Die Vaterklausel - Jonas Hassen Khemiri - E-Book

Die Vaterklausel E-Book

Jonas Hassen Khemiri

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Beschreibung

Jonas Hassen Khemiri, 1978 in Stockholm geboren, zählt zu den erfolgreichsten schwedischen Gegenwartsautoren und Dramatikern. In seinem neuen Roman kehrt ein Vater nach Schweden zurück, um wieder in die Familie zu aufgenommen zu werden, die er einmal verlassen hat. Vater und Sohn haben damals eine Vereinbarung getroffen, familienintern als «Vaterklausel» bekannt: Im Tausch gegen eine kleine Mietwohnung in der Stadt sammelt der Sohn über das Jahr Vaters Post, erledigt dessen Geldgeschäfte und organisiert für die Zeit seiner Besuche einen Schlafplatz. Siebzehn Jahre später gibt es die Wohnung nicht mehr, die Vereinbarung aber besteht weiter fort. Die Kinder sind erwachsen, seine Tochter schwanger vom falschen Mann. Sein neurotischer Sohn hat eigene Kinder und möchte, dass der Vater, der jetzt auch Großvater ist, endlich selbst Verantwortung übernimmt. Die «Vaterklausel» muss neu ausgehandelt werden. Aber geht das? Nicht ohne Auseinandersetzungen... Jonas Hassen Khemiris neuer Roman handelt von Familiengeheimnissen und Blutsbanden, von Pflastersteinen und Dinosauriern, von Liebe und Verrat. Und auch von der Herausforderung, eine Familie zu bleiben.

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Seitenzahl: 445

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Jonas Hassen Khemiri

Die Vaterklausel

Roman

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

Über dieses Buch

Jonas Hassen Khemiri, 1978 in Stockholm geboren, zählt zu den erfolgreichsten schwedischen Gegenwartsautoren und Dramatikern. In seinem neuen Roman kehrt ein Vater nach Schweden zurück, um wieder in die Familie aufgenommen zu werden, die er einmal verlassen hat. Vater und Sohn haben damals eine Vereinbarung getroffen, familienintern als «Vaterklausel» bekannt: Im Tausch gegen eine kleine Mietwohnung in der Stadt sammelt der Sohn über das Jahr Vaters Post, erledigt dessen Geldgeschäfte und organisiert für die Zeit seiner Besuche einen Schlafplatz. Siebzehn Jahre später gibt es die Wohnung nicht mehr, die Vereinbarung aber besteht weiter fort. Die Kinder sind erwachsen, seine Tochter schwanger vom falschen Mann. Sein neurotischer Sohn hat eigene Kinder und möchte, dass der Vater, der jetzt auch Großvater ist, endlich selbst Verantwortung übernimmt. Die «Vaterklausel» muss neu ausgehandelt werden. Aber geht das? Nicht ohne Auseinandersetzungen ...

 

Jonas Hassen Khemiris neuer Roman handelt von Familiengeheimnissen und Blutsbanden, von Pflastersteinen und Dinosauriern, von Liebe und Verrat. Und auch von der Herausforderung, eine Familie zu bleiben.

Vita

Jonas Hassen Khemiri wurde 1978 in Stockholm geboren. Mit seinen Dramen und seinen Romanen «Das Kamel ohne Höcker» und «Montecore», die viel Medienresonanz hervorriefen, wurde er zu einem der bekanntesten Autoren Schwedens. Neben dem Borås-Tidnings-Debütpreis wurde er 2006 mit dem Per-Olov-Enquist-Preis und 2015 mit dem Augustpreis in der Kategorie Belletristik für seinen Roman «Alles, was ich nicht erinnere» ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. Jonas Hassen Khemiri lebt in Stockholm.

Ich habe mich dieser Nacht verschworen: Seit zwanzig Jahren fühle ich, wie sie sanft mich ruft.

Aimé Césaire, Und die Hunde schwiegen

 

 

Frag eine Mutter, die ein Kind verloren hat, wie viele Kinder sie hat. «Vier», wird sie sagen, «… drei.» Und Jahre später wird sie «drei» sagen, «… vier.»

Amy Hempel, Was uns treibt

I.MITTWOCH

Ein Großvater, der ein Vater ist, kommt zurück ins Land, das er nie verlassen hat. Er steht an der Passkontrolle. Wenn der Polizist hinter der Glasscheibe argwöhnische Fragen stellt, wird der Großvater ruhig bleiben. Er wird den Polizisten nicht als Schwein beschimpfen. Er wird nicht fragen, ob der Polizist seine Uniform im Katalog bestellt hat. Stattdessen wird er lächeln und seinen Pass vorzeigen und den Polizisten daran erinnern, dass er ein Bürger dieses Landes ist und nie länger als sechs Monate weg war. Warum? Weil seine Familie hier wohnt. Seine geliebten Kinder. Seine großartigen Enkel. Seine treulose Ehefrau. Er würde nie länger als sechs Monate wegbleiben. Sechs Monate sind das Maximum. Meist ist er fünf Monate und dreißig Tage weg. Manchmal auch fünf Monate und siebenundzwanzig Tage.

Die Schlange bewegt sich voran. Der Großvater, der ein Vater ist, hat zwei Kinder. Nicht drei. Einen Sohn. Eine Tochter. Er liebt sie beide. Besonders die Tochter. Die Leute sagen, die Kinder seien ihrem Vater ähnlich, aber er kann kaum Gemeinsamkeiten feststellen. Sie haben die Größe ihrer Mutter, die Sturheit ihrer Mutter, die Nase ihrer Mutter. Eigentlich sind beide kleine oder große Kopien der Mutter. Vor allem der Sohn. Der Sohn ist seiner Mutter so ähnlich, dass der Vater, der ein Großvater ist, manchmal oder eigentlich sogar ziemlich oft Lust hätte, ihm eine Kopfnuss zu verpassen. Aber er macht es nie. Natürlich nicht. Er beherrscht sich. Er hat lange genug in diesem Land gelebt, um zu wissen, dass Gefühle etwas Schlechtes sind. Gefühle sollten in kleine, mit Buchstaben versehene Schubladen gesperrt und nicht wieder herausgelassen werden, ehe man eine Gebrauchsanweisung zur Hand hat, ehe die Fachleute eintreffen, ehe ein staatlicher Prüfer die Verantwortung dafür übernimmt, was Gefühle anrichten können.

Die Schlange bewegt sich nicht. Niemand wird wütend. Niemand hebt die Stimme. Niemand drängelt. Die Leute verdrehen nur die Augen und seufzen. Der Großvater tut es ihnen gleich. Er erinnert sich daran, wie er ein Vater war. Kindergeburtstage und Sommerurlaube, Judostunden und Brechdurchfälle, Klavierstunden und Abifeiern. Er erinnert sich an den Topflappen, den seine Tochter oder vielleicht auch sein Sohn im Werkunterricht gebastelt hatte, bestickt mit dem Text: Der beste Papa der Welt. Er war ein fabelhafter Vater. Er ist ein fabelhafter Großvater. Wer etwas anderes behauptet, lügt.

Als der Vater, der ein Großvater ist, bei der Passkontrolle ankommt, dauert es nur wenige Sekunden, dann hat ihn die uniformierte Frau hinter der Glasscheibe angesehen, seinen Pass eingescannt und ihn durchgewunken.

***

Ein Sohn, der ein Vater ist, fährt ins Büro, sobald die Kinder schlafen. Mit der einen Hand klaubt er die Post vom Boden hinter dem Briefschlitz auf, mit der anderen schließt er die Eingangstür. Er räumt die Lebensmittel ein und wirft seine Sportklamotten in einen Kleiderschrank. Bevor er den Staubsauger vorholt, dreht er eine Runde mit der Küchenrolle und dem Handfeger, um die Kakerlakenkadaver der vergangenen zwei Tage aus Küche, Bad und Flur zu beseitigen. Er wechselt das Bettlaken im Schlafbereich, die Handtücher im Badezimmer, lässt die Spüle mit Wasser volllaufen, damit die Tassen mit den eingetrockneten Kaffeeresten genug Zeit haben, um von allein sauber zu werden. Er öffnet die Balkontür und lüftet. Er füllt den Papierkorb in der Küche mit Werbeprospekten, verschrumpelten Kiwis, hockeyballharten Mandarinen, zerrissenen Fensterumschlägen und braunen Kerngehäusen. Er blickt auf die Uhr und realisiert, dass er es schaffen wird. Er muss sich nicht mal groß beeilen.

