Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen - Jonas Hassen Khemiri - E-Book

Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen E-Book

Jonas Hassen Khemiri

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Beschreibung

Jonas Hassen Khemiris brillanter zweiter Roman, ausgezeichnet mit dem Per-Olov-Enquist-Preis, ist zärtliche Vater-Sohn-Geschichte und doppelbödiges Einwandererschicksal zugleich. Es erzählt von einem gewissen Jonas. Sein Vater ist der Superheld dieses Buches, der schon auf der ersten Seite im weißen Anzug auf der Dachterrasse seines luxuriösen New Yorker Lofts auf und ab schlendert. Wie kommt ein elender tunesischer Waisenknabe zu einem so kosmischen Erfolg? Jonas, nicht umsonst Sohn eines Superhelden, findet seine ganz eigene Erklärung.

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Seitenzahl: 413

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Jonas Hassen Khemiri

Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen

Roman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

Über dieses Buch

«Jonathan Safran Foer oder Dave Eggers hätten so einen Roman geschrieben, wenn sie in Stockholm aufgewachsen wären.» (Sydsvenskan)

 

Jonas erhält ungewöhnliche Post von Kadir, einem Freund seines Vaters aus Kindertagen. Kadir formuliert darin die Idee, gemeinsam an einer Biographie des so prominenten wie abgetauchten Vaters zu arbeiten. Was ist in all den Jahren in seinem Leben passiert? Kadir und Jonas finden ganz unterschiedliche Antworten – und jeder zu seiner eigenen Wahrheit.

 

«Urkomisch, sehr traurig und bis in die Details klug. Verdammt, ein großartiges Buch!» (Eva Menasse)

Vita

Jonas Hassen Khemiri wurde 1978 in Stockholm geboren. Mit seinen Dramen und seinen Romanen «Das Kamel ohne Höcker» und «Montecore», die viel Medienresonanz hervorriefen, wurde er zu einem der bekanntesten Autoren Schwedens. Neben dem Borås-Tidnings-Debütpreis wurde er für das vorliegende Buch mit dem Per-Olov-Enquist-Preis und 2015 mit dem Augustpreis in der Kategorie Belletristik für seinen Roman «Alles, was ich nicht erinnere» ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. Jonas Hassen Khemiri lebt in Stockholm.

Danke Mami, Baba, Hamadi, Lofti.

«They just think I’m a strange tiger who walks on two legs.»

Roy Horn, vom Tigerdompteurduo Siegfried & Roy

Prolog

Hallo, lieber Leser, der du da im Buchladen stehst und blätterst! Lass mich dir erklären, warum gerade in dieses Buch Zeit und Finanzen investiert werden sollten!

Lass uns gemeinsam ansehen, wie der beste Papa der Welt und Superheld des Buches weiß beanzugt auf seines luxuriösen New Yorker Lofts Dachterrasse auf und ab schlendert. Über den rötlich werdenden Himmel schweben Vogelschatten, Taxihupen entfernen sich, und im Hintergrund blubbert ein gigantischer Jacuzzi.

Unser Held beobachtet das Gewimmel von Manhattan. Der Wind spielt mit seinem maskulinen Pferdeschwanz, während die Erinnerung sein Leben Revue passieren lässt. Die armselige Kindheit im Waisenhaus in Tunesien, die Übersiedelung nach Schweden und der Kampf um seine Karriere. Exzellente Fotokollektionen, frequente Enttäuschungen, repetierter Verrat. Begleitet von der Sonne Sinken und der Jacuzzibläschen Blinken, lächelt er bei dem Gedanken an seiner Karriere späten Erfolg.

Doch plötzlich wird seine nostalgische Aura durchbrochen. Wer sind denn die ballontragenden Überraschungsgäste, die, Hurra rufend, aus seinem Privatfahrstuhl strömen? Da winken ihm fotografische Äquilibristen wie Cartier-Bresson und Richard Avedon. Da werden intellektuelle Prominente wie Salman Rushdie und Naomi Klein willkommen geheißen. Da treffen die großherzigen Weltgewissensträger wie Kofi Annan und Sting ein. Champagnerkorken erheben sich gen Himmel, während die Kellner eine gigantische Torte mit seinem Namen darauf in Zuckerglasur hereinrollen. Noch ehe der Abend sich dem Ende zuneigt, wird ein ledergewandeter Bono ihm zu seinem fünfzigsten Geburtstag mit einer akustischen Version von Even Better Than The Real Thing huldigen.

Unser Held füllt seine Augen mit Tränen und dankt seinen Freunden.

Wie konnte ein ärmlicher Waisenknabe zu diesem kosmischen Erfolg gelangen?

Investiere sogleich in eine Fahrkarte für die Reise in dieses Buch, dann wirst du Wissen erhalten!

Erster Teil

Beste Grüße!

 

Deviniere mal, wer dir diese Phrasen schreibt. KADIR ist es, der die Tasten drückt!!!! Deines Vaters antikester Freund! Du memorierst mich doch wohl? Ich hoffe auf deinen eifrig nickenden Kopf. Das Jahr zählte 1986, als ich euch in Stockholm besuchte: deine lächelnde Mutter, deine neugeborenen Kleinebrüder, deinen stolzen Vater mit seinem neuen Fotostudio. Und dann du, der mir und deinem Vater bei unseren Gelehrtheiten in der schwedischen Sprache assistiert hat. Erinnerst du dich noch an unsere Sprachregeln? Damals warst du ein korpulenter sprachbegabter Junge mit einem ausgewachsenen Hunger auf Eis und Pez-Bonbons. Jetzt bist du plötzlich ein aufgerichteter Mann, der schon bald seinen Debütroman veröffentlichen wird! Sei meiner gigantischen Gratulationen versichert! Ach, die Zeit tickt schnell, wenn man Humor hat, nicht wahr?

Dein Verlagshaus hat mir deinen E-Mail-Briefkasten korrespondiert, und ich schreibe dir, um zu fragen, ob du mit irgendwelchen Nachrichten von deinem Vater versehen bist. Weißt du, wo er sich in diesem Augenblick lokalisiert? ist eure Beziehung ebenso tragisch still, wie sie es in den vergangenen acht Jahren war? Dein Vater und ich standen in steter Freundschaft, bis vor einem Monat, als er plötzlich aufhörte, meine E-Mails zu beantworten. Jetzt wird meine Brust von einer Sorge zerrissen. Ist er vom CIA gekidnappt und in einem orangefarbenen Overall nach Guantánamo Bay verschleppt worden? Ist er vom Mossad entführt worden? Ist er ein Gefangener bei Nestlé, als Vergeltung wegen seiner entlarvenden Fotografien von deren sklavenähnlichen Fabriken in Paraguay? Alle diese Alternativen sind absolut möglich, weil dein Vater zu einer sehr starken politischen Prominenz gewachsen ist. Seit seiner Umlokalisierung aus Schweden hat sich seine fotografische Karriere zu goldigem Succé hochgeglänzt.

In den letzten Jahren ist er mit seiner Kamera als politischer Waffe durch die Welt getourt. Seine Logis ist in einem luxuriösen Loft in New York, seine Bücherregale sind okkupiert von intellektueller Gegenwartsliteratur und seine Zeit vergeht mit globalen Weltverbesserern wie dem Dalai Lama und Bob Geldof. An freien Abenden nimmt er an Friedenskonferenzen teil oder saust durch die Avenuen in seinem lilafarbenen Mercedes 500 SL mit Ledersitzen und interaktivem Scheibenwischer.

Schreib mir … ist dein Erfolg äquivalent mit dem deines Vaters? Hat dein Buchvertrag dich zum Millionär oder zum Milliardär gemacht, oder nur ein paar Jahre sicheren Einkommens gesichert? Sind literarische Äquilibristen wie Stephen King und Dan Brown enge Freunde oder nur formell bekannte Kollegen? Durch wie viele Ritzen darf man flitzen als bald veröffentlichter Autor? Liegen in deiner Korrespondenz jeden Tag parfümierte Unterhosen? Respondiere mir gern, wenn die Zeit es dir möglich macht.

Auch ich habe literarische Träume gehabt. Eine längere Zeit über plante ich, deinem Vater eine Biographie zu widmen. Leider wurden meine Ambitionen durch Wissenslücken und blasierte Verlagshäuser behindert. Doch bevor ich diese Mitteilung schrieb, wurde mein Gehirn plötzlich von einer genialen Idee durchfahren: Wie wäre es, wenn du in deinem sekundären Buch das magische Leben deines Vaters beschreiben würdest?

