Alles, was ich nicht erinnere - Jonas Hassen Khemiri - E-Book

Alles, was ich nicht erinnere E-Book

Jonas Hassen Khemiri

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Welchen Preis zahlen wir, um nicht allein zu sein?

Samuel hat so viele Gesichter, wie ihn Menschen kennen. Nun lebt er nur noch in der Erinnerung aller, und jeder erinnert sich anders an diesen schmächtigen jungen Mann, der ein fürsorglicher Enkel, großzügiger Freund und hingebungsvoller Liebhaber war – bis zu jenem Tag, an dem er den alten Opel seiner Großmutter in voller Fahrt gegen einen Baum lenkt. War es ein Unfall oder Selbstmord? Die einen sagen, dass Samuel sich hat rächen wollen an seiner großen Liebe Laide, die sich nun immer an ihn erinnern muss. Die anderen sagen, dass das alles nie passiert wäre, hätte sich Samuels bester Freund, der geldgierige Vandad, nicht eingemischt. Was nur ist tatsächlich passiert?
Alles, was ich nicht erinnere‹ ist wie eine rasante Fahrt durch das heutige Stockholm, bei der Schicksale aufeinanderprallen. So setzt sich ein facettenreiches Bild zusammen von einem Menschen auf der Flucht vor sich selbst – ein mitreißender Roman über Gewalt und Liebe, Leidenschaft und Verlust in unserer hypersensiblen Zeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 355

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Manche sagen, Samuel sei depressiv gewesen und hätte das schon lange geplant. Andere behaupten, es war nur ein Unfall. Einige geben dem Mädchen die Schuld, mit dem er zusammen war. Wieder andere meinen, es war die Schuld von Samuels Kumpel, einem Schrank von einem Mann, der jetzt im Gefängnis sitzt. Für Geld hat der alles getan.

Ein Tod, viele Stimmen. Wer war Samuel? Und warum musste er sterben?

»Dieses atemberaubende Buch ist ein Meisterwerk!« Aftonbladet

»Der Roman bringt unsere Weltsicht so geschickt ins Wanken, wie es nur wirklich guter Literatur gelingt.« Svenska Dagbladet

»Unvergleichlich schön – eine überwältigende Geschichte, die uns das Herz bricht.« Expressen

Der Autor

Jonas Hassen Khemiri ist der junge Star der schwedischen Literaturszene. Schon sein Debütroman, Das Kamel ohne Höcker (2003), brachte dem Autor internationale Anerkennung ein. Alles, was ich nicht erinnere ist sein vierter Roman. Er wurde mit dem August-Preis ausgezeichnet, dem renommiertesten schwedischen Literaturpreis, und führte über Wochen die Bestsellerliste an. Der Roman erscheint in rund 25 Ländern. Jonas Hassen Khemiri lebt mit seiner Familie in Stockholm.

Jonas Hassen Khemiri

Alles, was ich nicht erinnere

Roman

Aus dem Schwedischenvon Susanne Dahmann

Deutsche Verlags-Anstalt

Oh na na what’s my name?

Rihanna

Teil I – AM

Das Haus

Das Heim

Korrespondenz

Berlin

Teil II – LAIDE

Das Wohnzimmer

Die Küche

Der Balkon

Teil III – PM

Das Ich (1)

Das Ich (2)

Teil I

AM

Das Haus

Der Nachbar streckt den Kopf hinter der Hecke hervor und fragt, wer ich bin und was ich hier zu suchen habe.

*

Willkommen. Setz dich. Mach dich locker. Kein Stress, versprochen. Brauchst nur mal kurz auf den Alarmknopf drücken, und schon sind die in dreißig Sekunden hier.

*

Der Nachbar bittet um Entschuldigung und erklärt, nach allem, was vorgefallen ist, sei es kein Wunder, dass sie fremden Leuten gegenüber ein bisschen misstrauisch geworden sind.

*

Ja, ich hatte auch so exakt ein Bild davon, wie es hier ist. Hab alle möglichen Filme geschoben. Fette Stahlgitter, eklige Klos in einer Ecke, Stockbetten und dampfende Duschen, in denen man auf seine Seife aufpassen muss. Hab gedacht, ich muss vierundzwanzigsieben mit einer Rasierklinge im Mund rumlaufen, für alle Fälle. Aber siehst ja selbst. Das ist mehr so Jugendherberge hier. Die Leute sind gechillt. Die Klos sauber. Es gibt sogar eine Werkstatt, da kann man so Holzsachen machen. Ich hab voll Glück, dass ich hier gelandet bin.

*

Der Nachbar lädt mich auf einen Kaffee ein, wir gehen gemeinsam den Kiesweg hinauf, er schließt die Tür zum Arbeitszimmer und macht in der Küche die Kaffeemaschine an. Tragisch, sagt er und schüttelt den Kopf. So unglaublich tragisch ist das, was da vorgefallen ist.

*

Zwei Monate und drei Tage noch. Aber easy. Ich denk nicht viel dran. Mir geht’s echt gut. Okay. Ist schon eine echt lange Zeit. Aber ich hab null Stress, wie ich die Miete bezahlen soll. Was willste wissen? Soll ich anfangen, wie ich Samuel kennengelernt hab? Lange oder kurze Version? Ich hab hier echt alle Zeit der Welt.

*

Der Nachbar deckt kleine weiße Tassen auf und legt runde, gefüllte Kekse in eine Schale. Mit wem haben Sie sonst noch gesprochen?, fragt er. Hier im Viertel kursieren so viele Gerüchte. Manche sagen, Samuel sei depressiv gewesen und hätte das schon lange geplant. Andere behaupten, es sei nur ein Unfall gewesen. Einige geben dem Mädchen, mit dem er zusammen war, die Schuld, wie hieß sie doch gleich? Laida? Saida? Richtig, Laide. Wieder andere meinen, es sei die Schuld von diesem riesenhaften Kumpel von Samuel, der hat für Geld alles getan, jetzt sitzt er im Gefängnis.

*

Februar zweitausendneun, da sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Ich war mit Hamza auf Runde. Der hatte den Tipp gekriegt, dass ein bestimmter Typ auf einer Party in Lilje­holmen ist. Wir hin, haben geklingelt, so ein Chick macht die Tür auf und kriegt sie nicht wieder zu, Hamza hat schon den Fuß drin und lässt seinen Spruch ab, dass wir einen kennen, der einen kennt, und dass wir gekommen sind, um ihre neue Wohnung zu feiern. Am Ende hat man uns reingelassen in die Wärme.