Er wischt den Boden im Flur und in der Küche. Er scheuert die Badewanne, das Waschbecken und die Toilette. Als er fertig ist, lässt er den Schwamm und das Putzmittel im Bad liegen. Er bildet sich ein, wenn sein Vater die Sachen sieht, ist die Chance größer, dass er das Büro nicht im gleichen Zustand hinterlässt wie letztes Mal. Und vorletztes Mal.

Der Sohn füllt die Kapseln für die Espressomaschine in eine Plastiktüte, legt die Plastiktüte in einen Karton und schiebt ihn in die hinterste Ecke des Küchenschranks. Die Duftkerze, die ihm seine Schwester zum Geburtstag geschenkt hat, packt er in eine andere Plastiktüte und versteckt sie hinter dem Werkzeugkasten. Die Konserven mit dem teuren Thunfisch und die Gläser mit den Pinienkernen und den Kürbiskernen und den Walnüssen legt er in den leeren Tonerkarton auf dem Kühlschrank. Das Wechselgeld in der Schale auf der Kommode im Flur leert er in seine Hosentasche. Die Sonnenbrille steckt er in seinen Rucksack. Er macht einen Kontrollgang. Alles erledigt. Das Büro ist für die Ankunft seines Vaters bereit. Er sieht auf die Uhr. Der Vater müsste jetzt hier sein. Er kommt sicher jeden Moment.

***

Ein Vater, der ein Großvater ist, steht am Gepäckband. Alle Koffer sehen gleich aus. Sie glänzen wie Raumschiffe und haben Rollen wie Skateboards. Man sieht schon von weitem, dass sie von asiatischen Billigfirmen produziert wurden. Sein Koffer ist gediegen. Er wurde in Europa gefertigt. Er hat über dreißig Jahre gehalten und wird es noch mindestens weitere zwanzig tun. Er hat keine Rollen, die leicht kaputtgehen können. Er hat Aufkleber von Fluggesellschaften, die längst insolvent sind. Als er ihn vom Gepäckband hievt, fragt ein junges Mädchen mit Ringerarmen, ob er Hilfe bräuchte. Nein danke, antwortet der Großvater lächelnd. Er braucht keine Hilfe. Schon gar nicht von fremden Leuten, die einem nur helfen wollen, weil sie Geld dafür erwarten.

Er hebt den Koffer auf einen Trolley und schiebt ihn Richtung Ausgang. Angeblich hatte das Flugzeug technische Probleme. Die Passagiere mussten einsteigen, wieder aussteigen und noch mal einsteigen. Seine Kinder haben die Verspätung sicher im Internet gesehen, und der Sohn hat die Schwester mit seinem Auto abgeholt. Sie fahren auf der Autobahn Richtung Norden. Der Sohn parkt auf dem völlig überteuerten Kurzzeitparkplatz, und die Tochter holt den schicken Mantel des Vaters aus dem Kofferraum. In diesem Moment erwarten sie ihn auf der anderen Seite. Die Tochter mit ihrem strahlenden Lächeln. Der Sohn mit seinen Kopfhörern. Ein Begrüßungsgeschenk ist nicht nötig. Es reicht, dass sie da sind.

***

Ein Sohn, der ein Vater ist, kann genauso gut noch etwas erledigen, während er auf die Ankunft des Vaters wartet. Nachdem er überprüft hat, dass im Wasserkocher keine Kakerlakenkadaver liegen, setzt er Teewasser auf. Er schaltet den Computer ein und geht den Jahresbericht der Baugenossenschaft Utsikten 9 durch. Er loggt sich beim Finanzamt ein und beantragt eine Fristverlängerung für einen freiberuflichen Journalisten und eine Konservatorin, die spät dran sind mit ihrer Steuererklärung. Er schreibt eine Liste mit Dingen, die für die Geburtstagsfeier der Tochter nächsten Sonntag erledigt werden müssen. Bei den Eltern nachhaken, die noch nicht zugesagt haben. Spiele vorbereiten. Ballons, Pappteller, Luftschlangen, Strohhalme, Saft und Kuchenzutaten kaufen. Und Paketschnur und Wäscheklammern fürs Fischeangeln. Er wirft einen Blick aus dem Fenster. Kein Grund zur Sorge. Es ist nichts passiert. Der Vater ist nur ein bisschen verspätet.

Früher hat sich der Sohn immer mit seiner Schwester am Cityterminal getroffen, wenn der Vater im Anflug war. Sie saßen hinter der Glasscheibe auf den Bänken gegenüber vom Busbahnhof, Rücken an Rücken oder Kopf an Schulter oder Kopf an Bein. Immer wieder blickte er zur Bahnhofsuhr und wunderte sich, wo der Vater blieb, die Schwester ging zum Kiosk und kam mit einem Himbeersmoothie, einem Sandwich und einen Latte to go wieder. Er nahm seine Kopfhörer ab und spielte seiner Schwester die neuen Songs von Royce da 5′9″, Chino XL und Jadakiss vor. Sie nahm die Kopfhörer ab, gähnte und wendete sich wieder den Rentnern zu, die auf den Nachtbus in die Provinz warteten, um mit ihnen über Intimpflege zu plaudern. Der Sohn, der noch kein Vater war, stand von der Bank auf und ging zum Fenster. Die Schwester, die noch keine Mutter war, benutzte ihre Handtasche als Kopfkissen, streckte sich auf der Bank aus und schlief ein. Alle Viertelstunde ein neuer Flughafenbus. Immer noch kein Vater. Der Sohn setzte sich, stand auf, setzte sich wieder. Der Wachdienst weckte einen Obdachlosen. Zwei Taxifahrer spielten Schiffeversenken oder schlossen Pferdewetten ab. Ein paar orientierungslose Touristen stiegen aus dem Bus, gingen in die eine Richtung und kamen zurück, um in die andere Richtung zu gehen. Er betrachtete seine schlafende Schwester. Wie konnte sie so entspannt sein? Begriff sie nicht, was passiert war? Ihr Vater war verhaftet worden. Das Militär hatte ihn kurz vor dem Boarding angehalten und seinen Pass sehen wollen, sie warfen ihm vor, ein Geheimagent, Schmuggler oder Oppositioneller zu sein. Jetzt saß er in einer kargen Zelle und versuchte das Militär davon zu überzeugen, dass er nicht mit dem Typen verwandt war, der sich aus Protest gegen die Methoden des Regimes im Gefängnis selbst verbrannt hatte. Wir sind eine große Familie, sagte er. Unser Nachname ist verbreitet. Ich bin kein Politiker, ich bin Verkäufer, und dann lächelte er sein gewinnendes Lächeln. Wenn sich jemand aus einer Zelle herausreden kann, dann er. Hock dich hin und mach dich locker, sagte seine Schwester, als sie aufwachte. Atme. Alles ist gut. Neunzig Minuten, sagte der Sohn kopfschüttelnd. Irgendwie schon komisch, dass er neunzig Minuten nach der Landung immer noch nicht hier ist. Entspann dich, sagte die Schwester und drückte ihn wieder auf die Bank. Das ist überhaupt nicht komisch. Erst muss er warten, bis alle anderen ausgestiegen sind, um die liegengelassenen Zeitungen und nicht ausgetrunkenen Weinflaschen einzusammeln. Dann muss er auf sein Lieblingsklo gehen, sein Gepäck holen und es inspizieren. Und wenn sein Koffer auch nur die kleinste Schramme hat, was immer der Fall ist, stellt er sich am Serviceschalter an, hab ich recht? Der Sohn nickte. Er reklamiert den Schaden an seinem Koffer, und das Personal versteht nicht, dass er es ernst meint und scherzt mit ihm, weil dieser Koffer garantiert schon den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat. Sie sagen, sie würden keine Gebrauchsschäden erstatten, und er wird wütend und schreit, der Kunde hätte immer recht. Es sei denn, die Trulla am Schalter ist jung und hübsch, sagt der Sohn. Genau, sagt die Schwester. Dann lächelt er und sagt, jaja, das verstehe ich natürlich. Und dann?, fragt der Sohn, und jetzt lacht er. Dann muss er durch den Zoll, sagt die Schwester. Und ein unerfahrener Zöllner glaubt, er hätte was zu verbergen. Sie halten ihn an. Sie stellen ihm Fragen. Sie bitten ihn, mit ins Hinterzimmer zu kommen und ihnen den Inhalt seines Koffers zu zeigen. Und was finden sie? Nichts. Der Koffer ist so gut wie leer. Außer ein paar Hemden. Und ein bisschen Essen. Es dauert immer so lange, sagt die Schwester. Und du schiebst immer unnötig Panik.

