Das Kamel ohne Höcker - Jonas Hassen Khemiri - E-Book

Das Kamel ohne Höcker E-Book

Jonas Hassen Khemiri

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Beschreibung

Ein rotes Notizbuch hat Halim geschenkt bekommen. Und jetzt führt er, ein arabischer Schwede, ein schwedischer Araber, Tagebuch in seiner eigenen Sprache . Es gibt viel zu erzählen, z. B. von den Arabern, die die schlauesten Mathematiker haben und die tapfersten Krieger. Und Halim schreibt auch über dieses eine Mädchen, über seinen traurigen Vater und dessen Schach-Partner Nourdine, den arbeitslosen Schauspieler. Mit Witz und Tempo erzählt Jonas Hassen Khemiri von der ungewöhnlichen Selbstfindung eines sensiblen jungen Mannes.

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Jonas Hassen Khemiri

Das Kamel ohne Höcker

Roman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

Über dieses Buch

Die bittersüße Geschichte eines jungen Mannes auf der Suche nach seinem Platz in der Welt

 

Halim ist ein arabischer Schwede oder ein schwedischer Araber, wie man es nimmt. Er führt ein rotes Tagebuch in seiner eigenen Sprache . Es gibt viel zu erzählen, z. B. von den Arabern, die die schlauesten Mathematiker haben und die tapfersten Krieger. Und Halim schreibt auch über dieses eine Mädchen, über seinen traurigen Vater und dessen Schach-Partner Nourdine, den arbeitslosen Schauspieler. Mit Witz und Tempo erzählt Jonas Hassen Khemiri von der ungewöhnlichen Selbstfindung eines sensiblen jungen Mannes.

 

«Halim zeigt uns ein Leben zwischen den Kulturen. Ohne Betroffenheitsgefasel. Ein autobiografischer Multikulti-Roman: Lässig lässt er uns ins Herz eines Heimatlosen blicken.» (Woman)

Vita

Jonas Hassen Khemiri wurde 1978 in Stockholm geboren. Mit seinen Dramen und seinen Romanen «Das Kamel ohne Höcker» und «Montecore», die viel Medienresonanz hervorriefen, wurde er zu einem der bekanntesten Autoren Schwedens. Neben dem Borås-Tidnings-Debütpreis wurde er 2006 mit dem Per-Olov-Enquist-Preis und 2015 mit dem Augustpreis in der Kategorie Belletristik für seinen Roman «Alles, was ich nicht erinnere» ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. Jonas Hassen Khemiri lebt in Stockholm.

dank an g und h

1

Probier’s mal mit Gemütlichkeit,

mit Ruhe und Gemütlichkeit,

wirf alle deine Sorgen über Bord.

Heute war der letzte Tag von den Sommerferien, also hab ich Papa im Laden geholfen. Erst haben wir die Schaufenster eingeräumt und überall Kleber mit «Schlussverkauf» drauf, dann neue Ware geholt. Im Lager totales Chaos, überall riesige Staubhaufen und Spinnweben in den Ecken. Ich habe beim Aufräumen geholfen und dabei eine Kiste mit alten Thermoskannen und Kartons mit Pinzetten und Nagelknipsern entdeckt, dazu massenweise verbeulte Schachteln mit Wunderkerzen. Weiter hinten ein altes Feuerwehrauto, das ich mal bei einer Tombola in der Schule gewonnen habe, echt lange her, noch in der Mittelstufe. Papa stellte die Thermoskannen und das Feuerwehrauto ins Schaufenster und hängte ein paar Lätzchen mit Snoopy drauf dazu. Ich habe gesagt, das ist zu voll, aber Papa sagte, es ist wichtig, dass man von draußen alles sieht. Dann bat er mich, ’nen Text auf ein Pappschild zu schreiben. Wir haben nämlich heute ein gestohlenes Fahrrad vor der Tür gefunden. War einfach in die Büsche geschmissen worden, hatte Löcher im Reifen, und die Pedale hatte auch einer geklaut. Papa sofort einen Geistesblitz gehabt und sagte, wir können das Fahrrad doch als Reklame nehmen. Also haben wir das Fahrradwrack mitgenommen und vor den Laden gestellt, zusammen mit dem Pappschild, das ich geschrieben habe: «Wir haben ALLES!» (Der Text ist von Papa.) Habe auch Pfeile drauf gemalt, damit man schnallt, dass unser Laden gemeint ist. Den Filzstift habe ich in meine Tasche geschmuggelt. Immer gut, einen Stift zu haben.

Dann kam Nourdine vorbei. Er transportierte die Pokémon-Maschine in einem alten Kinderwagen und klopfte selig an die Tür. So im Mai ist die Maschine ja kaputtgegangen. Hinter dem Glas saß das gelbe Pokémon nur noch still rum, und obwohl man Geld reinschmiss, kam keine Plastikkugel mehr raus. Nourdine hatte versprochen, das Ding zu reparieren, aber dann sagte er den ganzen Sommer über: «Bald ist es fertig, übermorgen, nächste Woche, bald …» Aber eigentlich stand die Maschine nur in Nourdines Zimmer und hat Staub gefangen.