*

Der Nachbar gießt Kaffee in die Tassen, reicht mir die Keksschale rüber und sagt, er habe Samuel nicht sonderlich gut gekannt. Seine Großmutter hingegen, die habe ich gekannt. Wenn man über zwanzig Jahre Haus an Haus gewohnt hat, dann lernt man sich kennen, das ist unvermeidlich. Wir haben uns immer gegrüßt, wenn wir uns unten an den Briefkästen begegnet sind. Wir haben einander gefragt, wie es geht, über das Wetter gesprochen. Einmal hatten wir ein längeres Gespräch über die Vor- und Nachteile von Bergwärme. Sie war eine feine Frau. Ehrlich und geradeheraus, beharrlich und willensstark. Es ist wirklich ein Jammer, dass alles so enden musste.

*

Ich mit Hamza rein in die schlossige Wohnung. Sind von Zimmer zu Zimmer, haben Leuten zugenickt, die haben aber lieber das Parkett angestarrt, als uns zu grüßen. Ich hab mich gefragt, was wir da sollen, weil die Leute auf der Party sahen nicht aus wie die, mit denen Hamza Geschäfte macht. Die Typen so im Jackett und die Mädchen mit High Heels für drinnen, der Kühlschrank mit digitalem Display und Eiswürfelmaschine. Ich dachte noch, das Ganze geht schnell, Hamza muss nur den richtigen Typen finden und tun, was getan werden muss, und ich steh nebendran und mach dem klar, dass das nicht der richtige Moment ist zum Diskutieren.

*

Der Nachbar nimmt einen Schluck Kaffee und wendet das Gesicht zur Decke, um zu schlucken. Wann ich Samuel das letzte Mal gesehen habe? Das war, als er hergekommen ist, um das Auto zu holen. Ich weiß es noch wie gestern. Es war ein Donnerstagmorgen, in der Nacht hatte es geregnet, dann aber aufgehört. Ich saß hier und hörte Radio, als ich da unten bei den Briefkästen jemanden herumschleichen sah. Ich stand auf und trat ans Fenster, um alles besser überblicken zu können.

*

Im Wohnzimmer lief Musik. Die Leute haben artig wie Schaufensterpuppen getanzt, und alle hatten ein Lächeln drauf wie Legofiguren. Und mittendrin Samuel. Zuerst hab ich gedacht, der hat einen epileptischen Anfall. Er hat quasi im Takt der Musik vibriert, die sie leise gedreht hatten. Dann ist er zu Boden gegangen, kniegejoggt mit Luftgitarre und dann Headbanging, hin und her, wie eine Kirchenglocke. Noch zwei Stunden bis Mitternacht, und Samuel hat getanzt, als wäre das der letzte Slash beste Song der Welt.

*

Der Nachbar steht auf und stellt sich ans Fenster. Hier habe ich gestanden. Genau hier. Es war zwanzig vor neun. Ich habe zu den Briefkästen runtergeschaut und das Telefon in der Hand gehabt. Für den Fall, dass es jemand ist, den ich nicht kenne, dann würde ich eine bestimmte Nummer anrufen. Aber ich habe schnell gesehen, dass es Samuel war. Er kam mit der Lokalzeitung in der Hand und ein paar Werbeblättern den Weg herauf. Unter dem offenen Mantel trug er Hemd und Jackett. Er ging langsam, den Blick zu Boden gerichtet.

*

Hamza ist weiter herumgegangen. Ich hinterher. Am Ende haben wir den richtigen Typen gefunden, kurzes Gespräch, Scheine wechseln den Besitzer, alles geht schnell und glatt. Als wir fertig waren, wollte Hamza was gegen den Durst. Wir also in die Küche. Hamza hat sich selbst zwei Drinks eingeschenkt und einen für mich. Er hat den ersten gekippt und sich comicfigurmäßig geschüttelt. Dann standen wir da, haben einfach geschwiegen. Keiner hat mit uns geredet. Wir haben auch mit keinem geredet. Ab und zu hat das Mädel, das die Party gegeben hat, in die Küche gekuckt, um zu checken, ob wir auch nichts klauen.

*

Der Nachbar streckt einen gekrümmten Zeigefinger aus. Sehen Sie diese Birke da? Da ist er stehen geblieben. Er sah zu der verbrannten Baumkrone hinauf und dann zu dem vom Feuer verwüsteten Haus. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, er sieht blasser aus als sonst. Er hat eine Hand gehoben und sich leicht auf die Wange geschlagen, als wollte er sich wecken oder vielleicht trösten.

*

Nach ein paar Minuten kamen Samuel und ein Mädel mit Oberlippenflaum in die Küche. Samuel hatte Schweißringe auf dem T-Shirt, das Mädel hatte sich eine rote Decke ohne Löcher für die Arme umgehängt. Sie hat von irgendwelchen Abendplänen gequatscht, da läuft was im Reisen, und ein DJ hat sie im Grodan auf die Liste gesetzt, und eine, die nannte sie »die Geile Greta«, macht eine Party in Midsommarkransen. Samuel hat genickt, sich nachgeschenkt. Ich fand, er war ungefähr so muskulös wie ein Flitzebogen. Hamza ging aufs Klo. Ich stand noch da. Das war eine gute Gelegenheit, was zu sagen. Jetzt könnte man die Hand ausstrecken und sich vorstellen, wie Leute das so machen, wenn sie sich auf Partys treffen. Ich könnte sagen: Wie geht’s? Was läuft? Woher kennt ihr das Mädel, das die Party macht? Was für ein DJ spielt im Reisen? Und wo genau wohnt eigentlich diese geile Greta? Aber ich hab nichts gesagt. Sondern einfach nur dagestanden, und mir ist nichts eingefallen. Weil da war ich noch nicht so dran gewöhnt, meine Stimme zu hören, wie heute.

*

Der Nachbar setzt sich wieder und schenkt Kaffee nach. Es verging dann sicher eine Viertelstunde. Als Samuel aus dem Haus kam, hatte er eine Plastiktüte in der Hand, die so voll war, dass es aussah, als würden die Griffe gleich abreißen. Er hat die Plastiktüte auf den Rücksitz geschoben und wollte sich eben hinters Steuer setzen, als er mich sah. Er hob die Hand und winkte.

*

Die Freundin von Samuel ging raus und rauchte eine. Er riss Küchenschubladen auf und machte sie wieder zu.

Du weißt nicht zufällig, wo es Messer gibt?, fragt er mich.

Ich zeige auf den Messerblock.

Danke.

Samuel nimmt eine Wassermelone aus der Obstschale, teilt sie in der Mitte durch und fragt, ob ich ein Stück will. Ich nicke. Dann dreht er eine Runde durch die Küche und gibt allen, die wollen, ein Stück Wassermelone.