Sie saßen schweigend nebeneinander. Ein Bus kam. Dann noch einer. Als er von der Haltestelle losrollte, stand ihr Vater auf dem Bürgersteig. In den immer gleichen Klamotten. Dasselbe abgewetzte Jackett. Dieselben durchgelaufenen Schuhe. Derselbe Koffer und dasselbe Lächeln und immer dieselbe erste Frage: Habt ihr meinen Mantel dabei? Die Tochter und der Sohn gingen durch die Glastür. Sie legten ihm den Mantel um und halfen ihm mit dem Koffer. Sie sagten Willkommen zu Hause und fragten sich jedes Mal, ob zu Hause wirklich die richtige Bezeichnung war.

***

Ein Vater, der ein Großvater ist, betritt die Ankunftshalle. Er begegnet den Blicken der Wartenden. Alle haben verschwommene Gesichter wie Verbrecher auf Überwachungsfilmen. Junge Frauen trinken Take-Away-Tee. Bärtige Männer in zu engen Hosen starren auf ihre Telefone. Ein schickes Elternpaar trägt eine Banderole, die es noch nicht ausgerollt hat, ein Verwandter filmt die beiden, seine Unterarme ragen empor wie eine Kobra. Mehrere Männer halten Blumensträuße und Extrajacken in den Händen. Der Vater erkennt diesen Typus wieder. Es sind schwedische Männer, die auf ihre thailändischen Frauen warten. Sie lernen sich im Internet kennen und verloben sich, ohne sich je begegnet zu sein, und jetzt haben die Männer Jacken dabei, um zu zeigen, wie nett sie sind, und um den Mädchen einen Kälteschock zu ersparen. Aber wirklich nette Männer brauchen sich keine Huren vom anderen Ende der Welt zu bestellen, denkt er und geht weiter zum Ausgang. Er hält nicht nach seinen Kindern Ausschau, weil er weiß, dass sie nicht da sind. Und trotzdem merkt er, dass sein Blick nach ihnen sucht. Und seine Augen hoffen.

Er sieht eine afrikanische Großfamilie, der Mann ist sicher ein Dealer. Er sieht einen pakistanischen Typen mit einem Muttermal unter dem einen Auge, der ständig zwinkert, als wäre er nervös oder gerade erst aufgewacht. Wahrscheinlich ist er schwul. Das erkennt man an dem engen Hemd und dem flauschigen Schal. Der Großvater geht weiter, vorbei am Café, das nachts geöffnet hat, an den Taxifahrern, auf deren Schildern schwedische Nachnamen oder englische Firmennamen stehen. Vorbei am Wechselschalter, der nachts geschlossen hat, und der runden Säule mit den großen grünen Aufklebern, die verkünden, dass es genau hier einen Defibrillator gibt. Was zur Hölle ist ein Defibrillator? Und wenn es so wichtig ist, einen zu haben, warum gibt es ihn dann nicht auf allen Flughäfen? Nein. Nur hier, in diesem seltsamen Land, in dem die Politiker beschlossen haben, dass eine Ankunftshalle ohne einen Defibrillator nicht sicher ist.

Der Großvater, der sich nicht mehr wie ein Vater fühlt, schiebt den Trolley in Richtung Bushaltestelle. Er geht in den Wind hinaus. Schon sein ganzes Leben reist er an diesem Flughafen an und ab. Sonne, Regen, Winter, Sommer. Es spielt keine Rolle. Der Wind, wenn man aus Terminal 5 kommt, ist immer da. Er hat Orkanstärke, egal bei welchem Wetter. Er verwandelt seinen Schal in eine Flagge. Das Jackett in einen Rock. Er ist so stark, dass die Leute, die draußen auf den Bus warten, Schutz zwischen den Betonpfeilern suchen müssen, damit sie keine unfreiwillige Tanzvorstellung aufführen, zwei Schritt nach rechts, einen vor, während der Wind im Takt dazu lacht und heult.

Er späht zu der digitalen Anzeige hinüber. 14 Minuten bis zum nächsten Bus. Der letzte muss gerade gefahren sein. 14 verdammte Höllenminuten. Seine Frau schaut hinter einer Ecke hervor. 14 Minuten!, ruft sie glücklich. Was für ein Riesenglück, dass es nicht 114 sind! Es ist schweinekalt, brummelt er. Schön frisch, sagt sie. Niemand ist gekommen, um mich abzuholen, sagt er. Ich bin hier, sagt sie. Ich bin krank, sagt er. Aber was für ein Glück im Unglück, dass es Diabetes ist und keine andere chronische Krankheit, erwidert sie, denn Diabetes kann man ja gut in den Griff bekommen, ich habe sogar von Diabetikern gehört, die mit dem Insulin aufhören konnten, nachdem sie ihre Ernährung umgestellt haben, und findest du es nicht sogar ganz spannend, dir Spritzen zu geben und den Blutzucker zu messen? Ich werde allmählich blind, sagt er. Aber mich siehst du?, fragt sie. Ja, antwortet er. Was ein Glück. Sie lächelt. Der Winde zerrt an ihren kurzem Haar. Ihr kurzes Haar weht im Wind. Glück im Unglück. Das war ihr Mantra. Was auch passierte. Ein Klassenkamerad der Tochter brach sich den Arm, und sie fragte als Erstes: Den rechten oder linken? Den linken, antwortete die Tochter. Glück im Unglück, sagte die Mutter. Er ist Linkshänder, entgegnete die Tochter. Dann bekommt er jetzt eine tolle Chance, seine rechte Hand zu trainieren. Glück im Unglück. Der Vater lacht über die Erinnerung. Der Wind flaut ab. Alles wird still. Seine Frau nähert sich, streicht ihm über die Schläfe und küsst seine Wange mit Lippen, die kalt sind wie Aufzugknöpfe. Und außerdem … flüstert sie. Frau? Warum nennst du mich in Gedanken deine Frau? Wir sind doch schon seit über zwanzig Jahren geschieden? Der Wind ist zurück. Sie ist verschwunden. Sein Körper ist schwach. Irgendetwas stimmt nicht mit seinen Augen. Er will einfach nur nach Hause. Er hat kein Zuhause. Es gibt Taxis. Es gibt Expresszüge. Aber er muss auf den Bus warten. Er wartet immer auf den Bus.