Lass uns unsere klugen Köpfe in der Absicht treffen, eine Biographie zu schaffen, die deinem prominenten Vater würdig ist! Lass uns in der Kreation eines Meisterwerkes kollaborieren, das ein Weltpublikum, nombreuse Nobelpreise und vielleicht sogar eine Einladung in Oprah Winfreys TV-Studio gewinnen wird!

Antworte mir schnellstmöglich deine positive Respons. Du wirst dir NICHT kondolieren müssen!

 

Dein neugefundener Freund Kadir

 

PS: Um deine Lust an meiner Proposition zu befeuchten, füge ich zwei Word-Dokumente hinzu. Eines wäre das adäquate Vorwort zu unserem Buch, das andere beschreibt die Kindheit deines Vaters. Ich kenne den antiken Unwillen deines Vaters, dir seine Geschichte zu offenbaren. Aber glaube mir, wenn ich schreibe: Wenn er es nur gekonnt hätte, hätte er viel mehr abgegeben. Und wenn er nur von deinem zukünftigen Roman wusste, würde er die breitesten Avenuen mit strahlendem Stolz erleuchten.

Es war einmal ein Dorf im Westen Tunesiens, das wurde Saqiyat Sidi Yusuf genannt. Hier lokalisierte im Herbst 1949 meine Geburt. Hier lebte ich bis 1958 in familiärem Idyll, als ein tragisches Unglück das Leben meines Vaters, meiner Mutter und meiner vier jüngeren Geschwister terminierte. Unglücklich lokalisierte Bomben der französischen Kolonialmacht fielen auf der Jagd nach Sympathisanten der FLN zufällig auf unser Dorf. Achtundsechzig Menschen starben, und als Konsequenz wurde ich familienfrei. Ein Freund der Familie brachte mich in die Stadt Jendouba und zu dem Haus, in dem die generöse Cherifa und der aimable Faizal meiner Aufnahme in ihr inoffizielles Waisenhaus für antikolonialistische Märtyrer zustimmten.

Hat dein Vater dir je das Gerippe demonstriert, das von diesem Haus noch übrig ist? Es lokalisiert im östlichen Teil von Jendouba, nicht weit vom Skulpturenpark und dem inzwischen geschlossenen Kino. Dort gab es zwei Schlafsäle mit türkisfarbenen Fensternischen und schwarzen Ziergittern. Dort gab es eine Küche und einen Speisesaal, ein Schulzimmer mit alten Bänken und einer abgewetzten Schiefertafel sowie zahlreiche Kolonien von nachts tickenden Kakerlaken.

Schon in jener historischen Zeit war das Herz von Cherifa ebenso groß, wie ihr Hintern breit. Ihr gigantischer Glaube an Potentiale konnte es nur mit ihrem brennenden Hass für den Auftrag der Franzosen als Zivilisationsverbreiter aufnehmen. Faizal, Cherifas Ehemann, war ein schüchterner Dorfschullehrer, der als Ausgleich für sein Unvermögen zu sexueller Reproduktion die Fürsorge seiner Frau für solitäre Märtyrerkinder unterstützte. Meine Unterkunft partagierte ich mit den großmuskeligen Brüdern Dhib und Sofiane, deren Eltern bei jener Angriffsmethode gegen FLN-Terroristen ums Leben gekommen waren, die die Franzosen lustig mit «des ratonnades» (Rattenjagden) bezeichneten. Im Zimmer nebenan logierten Zmorda und ihre Schwester Olfa, deren Eltern mit verstümmelten Nägeln und flambierter Haut von Elektroschocks aufgefunden worden waren. Dann war da noch der hörgeschädigte Amine, Nader, dessen eines Bein kürzer war als das andere, und Omar mit dem überspannten Magen und nächtlichen Gasaussonderungen. Alle ihre Eltern und Geschwister waren wegradiert worden als Folge der effektiven Jagd französischer Truppen nach suspekten Terroristen. (Achtung: Lege im Buch kein besonderes tragisches Gewicht auf die Geschichte der Kinder. Konzentriere dich lieber auf die mythische Ankunft deines Vater als auf die Millionen Toten im Zuge der französischen Zivilisationsverbreitung. (Manche Eier müssen für ein deliziöses Omelett einfach geköpft werden.))

Mein premiäres Rendezvous mit deinem Vater geschah Ende 1962. Dieser Morgen war in vieler Hinsicht ordinär. Ich lag schon früh auf meiner Matratze wach, während Sofiane noch seine Schnarchgeräusche und Omar Blähungen von sich gaben. Ich hörte wie sich Cherifas Morgengestalt durch den Garten zur Wasserpumpe schleppte. Und dann plötzlich … mitten in zwei heiserhälsigen Hahnengesängen … ein Klopfen an der Tür. Erst leicht und flatterhaft. Dann stärker.

Cherifa ging murmelnd zur Tür, ich hob mich hoch und folgte ihren Schritten. Die Tür wurde gegen der Morgendämmerung Sonnenlicht aufgeschoben, und draußen stand …

 

Dein Vater.

 

Sein Alter war hier das eines kleingewachsenen Zwölfjährigen, seine Arme astgleich dünn und sein schwarzes Haar ein aufgeplusterter Wuschel. Sein Hemd trug rötliche Spuren von Erbrochenem, und sein Körper bebte im Sonnenlicht. Cherifa fragte, was sein Anliegen sei. Dein Vater separierte seine trockenen Lippen und gestikulierte seine Arme wie ein verzweifelter Vogel. Er räusperte sich und rasselte Heiserlaute hervor. Aber keine Worte wurden prononciert. Ich erinnere mich, wie er selbst sehr erstaunt über seine Stummheit aussah.

Die Grenze von Cherifas Mitleid war mehr als erreicht. Das Haus war übervoll, und sie hatte Faizal garantiert, dass KEINE weiteren Märtyrerkinder auf seine Kasten gerettet werden würden. Doch was konnte sie tun? Sollte sie dieses arme stumme Wesen auf die Straße zurückschicken? Während sie ihren Entschluss bedachte, präsentierte dein Vater ihr ein wohlgewichtiges Kuvert. Sie schielte auf seinen Inhalt und füllte dann schnell ihre Lungen, wie wenn das Duschwasser plötzlich eiskalt wird. Sogleich dirigierte sie deinen Vater in des Eingangs kühlen Schatten. Was hatte dein Vater Cherifa delegiert? Ich glaube, einen erklärenden Brief. Oder eine generöse Summe Ökonomie.

Während Cherifa den Inhalt des Kuverts noch einmal besah, um sicherzugehen, dass sie seine Substanz auch nicht falsch eingeschätzt hatte, begegneten die Augen deines Vaters den meinen. Ich schob meine sichere Hand auf seine schwammige zu und beruhigte seinen nervösen Blick mit einem strahlend weißen Willkommenslächeln.

«Ich heiße Kadir», offerierte ich. «Willkommen in deinem neuen Zuhause!»

«…», respondierte dein Vater.

«Äh … wie?»

«…»

Dein Vater betrachtete mich mit fragendem Blick. Es war, als ob schwarze Magie seine Sprache blockiert hätte. Im Grunde war das die natürliche Schockreaktion auf eine nächtliche Explosion, einer Mutter Tod, eine chaotische Flucht und das Gefühl, absolut solitärst auf der Welt zu sein. Ich klopfte deinem Vater auf die Schulter und flüsterte:

«Keine Sorge, hier bist du zu Hause.»

Im Buch muss diese Szene mit großer dramatischer Würze und symphonischen Basstuben erfüllt werden. Schreibe so:

«Hier begegnen sie sich also. Mein Vater und Kadir. Der Held und sein Begleiter. Kadir, der in alle Zukunft das Schicksal meines Vaters begleiten wird, ein wenig wie Robin Batman begleitet oder der Neger in Zwei stahlharte Profis Mel Gibson folgt. Sie sind zwei neugewonnene beste Freunde, die niemals die einander gegebenen Versprechen vergessen werden.»

(Vielleicht kannst du dann zwei schwebende Vögel draußen in der Dämmerung beschreiben, die sich begegnen, die Schnäbel einander zuwenden und dann zum Kroumirieberg segeln. (Das als Symbol für unsere initiierte Freundschaft.))