Lahme Party, sagt er, als er zurückkommt.

Ich nicke.

Zieht ihr nachher noch weiter?

Ich zucke mit den Schultern.

Willst du mal was Cooles ausprobieren? Hier – schieb mal die Hand da rein.

Samuel hält mir die halbierte Wassermelone hin. Hat er sie eigentlich noch alle?, frag ich mich.

Doch, ich schwör, mach nur.

Warum?, frage ich.

Du wirst dich daran erinnern.

Und ohne richtig zu wissen warum, strecke ich die eine Hand aus und stopfe sie in die Melone.

Wie fühlt es sich an? Komisch, was? Geil? Jetzt ich.

Es hat sich nicht irgendwie besonders angefühlt. Nass. Und faserig.

Ich hab die Hand aus der Wassermelone gezogen, und Samuel hat seine reingeschoben. Die anderen in der Küche haben gekuckt, als hätten wir in die Spüle gepisst. Aber Samuel hat nur gegrinst und gefragt, ob sie es nicht auch mal probieren wollen.

Ihr werdet es bereuen, hat er gesagt, als sie die Köpfe schüttelten.

*

Der Nachbar seufzt. Da stand er. Neben dem Opel seiner Großmutter. Die Hand zum Gruß erhoben. Und ich war nahe dran, zurückzuwinken. Aber dann habe ich den Garten voller Ruß vor mir gesehen, die Reste von dem, was der Dachboden seiner Großmutter gewesen war, die schwarzen Brandflecken auf meinem Garagendach. Mir fiel ein, wie übel das hätte ausgehen können, wenn der Wind aus einer anderen Richtung gekommen wäre. Ich habe weggesehen. Aber das fiel mir schwerer als erwartet. Ich musste fast so was machen, damit die Hand nicht von selbst winkt (drückt die rechte Hand mit der linken herunter). Manche Sachen stecken so tief in einem drin, dass man sie unmöglich unterdrücken kann. Man hat sie ein ganzes Leben lang getan, und deshalb sind sie einfach da. Das ist wie mit der Sexualität.

*

Samuel wischt sich die Hand ab und stellt sich vor. Ich wusste nicht, welchen Namen ich nehmen sollte, denn wenn ich mit Hamza auf Runde war, habe ich niemals meinen richtigen Namen gesagt. Einmal nannte ich mich »Örjan«, ein anderes Mal »Travolta«. Als wir auf der Jagd nach zwei Zwillingsschwestern waren, die sich Geld geliehen hatten, um ihren Friseursalon zu retten, sind wir bei einer Party in Jakobsberg reingerutscht, und da hab ich mich »Holabandola« genannt. Ich konnte sagen, was ich wollte – wenn man so aussieht wie ich, traut sich niemand zu behaupten, dass man eigentlich anders heißt. Aber als Samuel sich vorstellt, nenne ich meinen richtigen Namen. Und wappne mich für die Folgefragen: Was hast du gesagt? Vamda? Vanbab? Van Damme? Ach so, Vandad. Woher kommt der Name? Was bedeutet er? Woher sind deine Eltern? Sind sie als politische Flüchtlinge hergekommen? Bist du hier geboren? Bist du Mischling oder ganz Ausländer? Fühlst du dich schwedisch? Wie schwedisch fühlst du dich? Isst du Schweinefleisch? Fühlst du dich eigentlich schwedisch? Könnt ihr in eure Heimat zurückreisen? Bist du schon mal zurückgereist? Wie fühlt sich das an, zurückzureisen? Ist es vielleicht so, dass du dich wie ein Ausländer fühlst, wenn du hier bist, und schwedisch, wenn du dort bist? Wenn die Leute merken, dass ich keinen Bock hab, über meine Herkunft zu labern, dann kommen Fragen nach dem Training, ob ich Eiweißdrinks mag oder wie ich MMA finde.

*

Der Nachbar schiebt die Kaffeetasse weg und räuspert sich. Jetzt im Nachhinein denke ich, dass ich ruhig hätte winken können. Was hätte das schon für einen Unterschied gemacht? Gar keinen womöglich. Samuels Tag hätte auf eine etwas freundlichere Weise begonnen. Er hätte etwas bessere Laune gehabt, als er in die Straße einbog. Aber da konnte ich ja nicht wissen, dass wir uns gerade zum letzten Mal gesehen haben.

*

Samuel war anders. Samuel hat nicht versucht, über so was wie Herkunft oder Training zu quatschen. Samuel hat einfach gesagt: Vandad? Wie der Schah, der gegen Dschingis Khan gekämpft hat? Cool.

Dann gings zehn Minuten lang über Mongolen. Er hat gesagt, dass nullkommafünf Prozent der männlichen Bevölkerung auf der Erde sich die DNA mit Dschingis Khan teilen, weil der mit so vielen Frauen Sex gehabt hat Slash sie vergewaltigt hat. Er hat gesagt, dass das Reich von Dschingis Khan das größte der Weltgeschichte war und dass die Mongolen an die vierzig Millionen Menschen getötet haben. Er hat erzählt, dass die Mongolen geizige Dorffürsten bestraft haben, indem sie ihnen frisch geschmolzenes, glühendes Gold in die Körperöffnungen geschüttet haben, bis der Körper frittiert war.

Ich hab nicht begriffen, warum diese schmächtige Person mir was von Mongolen erzählt, und ich hab auch nicht begriffen, warum ich zugehört habe. Aber irgendwas an der Art, wie wir so geredet haben, war anders. Es ging nicht um die Arbeit, wo man wohnt, aus was für einer Familie man kommt. Wir haben nur über die Waffen der Mongolen gesprochen, über ihre Kampftechnik, ihre Loyalität, ihre Pferde. Oder besser gesagt: Hauptsächlich hat Samuel geredet, und ich hab zugehört.

Aber als das Mädel, das die Party veranstaltet hat, in die Küche kommt und sieht, dass wir übelst ins Gespräch vertieft sind, da ist es, als wenn sie mich plötzlich ganz anders anschaut. Und ihr Blick hat mir gefallen.

Woher weißt du das alles?, frage ich und denke, vielleicht ist er Geschichtslehrer.

Keine Ahnung, sagt Samuel und grinst. Ich glaub, das kommt aus irgendeinem Computerspiel. Ich hab ein verdammt komisches Gedächtnis. Manche Sachen bleiben einfach hängen.

Wobei das meiste allerdings einfach verschwindet, sagt seine Freundin im Rotdeckenumhang, die, in eine Rauchwolke eingehüllt, gerade vom Balkon gekommen ist.