***

Eine Schwester, die eine Tochter ist, aber keine Mutter mehr, kommt aus dem Restaurant, hält ein Taxi an und nennt eine Adresse. Netten Abend gehabt?, fragt der Taxifahrer. Ganz okay, antwortet die Schwester. Wir haben den Geburtstag einer Freundin gefeiert. Sie ist achtunddreißig geworden. Achtunddreißig verdammte Jahre. Die Schwester seufzt. Wie die Zeit vergeht, sagt der Taxifahrer. Aber echt, sagt sie. Haben Sie Kinder?, fragt der Taxifahrer. Achtunddreißig, sagt sie. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter fünfunddreißig wurde. Sie hatte ihre Dokumente in Ordnern abgeheftet. Sie hatte sich selbständig gemacht. Sie war so unglaublich erwachsen und zielstrebig. Meine Freunde vögeln in der Gegend rum und haben Zeitverträge. Aber vielleicht hat meine Mutter ja genauso über ihre Freunde gedacht, wenn sie sie mit ihren Eltern verglich, meinen Sie nicht? Gut möglich, sagt der Taxifahrer. Dann schweigen sie. Das Essen war allerdings gut, sagt sie. Haben Sie schon mal da gegessen? Nein, antwortet er. Ordentliche Portionen, sagt sie. Ich hasse es, wenn man dreihundert Kronen für einen Hauptgang zahlt und nicht mal richtig satt wird. Ist das nicht ätzend? Ja, wirklich, sagt er. Man will schließlich satt werden. Genau, sagt sie. Allerdings gab es ein Problem mit der Lüftung. Das ganze Restaurant hat nach Essen gestunken. Es hat so stark gerochen, dass ich zwischendurch rausgehen musste, um nicht zu kotzen. Der Taxifahrer wirft ihr im Rückspiegel einen Blick zu. Sie schweigen. Dann nimmt sie ihr Telefon. Die erste Nachricht ist von halb neun. Ihr Bruder schreibt, er sei im Büro und warte auf ihren Vater. Ach Mist. Wollte ihr Vater heute kommen? Die nächste Nachricht ist von Viertel nach neun. Er schreibt, der Vater wäre immer noch nicht da. Halb zehn. Allmählich mache er sich Sorgen. Viertel nach zehn. Das Flugzeug habe Verspätung und er werde sich allmählich nach Hause aufmachen. Er bittet sie, ihn anzurufen. Sie sieht auf die Uhr. Es ist halb zwölf. Bestimmt schläft er jetzt. Sie müssen morgen reden. Das Einzige, was sie auf dem Heimweg stört, ist, dass der Taxifahrer sein Aftershave mit der Gießkanne aufgetragen haben muss. Und dass derjenige, der vor ihr auf der Rückbank saß, mit Sicherheit Kettenraucher war. Die schlampig verschlossene Packung mit den Feuchttüchern in der Türablage riecht nach künstlichem Aprikosenduft, die Tabaksdose des Fahrers nach Moos. Als das Auto aus dem Tunnel hinausfährt, muss sie das Fenster auf dem Rücksitz öffnen und die Nase in den offenen Spalt strecken. Zu warm?, fragt der Fahrer. Ein bisschen, antwortet sie. Er schließt vom Vordersitz aus ihr Fenster und dreht die Klimaanlage herunter. Sie hört ihren eigenen Atem. In ihrem Mund sammelt sich der Speichel. Hier ist gut, sagt sie, als das Taxi den Kreisel hinter sich gelassen hat. Sie reicht ihre Kreditkarte nach vorn, dann steigt sie aus. Fünf Minuten lang sitzt sie in der Hocke neben einer Grünanlage. Anschließend läuft sie nach Hause. Sie hat nicht gekotzt. Sie wird nicht kotzen. Aber irgendwas stimmt nicht. Sie fühlt sich wie eine Superheldin mit der nicht ganz so tollen Superkraft, jeden Geruch schon mehrere Straßenecken im Voraus wahrzunehmen und sofort einen Brechreiz zu verspüren. Den Wurstgestank vorm Seven-Eleven. Die Hundescheiße neben der Bushaltestelle. Ein Mann riecht nach Gesichtscreme. Ihre Straße riecht nach fauligem Herbstlaub. Sie biegt nach rechts und nähert sich einem Hauseingang. Hinter sich hört sie Schritte. Die Schritte werden schneller. Ein nächtlicher Jogger? Ihr Hardrock-Nachbar, der gesehen hat, wie sie an dem Park hockte und fragen will, ob sie Hilfe braucht? Trotzdem zieht sie ihren Schlüsselbund aus der Tasche und macht sich bereit. Die Schlüssel werden zu einem Schlagring umfunktioniert. Ihr Blick ist fokussiert. Die Übelkeit verflogen. Auf Augen oder Schritt zielen. Augen oder Schritt. Übernimm die Kontrolle. Schrei. Zeig dem Angreifer nie deine Angst. Sie reißt sich zusammen, dreht sich um und geht direkt auf den Mann zu, der sie verfolgt. Was willst du?, schreit sie. Der Mann zieht einen Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr. Wie bitte? Hör auf, mir nachzulaufen, faucht sie. Ich wohne hier, sagt er und deutet auf ein Haus. Welche Nummer? 21, antwortet er. Es gibt keine Nummer 21. Äh, doch, sagt er. Da wohne ich. Welche Straße? Er nennt den Namen der Straße. Na gut, sagt sie. Du kannst durchgehen. Er wird schneller und hastet kopfschüttelnd und erschrocken an ihr vorbei. Er riecht nach Butterpopcorn. Als er verschwunden ist, sinkt sie wieder in die Hocke. Scheißrestaurant. Scheiß stinkendes Taxi. Scheiß eklige Laubhaufen. Sie fährt mit dem Aufzug in ihre Wohnung und schafft es gerade noch ins Bad, ehe sie brechen muss. Schatz?, fragt der Mann, der nicht ihr Freund ist, von der anderen Seite der Badezimmertür. Kann ich irgendwas tun? Sie antwortet nicht. Sie liegt seitlich auf dem Badezimmerboden, bis sich die Welt wieder beruhigt hat.

Da sind die Handtuchhaken ohne sein Handtuch. Da ist der Zahnputzbecher ohne seine Zahnbürste. Da ist der Duschvorhang mit dem lila Papagei, den sie nur aufgehängt hat, weil er das Badezimmer beim Duschen immer in einen tropischen Regenwald verwandelt hatte und die Klopapierrolle danach ausgetauscht werden musste. Wie konnte sie sich so über ein paar Pfützen aufregen? Da ist der Badezimmerschrank, in dem er das unterste Fach hatte, weil es das einzige war, das er erreichen konnte, ohne auf den weißen Hocker zu steigen. In dieses Fach stellte er sein Deo und die Einwegrasierer, die er nicht brauchte, und die Sammlung mit den Bodylotions, die sie von ihren Geschäftsreisen aus verschiedenen Hotels mitbrachte. Jetzt ist das unterste Fach leer, und wenn er, der sich für ihren Freund hält, sein Haarschneidegerät dalässt, ohne sie vorher zu fragen, wirft sie es in den Müll.

Als sie aus dem Bad kommt, sitzt er, der nicht ihr Freund ist, auf dem Sofa und beschäftigt sich mit seinem Telefon. Zu viel getrunken?, fragt er und lacht. Absolut nicht, antwortet sie. Ich habe den ganzen Abend nur Wasser getrunken. Mir war nicht nach Wein. Er legt das Telefon beiseite. Was ist?, fragt sie. Warum siehst du so beunruhigt aus?

***

Ein Sohn, der ein Vater ist, blickt auf die Uhr. Bald Mitternacht. Seine Schwester ruft nicht zurück. Seine Freundin hatte ihm vor einer Stunde eine Nachricht geschrieben. Er hatte geantwortet, der Flug sei verspätet und er auf dem Weg nach Hause. Er hatte sich zum Aufbruch bereit gemacht, war aber nicht gegangen. Er weiß nicht, warum. Er versucht es auf der Auslandsnummer seines Vaters. Dann auf der schwedischen. Der Akku ist leer, oder die Handys sind ausgeschaltet oder konfisziert worden. Er lauscht auf den Schlüssel im Schloss. Er überlegt, wann sie eigentlich aufgehört haben, den Vater am Cityterminal abzuholen. Ist es drei Jahre her? Fünf? Er erinnert sich nicht genau, aber er hat den Verdacht, dass es ungefähr zur selben Zeit war, als der Sohn Vater wurde und der Vater Großvater. Da passierte etwas. Obwohl der Sohn immer noch für die praktischen Angelegenheiten zuständig ist. Er kümmert sich um die Bankkonten und die Post des Vaters. Er bezahlt die Rechnungen, macht die Steuererklärung für den Vater, verschiebt seine Vorsorgetermine beim Arzt und öffnet die Briefe von der Sozialversicherung. Außerdem ist er für die Unterbringung des Vaters verantwortlich. Ganz egal, ob der Vater zehn Tage oder vier Wochen bleibt. So war es schon immer. So wird es immer bleiben.

