Wissenschaftsgeschichte nach der Bändigung und Entfachung des Feuers vor zweiunddreißigtausend Jahren zu werden! Eine neue Medizin-Epoche stand bevor.

Dabei hatte Conrad auf keinerlei bessere Voraussetzungen zurückgreifen können als andere Physiker vor ihm. Für sein Experiment hatte er lediglich die Naturerscheinungen hochgespannter Ströme beobachtet, die durch Vakuumröhren strömten. Dabei hatte er plötzlich Licht gesehen, obwohl es dieses nach den damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen dabei gar nicht geben durfte. Konsequent war er dieser Lichterscheinung nachgegangen und war auf diese Weise auf seine »X«-Strahlen gestoßen, die durch die Materie hindurchgingen.

Als Nebenergebnis und Beweismittel seiner Beobachtungen waren dabei die Schattenbilder entstanden. Als Zufallsergebnis, wie Conrad betont hatte. Er war damit zu einem Sprinter geworden, der von hinten an den großen Physikern seiner Zeit vorbeizog, und mit dem keiner mehr gerechnet hatte.

Die Berechtigung, für das von der Wand des Entladungsapparates ausgehende Agens den Namen »Strahlen« zu verwenden, leite ich zum Teil von der ganz regelmäßigen Schattenbildung her, die sich zeigt, wenn man zwischen den Apparat und den fluoreszierenden Schirm (oder die photographische Platte) mehr oder weniger durchlässige Körper legt.

Albert konnte sich an Berthas Hand nicht sattsehen. Ihre langen Fingerknochen und der Ehering waren auf dem Negativabzug der Fotoplatte weiß, weil die »neue Art von Strahlen« nicht durch sie auf die fotografische Platte hatten hindurchdringen können. Je durchlässiger ein Körper, desto dunkler war sein Abbild auf dem Negativabzug. Das Schattenbild ermöglichte einen Blick in das Innere von Berthas Hand, ohne das chirurgische Messer ansetzen zu müssen. Was für ein Geniestreich! Da bekam sogar Albert auf seine alten Tage hin vor Aufregung noch eine Gänsehaut. Wenn man von nun an Hände durchleuchten und in den Körper hineinschauen konnte, was würde fortan noch ungesehen bleiben? Selbst gut verhüllte Körperteile könnten mit der »neuen Art von Strahlen« sichtbar gemacht werden.

Albert legte die Schattenbilder sorgsam in die Mappe zurück und machte sich auf den Weg zum Physikalischen Institut am Pleicher Ring. Seine alten Beine fühlten sich voller Spannkraft an, sodass er meinte, über dem Boden zu schweben. Er wollte Conrad, der eher ungern vor einer großen Runde sprach, von einem Vortrag vor der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft überzeugen, und ein zweites Anliegen ersann er in diesem Moment gleich mit. Er glaubte, nein, er wusste, dass die neue Medizin-Epoche auch Frauen Chancen bieten würde, und zwar als Wissenschaftlerinnen und nicht nur als schmückendes Beiwerk am Arm ihrer klugen Männer. Es war höchste Zeit. Man musste das alte, verstaubte Denken hinterfragen, die Entdeckung könnte den Auftakt dazu geben. Frauen sollten nicht länger im Haus zurückgehalten werden. Vor allem gab es draußen viel mehr Wunder als Gefahren zu erleben. Davon war Albert überzeugt, und deswegen wollte er seinem Freund Conrad zusätzlich auch noch vorschlagen, Viviana Winkelmann-Staupitz und ihren Gatten zur sonntäglichen Krocketrunde einzuladen. Gewiss würde das Medizinerehepaar ihre Runde auf sehr fruchtbare Weise beleben. Er schätzte beide als Ärzte und als Menschen, seit Jahrzehnten.

Albert wusste, dass er einen Teil seines Überschwangs seiner Senilität zuzuschreiben hatte, aber der andere Teil war begründet! Sofern die Strahlen das Potenzial besäßen, das er ihnen allein aus medizinischer Sicht zuschrieb, reichte eine einmalige Veröffentlichung im Blatt der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft niemals aus. Wissenschaftler in aller Welt mussten von ihrer Entdeckung erfahren! Sie könnten der einzigartige Triumph werden, den das Spital so dringend nötig hatte. Eine Initialzündung für einen tief greifenden Umbruch in der Diagnostik. Für die Medizin und für das Juliusspital bräche eine neue Epoche an. Conrad Röntgen war hier im beschaulichen Würzburg ein Geniestreich gelungen!