Dein Vater und ich knüpften unser Freundschaftsband schnell zu einer schönen wortlosen Schleife. Schon am ersten Tag, als Faizal Unterricht hielt, wurden unsere Körper nebeneinander auf derselben Schulbank parkiert. Am Mittag zeigte ich ihm, wie man seine Süßigkeiten unter dem Pullover versteckte, um nicht die Jalousie der anderen Jungen auf sich zu ziehen. Bei der Siesta äußerte ich eine Reihe von Fragen bezüglich seiner Herkunft, die er auch zu respondieren versuchte, doch … seine Zunge funktionierte immer noch nicht. Er wedelte mit den Armen. Er exponierte mir ein Schwarz-Weiß-Foto, das einen Mann im Anzug darstellte, Abend essend mit zwei Europäern. Er gab mir eine verbeulte Kastanie in die Hand. Doch kein Wort kam von seinen Lippen. Schon bald wurde er deshalb mit einem ironischen Spitznamen benannt: das arabische Äquivalent für «der, der so viel redet wie einer, der ein Radio verschluckt hat».

Die Stummheit deines Vaters weckte Cherifas Fürsorge. Er wurde zu ihrem neuen Liebling, und oftmals assistierte er ihr mit Aufträgen aus dem Haushalt. Sie versuchte, seine Stummheit zu durchbrechen, indem sie ständig mit ihm redete. Sie diskutierte Himmel und Erde, Wetter und Wind, Dorftratsch und Beziehungen, ruchlose Paprikapreise und erotische Nachbarbesuche.

Weil er auf die aktive Aufmerksamkeit neidisch war, die dein Vater von Cherifa erhielt, fing Faizal an, seine Handflächen mit harten strafenden Schlägen zu traktieren. Er hoffte auf ein Jammern deines Vaters, doch alles, was je geschah, war, dass die Handflächen rot wurden, bluteten und zu festem Schorf heilten. Die Stummheit deines Vaters war immer noch intakt. (Ist es nicht witzig, dass du das Sprachproblem deines Vaters geerbt hast? Denn du erinnerst dich doch, welche Schwierigkeiten du in deiner Kindheit hattest, einfache Buchstaben wie «r» und «s» auszusprechen?)

Lass den Kalender nun das Frühjahr verlassen und nach dem Herbst zum nächsten Winter kommen. Lass den Frost den Hof draußen überziehen, lass die Grillen verstummen. Dein Vater und ich spielten wortlose Spiele, teilten Karamellbonbons, spionierten die wasserholenden Mädchen des Viertels aus. Wir entwickelten eine avancierte Zeichensprache, die nur wir verstanden.

Die Nächte deines Vater bestanden immer noch aus transpirierendem Aufwachen, der Erinnerung an den Schrei einer Mutter, an Funken und Flammen und nächtlich überquerte Grenzen. Seine Augen waren frequent von Tränen erfüllt, von den Erinnerungsbildern, die immer den Charakter der Undeutlichkeit trugen. Ich versuchte, ihn zu trösten, doch nur eine bestimmte Trauer kann getröstet werden. Andere nicht. Das ist des Lebens tragische Tatsache.

Hier biete ich an, dass du einige eigene Erinnerungen von eurem jährlichen Urlaub in Tunesien einfügst. Wenn du fürchtest, mit meiner metaphorischen Magnifizienz konkurrieren zu müssen, dann kannst du eine andere Schriftgröße verwenden. Memorierst du etwas von Jendouba?

Natürlich erinnerst du dich an Jendouba …

Die Stadt im Westen Tunesiens, in der Papas aufgewachsen sind. Die Stadt, wo verschrumpelte strohhütige Bauern schief auf Pferderücken sitzen und wo rote Traktoranhänger mit Eisenstangen klappern. Du erinnerst dich an den hektischen Souk, die Hadschis, die den weißen Schleier mit den Zähnen zusammenhalten, das Kino, in dem chinesische Kung-Fu-Filme mit deutschen Untertiteln gezeigt werden.

Du erinnerst dich an das Durchkneten im Hamam, das unaufhörliche herausreiben von schweißigem Schmutz, die haarigen Körper von Papas und dann auf der Ladefläche des Pick-ups zurück mit vorbeisausenden Kakteen und Bergen von Knoblauch.

Aber am stärksten ist die Erinnerung an Großmutter Cherifa, die so dick war, dass sie immer seitwärts durch die Tür ging. Cherifa, die dich mit einer Umarmung willkommen hieß und dich Felouse nannte und immer in deine Schwimmringe kniff, um das Unterhautfett zu kontrollieren und immer Papas ausschimpfte, weil du von all dem komischen schwedischen Essen praktisch zu Tode gehungert warst, Und du erinnerst dich an Großvater Faizal, den pensionierten Dorfschullehrer mit dem Arztkoffer, der Jendouba immer verteidigte und behauptete, die Stadt hätte in der Tat große Ähnlichkeit mit New York. So würden beispielsweise beide Städte sehr nah an einem Fluss liegen. Beide Städte würden von Idioten regiert. Beide Städte hätten gelbe Taxis. Beide Städte hätten ein großes Müllproblem. Und in beiden Städten könnte man sich nur schwer verlaufen – New York hat sein Schachbrettsystem, und wir haben unser geniales Alphabetsystem, und dann lächelt Faizal, sodass der weiße Schnurrbart zu einem zusätzlichen Lächeln über dem Mund wird, denn er muss natürlich nicht erklären, wessen Cousin es war, der sich das Straßensystem von Jendouba ausgedacht hat …

Und übrigens haben sich auch beide Städte einer langen Reihe von Kosenamen verdient gemacht. New York hat «The Big Apple», «The Melting Pot», «The World’s Capital», «The City That Never Sleeps». Jendouba hat «Das Arschloch», «Die Achselhöhle», «Die Sauna», «Der Enddarm», «Der Eselsarsch», «Der Grill», «Die Feuerstelle», «Der Backofen» oder vielleicht das ironische «Das Eisfach» von Papas. Und nur wenn Papas mal etwas extraakademisch sein wollten, dann sagen sie, dass ihr den Sommer im «Anus Rectum» verbringen werdet.

Und du erinnerst dich an alle Freunde von Papas. Die Fahrten vom Flugplatz in Omars Sechziger-Jahre-Mercedes mit von Klebeband gehaltenen Radkappen, das Willkommenscouscous bei Olfas Familie, die fluchenden Begrüßungen von Amine, die warmen Knie von Zmorda. Wie alle seufzen, wenn Nader wie üblich anfängt mit diesem Schneider anzugeben, der, man stelle sich vor, ohne einen extra Aufschlag Hosen mit unterschiedlicher Beinlänge näht. Und du erinnerst dich an noch so unglaublich viel mehr, die Tätowierungen auf dem gigantischen Bizeps von Sofiane, an den linken Arm von Dhib, der von den vielen Sonnenstunden im Taxi immer besonders braun ist, die Schlafnächte auf dem Dach und der Geruch frisch gewaschener Laken, Shishapfeifen mit Apfelgeschmack und die frisch gebackenen Kekse aus Emirs Fabrik. Die Abenddämmerungen auf den Verkehrsinseln der Hauptstraße, wo du mit Großmutter sitzt und mit krachendem Geräusch Stücke aus Wassermelonen brichst, die Kerne auf vorbeifahrende Autos spuckst, Dhibs Taxi zuwinkst, ihn mit Fruchtfleisch lockst, während der hellrosa Wassermelonensaft langsam den Unterarm hinunterläuft. Aber gehört irgendetwas davon in das Buch über deinen Vater? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich ist es besser, Kadir zu Anfang mal bestimmen zu lassen … Denn natürlich erinnerst du dich auch an Kadir. Der beste Freund von Papas. Der weiberhungrige Komplimenteverteiler im lila Anzug, der euch Mitte der achtziger Jahre in Schweden besuchte und der euch aus Gründen, an die du dich nicht erinnerst, wütend zurückließ. Was ist damals eigentlich geschehen?

In der nächsten Szene ist es Winter 1964. Auf den Gipfeln des Kroumiriebergs glänzt der Schnee und dein Vater lebt jetzt seit zwei Jahren bei Cherifa. Zwei Jahre völliger Stummheit. Zwei Jahre ohne das geringste Flüstern.