Der Sohn geht mit seiner Teetasse in die Küche. Als er das Licht einschaltet, hört er das Rascheln von Kakerlaken, die hinter dem Backofen verschwinden. Im Augenwinkel sieht er die Schatten von zweien, die unter den Kühlschrank flitzen. Auf der Arbeitsfläche in der Küche sitzt eine rot glänzende Kakerlake wie versteinert und versucht sich unsichtbar zu machen, ihre Fühler wiegen sich in der Luft. Der Sohn stellt die Tasse auf dem Herd ab und streckt sich langsam nach der Küchenrolle. Er befeuchtet sie, tötet die Kakerlake, wischt über die Stelle und wirft das Küchenpapier direkt in den Müll, damit sich die Eier nicht verteilen. Die blauen Klebefallen aus Pappe von Anticimex stehen schon seit Wochen hier herum. Der Typ mit der Giftspritze war erst letzten Donnerstag da, um neue Stränge zahnpastaähnlicher Todescreme zwischen den Herd und die Spüle und den Kühl- und den Gefrierschrank zu spritzen. Trotzdem kommen sie immer wieder. Es gibt zwei Sorten, eine etwas schwärzere, eine rötlichere. Doch wenn sie Gift fressen und sterben, tun sie es auf genau dieselbe Weise. Sie legen sich mit angezogenen Beinen auf den Rücken. Ihre langen Fühler wogen wie Grashalme. Sie sehen friedlich aus, wie sie dort liegen, tot und dazu bereit, von einem Blatt feuchter Küchenrolle zerdrückt zu werden. Er nimmt immer nur ein Blatt Küchenrolle pro Kakerlake. Damit die Rolle lange reicht. Wenn er versehentlich zwei Blätter abreißt, beseitigt er auch zwei Kakerlaken, so ist es gerechter für alle, und er wirft sein Geld nicht zum Fenster raus. Das war nicht seine Stimme. Es war die Stimme seines Vaters. Immer nur ein Blatt auf einmal, rief er früher durch die Tür, wenn man auf der Toilette saß. Zwei Blatt, wenn du Wasser draufmachst. Ich mache Wasser drauf, antwortete der Sohn. Dann darfst du zwei Blatt nehmen, sagte der Vater. Der Sohn nahm zwei Blatt, befeuchtete sie und putzte sich ab. Jetzt ein Blatt, um zu kontrollieren, ob auch wirklich alles sauber ist, kam die Anweisung des Vaters. Nimm die ganze Rolle, rief seine Mutter aus der Küche. Hör nicht auf sie, sagte der Vater. Der Sohn tat, was ihm gesagt wurde. Sein ganzes verdammtes Leben lang hat er immer getan, was ihm gesagt wurde. Das muss sich ändern, denkt er, und holt einen Stift. Er schreibt nicht, dass sein Vater zum letzten Mal hier wohnen wird. Er schreibt nicht, dass er die Vaterklausel aufheben will. Stattdessen schreibt er: Herzlich willkommen, Papa. Hoffe, du hattest eine gute Reise. Hier ist deine Post. Melde dich doch kurz, wenn du Zeit hast, damit ich mir keine Sorgen machen muss.

Der Sohn schaltet das Licht aus und geht ins Treppenhaus. Er schließt die Innentür, die Außentür und das Sicherheitsschloss ab. Dann überprüft er vorsichtshalber noch einmal, ob er das Sicherheitsschloss auch wirklich abgeschlossen hat. Dann verlässt er das Büro und geht nach Hause. Dann kehrt er zurück, um noch einmal zu überprüfen, ob er nicht vergessen hat, das Sicherheitsschloss auch wirklich abzuschließen, als er überprüfen wollte, ob er das Sicherheitsschloss auch wirklich abgeschlossen hat. Er kommt an dem Platz mit der Kneipe vorbei, die gerade renoviert wird. Vorbei an dem Eckladen von dem netten, aber verwirrten Typen, der anscheinend in seinem Laden schlief, jetzt aber wohl für immer dichtgemacht hatte. Vorbei an den festgeketteten Aufstellern von Gesundheit Thaimassage und dem Friseursalon K&N und an kopierten Aushängen, die Werbung für Hundesitting («passionierter Hundefreund seit 1957!»), feministische Stand-up-Comedy, Fahrradreparatur und Zumba machen. Vorbei an der U-Bahn-Station, dem Espressostand, der dichtgemacht hat, der Wäscherei, die dichtgemacht hat. Er will gerade dem Bettler zunicken, aber auch dessen Platz ist leer, nur ein paar Decken liegen dort, eine leere Schale und ein Stück Pappe mit einem Foto der Kinder des Bettlers. Der Sohn biegt links auf den Fußweg, nimmt den ehemaligen Kiesweg, der gerade neu asphaltiert wurde, vorbei an dem großen Fußballplatz mit Kunstrasen, den roten Umkleidekabinen und dem Waldstück, wo schon seit Tagen ein umgewehter Baum im Weg liegt, den niemand wegräumt. Vorbei am Wohngebiet mit den Einfamilienhäusern, den Kreisverkehren, den Baustellen. Hast du ihn gesehen?, murmelt seine Freundin schlaftrunken, als er neben ihr ins Bett kriecht. Heute nicht, flüstert er.

II.DONNERSTAG

Ein Großvater, der ein vergessener Vater ist, wartet auf den Flughafenbus, der nie kommt. Er ist krank. Er ist sterbenskrank. Er hustet sich die Lunge aus dem Hals. Er wird bald blind sein und die Nacht wahrscheinlich nicht überleben. An allem sind seine Kinder schuld. Zur Hölle mit diesem Land und seinem kalten Herbstwetter, seinen unverschämten Taxipreisen und öden Fernsehsendern. Er erinnert sich noch genau an das Programm, das lief, als sie gerade hergezogen waren. Erst das Wetter, dann das Kinderfernsehen, zwei verschiedenfarbige Strümpfe mit Paillettenaugen und einem Skelett aus Händen redeten davon, wie wichtig der Klassenkampf ist, um eine glückliche Gesellschaft aufzubauen. Dann noch mehr Wetter. Dann «Das schwarze Brett», eine spezielle Sendung, wo der Staat Tipps gab, wie man Brandverletzungen bei Kindern behandelte (ab unter die Dusche mit ihnen, ohne sie auszuziehen, und 20 Minuten lang mit KÜHLEM, aber nicht KALTEM Wasser abbrausen), dann ein Beitrag darüber, wie wichtig es war, beim Langstreckenschlittschuhlauf immer Eiskrallen dabeizuhaben, dann Nachrichten, dann das Wetter, dann der Film des Tages, der ganz sicher, zu hundert Prozent, ein Dokumentarfilm über lateinamerikanische Lyriker oder ukrainische Imker war. Trotzdem ließ er nachts den Fernseher laufen, wenn er nicht schlafen konnte. Und obwohl er sich einsam fühlte, war er nicht einsam, denn er hatte ja sie. Ihretwegen war er gekommen. Sie hatte ihn dazu gebracht, alles hinter sich zu lassen. Es war keine freie Entscheidung gewesen. Die Liebe ist das Gegenteil einer freien Entscheidung. Die Liebe ist zu hundert Prozent undemokratisch, neunundneunzig Prozent aller Stimmen entfallen auf den Typen mit dem Schnauzbart in Uniform mit einer Vergangenheit im Militär, dessen Porträt an jeder Allee, in jedem Tabakladen, Friseursalon und Café hängt, bis zum Ende der Revolution, wenn alle alten Porträts auf die Straßen geworfen, zertrampelt und verbrannt und vom Bild eines anderen Typen mit Schnauzbart und einer Vergangenheit im Militär ersetzt werden, der sagt, dass sein Vorgänger mit Schnauzbart und einer Vergangenheit im Militär kein richtiger Führer war, sondern korrupt und sich nicht so für dieses Land eingesetzt hat, wie das Land es verdient hätte. Die Liebe ist eine Diktatur, denkt der Vater, und Diktaturen sind gut, denn er selbst war am glücklichsten, als er am wenigsten Freiheit hatte, als er an nichts anderes denken konnte als daran, dass alles untergehen würde, wenn er nicht in ihrer Nähe sein dürfte. Bei ihr. Seiner Frau. Seiner Exfrau. Und wenn er eines aus der gescheiterten Revolution mitgenommen hat, dann die Tatsache, dass ein starker Mann im Zentrum auch Vorteile hat. Die Stimmen einzelner Menschen haben keinen Eigenwert. Menschen sind Idioten. Menschen sind wie Ameisen. Sie wissen nicht, was am besten für sie ist. Sie müssen kontrolliert werden, damit sie nicht überall Ameisenhaufen bauen und in fremde Ferienhäuser eindringen. Er weiß nicht mehr, wer das gesagt hat. Vielleicht ist er sogar selbst drauf gekommen. Das ist gut möglich, weil er hundert Prozent schlauer ist als hundert Prozent der Weltbevölkerung. Er weiß Dinge, die normale Menschen gar nicht zu wissen wagen. Er weiß, dass die Chinesen bald die Weltherrschaft übernehmen werden. Er weiß, dass neun der zehn mächtigsten Medienmogule auf der Welt Juden sind. Er weiß, dass die CIA hinter dem Anschlag auf das World Trade Center steckt. Er weiß, dass die NASA die Mondlandung gefakt und das FBI Malcom X, Martin Luther King, JFK, John Lennon und JR Ewing ermordet hat. Er weiß, dass wir nur deshalb mit Karte zahlen sollen, damit die Banken uns überwachen können, denn dann wissen sie, wo wir uns aufhalten, sie erlangen die Kontrolle über jeden kleinen Menschen und können uns von oben lenken, als wären wir Ameisen. Aber Menschen sind keine Ameisen. Menschen sind schlauer als Ameisen, größer als Ameisen, wir sind intelligent, wir können sprechen, wir haben zwei Beine statt sechs, wir haben Hände statt Fühlern, wir gehen aufrecht statt mit dem Bauch über dem Boden, und das sind nur einige von vielen Beispielen dafür, warum wir nie akzeptieren werden, dass uns ein Diktator beherrscht.