Papa machte ihm die Tür auf, und wir haben dem Kinderwagen über die Schwelle geholfen, denn die Maschine ist echt schwer. Nourdine hatte die komplette Mechanik geölt und sogar den gelben Pelz gebürstet. Die Maschine sah fast wie neu aus (wenn man vom Glas absieht, das Kratzer hat).

«Und?», Nourdine ganz glücklich, «was sagt ihr jetzt?»

«Wer an den Stein glaubt, wird von ihm erschlagen», murmelte Papa zufrieden.

Das Pokémon wippte vor und zurück, wie es sollte, und machte diesen komischen Laut, und als Papa einen Fünfer reinschmiss, surrte es, und es kamen Plastikkugeln rausgerollt. Als Dank kriegte Nourdine zweihundert Kronen und eine Thermoskanne von Papa.

Am Nachmittag sagte ich, muss in die Stadt fahren und Bücher für die Schule kaufen, und bin dann mit der U-Bahn nach Skärholmen raus. War ein sonniger Sonntag und der Platz voll mit Leuten. Da saß Dalanda wie immer auf einer Bank und schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Gegend. Als ich sie sah, kam direkt Freude auf. Neben ihr auf der Bank ein paar Tüten mit Gemüse. Die nahm sie sofort runter, als sie mich sah. Turnte rum, um mich groß zu umarmen und mir drei Küsse zu geben. Dann lehnte sie sich wieder zurück und nahm meine Hand.

Wir saßen still da, während um uns rum brüllende Obstverkäufer Bananen zum Sonderpreis und superbillige Gurken anboten. Ein Stück weiter runter spielten die Neger afrikanische Trommeln, und die Tauben wanderten um die Bänke rum wegen mehr Brot. Kommt dir vielleicht komisch vor, dass man sich nicht schämt, mit ’ner alten Tante auf der Bank zu sitzen und zu reden. Ich habe vielleicht auch so gedacht, als ich das erste Mal mit Dalanda redete. Aber das bereust du sofort, wenn du merkst, wie stark sie ist. Sie weiß echt alles über die Geschichte der Araber und hat mir erzählt, dass wir die besten Philosophen und die schlauesten Mathematiker und die tapfersten Krieger haben. Sie hat auch gesagt, wir Araber sind nicht so wie andere Ausländer, sondern viel zivilisierter, und wenn sie das sagt, laufen mir Schauer den Rücken runter.

Heute fing Dalanda an, über eine Masse arabischer Schriftsteller zu reden, richtige Profis wie Ghassan Kanafani, Fathi Ghanim und Nagib Machfus, der den besten schwedischen Nobelpreis gekriegt hat. Sie sagt auch, jeden Juden, der schreiben kann, gibt es auf Schwedisch, aber echt wenig Araber. Plus, es gibt einen Juden, der Salman heißt, der hat den Koran beleidigt, und sein Buch gibt es trotzdem überall in Schweden.

«Und wir haben ja die Buchstaben erfunden, das hat dein Vater dir hoffentlich erzählt? Als die alten Ägypter schon auf Papyrus schrieben, lebten alle Europäer noch wie barbarische halbe Tiere.»

«Die haben uns also eigentlich alles nachgemacht?»

«Hm, so könnte man sagen. Und die alten Texte gibt es immer noch, mit genau derselben Botschaft wie als sie geschrieben wurden. Texte sind schließlich nicht wie Menschen, die sich verändern und Sachen vergessen. Deshalb habe ich auch … was für dich … gekauft.»

Aus der Tasche fummelte sie ein dickes Notizbuch mit roten festen Deckeln. Draußen drauf waren jede Menge Goldmuster, und unter anderem waren der Halbmond und der Stern zu sehen. Die glänzten richtig im Sonnenlicht.

«Hier. Das ist für dich. Wenn du das hier nur richtig benutzt, dann verspreche ich dir, musst du dir keine Sorgen machen, dass du das Gedächtnis verlieren und wie mein verdammter Mann wirst.»

Ich nickte ernst und nahm das Buch. Von der ersten Sekunde an, als ich die leeren Seiten sah, spürte ich DIE KRAFT durch die Fingerspitzen strömen.

«Aber du kriegst es nur, wenn du versprichst, weiterhin fleißig zu lernen. Und dann verspreche ich dir, dass du eines Tages auf Arabisch da reinschreiben kannst. Versprichst du das?»

«Natürlich. Klar.»

Dalanda lächelte mit all ihren braunen Zähnen und streichelte mir den Kopf wie einem Kind.

«Halim, mein kleiner Träumer. Du weißt doch, wie man in Ägypten sagt: Ein Mann ohne Sprache ist wie ein …»

«Kamel ohne Höcker – wertlos.»

Dalanda nickte zufrieden.

«Ganz genau. Ich weiß, mit Allahs Hilfe wirst du schon bald ebenso gut Arabisch schreiben können wie du sprichst. Inschallah!»

Ich antwortete auch «Inschallah» und dachte echt viel an meinen Unterricht mit Safa. Dalanda sah stolz aus. Den Rest der Zeit laberten wir über Skärholmen. Dalanda erzählte, Juan war von seinem Vater in Chile zurück, und Alonzo hatte angeblich einen Job auf einem Abschleppwagen gekriegt. Dann sagte Dalanda, sie hat Sorgen, weil noch mehr Bosnier in unser altes Viertel gezogen sind.