An diesem winterlichen Tag saßen alle vor Kälte zitternd im Speisesaal, wir nahmen unsere Mahlzeit ein und bliesen uns warme Luft in die Hände. Ich erinnere mich, wie dein Vater sich plötzlich levitierte und, obwohl das sehr illegal war, auf die Küche von Cherifa zumarschierte. Aus der Entfernung sah ich, wie er sich die vierzehnjährige Kehle räusperte, die Zunge losriss und … redete!

«Hrm … Könnte ich bitte noch Nachschlag bekommen? Ich bin nicht satt geworden.»

Seine Stimme war, von einer sehr breiten Heiserkeit abgesehen, ganz normal. Cherifas Lippen rundeten sich und klappten auf und zu wie bei einem erstaunten Fisch.

«Entschuldigung. Könnte ich bitte ein bisschen mehr Essen bekommen?», repetierte dein Vater, die Lautstärke der Stimme etwas höher gedreht.

«Wenn du mir keinen Nachschlag gibst, dann könnte es passieren, dass ich gewisse Gerüchte weitergebe … Niemand bekommt mehr Geschichten zu hören als der, von dem die Leute glauben, er sei stumm. Falls du verstehst, was ich meine? Denn du wirst doch nicht wollen, dass Faizal erfährt …»

Und hier wurde die Stimme deines Vaters zu einem unhörbaren Flüstern. Cherifas Verwirrung war so groß, dass sie tatsächlich (zum ersten Mal in der Geschichte der Welt) einen essenmäßigen Nachschlag bewilligte. Seit jenem Tag war dein Vater noch mehr von Cherifa favorisiert (und von Faizal noch mehr detestiert).

Warum retournierte die zungliche Effektivität deines Vaters so plötzlich? Ich habe keine Ahnung. Manchmal ist das Leben so eigensinnig und folgt nicht den Mustern, die buchlich adäquat wären. Im Buch machen wir es am besten so, dass wir, um beim Leser keine Verwirrung zu stiften, ein ganz klares Motiv für deines Vaters geheilte Zunge nennen. Wie wäre es, wenn wir deinen Vater in einen Wald marschieren und einen Kastanienbaum passieren lassen, dann bekommt er eine Kastanie auf den Kopf und schreit: «Au!» Und dann kannst du ihn ausrufen lassen: «Ach, eine Kastanie, wie symbolisch, dass gerade sie meine Stummheit kuriert!» Oder du kannst ihn von einer magischen Traumsequenz heimsuchen lassen, in der seine Zukunft in Form eines modernen joycehaften Bewusstseinsstroms vorgezeichnet wird: «Oh-oh-da-werde-ich-einer-schwedischen-Stewardess-den-Hof-machen-müssen-und-da-werde-ich-mit-Jürgen-Haber-mas-dinieren-und-da-werde-ich-doch-bestimmt-in-der-kanadischen-Botschaft-in-Ägypten-die-Dankesrede-für-einen-Fotopreis-halten! Da-ist-es-wohl-am-besten-wenn-ich-meine-Zunge-jetzt-zwinge-gesund-zu-werden!» Wähle selbst die Wegrichtung.

Mit der Gabe der Sprache wuchs die Freundschaft zwischen deinem Vater und mir zu einem felsenfesten Fundament. Ich fragte nie nach seines Schweigens Ursache, hingegen wollte ich alles über seine Eltern und seine Geschichte wissen. Und dein Vater breitete sie vor mir mit seiner ganz eigenen Stimme aus und mit Worten, die plötzlich geflossen kamen wie das Blut aus dem Fahrstuhl in Shining. Er erzählte von seinem Vater, Moussa, den er als einen wohlhabenden Algerier beschrieb, der sein Leben im internationalen Luftraum verbrachte und des Nachts einen luxuriösen Samtpyjama trug.

«Mein Vater, ach, mein Vater!», rief er, bis er die Aufmerksamkeit aller (abgesehen von dem halb tauben Amine) attrahiert hatte. Unseren eifrig lauschenden Ohren berichtete er von seines Vaters Karriere als chemischer Wasserreiniger. Schon bald leuchtete das Bild deines Großvaters in die ganze Welt hinaus, und er erhielt genügend Finanzen, um in frequente Süßigkeitenfabriken und Jukeboxgeschäfte zu investieren.

«Dann begegnete er auf einem Symphoniekonzert in Monaco meiner Mutter. Sie ist eines der weltschönsten Mannequins, als Tochter algerischer Eltern im amerikanischen Miami Beach geboren. Inzwischen ist sie Schauspielerin und eng mit Filmstars wie Grace Kelly und Humphrey Bogart befreundet. Habt ihr das hier eigentlich schon gesehen?»

Vor Stolz strahlend präsentierte dein Vater das abgegriffene Foto, das er ständig bei sich trug. Er erzählte, dass der Mann, der da schwarz beanzugt mit einer feinen europäischen Gesellschaft am Tisch saß, sein Vater Moussa war. Rechts von ihm saß der berühmte Filmstar Paul Newman und zu seiner Linken der zuckerwasserfrisierte Rocksänger Elvis.

«Und übrigens …», addierte er, nachdem er das Foto detailliert betrachtet hatte, «lasst euch nicht von dem naseuntersuchenden Leibwächter im Hintergrund stören.»

Deines Vaters Geschichten imponierten uns allen sehr. Unsere Augen leuchteten in Stereo, als wir riefen: «Mehr! Erzähl mehr!»

Die Konsequenz war eine weitere Stimulation des säuselnden Drachen, den man Phantasie nennt. Dein Vater fuhr fort:

«Mein Vater Moussa hat zudem bei der Weltmeisterschaft im Gewichtheben frequent Gold gewonnen und als Tigerdompteur gearbeitet. Er besitzt vier Pontiacs V8, zwei sind schwarz und der Rest rot. Derzeit wohnt er in einem luxuriösen Viertel in Paris, wo die Rasenmäher wie kleine Autos aussehen und man die Wochenenden auf dem Golfplatz oder der Rennbahn verbringt. Frauen aller Couleur schwimmen oben ohne in seinem Swimmingpool und reiben sich die Schultern mit kokosduftender Luxuscreme ein. Warum ich hierher lokalisiert wurde? Nach dem unglücklichen Tod meiner Mutter bei einem Autounfall wuchs in meinem Vater der Wunsch, mich durch die harte Schule der Armut gehen zu lassen. Aber schon bald … wann auch immer, vielleicht morgen oder nächste Woche wird seine Gestalt hier erscheinen, um mich in den Überfluss an Freiheit nach Frankreich zu holen. In der Gemeinsamkeit Harmonie werden wir Kinos besuchen und Filmstars treffen und Windsurfen lernen und seine große Kollektion an Luxusyachten ausprobieren. Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne mitkommen …»

Ich betrachtete deinen Vater und fragte (mit einem gerade frisch erwachten Misstrauen):

«Und wie hat er diesen Erfolg erlangt?»

Vorsichtig faltete dein Vater die Fotografie zusammen, retournierte sie in seine Tasche und antwortete:

«Mein Vater ist ein Triple an Talent: Wasserreiniger, Casanova und Kosmopolit!»

Warum nun entwickelte seine Zunge eine solche Menge an Wahrheitsentgleisungen? Ich weiß es nicht. Dafür können wir zwei interessante Tendenzen feststellen:

1. Alles, was im Leben deines Vaters eine politische Ausrichtung hatte, wurde ausgefiltert. Politik war für ihn ein Sumpf, in dem schon allzu viele aus seiner Umgebung versunken waren. Erst spät in seinem Leben sollte dein Vater seine Einstellung zur Politik ändern. Vielleicht zu spät.

2. Natürlich begriffen wir alle, dass die Worte deines Vaters nicht immer ganz korrekt waren. Trotzdem ließen wir uns hypnotisieren und stimulieren. Ist es nicht bizarr, wie der Phantasie Worte einen gewissen Trost herausrufen können? Und ist nicht diese Tatsache Grund dafür, dass es so überflüssige Dinge gibt wie Horoskope, Psychologen und Schriftsteller?