*

Der Nachbar wischt ein paar Krümel vom Wachstuch und sagt, dass er wirklich nicht so sei wie gewisse andere im Viertel. Ich habe keine Vorurteile gegenüber Menschen, die aus anderen Ländern kommen. Ich habe noch nie verstanden, was es für einen Sinn machen soll, wenn verschiedene Kulturen sich voneinander isolieren. Ich liebe es zu reisen. Seit ich in Rente bin, verbringe ich das Winterhalbjahr im Ausland. Indisches Essen ist richtig lecker. An der Fischtheke vom Konsum arbeitet ein Typ, der kommt aus Eritrea, und der ist wirklich nett. Ich hatte überhaupt keine Probleme damit, dass in das Haus von Samuels Großmutter neue Leute eingezogen sind. Und es hat mich nicht im Geringsten geschert, dass einige der Frauen Kopftuch trugen. Aber ich mochte es nicht, wenn sie auf der Veranda gegrillt und ihre Mülltüten in meine Tonne geworfen haben. Aber das hatte ja nichts mit ihrer Herkunft zu tun.

*

Als Hamza zurückkommt, ist die Stimmung in der Küche plötzlich anders. Die Leute halten ihre Gläser näher an den Körper.

Alles klar?, frage ich.

Er: Ficken Schwule im Wald?

Wieso ficken Schwule im Wald?, fragt Samuel.

Ey, das ist ne verdammte Redewendung, sagt Hamza. Les mal ein Buch, dann brauchste hier nicht mit deinem Unwissen prangen.

Hamza und ich sind dann abgehauen, hab ja gleich gemerkt, wie der drauf war. Der hatte was im Blut, war mir schon klar, dass das ein langer Abend wird. Hat auch gestimmt, und noch bevor der Abend zu Ende war, ist was passiert, so genau kann ich jetzt nicht sagen, was, aber ich hab ihn unterstützt, hab ihn nicht im Stich gelassen, ich hab ihm gesagt, dass ich den ganzen Weg mit ihm geh, und das hab ich getan, hab ihm den Rücken frei gehalten, loyal wie ein Mongole. Aber auf dem Nachhauseweg hab ich mir geschworen, dass ich es runterfahre und versuche, die Miete irgendwie anders zu zahlen.

*

Der Nachbar gibt mir die Hand und wünscht mir Glück bei dem Vorhaben, Samuels letzten Tag zu rekonstruieren. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann halten Sie es schlicht. Einfach erzählen, was passiert ist – von vorne bis hinten. Ich habe Auszüge aus Ihren anderen Büchern gelesen, und da hat man ein bisschen das Gefühl, dass Sie es sich unnötig schwer gemacht haben.

Das Heim

Die Schwesternhelferin im Erdgeschoss sagt, sie wolle nicht mit ihrem richtigen Namen im Buch stehen. Nennen Sie mich stattdessen »Mikaela«. Ich wollte schon immer Mikaela heißen. Im Kindergarten hatte ich eine Freundin, die so hieß, und ich war immer so neidisch, dass sie ihren Namen sagen konnte, ohne dass irgendwelche Fragen kamen. Schreiben Sie, dass ich Samuel im Grunde gar nicht gekannt habe. Ich bin ihm nur ein paarmal bei der Arbeit begegnet, da habe ich ihm auch nur die Tür aufgemacht, wenn er seine Oma besucht hat. Als er das letzte Mal hier war, hörte ich was Klackendes an der Tür, so ein scharfes Geräusch, das einem ins Trommelfell schnitt, und als ich rauskam, stand Samuel da und klopfte mit dem Autoschlüssel an die Glasscheibe. Ich hatte ihm den Türcode schon mal gegeben, und einmal hatte ich ihm sogar die Eselsbrücke verraten, die ich mir ausgedacht habe, damit ich mich an den Code erinnern kann, aber jetzt stand er wieder da und klopfte und lächelte ein bisschen verschämt, als er mich erkannte. Er sah aus, als käme er gerade aus dem Bett. Und er hatte eine knallvolle Plastiktüte dabei. Auf der Scheibe hatte sich vor seinem Mund ein beschlagener Kreis gebildet, und ich erinnere mich, dass ich mich gefragt habe, wie lange er wohl da gestanden und versucht hatte, sich an den Code zu erinnern.

*

Nichts Besonderes. Kannst mir glauben. Würd ich erzählen, wenn es für die Geschichte wichtig wäre. Peanuts. Kleinkram. Hamza hat einen Typen getroffen, der hat ihm Geld geschuldet, und der Typ und Hamza waren sich über die Höhe des Kredits nicht komplett einig. Also wir mit ihm aufs Klo, dann haben wir ihn an die Summe erinnert. Keine große Sache, ich glaub nicht mal, dass er es angezeigt hat. War einfach nur ein ganz normaler Abend, der damit geendet hat, dass wir unseren Taxikontakt angerufen haben, und der hat uns schnell und geschmeidig ohne Rechnung nach Hause gebracht. Hamza hat kichernd auf dem Rücksitz gesessen, er war mit der Auszahlung zufrieden, dann hat er die Scheine für mich abgezählt und wie üblich gesagt, wir sollten uns zusammentun, was Eigenes aufmachen, nicht immer nur für andere schuften. Aber ich hab gedacht, dass ich damit jetzt fertig war.

*

»Mikaela« lächelt, als ich mich nach ihrer Eselsbrücke erkundige. Also, das klingt echt total nerdig, wenn ich das so sage, aber so ist es nun mal mit Eselsbrücken, je nerdiger, desto besser sind sie. Damals war der Code vierzehn zweiundsiebzig, und ich hab immer gefunden, dieser Job ist so eine Mischung aus in einen Weltkrieg ziehen – vierzehn – und von Terroristen in einem Olympiadorf gekidnappt werden – zweiundsiebzig. Zweimal habe ich Samuel meine Eselsbrücke ver­raten, weil ich es leid war, ihm ständig die Tür aufmachen zu müssen, und jetzt stand er schon wieder da. Ich habe aufgemacht und ihn begrüßt und gefragt, ob er die Eselsbrücke vergessen hätte.

Die Eselsbrücke?, fragte er.

Und ich dachte: Okay, es ist eine Sache, sich den Code nicht merken zu können, und eine andere, sich die Eselsbrücke nicht merken zu können. Aber sich nicht einmal mehr daran zu erinnern, dass jemand einem eine Eselsbrücke gesagt hat, das ist dann doch etwas strange. Irgendwie dachte ich sogar: Das liegt wohl in der Familie, in ein paar Jahren sehen wir uns hier wieder.