«Ich habe immer meine Probleme mit den Jugoslawen gehabt», erklärte sie. «Ich sage ja immer, dass man es sich zweimal überlegen soll, ehe man Leuten vertraut, die Krieg anfangen und ihre Nachbarn vergewaltigen.»

Ich nickte, um zu zeigen, dass ich ihrer Meinung war. Als wir uns zum Abschied umarmten, atmete ich den Duft von ihrem Schleier ein und auch etwas von der Hennatätowierung, und tief drinnen brannten plötzlich irgendwelche Erinnerungen. Dann war wieder alles normal.

Am Abend lange im Zimmer gehockt und überlegt, was ich schreiben soll. Erst habe ich versucht, mir eine Geschichte von irgendeinem Junkie auf der Platte auszudenken, der von der Drogenmafia die Jacke vollkriegt und sich dann aus Rache eine Waffe schnappt. Habe aber den Faden verloren, was weiß ich schon vom Leben der Junkies und so. Außerdem habe ich noch nie mit einer echten Waffe geschossen. Darum habe ich die Seite rausgerissen und einfach geschrieben, was heute passiert ist. Muss ja so echt wie möglich sein, und klar würde Nagib Machfus nie was anderes schreiben als Geschichten über sich und sein Leben.

Heute auf dem Weg zur Schule merkte ich, dass plötzlich alles anders war. Ich ging die Treppe rauf, wo’s immer nach Besoffenenpisse riecht, dann die Brücke zur Lângholmsgatan und sah die Schule sich wie eine krasse Burg auf dem Hügel auftürmen. Die ganze Zeit hörte ich Dalanda wie ein Radio in meinem Kopf. Sie erinnerte mich daran, dass ich kein Idiot bin, sondern ein Verwandter von Hannibal, der die Römer mit Elefanten kleingekriegt hat, und von Al Khwarizmi, der der Algebra den Namen gab. Klar, das war schon so, seit ich zum ersten Mal mit Dalanda geredet habe, aber jetzt war es stärker als vorher.

In der Schule hingen alle vor der Tür rum und warteten auf Carin. Kristoffer hockte im Fenster und versuchte, den Schnecken durch Rülpsen zu imponieren. Dann zeigte er Jessica die Schürfwunde, die er sich auf der Charterreise bei einem Motorradcrash geholt hat. War natürlich allen scheißegal, stattdessen hat Anna erzählt, dass sie auf Kuba war und hinterher das Sommerhaus in Sandhamnen renoviert hat. Dann fingen alle an, von Sommerferien zu quatschen, und ich bin zum Zimmer vom Berufsberater und habe das Schwarze Brett und alle Werbeplakate für die Gymnasien durchgelesen. Dann hörte ich hinter mir ein Pling, und aus dem Lehreraufzug kam Curre raus und schob den klapprigen Wagen vor sich her. Irgendwie war er fast dicker als sonst, und ich fand, er sieht aus wie die krasseste Bowlingkugel – groß, rund und schwarz. Man denkt ja immer, alle Eritreer sind dünn und klapprig, aber ich schwöre, Curre muss über 120 Kilo, vielleicht 140 Kilo wiegen (das ist, weil er schon als Kind hierhergekommen ist und sich dann fett gefressen hat). Über dem einen Hörgerät hatte er einen grünen Filzstift in die Krussellocken gesteckt. Und obwohl ich ihm im vorigen Frühling ein paarmal geholfen habe, erkennt er mich trotzdem fast nicht wieder. Ein paar Sekunden machte er nichts anderes, als auf meine Hand starren, bis die Augen einen Fokus fanden und ein Lächeln hervorkam.

«Ja Mensch, du bist ja wieder … wieder in der Schule … Mann, das ist ja toll, finde ich, toll, dass du wieder da bist … wieder in der Schule, toll …»

«Danke, danke, Alter. Bis später.»

Musste mich echt anstrengen, um von seinem Händedruck loszukommen, denn unter all dem Fleisch hat Curre ganz klar jede Menge Muskeln. Plus, habe ich gelernt, dass, wenn Curre hängen bleibt, man ihn unterbrechen muss.

Draußen vorm Klassenzimmer kam Carin mit Alex vom Lehrerzimmer. Carin schloss das Zimmer auf und begrüßte alle, während Alex reinschlich, sich in die Ecke hockte und den Kontrolletti spielte. Heute trug er Hip-Hop-Stil bis zum Abwinken mit Lange-Eier-Hosen und einem neuen lila Lakershemd.

Der Rest des Tages war total langweilig. Schwedisch und Geschichte und massenhaft neue Bücher. Zum Essen gab es Gulaschsuppe, und man durfte nur zwei weiche Brote nehmen. Ich habe mir fett fünf Scheiben gegriffen, ohne dass Alex es gemerkt hat, und die ich nicht geschafft habe, habe ich mit Butter beschmiert und unter den Tisch geklebt. Am Nachmittag Chemie mit Anita und dann Kunst mit einem neuen Lehrer, der glänzende Lippen hat und voll schwul aussieht. Wir durften früher Schluss machen, weil die Sommerhitze echt drückte, und die Klimaanlage fällt immer noch andauernd aus.