Ehe ich diese Kollektion von Informationen über die Kindheit deines Vaters terminiere, möchte ich noch etwas vital Wichtiges hinzufügen: Solltest du immer noch an der Genialität dieses Projektes zweifeln, so möchte ich unterstreichen, dass für meine Assistenz dabei KEINE Ökonomie entscheidend ist. Lass nicht deinen schwedischen Geiz die Zukunft unseres Buches beschneiden! Alles, was ich im Austausch dafür begehre, dass ich dir meine gesammelten Informationen über deinen Vater korrespondiere, ist, dass die Ehrlichkeit unseres Buches von maximaler Würze sein muss. Diese Garantie ist mir vital, denn falsche Gerüchte umschwärmen das Leben deines Vaters. Die WAHRHEIT und nichts als die WAHRHEIT muss unser Leuchtfeuer beim Schaffen eines literarischen Meisterwerkes sein. Kann mir dieses Gelübde in Stahl geritzt werden? Dann verspreche ich, dir in meiner nächsten E-Mail der Wahrheit Realität über die Vergangenheit deines Vaters zu korrespondieren. Sie wird sowohl dich als auch unsere zukünftigen Leser schockieren und entsetzen, um nicht zu sagen: stimulieren und erigieren.

Beste Grüße!

 

Danke für deine effektiv gelieferte Antwort! Es erwärmte meinen Humor, deine positive Respons auf meine buchliche Idee zu lesen (trotz deiner schlampigen Grammatik und der Abwesenheit von Versalien nach dem Punkt). Ist «Wzup dawg?» eine frequent benutzte Grußformel im modernen Schweden? Wie dem auch sei, bin ich doch sehr glücklich über unsere wiedergefundene Beziehung. Sich mit dir zu verständigen ist fast, wie sich mit deinem Vater zu verständigen, und dies betäubt die Sorge, die ständig in meiner Seele pocht. Du hast wohl immer noch kein Lebenszeichen von ihm gewonnen? Letzte Nacht träumte ich, dass er von einer irregeleiteten Machete in einem brasilianischen Wellblechdorf getötet worden ist. Ich erwachte in Transpiration gebadet und hoffe zutiefst, dass dieser Traum nur ein Traum war …

Ich hege breites Verständnis dafür, dass du «nichts garantieren kannst», und dass du im Moment «brutaaaal wenig Lust hast» (sic!) an das Schreiben von Buch Nummer zwei zu denken. Genau deshalb ist es ja so ein Glück, dass ich dir assistieren kann. Schon schwerer zu verstehen ist dein vulkanischer Zorn gegen dein Verlagshaus. Warum so wütend darüber, dass Norstedts deinen Roman als «den ersten Roman, der in waschechtem Rinkebyschwedisch geschrieben wurde» präsentiert? Das ist doch nur deren Methode, das Interesse der Rezensenten zu wecken. Hör nur schnell auf, sie als «Hurstedts» zu bezeichnen. Und nein, auch «bürgerliche Swedlowidioten» ist kein adäquater Name. Retourniere deinen jugendlichen Zorn in das Schließfach, das wir Selbstkontrolle nennen! ist das jene lawinenmäßige Wut, der dein armer Vater in deiner Teenagerzeit ausgesetzt war? Es kann nicht gerade leicht gewesen sein als dein Vater.

So macht es mich noch trauriger, nun, acht Jahre später, lesen zu müssen, wie du ihn als einen «verdammten, unverzeihlichen Feigling» bezeichnest. Väter und Söhne sollten ihre Zeit miteinander teilen und nicht gegeneinander! Ich habe großes Verständnis für die Magnitude eures Konfliktes. Aber soll eure Beziehung denn nie wiederhergestellt werden? Dein Vater ist immer noch dein Vater, wenn er auch gewisse Fehler in sein Leben eingebaut hat. Aber wer hat das denn nicht? Leider kenne ich den Charakter des Stolzes von deinem Vater – der macht gewisse Dinge unmöglich (und einen Sohn mit einer Entschuldigung zu kontaktieren ist eins davon).

Du fragst dich misstrauisch, was ich denn davon habe, wenn ich dir helfe («what’s in it for you, eigentlich»). Lass mich antworten, indem ich meinen Alltag beschreibe: Ich bevollmächtige ein kleineres Hotel in Tabarka. Ich bin vierundfünfzig Jahre. Ich habe Ökonomie gespart, dass meine Rente versichert ist. Ich habe keine Familie, hingegen einen Pass, der ohne Visum nicht in vielen verlockenden Ländern willkommen ist. Somit folgt mein Arbeitstag dem Muster der Tradition: Ich wache auf, platziere meinen Körper in der Rezeption, ich nehme Schlüssel entgegen, ich dirigiere einige Touristen zu Sehenswürdigkeiten, ich zeige der Putzfrau die gerade verlassenen Zimmer. Aber meistens sitze ich still da und surfe durch das weltweite Netz. Ich lade witzige japanische Werbefilmchen herunter, lese in den amerikanischen Sensationsblättern über J-Lo und Paris Hilton, schaue The Worst of Jerry Springer und entdecke unbrauchbare Fakten. (Weißt du, was der Weltrekord im Bananenessen ist? Nur dreiundzwanzig Stück.) Somit habe ich große Quantitäten an überflüssiger Zeit, die ich gern dafür opfern würde, der Schweden Sphäre wieder zu besuchen und dir die Geschichte deines Vaters zu vermitteln. Das bin ich ihm schuldig. Wenigstens das.

Deine Anweisung, dass das Buch einen «derbst deutlichen dramaturgischen Spannungsbogen» braucht, hat mich bei der Präparation des beigefügten Dokumentes beeinflusst. Ich schlage vor, dass das Kastanienthema der rote Faden sein kann, mit welchem die Episoden im Leben deines Vaters miteinander verflochten werden. Ich bin auch der Ansicht, dass das Bedürfnis mancher Personen an Anonymität verletzt werden könnte, wenn wir ihre richtigen Namen verwenden. Lass uns deshalb das Buch «Fiktion» nennen und einige Namen modifizieren. Wie sollen wir deinen Vater nennen? Um seine spätere Übersiedelung nach Schweden zu prophezeien, proponiere ich den symbolischen Namen «Abbas». Dann können wir nämlich schreiben: «Der Name meines Vater trug also die Ähnlichkeit mit der schwedischen Popgruppe, die später mit Hits wie Dancing Queen und Bang-a-Boomerang die Tanzflächen der siebziger Jahre aufmischten. War das ein Zufall oder ein Wink des Schicksals? Darauf werden wir später noch zurückkommen …» Wir können ihn auch Hammah nennen. Oder Bilal. Oder vielleicht Robert nach seinen Idolen Robert Frank und Robert Capa?

Anbei findest du die Wahrheit über deinen Vater. Lass dich von der Surprise nicht schockieren.

 

Dein sehr stabiler Freund

Kadir

 

PS: Ich übertrage dir positive Gedanken und reserviere meine beiden Daumen für den kommenden Veröffentlichungstag. Gutes Glück!

 

PS 2: Ich nehme an, dass wir unsere Beziehung auf Schwedisch fortsetzen? Dein naiv schnörkeliges Arabisch wird uns beim Erschaffen eines Buches wohl kaum dienlich sein.

Im Verlauf des Frühjahrs 1965 wachte dein Vater weiterhin des Nachts auf. Die Differenz war nur, dass er jetzt sowohl sich selbst als auch uns andere wach schreien konnte. In manchen Nächten sah ich heimlich zu ihm hinüber, wie er da nass von Transpiration mit aufgerissenen Augen lag. Wenn die Dämmerung kam, lokalisierte er sich am Fenster und sah über den Hof. In einer Nacht schlich ich vorsichtig zu deinem Vater, wie er da mit auf und ab zuckenden Schultern im Fenster zusammengekauert saß. Sein Weinen geschah leise, und in der Hand umklammerte er seine angebetete Kastanie.

«Wie ist es eigentlich um deine Gesundheit bestellt?», flüsterte ich mit der Fürsorge eines Bruders.

Abbas trocknete schnell seine Tränen und versuchte, wieder zur Normalität zurückzukehren.

«Sehr gut. Danke der Nachfrage.»

«Und warum wirst du von solchen wiederkehrenden Albträumen gejagt?»

Dein Vater schaute auf seine Kastanie herab und sagte: «Kannst du ein Geheimnis bewahren, das du niemandem erzählen darfst?»

«Ich verspreche es.»

«Bei aller existierender Ehre bis in alle Ewigkeit?»

«Ich verspreche es.»