*

Noch in derselben Woche habe ich Kontakt mit der Umzugsfirma aufgenommen. Ich kannte welche, die da ziemlich kurzfristig Arbeit gekriegt hatten. Blomberg saß mit seiner gelben Sportkappe und seinem Headset und seinen Ordnern da rum, und wie ich reinkomme und mich vorstelle, lässt er seinen Blick von meiner einen Schulter zur anderen wandern.

Hast du einen Führerschein?

Ich nicke.

Bist du schwedischer Staatsbürger?

Ich nicke.

Wann kannst du anfangen?

*

Der Pfleger im ersten Stock hat überhaupt kein Problem damit, seinen richtigen Namen im Buch zu lesen. Ich heiße Gurpal, aber alle nennen mich Guppe. Wollen Sie den Nachnamen auch? Schreiben Sie, dass ich dreiunddreißig Jahre jung bin und Single, ich mag Spaziergänge, Weltraumfilme und R. Kelly, aber nicht die totalen Pornosongs. Ich arbeite seit zwei, fast drei Jahren hier, aber das ist nur übergangsweise, eigentlich bin ich Musiker, zu Hause habe ich ein kleines Studio, hab ich selbst gebaut, ein umfunktioniertes Kabuff, in dem ich eigene Songs aufnehme, Gegenwartssoul, aber auf Schwedisch, viel Streicher und Klavier, gewürzt mit Bhangra-Einflüssen, Hip-Hop-Beats und melodiösen Refrains. Ein Kumpel von mir hat es mal beschrieben als Uptempo-Trip-Hop, aber wie durch einen jazzigen Soulfilter gepresst, es ist in klassischem Bebop marinierte urbane Popmusik mit Jungle-Einschlag. Okay, das klingt abgedreht, wenn ich das beschreibe, aber ich schick Ihnen gern mal ein paar Songs, wenn Sie was hören wollen.

*

Bevor wir mit dem weitermachen, was dann passiert ist, will ich konkret mehr von dir wissen. Wie hast du diese Idee gekriegt? Warum willst du ausgerechnet über Samuel schreiben? Mit wem hast du noch geredet?

*

Guppe sagt, es wäre gegen Ende seiner Schicht gewesen, als Samuel aus dem Fahrstuhl kam. Es war halb zehn, aber seine Oma war seit sieben Uhr auf gewesen und hatte alle zehn Minuten nach ihrem Enkel gefragt. Jetzt, als er endlich da war, war sie eingeschlafen.

Wie ist sie drauf?, fragt Samuel und unterdrückt ein Gähnen.

Scheint ein guter Tag zu sein, erwidere ich. Willst du hier einziehen?

Samuel lächelt und sieht auf die Plastiktüte runter, die voll ist wie eine Mülltüte.

Nicht doch, nur ein paar Sachen aus ihrem Haus. Nostal­giekram. Dachte, es könnte vielleicht ganz gut sein, die zu haben.

Für dich oder für sie?

Sowohl als auch. Kennst du diesen Klassiker?

Samuel zieht eine CD aus der Tüte. Auf dem Umschlag ist ein mit Bonbons gefüllter durchsichtiger Spielzeugflügel zu sehen.

Ohrenbonbons Sieben?

Samuel nickt. Von Lars Roos. Auch bekannt für seine Meisterwerke Ohrenbonbons Eins bis Sechs. Als ich klein war, hat meine Oma das andauernd gehört.

Samuel ging zu seiner Oma, die im Fernsehzimmer saß und schlief. Sie hatte weiße Schuhe an, eine beigefarbene dünne Jacke und einen Rock, an dessen Farbe ich mich nicht erinnere. Neben ihr stand der Koffer. Ich hatte ihr zu erklären versucht, dass sie den nicht brauchen würde, sie würde nur zum Krankenhaus fahren und dann wieder zurückkommen. Aber sie hatte sich verweigert und gesagt, sie müsse ihn unbedingt dabeihaben, und wenn ich in meiner Zeit hier eins gelernt habe, dann, dass man sie nicht überreden sollte, wenn sie sich einmal entschieden hat. Ich bin nicht stur, pflegte sie zu sagen, aber ich gebe niemals klein bei.

*

Okay. Chill mal. Steck den Lebenslauf wieder weg. Ist mir doch scheißegal, in welchen Verlagen du Bücher rausgebracht hast. Mir ist wurscht, was du schon geschrieben hast. Bin bloß neugierig, was deine persönliche Story ist, weshalb du die richtige Person sein sollst, um das hier zu erzählen. Warum willst ausgerechnet du über Samuel schreiben?

*

Guppe sagt, Samuel hätte ein Weilchen dagestanden und seine Oma angeschaut, dann hätte er sie geweckt. Sie hat dagesessen und geschnarcht, mit dem Mund so (reißt den Mund weit auf, als wollte er seine Kehle im Neonlicht baden). Neben ihr stand der Koffer, und als Samuel ihn aufmachte, fielen Teelichthalter, ein Tortenheber und zwei Fernbedienungen heraus. Samuel strich ihr über die Wange (berührt zweimal seine eigene Wange, schließt die Augen), und sie fuhr zusammen und rieb sich die Augen. Sie sah ihren Enkel an. Einen Moment lang war es, als würde sie sich nicht an ihn erinnern. Dann lächelte sie und rief (breitet die Arme zu Flugzeugflügeln aus): Endlich!

Und dann: Was für eine Überraschung!

Sie gingen in ihr Zimmer. Als sie wieder herauskamen, trug Samuel eine abgewetzte braune Pelzmütze. Er hatte den Koffer und die Plastiktüte in der einen Hand, mit dem anderen Arm stützte er seine Oma.

Jetzt fahren wir!, rief sie und winkte. Nett, Sie kennen­gelernt zu haben.

Sie sah glücklich aus. So glücklich wie sonst nie (sieht traurig aus).

*

Okay. Verstehe. Tut mir leid. Ich weiß nicht richtig, was ich sagen soll.