Abends haben Papa und ich Nourdine zum Essen eingeladen. Jetzt spielen sie Schach in der Küche. Vorher habe ich gegen Papa gespielt, und als Dank für die Chakchouka von Papa hat Nourdine abgespült. Papa hatte Kopfschmerzen von der Arbeit, und deshalb machte er mitten im Spiel eine Pause, um eine Tablette im Wasserglas aufzulösen. Nourdine tat so, als würde er sich den Kopf am Küchenschrank stoßen, blieb aber kurz vorher stehen und donnerte mit dem Fuß an den Schrank: «Kopfschmerzen – manchmal kommen sie ganz plötzlich!»

Er jammerte genau wie die in der Werbung, und dann lachte er dröhnend in der Küche. Papa lächelte als Antwort. Er hat gesagt, Nourdine lacht immer so laut, weil sie das auf der Theaterschule so lernen, und hinterher ist es schwer, sich das wieder abzugewöhnen. Ich glaube ja, dass er einfach laut lacht, weil er gehört werden will und weil er im Mittelpunkt stehen will, damit auch bloß jeder merkt, dass er da ist. Manchmal finde ich es ja total nervig, dass er dauernd bei uns zu Hause rumhängt, seit wir hergezogen sind. Klar ist er das Hotelzimmer leid, aber er muss sich doch mal sein eigenes Leben besorgen und kann nicht ewig nur hier oder im Café Stuket hocken.

Papa kam mit einem sprudelnden Wasserglas zum Schach zurück und rührte mit dem Zeigefinger um. Dann wischte er sich den Finger ab und griff mit dem Läufer an. Nourdine kam vom Spülstein und fing an, seinen Balu der Bär auf Schwedisch zu geben:

«Oioioi, Halim, jetzt wird es aber Zeit. Nimm deinen Vater hier mal richtig in den Schwitzkasten …»

Der Läufer von Papa brachte mich total durcheinander, denn die linke Flanke war offen, und seine Dame stand allein. Papa saß völlig regungslos, aber ich hätte trotzdem was begreifen müssen, denn Nourdine hing immer noch gespannt über dem Brett.

Klingt vielleicht bescheuert, dass Nourdine tut, als wäre er Balu, aber er hat ihn im Frühlingstheater am Hornstull gespielt. Das ist eine Weile her, vielleicht zwei Jahre, kurz nachdem Samir Nourdine mit Papa bekannt gemacht hatte. Das Theaterding war eigentlich mehr so für ’n Kindergarten, aber Papa und ich sind trotzdem hin, um mal zu kucken. Nourdine war grau geschminkt und hatte Schnurrbarthaare und ein Kostüm, das ihm einen voll dicken Körper machte, sodass er wie ein richtiger Bär aussah. Dann redete er perfekt genauso wie im Film. Als er das Obst auf der Hand stapelte und mit dem Affenkönig tanzte, haben die Kinder wie verrückt gelacht.

Ich bin also voll in die Schachfalle von Papa gelatscht und habe mit dem Turm seine Dame geschlagen. Kaum landete die Dame in dem Kästchen aus Olivenholz, sah ich seine Mundwinkel vor Freude zucken. Nourdine ging zum Spülstein zurück und sang: «Versuch’s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit …»

Ich habe sofort kapiert, dass das Spiel aus ist. Papa griff mit dem Springer an, und ich machte einen läppischen Versuch, mich mit dem anderen Turm zu verteidigen. Aber der König stand hinten eingeklemmt, und drei Züge später war die Katastrophe perfekt. Papa lehnte sich zufrieden auf dem knarrenden Küchenstuhl zurück und knackte mit den Nackenmuskeln. Nourdine rief von hinten mit feierlicher Stimme auf Arabisch: «Otman, du musst deinem Sohn beibringen, dass die Dame nicht alles ist …»

Dann muss er gemerkt haben, was er da gesagt hat, und die Worte schwebten wie Staubkörnchen in der Küche. Papa wurde sofort voll ernst, und die Stimmung war irgendwie verändert. Dauerte echt lange, bis sie wieder einigermaßen normal war. Jetzt höre ich aus der Küche Nourdine laut fluchen, weil er immer gegen Papa verliert. Nun weiß ich nicht mehr recht, was ich schreiben soll. Ich hör einfach auf.

Ich sitz alleine am Schreibtisch, und in mir drin ist das totale Chaos. Echt schwer zu schreiben, aber ich muss, denn sonst explodiert mir der Kopf.

Heute ist Mittwoch gewesen, und heute Morgen hatten wir Werken. War alles wie immer, mit Sägespänen und Holzleim und Sandpapier. In der ersten Stunde wollten alle Typen aus der Klasse spießige Buttermesser und Schneidebretter machen. Ich schwör, die sind einfach nicht gemacht fürs Werken, keine Ahnung, warum sie es dann wählen. Kristoffer ist etwas besser drauf, aber auch verdammt ungeschickt. Hat gleich versucht, Material für Wurfsterne abzuzweigen. Alex hat’s gesehen, an Nisse gepetzt, der Kristoffer mit vollem Gemecker aus dem Raum geschickt hat.

In der zweiten Stunde kam Carin rein und störte. Winkte mir zu und rief (weil sonst hört man nichts in dem ganzen Lärm): «Halim, magst du mal mit mir rauskommen, ich muss mal kurz mit dir reden. – Du kannst hier warten, es dauert nicht lange.» (Das Letzte sagte sie zu Alex, der auf dem Stuhl in der Ecke saß.)

