Ich rufe meine Brüder - Jonas Hassen Khemiri - E-Book

Ich rufe meine Brüder E-Book

Jonas Hassen Khemiri

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Beschreibung

In Stockholm ist ein Auto explodiert. Amor, der Ich-Erzähler des Romans, irrt durch eine Stadt, die von Paranoia gelähmt ist. Er muss eine Bohrmaschine umtauschen. Und er muss ans Handy gehen, wenn Shavi anruft. Er muss aufhören, seine Freundin Valeria zu stalken. Doch das Allerwichtigste: Er darf keine misstrauischen Blicke auf sich ziehen. Aber was ist schon ein normales Verhalten? Und wer ist ein potentieller Täter?

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Jonas Hassen Khemiri

Ich rufe meine Brüder

Roman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

Über dieses Buch

«Einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Generation.» (Sydsvenskan)

 

In Stockholm ist ein Auto explodiert. Amor irrt durch eine Stadt, die von Paranoia gelähmt ist. Er muss einen Bohrkopf umtauschen. Und er muss ans Handy gehen, wenn Shavi anruft. Er muss aufhören, seine Freundin Valeria zu stalken. Doch das Allerwichtigste: Er darf keine misstrauischen Blicke auf sich ziehen. Aber was ist schon normales Verhalten? Und wer ein potenzieller Täter?

 

Für 24 intensive Stunden verschwimmen in Amors Kopf die Grenzen zwischen Opfer und Verbrecher, Liebe und Chemie – und zwischen Paranoia und Realität.

 

«Ein vielschichtiges und sprachmächtiges Spiel über eine Gesellschaft in Angst.» (Welt am Sonntag)

Vita

Jonas Hassen Khemiri ist einer der bekanntesten und meistgelesenen jungen Schriftsteller Schwedens. Seine Romane «Das Kamel ohne Höcker», «Montecore» und «Alles, was ich nicht erinnere» wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Khemiris Stücke, zu denen auch eine bearbeitete Fassung von «Ich rufe meine Brüder» gehört, wurden weltweit in mehr als einhundert Theatern gespielt.

Danke, Farnaz Arbabi

(Inszenierung, Gespräche, Geschwisterschaft)

Ich rufe meine Brüder an und sage: Da ist neulich was passiert. Habt ihr gehört? Ein Mann. Ein Auto. Zwei Explosionen. Mitten in der Stadt.

 

Ich rufe meine Brüder an und sage: Nein, niemand wurde festgenommen. Niemand wird verdächtigt. Noch nicht. Aber jetzt geht es los. Macht euch bereit.

Shavi

Es war Shavi, der es mir erzählt hat.

 

Hallo?

 

Er hat angerufen. Ich stand auf einer Tanzfläche. Es war spät in der Nacht, oder eigentlich: früh am Tag.

 

Geh ran, wenn du da bist, es ist wichtig.

 

Ich war betrunken, er hat angerufen, ich hab getanzt, er hat noch mal angerufen.

 

Geh ran!

 

Ich stand auf der Tanzfläche, ich spürte es vibrieren, ich sah aufs Display, aber ich …

 

GEH RAN!

 

Ich bin nicht rangegangen.

 

Verdammter Verräter.

 

Ich meine.

 

Was machst du?

 

Wäre es jemand anderes gewesen, wäre ich wohl rangegangen.

 

Bist du unterwegs?

 

Wenn es Mama gewesen wäre. Oder meine Brüder. Oder …

 

Mit wem bist du unterwegs?

 

Mit irgendwem.

 

Erzählst du mir gerade, dass du an einem Samstagabend alleine unterwegs bist? Fett peinlich.

 

Aber stattdessen war es Shavi.

 

Schwör, Bruder, du bist Abschaum.

 

Also, versteh mich nicht falsch. Wir sind immer noch beste Freunde.

 

Das stimmt.