«Ich war nicht ganz ehrlich, mit meiner Geschichte …»

«Inwiefern?» (Und ich muss zugeben, dass ich hier die Art von Freude empfand, die man verspüren kann, wenn Misstrauen bestätigt wird.) «Ist das nicht dein Vater auf der Fotografie?»

«Doch, das ist er. Und er ist Algerier. Aber … Er sitzt nicht mit Elvis und Paul Newman zusammen. Weißt du, wer da neben ihm sitzt?»

«Nein.»

«Das sind Maurice Challe und Paul Delouvrier.»

«Oh!»

«Kennst du die?»

«Äh … nein. Wer ist das?»

Dein Vater erklärte, dass Challe und Delouvrier die beiden französischen Gouverneure waren, die vor der Befreiung für die algerische Kolonie verantwortlich gewesen waren.

«Willst du wissen, warum mein Vater mit ihnen zusammensitzt? Weil er ein Harki, ein Verräter, war. Ein Jasager. Ein Kollaborateur. Stell dir vor, was Cherifa machen würde, wenn sie das wüsste … Oder Sofiane …»

In den nun folgenden Stunden flüsterte dein Vater mir seine ganze wahre Historie in die Ohren. Er erzählte, dass er in einem algerischen Bergdorf nahe der tunesischen Demarkationslinie geboren wurde. Der Name seiner Mutter (deiner richtigen Großen-Mutter!) lautete Haifa. Sie war eine mächtig starke Frau, die sich mit ihrem Lebenskontext schlug wie der Wrestler und Schauspieler Hulk Hogan. Haifas Ideale waren nie die der Tradition oder der Religion. Haifa pflegte westliche Gewohnheiten und würzte ihre Ausrufe mit französischen Phrasen, und das rief den Zorn des Dorfes hervor. Doch Haifa ließ sich nicht zum Schweigen bringen.

Eines Tages verkündete sie Abbas stolz, dass der Name des Mannes, der ihre Gravidität besiegelt hatte, Moussa war. Sie waren zufällig zusammengekommen, als sie Algier besucht hatte. Moussa hatte ihr eine gemeinsame Zukunft mit Heirat und luxuriösem Leben versprochen. Nach ihrem erotischen Rendezvous retournierte Haifa mit regenbogenbunten Zukunftsträumen in ihr Heimatdorf. Leider erwies es sich, dass Moussas Worte Versprechungen jenes besonderen Charakters waren, die wir Lügen nennen können. Haifa wurde von ihrer Familie isoliert, und der Einzige im Dorf, der sich ihrer Gesellschaft nicht verweigerte, war ein junger, armer Nachbarsbauer namens Rachid.

Parallel wurde Moussas Exterieur immer mehr zu dem Algerier, der die Politik der Franzosen präferierte. Moussa verteidigte eifrig den Zivilisationsauftrag Frankreichs und weigerte sich, es eine zwangskultivierende Besatzungsmacht zu nennen. Er vermietete seine Zunge an die Franzosen und sättigte so seinen Geldbeutel.

Ich unterbrach Abbas:

«Bist du deinem Vater je begegnet?»

«Ja. Einmal machte er in unserem Dorf eine Visite. Aber mein Alter war damals nur gering, und ich erinnere mich nicht an viel von jenem Tag. Ich glaube, dass wir im Restaurant aßen. Und ich erinnere mich, dass er auf der Brust einen kräftigen grauen Bart hatte. Zwei Leibwächter eskortierten seine Schritte. Und ich erinnere mich, dass er mir diese Kastanie reichte. Das ist aber alles.»

«Warum eine Kastanie?»

«Weil … Keine Ahnung. Ich wünschte, mein Gedächtnis würde eine größere Deutlichkeit bereithalten.»

In der Hauptsache waren es die Geschichten deiner Großen-Mutter über Moussa, die die Seele deines Vaters beeinflussten. Die Erkenntnis, dass er einen Vater mit internationalem Renommé hatte, erhob ihn zu raketengleichem Stolz (mehr, als dass er sich schämte). Dein Vater wurde von einer kosmopolitischen Euphorie gejagt, die seine Emotion, anders zu sein als alle anderen, maximierte. Viele im Dorf machten Schlägereien und demonstrierten, sie diskutierten mit eifrigen Zungen der Franzosen Widerlichkeit und riefen das Verlangen nach Freiheit vom Kolonialismus. Dein Vater aber sah alles Politische wie einen Virus. Schon als Kind gelobte er sich selbst, NIEMALS seine Flügel mit dem verschütteten Öl der Politik einzureiben. Stattdessen phantasierte er von der internationalen Umwelt.

(Geflüsterte Parenthese: Kennst du die Emotion, nicht an der Generalität seiner Umgebung teilzuhaben? Dann kultiviere das auf jeden Fall beim Schreiben! Etwas zu gestalten, was von der eigenen Erfahrung völlig getrennt ist, ist ein unmögliches Vorhaben, ungefähr so, wie nicht zu lachen, wenn man die Alarmfrisur von Kramer in Seinfelds sieht.)

Dein Vater setzte seine Erzählung mit der turbulenten Zeit fort, die die fünziger Jahre in Algerien abschlossen. Da herrschte politisches Chaos, Demonstrationen überflossen die Straßen und Terror erschütterte den Alltag des Volkes. Im Heimatdorf deines Vaters richtete sich der Zorn der Leute auf die Franzosen gegen deinen Vater und deine Großen-Mutter. Aber Haifa weigerte sich, sich anzupassen, sie salutierte weiterhin den Franzosen, sie schmückte ihre Sprache mit französischen Phrasen und hob stolz hervor, dass ihre Genetik auf jeden Fall eher global als algerisch sei, eher kosmopolitisch als arabisch.

1962, als das Alter deines Vaters das eines Zwölfjährigen war, wurden die Eviandiskussionen terminiert. Die Franzosen versprachen, die Macht loszulassen. Die Befreiung war in Algerien ein Faktum. Die Konsequenz war ein Chaos, das wir typisch arabisch nennen können. Das Blut des Machtkampfes. Weitere Manifestationen. Noch mehr Terror. In diesem Sommer fünfzehntausend Tote durch FLN-Angriffe. Bis Ben Bella die Macht übernahm, seinen Einparteienstaat initiierte und alle Parteien außer der FLN ungesetzlichte. (Schreib mir … ohne dich enervieren zu wollen und ohne uns hei diesen aufreibenden Diskussionen, die du mit deinem Vater gehabt hast, aufzuhalten: Welches Volk ist wackliger in der Demokratie als die Araber? Es ist mir ein Rätsel, warum du hier nicht der Meinung deines Vaters bist.)

Das Verhalten vieler französischer Kollaborateure oder Jasager wurde verziehen und vergessen, um ihnen die Zukunft einer kontinuierlichen bürokratischen Karriere zu sichern. Nur einige wenige wurden von den Zeitschriften in den Farben der Schande gezeichnet. Einer von ihnen war dein Großen-Vater Moussa. Er hatte offenbar das Land verlassen, und nun wurde er in Artikeln und Karikaturen wie ein Hund an der Leine Frankreichs dargestellt. Die Konsequenz aus jenen Kampagnen? In typisch arabischer Manier ließ sich das Volk wie dumme Schafe an der Nase herumführen. Sie fingen an, vor dem Haus deiner Großen-Mutter Demonstrationen abzuhalten. Sie beschimpften deine Großen-Mutter, nächtliche Rufe echoten durch die Straßen des Stadtviertels. Einmal wurde ihre Tür mit schlecht riechenden Substanzen koloriert, die keine weitere Beschreibung verdienen.

Gleichzeitig begann Haifa, sich um die mentale Stabilität deines Vaters zu sorgen. Im Schlaf absolvierte er Expeditionen, phantasierte Schattenfreunde herbei, mit denen er Konversation betrieb. Einmal kleidete er sich sogar in die Schleier deiner Großen-Mutter und versuchte, sich als Frau zu maskieren. Die einzige Person, die Haifa noch Visiten abstattete und sie in dieser problematischen Zeit unterstützte, war Rachid, der arme Nachbar.

Leider war Rachid in jener Nacht absent, als ein Unsichtbarer sich in Haifas Haus schlich, die Gasleitung punktierte, dann eine Zigarette anzündete und auf die einschläfernden Gase wartete. Der Unsichtbare warf die Zigarette in das Haus und verschwand dann spurlos in den Schatten der Nacht, begleitet vom Schein des wild aufflammenden Feuers. Und wer rettete in letzter Minute deinen Vater aus den Feuern der Explosion? Der gerade erwachte Nachbar … Rachid.