4

Mitte Januar 1896

So geräuschlos wie möglich drehte Viviana sich zu Richard um, der noch schlief. Ihren Ehemann regelmäßig atmen zu hören und die Umrisse seines Profils in der fliehenden Dunkelheit zu betrachten, gab ihr Frieden. Das Licht der Morgendämmerung drang gedämpft durch die Vorhänge und ließ Richard friedlich und zufrieden wirken. Auch deswegen war der Morgen der schönste Teil des Tages für sie. Da waren nur sie, Richard und der Frieden. Weder Hektik, Leid und Tod noch elektrisches Licht, das Räume sommertaghell erleuchtete. Vor wenigen Jahren war das elektrische Licht über die Welt gekommen und hatte die Medizin verändert. Es war der Anfang vom Ende der Dunkelheit, dachte Viviana und betrachtete Richards Gesicht, die grauen Koteletten und sein vom Liegen zerwühltes Haar. Die Würzburger liebten die neue Helligkeit, die die Elektrizität erzeugte, aber Viviana war froh, dass Samstag war und das Licht an diesem Morgen im Palais ausgeschaltet blieb. Erst morgen würden ihre Sonntagsschülerinnen für die Unterrichtsstunden ins Palais zurückkehren. Für heute stand ein Gang ins Spital auf dem Plan. Sie wollte schauen, ob es ihrer Tochter besser ging und ihr Magengeschwür verheilte. Hoffentlich war Ellas Zusammenbruch kein schlechtes Omen für das neue Jahr.

Schon das vergangene war ein schwarzes Jahr für Viviana gewesen. Erst war im März die große Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters gestorben und dann vor wenigen Tagen ihre Mutter. Zwei außergewöhnliche Frauen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, sie beide geprägt hatten und deren Verlust sie traurig machte. Der Tod, der Tod. Kurz schloss sie die Augen und dachte an die imposante Grabstätte ihrer Familie, die sich in der ersten Abteilung auf dem Friedhof befand, in der auch Würzburger Bürgermeister, Justizpräsidenten und königliche Staatsräte begraben lagen. In der ersten Abteilung befanden sich die Gruften von Würzburgs Adel und der angesehensten Kaufmannsfamilien. Die Plätze dort waren rar und selbst mit großem Namen nicht so einfach zu bekommen.

In goldenen Lettern hatte sich ihre Mutter ihren Namen neben dem ihres Ehemannes Johann Winkelmann eingemeißelt und bemalt gewünscht, darunter stand der von Valentin Winkelmann. Vivianas Bruder hatte ihren Wunsch, ein uneheliches Kind auszutragen und Ärztin zu werden, strikt verurteilt. Er hatte sie für den Untergang des Bankhauses Winkelmann verantwortlich gemacht. Tatsächlich hatte mit Ella, dem unehelichen Kind eines in den Augen der Familie nicht standesgemäßen Mannes, das Zerwürfnis ihrer Familie einst begonnen. Eine Wunde, die nie ganz verheilt war.

Von Valentins Freitod hatte Viviana kurz nach ihrem Dorotheen-Spektakel erfahren. Im Jahr 1855 war das gewesen, und es hatte sie zutiefst erschrocken, wie verzweifelt und unglücklich er gewesen sein musste. Ihr Bruder hatte heimlich Männer geliebt und sich deswegen sowie wegen seiner ruinösen Bankgeschäfte am Ende aufgehängt. Seine schwangere Frau Dorette war zurück zu ihren Eltern nach Köln gezogen. Was aus ihr und dem Kind geworden war, hatte Viviana nie erfahren.

Unter der Bettdecke schob sie ihre Hand zu Richard. Wie jede Nacht schlief er auf dem Rücken, mit eng an den Oberkörper gelegten Armen. Behutsam, damit sie ihn nicht aufweckte, schob sie ihre Hand unter die seine. Sie genoss die Wärme, die von seinen Fingern ausging. So blieb sie liegen und atmete in der Morgendämmerung das Leben und die Liebe ein. Am liebsten hätte sie auf diese Weise einmal einen ganzen Tag verbracht.