Das Reden fand in Carins Klassenzimmer statt, und ich fühlte mich auf dem Weg dahin echt unwohl und irgendwie voll schuldig, obwohl ich unschuldig war wie ein blödes Lamm. Carin sagte nichts und ich auch nicht. Im Klassenzimmer wurde mir klar, das hier ist ein ernsthaftes Treffen, denn die Direktorin war auch da. Tat mir ein bisschen leid um Carins Besucherstuhl, weil die Armlehnen maximal rausgedrückt waren und die Beine jeden Moment krachen konnten. Neben ihr die Tante von der Fürsorge, wie eine kleine verschreckte Maus im verknitterten Mädchenkostüm. Die zupfte die ganze Zeit an dem Schmetterlingsschmuck aus Silber rum, der mit einer Nadel angesteckt war. Alle wurden still, als sie mich kommen sahen. Carin setzte sich neben die Direktorin, und wie auf Kommando grinsten sie plötzlich alle drei im Chor. Mit glitzerndem Zahnfleisch sagte die Rektorin, dass es ja so schön ist, mich zu sehen, und ich spürte, wie mir innen voll kalt wurde.

Dann ging alles ganz schnell. Irgendwie war es direkt, nachdem sie das gesagt hatte, dass es echt chaotisch wurde, und deshalb weiß ich nicht, ob ich alles richtig mitgekriegt habe. Aber ich weiß, dass Carins Stimme von Kürzungen redete und dass sie Prioritäten setzen müssen, und dann hörte ich die Fürsorgefrau sagen, dass der Muttersprachenunterricht schon lange gefährdet gewesen ist, und dann hörte ich die Rektorin ein Niesen unterdrücken und dann Carin, du musst dir keine Sorgen wegen Safa machen, sie hat draußen in Blackeberg eine Stelle bekommen und lässt dich grüßen. Dann die Fürsorgefrau, Alex ist ja nun wirklich der erste Speziallehrer, der mit euch klarkommt, und dann Carin, es lief letztes Schuljahr einfach viel besser.

Ich sagte mir ganz ruhig, ganz ruhig, keinen Ärger, kein Aufstand. Holte so tief Luft wie möglich und sah die Fotzen an. Saßen da voll stolz nebeneinander. «Wer hat das bestimmt?», frage ich.

«Wer hat das bestimmt? Wer hat das bestimmt?»

Die Fürsorgetante schaut zu Carin, die schaut zur Direktorin, die schaut zur Fürsorgetante. Natürlich will keine die Verantwortung übernehmen, und Halim denkt, dass sie die Schuld zwischen sich hin- und herwerfen, wie man ein Schwein herumscheucht. Und darum fragt er wieder und wieder, bis die Direktorin schließlich die Geduld verliert. Über allen Doppelkinnen taucht ein kleiner Mund auf.

«Aber Halim, du kannst jetzt nicht kommen und so tun, als käme das überraschend für dich. Deine Zeit auf dieser Schule ist keineswegs frei von Problemen gewesen. Und es ist einfach eine Tatsache, dass wir uns nicht sowohl Alex als auch Safa leisten können. Wir müssen Prioritäten setzen.»

Dann klopft ihre fette Hand auf die Mappe, wo Halims Name draufsteht, und Halim selbst atmet und sagt sich: ganz ruhig.

«Außerdem darfst du nicht vergessen, dass das hier eine Möglichkeit für dich ist, dich zusammenzureißen. Alex ist schließlich deinetwegen und wegen Carin und der ganzen Klasse hier.»

Dann schaute sie zufrieden zu Carin, und das Fleisch am Kinn zitterte, als sie sagte: «Ja dann, das wär’s dann so weit.»

Carin sagte, ich kann zurück ins Werken, und ich rannte Hals über Kopf aus dem Zimmer und merkte, wie das Chaos innen drin immer größer wurde. Wie als würde eine riesige Welle auf den Strand rauschen, an dem Halim barfuß im Sonnenschein spaziert. Aber gerade bevor alles über ihm zusammenschlug, entdeckte er zufällig, dass der Heimatkunderaum nicht verschlossen, aber leer war.

Dalanda strich ihm über den Kopf und roch nach Henna und Seide und erinnerte dran, dass man in Schweden ein Sprichwort hat: «Reden ist Silber, Schweigen ist Gold» und «Wer geduldig wartet, der wird nicht lange warten müssen». Bei uns Arabern sagt man stattdessen: «Ein Mann ohne Mut ist kein Mann.»

Absolute Stille, als Halim den Filzstift aus der Tasche holte und auf die weiße Leinwand, die man für die Dias braucht, eine fiese Karikatur der Direktorin malte, sie auf allen vieren mit einem Pferdepimmel im Mund und Sprechblase, die sagt: «Ich schlucke alles!» Dann malte er den krass großen Stern und daneben einen noch größeren Halbmond. (Leider wurde der Mond etwas krumm, mehr wie eine Banane, aber trotzdem riesig.)

Ich schwörte, die Fotzen werden ab sofort bereuen, dass sie versucht haben, Halim zu einem höckerlosen Kamel zu machen, und jetzt ist Totalkrieg angesagt für die Verwandten des Hannibal – und Saladin ergibt sich NIEMALS. Bevor ich in die Klasse zurück bin, habe ich noch die zwei Klos beim Werkraum attackiert, alle Aufkleber durchgestrichen und jede Kachel mit schwarzen Sternen und Monden vollgemalt.