*

Guppe sagt, dass die Oma, als sie neu ins Heim eingezogen war, als Erstes mal alle dunkelhäutigen Männer, die dort arbeiteten, des Diebstahls bezichtigt hat. Sie war überzeugt davon, dass wir nachts reinschleichen und ihr die Perlenkette wegnehmen – da konnten ihr die Kinder und Enkel noch so oft erklären, dass ihre Perlenkette sicher im Banktresor ruhte. Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt irgendwelche Perlenketten hatte, aber sie hatte die Schachtel mit dem Modeschmuck unter ihrem Bett versteckt, und zwei Stunden später hat sie den Alarmknopf gedrückt und behauptet, wieder beklaut worden zu sein. Die Familie hat sich entschuldigt und gesagt, früher wäre sie nie so gewesen. Dann erzählten sie Geschichten, wie sie als Lehrerin in einer sozial schwachen Gegend gearbeitet hatte, und in ihrer Kirche hatte sie einen Verein gegründet, der Hunderttausende von Kronen für den Bau von Schulen in afrikanischen Ländern gesammelt hat. Sie hatte wohl Sachen auf Flohmärkten verkauft und Bettlaken auseinandergerissen, damit sie in rumänischen Krankenhäusern als Verbände benutzt werden können, und als mal die Kontaktperson in einem Kinderheim in Lettland keinen Fahrer organisieren konnte, um eine Busladung mit Winterkleidern zu holen, soll sie dafür gesorgt haben, dass ihr ältester Sohn das macht, und sie ist mitgefahren, die beiden sind nach Lettland gefahren und haben die Kleiderkartons beim Kinderheim abgeladen. Nach einer Weile kam es mir fast seltsam vor, dass ihre Verwandten all diese Sachen aufzählten, ich hörte dieselben Geschichten wieder und wieder von verschiedenen Familienmitgliedern, es war, als wollten sie damit irgendwas wettmachen, als würden sie nicht begreifen, dass wir Profis sind. Wir sind das gewohnt. Wir haben Routine. In jedem Zimmer hier wohnen verwirrte Omas und Opas, und wenn die auf den Alarmknopf drücken und behaupten, im Badezimmer wäre eine gruselige Person, dann hängen wir ein Tuch über den Spiegel. Wenn sie sagen, einer von den Alten würde durchs Fenster reinspicken, dann ziehen wir die Gardinen zu. Keiner von den alten Männern darf sich selbst rasieren, denn dann besteht immer die Gefahr, dass er ohne Augenbrauen zum Frühstück erscheint. Keine einzige Flasche Desinfektionsmittel darf unbeaufsichtigt herumstehen, denn sonst wird sie ausgetrunken. Samuels Oma war bei Weitem nicht die Schlimmste. Aber sie gehörte zu denen, die besonders launisch waren.

*

Wann ist es passiert? Wart ihr eng? Hast du Kontakt oder so zur Familie?

*

Guppe erzählt, dass einmal, als die Oma besonders schlechte Laune gehabt hatte, Samuels Mutter versucht hat, ihm Trinkgeld zu geben. Sie hielt mir einen Hunderter hin und sagte, es tut ihr leid, dass ich mir all die Sachen anhören muss. Ich sah ihr in die Augen und sagte freundlich, aber bestimmt: Stecken Sie den weg.

Weil echt, Schmuddelneger oder Turbankopf genannt zu werden fühlt sich irgendwie besser an, als wie ein Idiot dazustehen und ein Almosen für gut gemachte Arbeit zu bekommen. Als ich nach Hause kam und meiner Frau erzählte, was da passiert war, hat sie mich einen Idioten genannt, weil ich den Schein nicht angenommen hatte. Wir hatten uns gerade ein Reihenhaus gekauft, die Zwillinge waren anderthalb, und Windeln und Schnuller und Feuchttücher gibt’s nicht umsonst. Abends lag ich lange wach und dachte darüber nach, ob ich den Schein hätte annehmen sollen. Aber ich würde es heute ganz genauso machen. Habe ich Frau gesagt? Ich meinte Exfrau.

*

Schon klar. Ich frage mich nur, warum du so viel Zeit verschwendet hast. Warum bist du nicht früher hierher gekommen? Wieso hast du mit Laide und der Pantherin und Samuels alten Mitstudenten gesprochen, ehe du zu mir gekommen bist? Wie sollten dir denn die Leute im Demenzheim von Samuels Oma helfen, das zu verstehen, was passiert ist? Was hat der Nachbar von Samuels Oma mit der ganzen Sache zu tun? Wenn ich mit dabei sein soll, dann von Anfang bis Ende, denn keiner kannte Samuel besser als ich.

*

Guppe erzählt, dass er das Frühstück gemacht und die Glocke geläutet hat. Dann habe ich aus dem Fenster geschaut und gesehen, dass Samuel und die Oma noch nicht weg waren, sondern erst auf dem Weg zum Auto. Sie hielt sich an seinem Arm fest und hinkte zum Fahrersitz, um sich hinters Steuer zu setzen. Samuel führte sie zum Beifahrersitz. Dann half er ihr, sich anzuschnallen, und nachdem er die Beifahrertür zugeschlagen und Koffer und Plastiktüte auf den Rücksitz gelegt hatte, atmete er auf eine Weise durch, die ich von mir selbst kenne. Er stand ungefähr einen Atemzug lang da und sammelte Kraft für die zweite Halbzeit. Das mache ich auch nach einem langen Arbeitstag. Er tat es nach zwanzig Minuten mit seiner eigenen Oma. Dann nahm er die Pelzmütze ab, schlug sich leicht auf die Wangen und setzte sich hinters Steuer.

*

Ach, und welcher Nachbar war das überhaupt? Der Alte in der Zweiunddreißig? Der fährt jeden Winter nach Thailand und fickt Huren. Ich schwör. Und zwar junge Huren, so an der Grenze zum Legalen. Huren, die er dafür bezahlt, dass sie behaupten, sie sind zwölf, damit er seinen traurigen Rentnerpimmel hochkriegt. Jeden Winter ist er da, er verrammelt sein Haus und macht Zeitschaltuhren an alle Lampen und ist zwei, drei Monate weg. Dann kommt er nach Hause, mit neuen Fotos von den Mädchen, die er gefickt hat, die druckt er aus und hängt sie als Postkarten an seine Pinnwand im Arbeitszimmer. Das ist die volle Wahrheit, wir haben es durchs Fenster gesehen. »Seine Wall of Shame«, hat Samuel immer dazu gesagt. Fragst du mich, war das der Nachbar, der das Haus angezündet hat. Der hat alle gehasst, die da gewohnt haben. Und der hat echt viel zu wenig erstaunt gewirkt, als die Feuerwehr kam.

*

Guppe sagt, das Auto war angelassen worden und dann vor und zurück, vor und zurück gerollt. So ungefähr beim fünften Versuch ist es Samuel gelungen, aus der Parklücke zu kommen und in Richtung Brücke abzubiegen. Dann ließ er den Motor aufheulen und sauste den Hügel hinunter. Viel zu schnell. Ob ich mich auch noch daran erinnern würde, wenn ich nicht am nächsten Tag gehört hätte, was anschließend geschehen war? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe (sieht seltsam betroffen aus, wenn man bedenkt, dass er ihn kaum gekannt hat). Wenn Sie mit Samuels Oma reden wollen, dann müssen Sie noch mal zurückkommen, wenn sie wieder gesund ist. Aber ich fürchte, sie wird nicht viel beizutragen haben. Sie rutscht immer tiefer in den Nebel.