 

Ich liebe ihn wie einen Bruder.

 

Korrekt.

 

Er ist mein Bruder.

 

Exakt.

 

Fast so, wie meine Brüder meine Brüder sind.

 

Genau. Wir gehen füreinander durchs Feuer, und jederzeit, an welchem Tag auch immer, würden wir füreinander sterben, ist doch so?

 

Hm. Oder. Vielleicht nicht sterben. Für meine Brüder würde ich sterben. Für Mama würde ich sterben. Aber für Shavi?

 

Komm schon, Bra.

 

Also. Wir sind im selben Viertel aufgewachsen. Wir kennen uns. Ich geh für ihn durchs Feuer und er für mich.

 

Word.

 

Und jederzeit, an welchem Tag auch immer, würde ich ihn verteidigen, für ihn lügen, eine Kugel für ihn einstecken.

 

Exakt.

 

Solange die Kugel nicht ins Gesicht trifft. Jeden Tag, egal welcher, würde ich eine nicht-lebensbedrohliche, nicht-ins-Gesicht Kugel für ihn einstecken.

 

Und ich für dich.

 

Trotzdem. Das muss ich schon sagen. Die letzten Jahre. Seit er Papa geworden ist, da ist er bisschen …

 

Was?

 

Weiß nicht. Wir haben uns aus den Augen verloren. Er hat sich verändert.

 

Sagst du.

 

Als wir aufgewachsen sind, da war Shavi immer der Typ, der die Welt anders gesehen hat. Wenn man ein Basketmatch verloren hat oder so oder auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn saß, dann konnte man Shavi anrufen, und der nur so:

 

Wie lief’s? Was? Ihr habt’s verbockt? Gegen Trelleborg? Ach, scheiß drauf, Alter. Fuck Basket – schwör, Basket ist ein Tuntensport. Überleg mal, wie viel andere Sportarten es gibt – Fußball, Handball, Fechten. Windsurfen, Pfeilewerfen, Kleinebällewerfen. Nächstes Mal solltet ihr mich anrufen, schwör, ich hätte sie in Grund und Boden gedunkt.

 

Und wenn man zum Beispiel in der Physikklausur geschummelt hat und der Lehrer einem die Klausur weggenommen und mit einer Sechs gedroht hat, dann konnte man rausgehen auf den Hof, und da stand Shavi, und der nur so:

 

Wassislos biste traurig? So what? Was macht eine Sechs? Du kommst sowieso in die KTH. Komm schon, Alter, ich steh in vier Fächern auf Sechs, und es läuft doch super bei mir, findste nicht?

 

Und wenn deine Cousine von Zivi-Bullen hochgenommen wird und erst nicht geschnallt hat, dass es Zivi-Bullen sind, sondern dachte, das wären Manals Brüder, mit denen sie ein bisschen Beef hat, und deshalb Widerstand geleistet hat und versucht hat abzuhauen und sich eine gebrochene Nase geholt hat, dann Shavi nur so:

 

Deine Cousine hätte mich anrufen sollen, schwör, ich hätte sie rausgehauen, einen Schwinger nach dem anderen, ich hätte die Nase von dem Schwein so lange bearbeitet, bis da nur noch Blut ist.

 

Das hättest du getan?

 

Locker. Außerdem würde Ahlem richtig scharf aussehen mit krummer Nase.

 

Und dabei wussten alle, dass Shavi für Basketball zu klein war.

 

Blödsinn.

 

Und zu mager für Schlägereien.

 

Ich bin nicht so klein, wie ich aussehe.

 

Er hat einem immer dieses Gefühl gegeben. Dass es leicht ist.

 

Plus ich war bei fett vielen Schlägereien dabei.

 

Deshalb war er Helium.

 

Was?

 

Helium. Du warst Helium.

 

Wovon redest du, Mann?

 

Er hat sich gefreut, als ich ihm das erzählt hab.