Später am Tag versuchte Alex rumzuschleimen mit etwas Smalltalk.

«Hey, Halim. Was geht ab, Mann? Alles cool?»

Ich ließ seine Fragen so hart auf den Boden knallen wie einen Fallschirmspringer, der vergessen hat, die Leine zu ziehen. Alex wurde nervös, und na klar fing er voll an, mit seinen Chinesenaugen zu klimpern.

«Na … jedenfalls … Also, wir zwei werden wohl noch etwas länger im Herbst zusammenarbeiten. Fühlt sich das cool an? Ist die Entscheidung okay für dich?»

Ich starrte ihn ohne zu antworten an, und obwohl Alex seine harte Schale zeigen wollte, sah man doch, dass er weiche Knie kriegte. Wieso soll ich Respekt vor einem haben, der, wenn es mal still wird, mit dem ganzen Gesicht klimpern muss? Ich hielt die Stummtaste im Kopf gedrückt, und Alex kapierte, dass er verloren hatte.

Jetzt ist es spätabends, und ich kann nicht schlafen, also habe ich mir stattdessen Pfefferminztee gekocht und sitze am Schreibtisch. Im Wohnzimmer schnarcht Papa im Sessel. Gegen sechs Uhr kam er mit Tüten aus dem Alkoholgeschäft nach Hause und hat zwei gute Neuigkeiten abgeliefert:

1. Nourdine soll zum Vorsprechen (= Test für Schauspieler) für ein richtig witziges Theaterstück kommen. Heute auf dem Nachhauseweg hat Nourdine den Zettel gesehen, und der Regisseur hat sofort gesagt, dass er wohl für die Hauptrolle passt!

2. Das Fahrrad, das wir gefunden haben und das jetzt als Reklameschild arbeitet, ist richtig gut. Ein paar Tage hintereinander sind mehr Kunden als sonst im Laden gewesen, und einige haben sogar was gekauft.

Papa hat sich die Hände mit Spülmittel gewaschen und dann noch gerufen, dass der letzte Kunde, der da war, bevor er zugemacht hat, massenhaft Sachen für seinen Betrieb gekauft hat.

«Weißt du noch, diese Elchseifenschalen, an die du überhaupt nicht geglaubt hast? Er hat vier Stück gekauft. Und neun, zehn Handtücher und zwei von diesen Pflasterdosen. Alles bar bezahlt!»

Papa lachte mit dem ganzen Gesicht und rief, jetzt muss gefeiert werden.

Zum Abendessen hat Papa mehrere Gläser Wein getrunken und dann vor dem Fernseher weitergemacht. Ich saß die ganze Zeit neben ihm im Sofa und überlegte, wann der günstigste Zeitpunkt ist, ihm alles zu erzählen. Dachte die ganze Zeit, dass etwas später besser wäre. Im Dritten lief die Krankenhausserie, und auch als ich aus dem Wohnzimmer raus bin, habe ich Papa gehört, wie er mit sich selbst über die Handlung redete.

In der letzten Werbepause habe ich mir ein Herz gefasst und erzählt, dass die Schule den Muttersprachenunterricht gestrichen hat. Erst schien Papa nicht zu hören. Ich wiederholte es etwas lauter, aber er ließ trotzdem den Fernsehschirm nicht aus den Augen.

«Hallo, hörst du nicht? Die Arabischstunden sind vorbei. Sie sagen, es gibt kein Geld.»

Dann vergingen echt viele Sekunden. Im Fernsehen kam grad Werbung für Klopapier, und da sah Papa mich endlich an.

«Warum hast du eigentlich nie an die Elchseifenschalen geglaubt? Ich hab gleich gesagt, dass die sich verkaufen.»

«Vorbei. Begreifst du nicht? Es ist aus, finito, vorbei. Nie wieder.»

Papa seufzte tief.

«Du bist derjenige, der nicht begreift, Halim.»

«Was begreife ich nicht?»

Zwischen Papas Lippen und auf dem Schnurrbart hing eingetrockneter Wein.

«Na ja, … mein Sohn, … was spricht man in … sagen wir mal … Griechenland? Nun? Rate!»

«Hör auf.»

«Habe ich Griechisch gehört? Hundert Punkte. Und … hm … in … Frankreich? Na? Nun ist die Zeit leider verstrichen … was? Ja! Hundert Punkte. Französisch! Und in Schweden spricht man … das ist jetzt deine Chance … 10000 Kronen, wenn du die beantwortest …»

«Aber wir tun es nicht.»

«Was?»

«Es ist ja nicht wirklich so, dass wir …»

Papas Augen waren wieder auf dem Bildschirm. Da stand ein fetter Koch mit Schwulenfrisur, der sagte, dass Pril besser spült als jedes andere Spülmittel. Drei Minuten lang vermischte Nachrichten, und dann zeigten sie irgendeinen Idioten aus Karlstadt, der die größte Sammlung an Limonadeflaschenverschlüssen in ganz Schweden hat. Papa wechselte den Kanal, und ich versuchte es noch mal:

«Papa. Wir reden ja wohl kaum …»

«Nein, aber das liegt nun mal daran, dass wir zwischen etwas Arabisch und etwas Schwedisch hin und her springen können. Kein Problem für uns, das, wir können ja schließlich … Schau mal, da sind die … wie heißen die noch?»