Der Großvater hatte versucht, all das der Frau zu erklären, die das Glück hatte, im Flugzeug neben ihm zu sitzen. Sie war von seinem Wissen beeindruckt, aber leider fiel es ihrem armen Gehirn schwer, die ganzen Informationen zu verarbeiten. Nach dem Essen gähnte sie und sagte, sie müsse jetzt schlafen. Schlafen Sie nur, sagte der Großvater, der zwei kleine Weinflaschen getrunken und eine dritte im Handgepäck versteckt hatte. Schlafen Sie gut. Die Wahrheit nimmt man am besten nur in kleinen Dosen zu sich. Die Frau setzte ihre Kopfhörer auf und schlief sofort ein.

Jetzt steht er hier auf dem Bürgersteig. Der Wind kommt von der Seite. Ein Auto nähert sich. Kann das wirklich sein? Das kann doch nicht sein? Nein, es sind auch nicht seine Kinder. Sein Sohn ist zu Hause und hört Musik, die keine Musik ist. Seine Tochter ist in der Stadt unterwegs und säuft. Sie denken nur an sich. Der Großvater erkennt die Beifahrerin im Auto wieder. Es ist die Frau, die neben ihm im Flugzeug saß. Ihre Blicke treffen sich. Sie sagt etwas zu dem Mann hinter dem Steuer. Sie sagt: Halt sofort an, Schatz! Das ist der interessante Mann, mit dem ich im Flugzeug sprechen durfte, der Mann mit den mutigen Gedanken. Schau ihn dir an. Er sieht müde aus. Komm, wir fahren ihn den ganzen Weg bis nach Hause, damit er nicht hier im Wind stehen und auf den Flughafenbus warten muss. Der Großvater lächelt und hebt die Hand in die Autoscheinwerfer. Die Frau schaut weg. Der Typ hinter dem Steuer beugt sich vor und starrt ihn an, ehe er Gas gibt und in Richtung Autobahn braust.

Irgendwie gelingt es dem Vater, der ein Großvater ist, am Ende doch, mit dem Bus bis zum Hauptbahnhof zu kommen. Mit letzter Kraft schleppt er seinen Koffer nach unten zur roten Linie. Es ist fast halb zwei in der Nacht, als er endlich an der richtigen U-Bahn-Station aussteigt, wo ihm ein freundlicher bärtiger Typ mit orangefarbenen Kopfhörern und verdächtig großen Pupillen hilft, das Gepäck die Treppe hinaufzutragen.

Der Großvater geht durch das Waldstück, vorbei am Eckladen, vorbei an der Kneipe. Er steht vor der Haustür zum Büro seines Sohnes. Er schafft es nicht, seine Koffer die Stufen hochzuhieven. Er gibt auf. Er sinkt zusammen. Er rappelt sich auf und sammelt all seine Kräfte. Er schafft es. Er schafft es gerade so. Er öffnet die Tür und wuchtet die Koffer in den ersten Stock. Dann schläft er in seinen Klamotten auf dem Sofa ein. Er schafft es nicht mehr, sein Handy ans Ladekabel zu hängen. Oder sich die Zähne zu putzen. Das Einzige, was er noch schafft, ist TV 4 einzuschalten, laut genug, um dabei einschlafen zu können.

***

Ein Sohn in Elternzeit wacht an einem schlechten Tag um vier auf und an einem guten Tag um halb fünf. Der Einjährige wird zuerst munter, manchmal kann man ihn noch eine Weile ruhigstellen, indem man ihn durch die Stäbe des Gitterbetts mit Pixiebüchern und Stofftieren versorgt, meistens verliert er aber schon nach einer Viertelstunde die Geduld und will aufstehen. Er stemmt sich hoch und zeigt auf die Tür. Er ruft Muuuh. Er presst einen Morgenschiss in die Nachtwindel, die jeden Moment leckzuschlagen droht. Wenn der Vater schließlich das Licht anmacht, lacht der Einjährige und versucht sich über das Gitter zu ziehen. Die Vierjährige wacht gegen fünf auf und kommt blinzelnd und mit wirrem Haar aus ihrem Zimmer. Sie hat ihre Nuckelflasche dabei, die sie immer noch benutzt, manchmal schlägt der Vater versuchsweise vor, sie könne doch stattdessen aus einem Glas trinken oder einem Plastikbecher oder einer supercoolen Sportflasche. Aber die Tochter bleibt stur. Sie will ihre Nuckelflasche behalten. Lass sie doch, sagt die Mutter. Es ist ihr letztes Baby-Ding. Und der Vater lässt ihr die Flasche. Gleichzeitig hätte er lieber, dass sie damit aufhört. Er sagt, wenn man als Vierjährige mit einer Nuckelflasche rumläuft, kann es gut passieren, dass die Freunde aus dem Kindergarten das sehen und einen hänseln. Sie könnten Baby rufen oder Nuckelflaschentrulla oder was auch immer, und deshalb finde ich, du solltest damit aufhören. Die Tochter sieht ihn nur an und zuckt mit den Schultern. Die anderen sind mir doch egal, sagt sie und steckt sich die Nuckelflasche wie eine Pistole in den Schlafanzughosenbund. Da hörst du’s, sagt die Mutter, die gerade mit nassen Haaren aus der Dusche kommt und sich Kaffee einschenkt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, erwidert der Vater. In diesem ganz bestimmten Fall ist der Apfel jedenfalls unglaublich weit weg vom Vaterstamm gelandet, sagt seine Freundin. Sie lacht und gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ich bin so um fünf wieder da, sagt sie und trinkt ihren Kaffee im Stehen neben der Arbeitsplatte. Du bist im Leben nicht um fünf da, denkt er, sagt aber nichts. Schick mir ’ne Nachricht, wenn ich was einkaufen soll. Brauchst du nicht, antwortet er. Ich mach das schon.