 

Verdammt, was meinst du mit Helium, Schwuli?

 

Wir hatten grade das Periodensystem in der Schule gelernt, und um uns die Elemente zu merken, haben wir uns alle im Viertel als eines vorgestellt.

 

Nein, nein, nein. Nicht wir haben das gemacht – du hast das gemacht.

 

Camilla K. war Titan, weil sie so stark ist, und Messer-Steve war Uran, weil er so gefährlich war, wenn er getrunken hatte.

 

Schwör, Bratan – du bist gestört.

 

Lisa war Kieselsäure, weil sie zerbrechlich war, aber trotzdem diese dreist harte Oberfläche hatte, und Handball-Jimena war Quecksilber, weil sie so beweglich war.

 

Ganz ehrlich, Mann – du brauchst Hilfe.

 

Und Shavi. Shavi war Helium.

 

Fuck Helium! Ich will kein Gas sein.

 

Genau das hat er gesagt. Und ich: Was willst du dann sein?

 

Weiß ich nicht. Was anderes. Vielleicht Eisen oder so?

 

Schon vergeben.

 

Stahl?

 

Kein Grundelement.

 

Komm schon. Was willst du damit sagen, dass ich Helium bin? Dass mein Kopf aussieht wie ein Ballon? Dass ich eine hohe Stimme habe? Du bist Helium! Deine Mutter ist Helium!

 

Nein, du bist Helium. Weil du immer alles. Ich weiß nicht. Leichter machst.

 

Verstehe. Also Helium ist gut?

 

Helium ist krass gut.

 

Helium ist stabil?

 

Helium ist stabiler als stabil.

 

Helium ist stabülstes Stabül?

 

Helium ist stabüüüüüüülstest!

 

Gut. Dann bin ich Helium. Und was bist du?

 

Was?

 

Welches Element bist du?

 

Ich?

 

Ja. Komm schon, Amor, du musst ja wohl auch ein Element sein.

 

Nein. Ich … ich bin keins.

 

Komm schon, Alter, hör auf mit dem Scheiß. Sag! Schwör, du bist Holz, weil du trocken wie ein Ast bist, oder nein, du bist Wasser, weil du immer anfängst zu heulen, wenn …

 

Ununtrium vielleicht.

 

Was? Unun …?

 

Trium. Ununtrium.

 

Was ist das?

 

Der vorübergehende Name von einem nicht nachgewiesenen, synthetischen Grundelement. Ordnungszahl 113. Chemisches Zeichen Uut.

 

Ich finde, Holz passt besser zu dir.

 

Dann verging ein bisschen Zeit, Handball-Jimena hörte auf, Handball zu spielen, Isas große Schwester ertrank im Årstaviken, ich habe den zweitbesten Abschluss der Klasse gemacht und Shavi …

 

Machte nur fast einen Abschluss.

 

Ich bin in die KTH reingekommen, und Shavi hat Nina kennengelernt und wurde Vater.

 

Und selbständiger Unternehmer: Shavi Constructions, Gerüste, auf die man sich verlassen kann.

 

Ich bin von zu Hause ausgezogen und Shavi …

 

Blieb im Viertel.

 

Alles veränderte sich.

Blödsinn. Alles war wie immer.

 

Außer Shavi. Shavi hat sich verändert.

 

Nein, du hast dich verändert.

 

Nach der letzten Wahl hat er mich angerufen und klang total schockiert.

 

Das ist voll krank, hast du dir das angeschaut? Hast du’s gesehen?

 

Und natürlich hab ich mir das angeschaut.

 

Ich fasse es nicht.

 

Alle haben die Nacht wachgesessen und sich das angeschaut.

 

Dann sind sie reingekommen.

 

Die Wahlergebnisse, aus dem ganzen Land.

 

Die Rassistenschweine sind in den verdammten Reichstag gekommen.

 

Die Zahlen haben eine deutliche Sprache gesprochen.