«Und Rachid war es auch, der dich hierher nach Jendouba brachte?»

«Ja, das glaube ich. Aber ich erinnere mich nicht wirklich», flüsterte dein Vater in jenem rauen Tonfall, den man in der Morgendämmerung bekommt, wenn man viele Stunden allein gesprochen hat. «Ich erinnere mich, dass ich mich übergeben habe. Und ich erinnere mich, dass du mich da draußen im Eingang begrüßt hast. Alles, was ich von meinem Zuhause besitze, ist dieses Foto und diese Kastanie …»

Auf den Nachbarhöfen räusperten sich die Hähne, und meine Augen juckten vor Müdigkeit und fühlten sich sandig an. Trotzdem wollte ich nicht schlafen. Noch nicht. Ich sagte:

«Wie bizarr, dass unsere gegenseitigen Geschichten gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Auch meine Familie wurde in einem explosiven Brand als Konsequenz der Kolonialzeit ausgelöscht …»

«Hm.»

«Hallo, hörst du zu?»

«Hm.»

Aber eigentlich saß dein Vater wie verzaubert von dem Foto da. Ich wollte ihn weder stören noch allein lassen. Also wartete ich. Was ihn schließlich aus seinem Dämmerzustand weckte, waren pompöse Blähungen von Omars Matratze. Wir lächelten uns an, und ich sagte:

«Komm, lass uns versuchen, ein wenig Schlaf einzufangen, ehe aus der Dämmerung ein Morgen wird.»

Ich erinnere mich sehr gut an die Details des Fotos. Es war körnig und graufleckig, schief aus einer algerischen Zeitschrift ausgeschnitten. Der Zahn der Zeit hatte seine Ränder ausgefranst, seine Farben vergilbt und seine Ecken umgeknickt. Moussa saß weißlächelnd schwarz beanzugt, mit sichtbarem Fingerring, an der einen Seite Challe mit dünnem Schnurrbart und auf der anderen der streng zuckerwasserfrisierte Delouvrier. Eigentlich war das Foto ganz gewöhnlich. Abgesehen von dem Detail, das ich komisch fand, das deinen Vater aber frustrierte: Im Hintergrund die Konturen des anonymen Leibwächters, der sorgfältig das Interieur seiner Nase untersuchte. Sein ganzer Zeigefinger war in dem schwarzen Loch verschwunden, und das bedrohte, so dein Vater, die Exzellenz des Bildes. «Wie kann ein so kleiner Defekt eine so große Konsequenz haben?», pflegte dein Vater zu interpellieren, ohne dabei jedoch eine Antwort zu erwarten. Hat er dir jemals dieses Foto gezeigt? Vielleicht können wir es lokalisieren und in das Buch einsetzen? Oder du kannst hier in einer anderen Schriftform deine Erinnerungen an das Foto niederschreiben.

Und du erinnerst dich an Papas, die viele Jahre später den Kleiderschrank umbenennen und anfangen, ihn Leiderschrank zu nennen. Hinter der Tür mit dem Hängeschloss liegen die Otis-Redding-Platten auf Tonband, kleine Parfümflaschen mit abgeschabten Etiketten und Tausende und Abertausende Fotonegative. Denn Papas haben erklärt, dass richtige Profis niemals ein Negativ wegwerfen. Und dann ist da das alte Foto aus einer arabischen Zeitung, auf dem drei lächelnde Männer in einem Restaurant zu sehen sind. Das Papier ist so abgegriffen, dass der Text fast durchscheint. Wer sind die Männer auf dem Bild? Papas räuspern sich nur, stecken das Foto in den Umschlag zurück und halten ihre Kastanie hoch. Eine kleine schrumplige Kastanie, die sich nicht einmal sonderlich weich anfühlt, und du fragst Papas: Warum hast du eine Kastanie aufgehoben, die schon verrottet und schrumplig aussieht? Papas erklären: Das hier ist keine gewöhnliche Kastanie, das ist eine magische Glückskastanie. Die trage ich schon mein ganzes Leben in meiner Tasche und einmal habe ich sie benutzt, um mir auf den Straßen von Jendouba meine erste Glasmurmel zu erspielen, und beim Wehrdienst habe ich sie, als ich einen General angegriffen habe, der versuchte, eine Frau zu vergewaltigen, als Munition in einer Schleuder benutzt, und als ich deiner Mutter zum ersten Mal begegnet bin, habe ich damit nach ihr geworfen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Und du weißt nicht, ob Papas Witze machen oder nicht, aber er lacht, und also lachst du auch, und er wirft die Kastanie hoch in die Luft und schafft es genau dreimal zu klatschen, ehe sie sicher in seinen Händen landet.

Welche Erklärung hat dein Vater dir denn für seine Jahre des Aufwachsens bei Cherifa gegeben? Hat er vielleicht nicht einmal erzählt, dass er eigentlich in Algerien geboren wurde? Liest du vielleicht diese Worte jetzt im Schock darüber, dass Cherifa nicht deine richtige Großen-Mutter ist? Wenn das der Fall ist, dann möchte ich dich an etwas Wichtiges erinnern: Für welche Version sich dein Vater auch entschieden hat, bin ich doch derjenige, der der Wahrheit Realität darstellt. Vergiss niemals, dass dein Vater immer die Wahrheit als Ideal hatte. Doch manchmal hat der Wahrheit Komplikation ihn zu Lügen gezwungen. Okeydokey?

Beste Grüße!

 

Ich preise die Publikation deines Debütromans! Würdige meine vielfältigen Gratulationen! Wie fühlt es sich an? Wie die Knusprigkeit von Nutella-Crêpes in einem sonnigen Park? Wie der Überraschung Nackenkuss in sommerlichem Fliederduft? Wie Wind im Haar, wenn man in der Sonne Untergang freihändig Brücken herunterradelt? Oder schmeckt es feucht und schimmlig wie ein Antiklimax auf einem alten Dachboden?

Ich warte immer noch deine Reaktionen auf mein letztes Dokument. Während ich wartete, habe ich die Rezensionen im Internet gelesen und dabei eine gewisse … Ambivalenz bemerkt. Trotz deiner Proteste wirst du dafür gefeiert, ein Buch in «waschechtem Rinkebyschwedisch» geschrieben zu haben. Ganz offensichtlich hast du die «Geschichte der Einwanderer» mit einer Sprache zum Leben erweckt, die so klingt, als würde man in ein willkürliches Einwandererviertel «ein Mikrophon» halten. Hast du nicht geschrieben, dein Buch würde von einem in Schweden geborenen Mann handeln, der mit Intention seine Sprache bricht? Was ist denn mit deiner angeblichen Exploration des «Authentizitätsthemas» geschehen?

Auf der Website von Norstedts habe ich einen Auszug aus deinem Roman gefunden. Meine Meinung ist … hm … ich will ehrlich sein und den Achtziger-Jahre-Hit von Yazz summen: «The only way is up, yes?» Dein Roman scheint mir von Inkonsequenzen ausgehöhlt und mit genau den hässlichen Wörtern verschmutzt, die dein Vater verurteilte. «Tunten?» «Ficken?» Warum verwendest du in dem Buch genau die Sprache, die dein Vater am meisten hasste? Kein Wunder, dass die Leute dich «missverstehen».

Eine andere Frage betrifft deine Interviews. Warum in solcher wachsenden Multitude? Hast du nicht geschrieben, dass du dich niemals von irgendeiner «verdammten fucking bürgerlichen Spießerzeitung» interviewen lassen würdest? Sollte nicht die anonyme Transparenz getreu deinem Idol Thomas Pynchon dein Ideal sein? Aber jetzt wird deine bartlose Figur sogar in derart revolutionären Magazinen wie Die Welt der Frau dargeboten. Bist du schon von deinen Prinzipien abgewichen? Du musst zugeben, dass das schneller ging als prophezeit! Wer ist denn jetzt der «Verräter»? Immer noch dein Vater? Oder seid ihr im Grunde dasselbe geschrotete Korn?

 

Respondiere mir bald.

Dein besorgter Freund

Kadir

 

PS: Noch eine letzte Frage. Wie ist dein Prinzipalcharakter eigentlich benannt? Halim oder Hamil? Hamid oder Harim? Die schwedischen Journalisten scheinen auf rührende Weise darüber uneins.