Sie läuft mit ihrer neuen Tasche, ihrer neuen Frisur, ihrem Mantel, ihren Handschuhen zur U-Bahn, sie sieht durch und durch professionell aus, wenn sie in die Welt hinausgeht. Er bleibt zu Hause im Küchenchaos zurück, in einem Bademantel mit der Spucke des Einjährigen auf der Schulter und den Schmierfingerabdrücken der Vierjährigen an der Tasche. Der Einjährige rast mit dem Gehfrei durch die Gegend und brüllt jedes Mal frustriert, wenn er an einem Teppich oder in einer Ecke hängen bleibt. Die Vierjährige hätte gern Gesellschaft, während sie groß macht, weil sie Angst davor hat, allein auf dem Klo zu sein, aber gleichzeitig will sie nicht, dass man sie dabei anguckt, also muss man ihr den Rücken zukehren. Der Einjährige krabbelt auf das Sofa und versucht, einen Bilderrahmen von der Wand zu holen. Die Vierjährige möchte, dass sie eine Gutenachtgeschichte lesen, aber sie soll so unheimlich sein, dass sich der Einjährige nicht traut, auch zuzuhören. Jetzt muss der Einjährige wieder groß, die Vierjährige will sich den Haufen ansehen. Der Einjährige hält auf dem Wickeltisch nicht still, der Vater bittet die Vierjährige, ein Spielzeug für den Einjährigen zu holen, die Vierjährige bringt einen Kugelschreibertroll mit leuchtend lila Haaren. Der Vater dankt der Vierjährigen, der Einjährige wirft einen Blick auf den Troll und lässt ihn wie eine Wasserbombe auf den Boden neben dem Wickeltisch fallen, doch wie sich herausstellt, ist es gar nicht der Boden, sondern das offene Klo, der Troll fällt hinein, seine Frisur wird zu einem langen Strich, er treibt bäuchlings auf dem Wasser und sieht tot aus, erst lacht sich die Vierjährige kaputt, dann bricht sie in Tränen aus, der Vater wischt mit Feuchttüchern die gelbgrüne, flüssige Kacke von seinen Händen und von der weißen Plastikdecke und von den Pobacken des Einjährigen, dann zieht er ihm eine neue Windel an und versucht ihn abzulenken und gleichzeitig die Vierjährige zu trösten, während er eine Plastiktüte holt und sie sich über die rechte Hand stülpt, um damit ins Klo zu greifen und den Troll herauszufischen. Der Einjährige zieht sich an der Kommode im Flur hoch und kreischt beeindruckt, weil er nicht umfällt. Die Vierjährige will ihm beim Laufen helfen und rempelt ihn dabei versehentlich um. Der Einjährige weint. Die Vierjährige lacht. Der Einjährige beißt der Vierjährigen ins Schienbein. Die Vierjährige weint. Der Einjährige verschwindet. Sie finden ihn mit zwei Plastikperlen im Mund zusammengekauert unter dem Sofatisch. Der Vater trägt den Einjährigen ins Zimmer der Vierjährigen. Alle sollen sich anziehen. Die Vierjährige will Shorts und ein Fußballtrikot tragen. Der Vater erklärt, dass aber Winter ist oder jedenfalls Spätherbst. Sie will die Shorts unter die normale Hose ziehen. Der Vater gibt nach. Der Einjährige verschwindet. Sie finden ihn im Schlafzimmer neben dem Nachttisch mit den scharfen Metallkanten, er hat gerade den weißen Plastikschutz abgeknibbelt, der zum Schutz vor genau dieser scharfen Kante dienen soll. Die Vierjährige will mit Duplo spielen, aber nur wenn der Vater und der Einjährige nicht mitmachen dürfen. Alle machen mit. Alle bis auf den Einjährigen, der ein Stück entfernt mit dieser zufriedenen Miene steht, die er nur aufsetzt, wenn er etwas im Mund hat. Der Vater pult ihm einen Ohrstöpsel der Mutter zwischen den Zähnen hervor. Der Einjährige brüllt los. Die Vierjährige baut eine Garage. Der Einjährige bringt die Garage zum Einsturz. Die Vierjährige bewirft den Einjährigen mit einem Ball. Der Einjährige glaubt, es wäre ein Spiel, und holt den Ball und gibt ihn der Vierjährigen. Die Vierjährige versteckt den Ball. Der Einjährige findet einen Legostein und schiebt ihn sich in den Mund. Der Vater angelt den Stein mit derselben Hand heraus, die noch vor zehn Minuten in der Toilette hing. Die Vierjährige sagt, sie hätte keine Lust mehr auf Duplo. Der Einjährige reibt sich die Augen. Der Vater guckt auf die Uhr und stellt fest, dass er die Vierjährige erst in anderthalb Stunden in die Kita bringen kann. Er wünschte, die Zeit würde schneller vergehen, er wünschte, die Kita hätte einen freien Platz für den Einjährigen. Manchmal versucht der Vater beim Vorfrühstück, der Vorspeise zu dem Frühstück, das die Vierjährige in der Vorschule bekommt, mit der Vierjährigen über Erwachsenendinge zu reden. Er holt die Zeitung und zeigt ihr ein Bild vom thailändischen Präsidenten. Er erklärt ihr, was Unruhen sind. Er sagt, dass humanitäre Einsätze das sind, was man braucht, wenn die Menschen zu wenig zu essen haben. Die Vierjährige nickt und scheint ihn zu verstehen. Dann sagt sie, dass alle Leute mit einem Seil um den Hals Präsidenten sind. Und der Vater stimmt ihr zu, wenn man in der Zeitung jemanden mit einer Krawatte sieht, ist es oft ein Präsident oder jedenfalls ein Politiker, sagt er. Nach dem Vorfrühstück wechseln sie die Klamotten, die dreckig geworden sind. Dann spielen sie Astronaut oder Tigerfamilie oder Räuber und Gendarm oder Feuerspucker und Feuerwehrmann, oder sie spielen ein Nashorn, das mit seinem Nashornfuß auf den Boden stampft, um zu zeigen, dass es wütend ist und gleich mit dem Horn zustoßen wird. Anschließend wechselt er ein letztes Mal die Windel des Einjährigen, und dann ist es Zeit, zur Kita zu gehen. Die Vierjährige zieht sich selbst an, alles ist ein Wettbewerb. Wer zuerst den Fleecepulli anzieht, hat gewonnen. Ich habe gewonnen, ruft die Vierjährige. Wer sich zuerst den Schneeanzug anzieht. Ich habe wieder gewonnen, ruft die Vierjährige. Wer zuerst den Aufzugknopf drückt. Ich bin wirklich die Schnellste auf der ganzen Welt, sagt die Vierjährige, und der Vater nickt, der Vater stimmt zu, die Vierjährige ist wirklich außergewöhnlich schnell, unglaublich schlau, eigentlich die Beste in allem, in dem man gut sein kann. Und doch. Irgendwo tief in seinem Inneren hört der Vater eine Stimme flüstern: Nein verdammt. Du bist überhaupt nicht die Beste in allem. Ich zum Beispiel könnte mich superschnell anziehen, wenn ich nur wollte. Ich kann dich superleicht zu Boden ringen, wenn ich mich nur ein bisschen anstrenge. Ich bin viel besser im Kopfrechnen als du und muss nicht meine Finger zu Hilfe nehmen, wenn ich drei und drei zusammenzähle. Und weißt du was? Die ganzen Buchstaben, die du kannst und mit denen du die Leute immer beeindruckst? Die kann ich auch. Und zwar alle. Viel besser als du.

Sie verlassen den Aufzug, bleiben stehen, um den Hauskater Jelzin zu streicheln, und schieben den Hügel hinauf, durch die Straßen, vorbei an dem kleinen Platz mit dem Vogelbad, dem Ärztezentrum, dem Café, den drei Friseuren, der Fußpflege und dem Altenheim. Der Einjährige reibt sich die Augen. Die Vierjährige rennt voraus. Nehmen Sie gerne zwei Plastiküberzieher steht auf dem Zettel in der Garderobe der Kita. Aber der Vater nimmt meist nur einen für jeden Schuh, es kommt ihm verschwenderisch vor, zwei zu nehmen, jedenfalls wenn es nicht regnet. Er hält den Einjährigen auf dem Arm, grüßt dieselben Eltern, die er immer grüßt, ohne je mit ihnen zu reden. Die Vierjährige saust in ihre Gruppe, kurz bevor Leffe mit dem Frühstückswagen um die Ecke biegt. Es wird ein leichter Abschied. Die Vierjährige springt auf den Stuhl zwischen zwei Freundinnen und winkt ihm zu. Der Vater fragt die Erzieherinnen, wie es ihnen geht. Er grüßt die Putzkraft. Er stellt sich hinter die Glastür und guckt zum Spaß um die Ecke, wie man es so macht, um eine Vierjährige zum Lachen zu bringen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Beim vierten Mal findet sie es nicht mehr lustig. Obwohl der Vater jedes Mal eine neue Grimasse zieht. Er geht wieder zur Garderobe. Er will doch nur, dass seine Tochter ihn lustig findet. Und ihre Freundinnen finden, dass er ein guter Vater ist. Und die Eltern der Freundinnen auch. Und die Erzieherinnen. Und die Putzkraft. Er pult die Schuhüberzieher ab, und als er mit dem dösenden Einjährigen auf dem Arm zum Buggy geht, denkt er, wie krank es ist, dass er sogar in der Kita unter Leistungsdruck steht und das ein weiterer Beweis dafür ist, dass er am Ende ist, dass er nicht so funktioniert wie die anderen, dass irgendetwas in seiner Vergangenheit vorgefallen sein muss, das erklärt, warum ihm etwas schwerfällt, was andere Menschen vollkommen mühelos bewältigen.

Der Einjährige schläft im Buggy ein. Der Vater geht zum Wasser und beobachtet die Enten. Rentnerehepaare gehen untergehakt an ihm vorbei. Mütter in Elternzeit sitzen mit einem Fuß auf dem Kinderwagenrad auf sonnigen Bänken und essen Äpfel. Zwei Hunde spielen unten am Kai. Das Gras ist weiß vom leichten Frost. Der Kies auf den Wegen so fest, wie er es nur wird, wenn sich die Temperatur dem Nullpunkt nähert. Ein Sohn, der ein Vater ist, spürt plötzlich Zufriedenheit. Die Tochter ist im Kindergarten. Der Sohn schläft. Er hat es hingekriegt. Noch ein ganz normaler, alltäglicher Morgen. Wie ihn andere Eltern problemlos überstehen, während er sich durchkämpfen muss. Aber heute ging es. Und morgen wird es auch gehen.