 

Das hier ist total verdammt krank!

 

Und ich geb’s zu. Ich war ein bisschen genervt. Irgendwas an Shavis Empörung störte mich.

 

Das hier ist verdammt noch mal das Krankeste, was wir je erlebt haben, Bruder.

 

Aber was zum Teufel hast du denn erwartet, Shavi? Bist du erstaunt? Wir leben in einem Rassistenland. Klar wählen die eine Rassistenpartei.

 

Aber wieso? Wie blöd können die denn sein?

 

Wer?

 

Die Wähler! Das Volk!

 

Und du – wen hast du gewählt?

 

Total krank.

 

Shavi. Wen hast du gewählt?

 

Ich?

 

Denn du hast doch wohl gewählt, oder? Sag, dass du gewählt hast.

 

Also, ich war schon auf dem Weg. Aber die Kleine hatte Fieber.

 

Die Kleine. Ich schwör beim Tod meiner Mutter, dass er seine Tochter immer «die Kleine» nennt. Obwohl sie bei der Geburt krass fett war.

 

Und dann habe ich meine Wahlbenachrichtigungskarte nicht gefunden. Der Bus hatte Verspätung. Es regnete. Da war eine krass lange Schlange. Der Kinderwagen hatte einen Platten.

 

Die Kleine. Immer er und die Kleine. Er, Nina und die Kleine. So ist es, seit sie geboren worden ist, seit sie mit ihr aus der Klinik gekommen sind und ich mit meinen krass geilen Geschenken zu ihnen gefahren bin. Shavi hat die Tür aufgemacht und sich nicht mal für das Paket bedankt, er hat gleich den Finger auf die Lippen gelegt, als wäre ich Theaterpublikum, und ist wie ein Indianer ins Schlafzimmer geschlichen. Da lag sie. Ein dickes Baby mit schmalen, gelben, verkrusteten Rotzstreifen auf der Oberlippe.

 

Ganz ehrlich. Ist sie nicht, objektiv betrachtet, das süßeste und begabteste Kind, dem du je begegnet bist?

 

Shavi. Ich weiß nicht. Sie ist vier Tage alt.

 

Genau! Schau sie dir doch an. Es ist sehr ungewöhnlich, das so kleine Babys den Blick so fokussieren können.

 

Aber sag mal.

 

Hm?

 

Sie schläft doch.

 

Ja, das war, bevor sie eingeschlafen ist.

 

Dann fing Nina an zu arbeiten, und Shavi nahm Elternzeit, und da ging es richtig los.

 

Hey, wie geht’s?

 

Ganz ehrlich, Handys sind schon eine klasse Erfindung …

 

Hallo, ich bin’s.

 

Aber es sollte eine Art Sperre geben …

 

Wzup, wie läuft’s?

 

Eine Sperre, die es unmöglich macht, dieselbe Nummer …

 

Helloooo, ich bin’s noch mal.

 

Mehr als – ich weiß nicht – zehnmal pro Tag anzurufen?

 

Amor! Wie geht’s?

 

Das erste Gespräch.

 

Ein Wort.

 

Viertel vor sieben Uhr morgens.

 

Banane.

 

Was?

 

Banane, Mann. Sie hat heute zum ersten Mal Banane gegessen! Kannst du dir das vorstellen?

 

Okay, aber ich … Ich bin grade erst aufgewacht. Wie spät ist es?

 

Gleich sieben. Morgenstund hat goldigen Mund!

 

Man versucht, noch mal einzuschlafen.

 

BANANE, ALTER, BANANE!

 

Es funktioniert nicht.

 

BANANE!

 

Man steht auf, man macht Frühstück.

 

Heeee, Bruder, was geht?

 

Eine Viertelstunde später das nächste Telefonat.

 

Gut. Sie hat ein bisschen gespuckt, aber ansonsten ist alles ruhig.

 

Zehn Minuten vergehen.