In der nächsten Szene versetzen wir den Leser in das Jahr 1969. Nach seinem Militärdienst hat dein Vater beschlossen, Jendouba den Rücken zu kehren.

 

Schreibe:

«In Jendouba gab es Imame und Feigen, Schnurrbartfrauen und Stechpalmen, müde Ochsen und zyklische Wüstenstürme. Doch es gab dort nichts, das meinem Vater ein Zuhause war …»

In frappanter Großzügigkeit hatte Cherifa ihm versprochen, ihm den Besuch juristischer Kurse in der Großstadt Tunis zu finanzieren. Wir verabschiedeten uns, gelobten aber unser baldiges Wiedersehen.

Ich selbst bemühte mich um eine Arbeit in Emirs Keksfabrik. Mit der Versicherung des Handschlags und mit in doppelter Hinsicht weißer Weste informierte ich Emir, dass ein expertischer Kekssortierer für eine kleine Schmeichelei zur Anstellung bereit stünde. Zehn Minuten später stand ich mit schmutzigweißer Schürze und Papiermütze auf dem Kopf zum ersten Arbeitstag am Fließband geparkt. Die Hitze in der Fabrik war höllisch, der Rauch qualmte von den Metallblechen im Ofen auf, die umgedreht wurden und donnerten und ungefähr alle zehn Sekunden neue Kekse unterschiedlicher Sorte ausspuckten. Ganze Tage lang sammelte ich Kekse in Kartons, immer vier von jeder Sorte, nicht mehr, nicht weniger. Derweil drehte Emir seine Runde und kontrollierte die Mengen an aufgestapelten Keksen. Meine Fingerspitzen waren bald hart wie die Fingerspitzen von berühmten E-Gitarristen.

Es war in der Keksfabrik, wo ich im Sommer 1970 die Verbindung zu deinem Vater neu knüpfte. Bis heute memoriere ich, wie er mürrisch die Fabrik enterte, sich eine Papiermütze aufsetzte und ihm die Position zu meiner Rechten zugeteilt wurde.

«Abbas!», rief ich. «Preise meine Glückwünsche zu deiner Rückkunft nach Jendouba! Was ist aus deinen juristischen Studien geworden?»

«Wer bist du?»

Die Zunge deines Vaters war inzwischen von einem gewissen übertriebenen Großstadtakzent verdunkelt worden.

«Aber ich bin es doch! Kadir, dein antiker bester Freund!»

«Ja, ach ja, jetzt erinnere ich mich an dich.»

«Warum so kummervoll?»

«Entschuldige. Aber meine Laune ist weit entfernt von Sonnenschein. Politische Turbulenzen haben Cherifas Ökonomie belastet. Sie hat kein Geld mehr, und deshalb bin ich gezwungen, meine Studien auszusetzen, um hier als ein idiotischer Kekssammler zu stehen. Gefangen in dieser verdammten, miserablen, räuberhöhligen, deprimierenden, anusheißen, widerlichen Höllenstadt.» (Hier fugte dein Vater noch einige Insultationen an, an die ich mich jedoch nicht mehr erinnere.)

«Aber … eine Freude gibt es doch wenigstens … nicht wahr?»

«Und welche?»

«Na, dass wir unsere Freundschaft wiedergefunden haben.»

«Gewiss», murmelte dein Vater (aber ich habe den Verdacht, dass seine Freude sich mit meiner nicht ganz messen konnte).

 

Schreibe mir … Besitzt du irgendwelche fotografischen Darstellungen des Exterieurs deines Vaters als Zwanzigjährigem? Seine Ausstattung war … ja. Wie soll ich es beschreiben … bravourös in seiner Exzellenz. Alle anderen Bauernjungen in der Keksfabrik bildeten eine Einheit aus Kurzhaarfrisuren und Badeschlappen. Dein Vater, frisch aus Tunis nach Hause gekommen, war anders. Er war der erste Mann in Jendouba, der eine Frisur mit so langen Haaren präsentierte. Seine schwarzen Locken krausten sich feminin, und (informiere ihn niemals darüber) als ich ihn wiedersah, wuchs ein Verdacht in mir, dass er mit Homosex infiziert worden war. (Ist es nicht interessant, wie er dir seine Vorliebe für langes Haar vererbt hat? Und dass die Fotos, die er von dir in deinen pickeligen Teenagerjahren demonstrierte, in mir exakt denselben Verdacht aufkommen ließen?)

Deines Vaters Wangen hatten zwei lächelnde Grübchen, die er aber nur den Frauen zeigte, die in den Pausen Cassecroûtes verkauften. Seine Beine trugen Bluejeans im topmodernen europäischen Modell mit Schlag und seine Koteletts waren von wachsender Größe, die an den frühen John Travolta oder den späten Marvin Gaye erinnerte. Seine Zunge offenbarte ein plötzliches Wissen über zahlreiche europäische Schriftsteller, Künstler und Dichter. Viele waren beeindruckt von der neu gefundenen Person deines Vaters. (Sogar ich.)

 

Schreibe wie folgt:

«Lassen Sie uns nun das jugendliche Exterieur meines Vaters beschreiben. Als er aus Tunis zurückkehrte, waren seine Wimpern Bögen von Schwarze, seine Lider Vorhänge über braunen Samtbrunnen, seine Körperlichkeit die eines wachsenden griechischen Gottes. Seine Mentalität war die eines kosmopolitischen Künstlers und sein Gesicht erinnerte mindestens an den jungen Antonio Banderas.»

(Die Schüchternheit deines Vaters würde jetzt natürlich seine Wangen röten, und er würde bei dieser Beschreibung ganz und gar nicht meiner Meinung sein.)

Doch teilten wir nur wenige Worte bis zu jenem herbstlichen Tag, an dem der Fotograf Papanastasopoulou Chrysovalanti Jendouba besuchte. Kennst du das Werk dieses Fotografen? Eins weiß ich ganz sicher – sein Name MUSS im Buch vereinfacht werden.

Das Gerücht von Papanastasopoulous Ankunft wurde in Straßen und auf Plätzen geflüstert, seine Gestalt wurde gesehen, wie sie mit der Kamera als freundlicher Waffe über Souks und Äcker wanderte. Es wurde geraunt, man könne des Nachts seine fotografischen Blitze den Himmel erleuchten sehen, bei dem Versuch, die mondbeschienene Silhouette des Kroumirieberges einzufangen. Straßenjungen folgten seinen Schritten und spielten Scharaden in der Hoffnung, der Knipslaut würde ihre Gestalten für die Exhibition verewigen, die zu erstellen er vom griechischen Kulturinstitut beauftragt worden war. Gewisse traditionsliebende Zungen murmelten Haram und berichteten, wie der Grieche versucht habe, Hadschis vor der Moschee zu fotografieren, obwohl sie versucht hatten, ihre Gesichter zu verbergen.

Die nächste Szene ist ein regulärer Arbeitstag; die Metalltabletts werden gedreht, und es rollen packbare Kekse herunter, der Schweiß läuft über unsere Gesichter, die Uhr tickt langsam, Emir flucht im Büro, und dein Vater trägt seine eigenprahlerischen, immer zerschlissener werdenden Gigolojeans. Nach dem Mittagessen wendet er sich zu mir:

«Weißt du, wessen Gestalt in das Atelier des Griechenfotografen geladen wurde, um für die Zukunft verewigt zu werden?»

Ich verneinte, und dein Vater strahlte:

«Meine!»

Ich verkündete meine Glückwünsche zu diesem Glück deines Vaters und erkundigte mich über die Möglichkeiten, deinen Vater als Gesellschaft zur Fotosession beim Griechen zu eskortieren. Dein Vater beriet sich mit seinen Gedanken und erließ dann seine positive Respons.

Nach Beendigung der Arbeit gingen wir zusammen zu der terrassenartigen Wohnung, die der Fotograf für zwei Wochen zu astronomischem Preis von einem örtlichen Schneider gemietet hatte. Die Tür wurde von einem geölten griechischen Mann um die vierzig geöffnet, enges Hemd mit Blumenmotiv und scharfe eckige Zähne, die sein großes Lächeln blitzen ließen (und dann abrupt verschwanden, als er begriff, dass wir zwei Jungen waren, die zu Besuch gekommen waren).