Er fühlt sich bereit, seinen Vater anzurufen. Er nimmt das Handy. Ruft die schwedische Nummer des Vaters an. Niemand geht ran. Er schickt eine Nachricht. Steckt das Handy weg. Ruft noch mal an. Er läuft am Wasser auf und ab, versucht die Enten zu betrachten, die Rentner, die Mütter in Elternzeit, aber alles, woran er denken kann, ist sein Vater, der Vater, der nicht ans Handy geht und vielleicht nicht mehr lebt. Er versucht sich zu beruhigen. Er beruhigt sich. Er geht in ein Café und lässt den Buggy mit dem schlafenden Sohn draußen stehen. Er macht sich keine Sorgen, dass etwas passieren könnte. Er vertraut dem Universum, schließt den Wagen aber vorsichtshalber an einen Tisch an. So machen das alle Eltern. Es ist ja auch kein Wunder, dass man besonders vorsichtig sein will, wenn man die Verantwortung für einen Einjährigen trägt. Er verlässt das Café mit einem Kaffee zum Mitnehmen. Die Sonne scheint. Er spaziert am Wasser entlang zurück. Auf der anderen Seite sieht er den Spalt in der Felswand. Man kann hineingehen, nach oben schauen und die Wolken mit einer neuen Klarheit ansehen, weil sie von den Felskanten eingerahmt werden. Auf der linken Seite befinden sich Alfred Nobels alte Sprenggruben. Hier wurde das Dynamit in sicherem Abstand zur Allgemeinheit getestet. Er liest auf dem Schild, dass 1868 die erste folgenschwere Explosion im Labor stattfand (14 Todesopfer), 1874 das nächste Unglück (12 Todesopfer). Dass der Eingang zum Beobachtungsbunker einem Gesicht mit schiefen Zähnen ähnelt und die Namen der verunglückten Arbeiter auf der Gedenktafel durch das Moos beinahe unleserlich geworden sind, wird er garantiert vergessen. Dafür wird er sich an die Zahl der Opfer erinnern. Und an die Jahreszahlen. Langsam geht er über den Kies. Die Räder des Buggys gleiten lautlos über den Holzsteg. Ganz am Ende bleibt er stehen. Er atmet durch. Er versucht, alles in sich aufzunehmen, was er sieht, das Wasser, den Himmel, den Wind, die Inseln, den Horizont, die Boote, die Wellen, die Vögel. Jemand anders hätte das sicher beschreiben können. Er kann es nicht. Aber er kann hier stehen und sich als Teil des Ganzen fühlen. Anschließend nimmt er das Handy und ruft seinen Vater an. Er geht immer noch nicht ran.

Eine Schwester, die das Personal in der Apotheke nicht kennt, will trotzdem draußen warten. Warum können wir nicht zusammen reingehen?, fragt er, der sich anscheinend für ihren Freund hält. Weil ich hier warten will, antwortet sie und bleibt stehen. Aber warum?, fragt er. Darum, sagt sie. Wie alt bist du eigentlich?, fragt er und geht hinein. Aber er sagt es mit dieser unbekümmerten Stimme und diesem ständigen Lächeln auf den Lippen, und so wird das, was eine Beleidigung sein könnte, zu einem Kompliment. Wie alt sie ist? Sie ist jedenfalls zu alt, um mit ihm zusammen zu sein, und zu alt, um etwas zu machen, das sie nicht will. Nie wieder. Sie hat sich schon einmal dazu verleiten lassen, als sie zu jung war, um die Konsequenzen zu verstehen.

Sie wartet neben der Bushaltestelle. Sie ruft ihren Vater an. Er geht nicht ran. Durch das Schaufenster sieht sie, wie ihr Freund die Apotheke betritt. Er und seine dämliche Körperhaltung. Niemand, der nicht gerade eine Goldmedaille gewonnen hat, läuft dermaßen entspannt durch die Welt. Die Frau hinter dem Tresen begrüßt ihn, aber er ist ganz darauf konzentriert, die Schilder über den Regalen zu lesen. Er kneift die Augen zusammen. Erst geht er zum Regal mit der Zahnpflege, dann fragt er sich durch zum Regal mit den Kondomen, der Pille danach und den Schwangerschaftstests. Er studiert die Beschreibung auf zwei identischen Packungen. Schließlich nimmt er beide mit zur Kasse und bezahlt.

Du hast offiziell eine soziale Störung, sagt sie, als er mit den Packungen in einer kleinen grünen Tüte wieder herauskommt. Was ist denn jetzt wieder?, fragt er. Hast du nicht gemerkt, dass sie dich begrüßt hat? Wer?, fragt er. Die Frau an der Kasse. Als du reinkamst, hat sie dich begrüßt, aber du bist einfach weitergegangen. Hast du das von hier aus beobachtet?, fragt er. Wer von uns hat die soziale Störung? Lächelnd reicht er ihr die Tüte. Sie gehen wieder zu ihr. Sie nimmt den Aufzug. Er die Treppen. Genau wie immer.

Bei ihrem ersten Spaziergang versuchte sie deutlich zu machen, dass sie, egal wie gut der Sex war, egal wie nett es war, zusammen abzuhängen und Serien zu gucken und neben dem Körper des anderen aufzuwachen, nichts Festes suchte. Können wir uns darauf einigen?, fragte sie. Dass das hier nicht mehr ist als ein erwachsenes Verhältnis, bei dem wir gegenseitig unsere Bedürfnisse befriedigen. Allerdings war es schwer, ein ernstes Gespräch mit jemandem zu führen, der ständig nach neuen Ästen suchte, die er durchbrechen konnte. Und mit Steinen auf andere Steine zielte. Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?, fragte sie. Klar, antwortete er und zeigte ihr einen außergewöhnlich großen Ameisenhaufen. Verstehst du, was ich dir sagen will?, fragte sie. Allerdings, sagte er. Mir geht es genauso. Aber was ist das denn? Er deutete auf einen orangefarbenen Leitkegel mit Asphaltfuß, der mitten im Wald stand. So was ärgert mich dermaßen, sagte er, hob den Kegel hoch und schleppte ihn zurück zum Parkplatz.

Ein paar Wochen später versuchte sie es wieder. Sie sagte, sie wäre nicht in ihn verliebt. Nicht mal ein bisschen. Sie sagte, sie hätten seit ihrem Kennenlernen jetzt zwar so gut wie jede Nacht miteinander verbracht, aber sie habe keine Zeit für einen Freund, sie wolle sich nicht binden, sie habe ihre Karriere und ihre Freiheit sei ihr wichtiger als alles andere. Sie habe Deadlines einzuhalten und Kunden zu besäuseln und Chefs zu beeindrucken und Freunde zu treffen. Freunde, die ihr viel ähnlicher seien und nicht sieben Jahre jünger und die andere Sachen gut fänden als abzuhängen, zu chillen, eine ruhige Kugel zu schieben, Sport zu machen und sich endlose russische Stummfilme anzusehen. Jetzt komm aber, das ist Jewgeni Bauers letzter Film, sagte er und zeigte auf den Bildschirm, wo die Handlung so zäh voranschritt, dass man kaum wissen konnte, ob er nicht auf Pause gedrückt hatte. Sie erklärte ihm, dass sie wirklich nicht zusammen wären. Er sah sie mit seinen großen braunen Augen an. Du liebst mich, sagte er. Wirklich nicht, sagte sie. Doch, du hast es nur noch nicht verstanden, erwiderte er und lächelte ausnahmsweise einmal nicht.

Sie kannten sich knapp einen Monat, als sie ihn auf eine von der Firma organisierte After-Work-Party mitnahm. Sie stiegen in Slussen in den Bus, die Sonne leuchtete schräg durch die Scheiben, seine Tätowierungen glänzten. Als der Bus am Viking-Line-Terminal vorbeifuhr, erzählte sie ihm, dass sie einen Sohn hatte. Er öffnete den Mund und schloss ihn für einige Sekunden nicht wieder. Du hast ein Kind?, fragte er. Warum hast du nichts gesagt? Du hast mich nicht danach gefragt, erwiderte sie. Im Normalfall erwähnt man so was irgendwann, sagte er. Ich bin kein Normalfall, sagte sie. Das müsstest du eigentlich längst verstanden haben. Wie heißt er? Sie zwang sich, den Namen ihres Sohnes auszusprechen. Wenn sie die beiden Silben sagte, lag er neugeboren in ihren Armen, hatte die Nase in ihren Hals gebohrt und schlief, streckte seine Arme nach ihr aus, wenn sie ihn aus der Vorschule abholte, knickte beim Handballtraining um und humpelte mit theatralischer Miene vom Platz, kam mit einem offenen Rucksack nach Hause und fragte, ob es in Ordnung wäre, wenn er heute Abend bei einem Freund essen würde.