Dann saßen wir schweigend da. Papa zeigte glücklich auf den Bildschirm, denn im Vierten berichteten sie von «Friends», die im Sommer an die 60 Konzerte gegeben hatten und jetzt im Herbst eine neue Platte rausbringen würden. Außerdem sind sie auf der Tanzkapellen-CD drauf und noch massenhaft andere Sachen. Sie spielten ein paar Proben von der neuen Platte, und Papas Fuß klopfte im Takt.

«Sind die bei euch jungen Leuten beliebt? Das kann eigentlich nicht sein, was? ‹Blicke, die sich entzünden› … was meinen sie denn damit? ‹Blicke› – also Blicke, das, womit man sieht – und dann ‹entzünden›? Wie entzünden?»

Papa lächelte sein breitestes Lächeln und zeigte auf den Eckzahn, der auch rot gefärbt war, und es ist nicht leicht, da nicht an was Schlimmes zu denken, und deshalb bin ich schnell aus dem Wohnzimmer raus. In mir fühlte sich das an wie das volle Chaos und dafür reichte eine Sekunde. Ich konnte sie sehen es war alles schon weit fortgeschritten deshalb braucht sie auf dem Sofa auf beiden Seiten Kissen als Stütze und aus dem Mund hängen lange Spuckfäden. Papa der immer wieder abtrocknet und das dumpfe Geräusch wenn nasses Papier auf dem Boden landet denn sie hat keine Kontrolle mehr. Als sie den Mund wieder aufmacht liegt die Tablette immer noch da denn die Muskeln zum Schlucken sind schon weg wie alles andere auch und Papa sieht hoch und sieht mich, weiter weg, vielleicht bei der Tür, auf der Schwelle. Nur ein Bruchteil einer Sekunde, doch mit etwas Konzentration kam ich wieder zu mir. Dann habe ich lange auf das Foto von König Hassan II. auf dem Goldthron geschaut, im schwarzen Anzug mit dem schwarzen Schlips und der ruhigen Miene vor dem roten Stern im Hintergrund. Danach habe ich richtig lange versucht einzuschlafen, habe aber dann doch Tee gekocht und das Buch herausgeholt.

Jetzt ist Sonntagabend, und ich sitze frisch gebadet am Schreibtisch. In der Luft liegt Ruhe, und es ist selten, dass alles so still ist, wie an Sonntagabenden, wenn man nach dem Baden allein da sitzt.

Heute Morgen kam Nourdine schon ganz früh vorbei. Er hatte den Text dabei zu dem Stück, in dem er vielleicht eine Rolle kriegt. Und dann hatte er in der Tüte noch zwei ungeöffnete Zippen-Pakete und so zirka ein halbes Kilo Pistazien. Papa stellte den Aschenbecher hin und sperrte das Sonnenlicht mit den Rollos aus. Nourdine machte das Hemd auf und fing dann mit Atemübungen an, bis es klang, wie wenn Weiber Kinder kriegen. In der Zeit halfen Papa und ich mit dem Übersetzen der schweren schwedischen Wörter. Das Stück hieß «Peer Gynt», obwohl ich fand, «Peer Tunt» wäre ein besserer Name. Das hat irgendein Norweger vor ein paar hundert Jahren geschrieben, deshalb war die Sprache so voll idiotisch. Beispielsweise wurden die Leute «zwei alte Weiber mit Kornsäcken» genannt oder «Spielleute». Wenn einer Stress gemacht hat, haben sie gesagt: «Sind Sie verrückt, Herr?», und wenn die andern dann antworteten, haben sie so gemeine Wörter wie «Tölpel» oder «Gierschlund» oder «Hanswurst» gesagt.

Manchmal habe ich gemerkt, dass Papa enttäuscht war, weil ich nicht alle schweren Wörter konnte. Aber mit etwas Nachdenken und mit Wörterbüchern haben wir doch meistens begriffen, was sie sagen wollten. Das Stück wirkte echt voll komisch. Peer-Tunte hat ein paar Tussen angegraben, dann bei einer Trollfamilie rumgehangen und schließlich einen Typen getroffen, der hieß der Große Krumme (nein, nicht der Große Dumme). Dann war er auf dem Meer und in der Wüste, und am Ende ist er dann als alter Mann nach Hause gekommen und hat alles bereut, was er im Leben je gemacht hat.

Als Nourdine auf dem Klo war, hab ich Papa gefragt, warum Nourdine sich so über eine tuntige Schwedenrolle freut. Papa seufzte bloß und blätterte weiter im Wörterbuch. Und als ich dann zu Nourdine sagte, das Stück ist doch voll beschissen, da lachte er bloß.

«Man darf nicht wählerisch sein, Halim. Man muss nehmen, was kommt. Sind ja nicht alle Rollen so wie Estragon! Das habe ich dir doch erzählt, wie ich in Becketts Stück um die Welt bin, oder? Wir spielten in Berlin … Milano … Paris.»

Nourdine hatte sich hingesetzt. Dann legte er den einen Fuß aufs Knie und schlug sich richtig fest drauf.