Korrespondenz

In ihrer ersten Mail bittet die Mutter um Entschuldigung, weil sie mit ihrer Antwort so lange hat auf sich warten lassen. Nach gründlicher Abwägung, schließlich, nach viel Wenn und Aber, habe ich mich entschieden, nicht mitzumachen. Ich bin keine öffentliche Person. Ich bin es nicht gewohnt, interviewt zu werden. Ich habe es noch nie gemocht, dokumentiert zu werden, es ist mir sogar unangenehm, wenn meine Tochter ihr Smartphone hochhält, um mich mit meinem Enkelkind zusammen zu filmen. Deshalb hoffe ich, Sie respektieren unseren Wunsch, an Ihrem Projekt nicht teilzunehmen. Und ich schreibe »unseren«, denn diese Entscheidung gilt sowohl für mich als auch für Samuels Schwester, zu der Sie, wie ich weiß, ebenfalls Kontakt aufgenommen haben. Wir versuchen weiterzumachen. Wir wollen diese Sache hinter uns lassen. Viel Erfolg mit dem Buch, alles Gute.

*

Erst nach drei Monaten hab ich Samuel wiedergesehen. Ich hatte mit Hamza gebrochen. Oder, nicht gebrochen, bin aber nicht mehr mit auf Runde. Bei seinen Anrufen voll abgetaucht. Hab mir Gründe ausgedacht, warum ich nicht mitkonnte. Stattdessen hab ich das Handy auf Weckfunktion gestellt und bin unter der Woche frühmorgens zu Blombergs Büro gefahren, damit ich irgendeinem Arbeitsteam zugeteilt werde und den kompletten Tag Kommoden und Betten und Küchenbänke umziehe. Zuerst die Umzugskartons, die dann mit Doppelbetten sichern und am Ende die Blumentöpfe und Teppiche und die in Decken eingewickelten Fernsehgeräte.

*

In ihrer zweiten Mail schreibt die Mutter, sie finde es schätzenswert, dass ich nicht aufgebe. Sturheit ist eine gute Eigenschaft – das haben wir in meiner Kindheit immer gesagt. Alle außer meiner Mutter, die stur behauptet hat, nicht im Geringsten stur zu sein. Aber ich möchte meinem Wunsch, nicht interviewt zu werden, noch einmal Ausdruck verleihen. Bitte nehmen Sie das nicht persönlich. Es geht nicht darum, dass ich mich vor irgendwelchen Erinnerungen fürchten würde, »die zum Leben erweckt« werden könnten. Und es hat auch nichts mit Ihren schriftstellerischen Eigenschaften zu tun. Auch wenn das, was Sie schreiben, weit von der Literatur entfernt ist, die ich schätze, ist es doch nicht der Grund, dass ich (erneut) dankend ablehne. Es spielt keine Rolle, dass man mich nicht filmen wird. Mir genügt schon das Wissen, dass jemand meine Stimme aufnehmen wird, und schon bin ich beeinträchtigt und verwirrt. Ich habe schon immer sehr viel besser sprechen können, wenn niemand zuhört. Oder wenn jemand zuhört, der mich kennt. Deshalb lehne ich ab. Erneut. Wenn Sie irgendwelche konkreten Fakten abstimmen wollen, dann kann ich Ihnen vielleicht per Mail behilflich sein. Alles Gute.

*

Mein Leben ging weiter. Hab ein paar Gewohnheiten verändert. Hab angefangen, ein Leben zu führen, das zu meinem neuen Gehalt passt. Anstatt in die Stadt zu fahren, hab ich Spicy House entdeckt. Anstatt neue Klamotten zu kaufen, hab ich mich um die Sachen gekümmert, die ich hatte. An einem Tag sind wir nach Nacka, um alles in einem Haus einzupacken und zu einer neuen Adresse zu bringen, die nur fünfzig Meter entfernt lag.

Warum ziehen Sie um?, fragte Luciano.

Aus steuerlichen Gründen jedenfalls nicht, antwortete der Mann, der den Stundenzettel unterschrieb, mit einem Lächeln, als hätte er einen Witz gemacht.

Wir haben die Wohnung eines Toten auf Lilla Essingen aufgelöst. Wir haben einem Typen, der sich von seiner Frau getrennt hatte, dabei geholfen, alle seine Sachen einzupacken und in eine enge Einzimmerwohnung am Thorildsplan umzuziehen.

*

In ihrer dritten Mail schreibt die Mutter, dass sie sich entschieden habe, meine Fragen Punkt für Punkt zu beantworten:

1. Sechsundzwanzig. Er wäre jetzt siebenundzwanzig geworden.

2. Sehr oft. Etwa ein- bis zweimal täglich. Normalerweise war ich diejenige, die anrief, aber manchmal auch er.

3. Nein, ich kann nicht behaupten, Vandad gekannt zu haben. Aber ich wusste von ihm. Wir sind uns ein paarmal begegnet. Man konnte sehen, dass das Leben nicht sonderlich freundlich zu ihm gewesen war.

4. Ja, natürlich gab es auch noch andere Freunde. Doch dabei handelte es sich wohl mehr um oberflächliche Bekanntschaften. Samuel hatte die Neigung, sehr intensiven Kontakt mit jeweils ein oder zwei Personen zu pflegen. Und das machte ihn verletzlich.

*

Eine Alte wollte von Östermalm nach Söder umziehen, und die wohnte in einer Wohnung, die groß war wie ein Museum. Sie war von der Sorte Kundschaft, die alles in doppelte Decken und Luftpolsterfolie eingepackt haben will. Die verstaubten Spiegel waren angeblich antik, und die ramponierte Kommode sollte wie ein Goldschrein behandelt werden. Zu Anfang haben wir alles genauso gemacht, wie sie gesagt hat, aber irgendwann ging das nicht mehr, wenn wir fertig sein wollten, ehe aus dem einen Tag eine ganze Woche geworden war, und deshalb waren wir gezwungen, den Prozess etwas zu beschleunigen. Wir haben zwar alles in Kartons gepackt, aber gleichzeitig versucht, das so schnell wie möglich zu tun, denn die Zeit raste, und als wir zur neuen Wohnung kamen, war der Fahrstuhl, der auf dem Auftragsformular als »groß« bezeichnet wurde, maximal einen Quadratmeter mit Gittertür, und weder die Vitrine noch das Bett oder das alte Sofa mit Holzblumen auf den Armlehnen haben da reingepasst.