«‹There is nothing to be done›, hörst du, Halim, hör gut zu: ‹There is nothing to be done›!»

«Also gut, jetzt aber mal weiter auf Schwedisch», unterbrach ihn Papa. «Zeig Halim, wie man das ausspricht.»

Und Nourdine gab sein Bestes, um den komischen Text im original Schwedentonfall zu lesen. Manchmal klang er echt, manchmal blieb er an irgendeinem voll schweren Wort hängen, und manchmal musste Papa ihn ermahnen, nicht zu viel Balu-Stimme zu benutzen.

Sie probten eine Szene, wo Peer mit dem Trollkönig zusammensaß. Papa las die Worte vom Trollkönig, und Nourdine stand mitten im Zimmer und spielte Peer. Der Text erzählt, wie Peer eigentlich gar nicht Troll werden wollte, der König ihn aber überredet, mit Gold und Tussen lockt, und wie Peer dann Trollbier trinkt und Trollkleider anzieht und sich irgendwann auch einen kleinen Schwanz anklebt, um ein richtiger Troll zu werden. Auf jeden Fall kriegte Peer am Ende noch die Kurve, sagt dem Trollkönig ab und verschwindet.

Obwohl Peer eine echte Tunte war, merkte ich doch, dass Nourdine die Rolle mit optimaler Einfühlung spielte. Dann wieder ist es echt schwer zu begreifen, wie Nourdine sich so freuen kann, wo er doch früher schon echt richtige Rollen gespielt hat. Vor zwei Jahren hat er einen Taxifahrer in einem Kurzfilm gespielt, der auf dem Filmfestival in Dänemark gezeigt wurde. Und ein anderes Mal war er ein Kebab-Verkäufer in «Getrennte Welten» (wir haben das auf Video). Erst steht er nur im Hintergrund, und dann schiebt er den Kopf aus dem Kiosk und fragt den, der Daniel heißt: «Scharfe Soße? Pommes, was drauf?» Selbst finde ich ja, solche Rollen passen besser, also auf jeden Fall sind sie richtiger für Nourdine, als so einen Weichei-Norweger zu spielen, der Peer heißt.

Um Mittag rum habe ich mich vom Theaterspielen und Zigarettenrauchen verdrückt, bin an der Schranke vorbei und dann mit der roten Linie weiter. Dalanda saß auf derselben Bank wie immer und fütterte die Tauben. Als ich von der ersten Schulwoche erzählt hatte und vom Muttersprachenunterricht, war sie superwütend geworden und hatte vom Integrationsplan erzählt.

«Wie, Integrationsplan?», habe ich gefragt, und da hat sie mich mit so einem Blick angesehen, mit dem man normalerweise verletzte kleine Vögel anschaut.

«Soll das heißen, dass dein Vater dir noch nicht mal vom Integrationsplan erzählt hat? Hat er dir nicht einmal gesagt, dass schwedische Politiker angefangen haben, daran zu arbeiten, alle Einwanderer in richtige Schweden zu verwandeln?»

Auch wenn ich selbst langsam anfange, so was zu denken, lasse ich es nicht zu, dass Papa von einem anderen beschimpft wird.

«Ja, klar hat er das, ist nur lange her. Deshalb. Lange her.»

Dalanda immer noch skeptisch: «Dein Vater … Ist der wirklich rechtgläubig? Betet er fünfmal am Tag? Liest er oft den Koran?»

Bei den ersten zwei Fragen hab ich genickt, aber dann hatte ich das Gefühl, dass das etwas viel Lüge auf einmal war, deshalb habe ich bei der dritten Frage mal den Kopf geschüttelt.

«Aber er liest keine schwedischen Scheißbücher», hab ich dann ganz schnell gesagt, damit sie nicht denkt, Papa ist auf dem besten Weg, schwedisiert zu werden. «Meistens liest er arabische Schriftsteller. Und Dichter.»

«Welche denn?», fragte Dalanda zwischen zwei Apfelsinenstücken.

Und das fühlte sich voll gut an, die Wahrheit sagen zu können.

«Omar. Er liebt Omar Khayyam. Vorher hat er eine Masse anderer Bücher gelesen, auch Schweden. Aber jetzt liest er fast nur noch Omar.»

Dalanda sah aus, als hätte sie aus Versehen Blutpudding gegessen.

«Omar? Weißt du nicht, dass Omar kein Araber ist? Er ist Perser, mein kleiner Halim. Und außerdem ist er ein Säufer und ein verwirrtes Hirn. Trinkt dein Vater auch Alkohol?»

Ich ganz schnell: «Äußerst extremselten», und dann habe ich gefragt, ob ich auch eine Apfelsine kriegen könnte. Sie gab mir eine und rülpste dann ein paarmal lautlos.

«Willst du wissen, was ich glaube? Ich glaube, dein Vater ist so ein Intellektueller. Ich glaube, er ist ein Chamäleon, das immer den Ort wechselt und sich immer an die Umgebung anpasst. Wird wie neu, vergisst dabei alle Tradition und Geschichte. Bei uns in Libyen haben wir ein Sprichwort, das sagt, es gibt eine große Ähnlichkeit zwischen Intellektuellen und hinkenden Kamelen. Weißt du, warum?»

«Nein, sag.»

«Weil keiner von beiden je eine Revolution anzetteln wird.»