*

Die Mutter fährt fort:

5. Laide war die erste Freundin, die Samuel mir vorgestellt hat. Die beiden waren ungefähr ein Jahr lang zusammen. Das war eine turbulente Beziehung. Sie stritten sich oft. Laide hat nach Fehlern bei Samuel gesucht. Samuel fühlte sich beengt. Ich glaube, beide waren sehr erleichtert, als es zu Ende ging.

6. Nein, ich würde ihn nicht als »geheimniskrämerisch« bezeichnen. Haben wir nicht alle unsere Geheimnisse? Niemand erzählt doch allen alles, oder? Ich würde ihn eher neugierig nennen. Begeisterungsfähig. Und vielleicht ein wenig rastlos.

7. Ja. Zweifellos. Hat jemand etwas anderes behauptet?

8. Nein, das fing schon als Kind an. Im Alter von sieben Jahren konnte er von einem Kindergeburtstag nach Hause kommen und total erstaunt darüber sein, dass er sich den Geschmack des Eises, das er am Nachmittag gegessen hatte, nicht in Erinnerung rufen konnte. Für ihn war es dann, als wäre das Eis weniger wert. Doch wenn ich das jetzt so schreibe, klingt es vielleicht altklug und philosophischer, als es wirklich war. Damals, als es passierte, habe ich es wahrscheinlich für eine Strategie gehalten, um mehr Eis zu bekommen.

9. Nicht in meiner Verwandtschaft. Aber Samuels Vater hatte melancholische Züge. Allerdings würde ich nicht so weit gehen, ihn depressiv zu nennen.

10. Samuel war neun und Sara elf. Es war eine schwierige Scheidung. Ihr Vater war sehr verletzt und hatte einige Jahre lang nur sporadischen Kontakt zu den Kindern, später gab es gar keinen Kontakt mehr.

11. Ja. Samuel und ich haben am letzten Tag miteinander gesprochen. Aber wenn Sie mehr über meine Erinnerungen an diesen Tag wissen wollen, müssen Sie Ihre Fragen genauer formulieren.

Mit besten Grüßen.

*

Es wurde drei, vier, fünf, sechs Uhr. Wir haben echt geschuftet, um alles an Ort und Stelle zu kriegen, und um neun waren wir fertig. Mit der letzten Ladung kamen die Stehlampen und die Bilderrahmen und ein kleiner Hocker aus braunem Holz. Und ich nehm den Hocker, stell ihn in die Diele und hol den Vertrag raus, auf dem die Kundin bestätigen sollte, wie viele Leute wie viele Stunden gearbeitet hatten. Die Alte wollte gerade ihren Namen unter den Vertrag setzen, als ihr Blick auf den Hocker fiel und sie einen Laut von sich gab, als hätte ihr jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Sie nahm den Hocker hoch, und erst da sah ich, dass es kein Hocker war, sondern ein kleiner Kinderstuhl, von dem die Rückenlehne abgegangen war. Marre rannte zum Laster runter, um nachzusehen, ob da noch was lag, aber das Einzige, was er fand, waren ein paar platte Stäbe, die vielleicht mal eine Rückenlehne gewesen waren, und die Kundin saß mit dem kleinen Stuhl und den kaputten Stäben da und streichelte den Hocker, als wäre er eine Katze. Bogdan und Luciano konnten sich vor Lachen kaum halten und machten Zeichen, um mir zu signalisieren, dass die wohl echt einen an der Waffel hätte. Ich wollte einfach nur ihre Unterschrift, und am Ende bekam ich die auch, sie unterschrieb, und wir sprangen in den Siebeneinhalbtonner und fuhren ins Büro zurück. Später am Abend habe ich an sie gedacht, wie sie da allein in einer Wohnung saß mit diesem Hocker, der grad noch ein Stuhl gewesen war. Ich weiß nicht, warum ich mich ausgerechnet an sie erinnere.

*

In ihrer vierten Mail schreibt die Mutter, dass sie der Ehrgeiz irritiere, durch die genaue Darstellung des letzten Tages von Samuel verstehen zu wollen, was geschah. Wollen Sie allen Ernstes wissen, was genau wir zueinander gesagt haben? Okay, also das ist meine Erinnerung an das erste Telefon­gespräch. Ich habe ihn auf dem Handy angerufen, Samuel ist rangegangen, es war Viertel nach zehn, und sie waren auf dem Weg ins Krankenhaus.

Wie läuft es?, fragte ich.

Gut.

Hast du sie abgeholt?

Hm.

Wo seid ihr jetzt?

Gleich da.

Und es ist alles in Ordnung?

Hm.

Schläft sie?

Nein, sie sitzt hier.

Seine Stimme klang so ungeduldig, als hätte ich ihn gefragt, ob er sich am Morgen auch die Zähne geputzt hätte. Im Hintergrund war Klaviermusik zu hören, die ich erkannte, aber nicht einordnen konnte.

Und wie geht es ihr?

Gut.

Und dir?

Guhuuut.

Das Letzte sagte er in einem sehr verärgerten Tonfall, als hätte ich das Gespräch auf mehrere Stunden ausgedehnt.

Dann bis später, sagte ich.

Tschüss.

Das war das ganze Gespräch. Es dauerte vielleicht eine Minute. Höchstens. Und nach jeder einsilbigen Antwort schwieg er, als wollte er demonstrieren, dass es nichts weiter zu sagen gäbe. Wir legten auf. Eine Viertelstunde später rief ich wieder an.

Seid ihr jetzt da?

Suche einen Parkplatz.

Hast du die Nummer der Station, oder soll ich sie dir simsen?

Hab sie, danke.

Habt ihr getankt?

War nicht nötig.

Was für einen Eindruck macht sie?

Okay.

Nervös?

Ziemlich.

Wir schwiegen ein paar Augenblicke.

Können wir später sprechen?, fragte Samuel.

Länger waren unsere Gespräche nicht. Ich bat ihn, nach dem Arztbesuch anzurufen, und dann legten wir auf. Das war das letzte Mal, dass ich seine Stimme hörte.

Mit freundlichen Grüßen.

*

An einem Dienstag haben wir an der Universität gestanden und Bücherkartons und Giveaways und Projektoren und ein großes gelbes Plastiksofa in einen Siebeneinhalbtonner ge­laden. Da war so ne Art Messe gewesen. Der Kunde hatte gesagt, dass es eigentlich in ein paar Stunden erledigt wäre, aber jetzt war schon Nachmittag, und wir waren immer noch nicht losgekommen. Die Sonne schien, die Studenten lagen auf der Wiese, und weiter hinten sah ich eine schmale Figur mit lose hängendem Rucksack in Richtung U-Bahn gehen. Das war Samuel. Ich war sicher. Ich vergesse niemals ein Gesicht.

*