Das Kapital sind wir - Timo Daum - E-Book

Das Kapital sind wir E-Book

Timo Daum

4,8

Beschreibung

Was passiert, wenn sich Unternehmen Menschheitsaufgaben zum Ziel setzen? Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der das Internet zur Meta-Struktur einer neuartigen, digitalen Ökonomie wird? Internet-Monopole sind allgegenwärtig, deren Ziel nicht mehr die fabrikmäßige Herstellung von Waren und deren Verkauf ist, sondern die Organisation des Zugangs zu Wissen und Information selbst. Ob es darum geht, die ganze Erde zu kartieren oder alle Freundschaften der Welt zu organisieren – im digitalen Kapitalismus werden Algorithmen zur wichtigsten Maschine, Daten zum essenziellen Rohstoff und Informationen zur Ware Nummer eins. Der digitale Kapitalismus beutet immer weniger lebendige Arbeit direkt aus. Stattdessen halten wir, die User, ihn mit unserer Aktivität auf den digitalen Plattformen am Leben: User Generated Capitalism. Ein Heer von Mikro-Entrepreneuren, befreit von Festanstellungsverträgen und gesetzlichen Regelungen, versucht in den Prärien des digitalen Wilden Westens sein Glück: Jeder kann für fünfzehn Minuten ein Unternehmer sein! Und hält sich sonst mit dem bedingungslosen Grundeinkommen über Wasser – dem mit Deregulierung und Vereinzelung bestens kompatiblen "Sozial"-System des digitalen Kapitalismus. Kritik, die auf Datensammelwut oder Zersplitterung von Arbeitsverhältnissen fokussiert ist, greift zu kurz. Oft wird der digitale Kapitalismus vom Standpunkt des Vor-Digitalen aus kritisiert und entweder verleugnet oder verharmlost: der Informations-Kapitalismus scheitere an sich selbst. Der Kapitalismus ist aber nicht in der Krise, er wird auch nicht zum Post-Kapitalismus, im Gegenteil: er macht das Kyoto-Protokoll zu seiner Agenda und tritt an, eine postfossile kapitalistische Ära zu begründen. Und mit der Entwicklung von selbstfahrenden Autos etwa fordert der digitale Kapitalismus den Fordismus auf dessen ureigenem Terrain heraus, wenn er sein iconic product – das Automobil – umdefiniert zu Mobilität als IT-Service.

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TIMO DAUM, geb. 1967, arbeitet als Hochschullehrer in den Bereichen Online, Medien und Digitale Ökonomie. Er ist Dipl.-Physiker und verfügt über zwei Jahrzehnte Erfahrung in der IT-Branche. Er publiziert und hält regelmäßig Vorträge zu Themen rund um Digitalisierung und Kapitalismus.

TIMO DAUM

DAS KAPITAL SIND

WIR

ZUR KRITIK DER

DIGITALENÖKONOMIE

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2017

Originalveröffentlichung · Erstausgabe September 2017

Illustrationen im Innenteil: Susann Massute

Autorenporträt Seite 2: Fabian Grimm

Umschlaggestaltung: Maja Bechert

eISBN 978-3-96054-059-5

Inhalt

Einleitung

Das Kapital wird digital · Kurze Geschichte eines Krisendiskurses · Kapitalismus im Gigahertz-Bereich

Der Weg zum Digitalen Kapitalismus

Vom Fordismus zum Informations-Kapitalismus · Macht kaputt, was euch kaputt macht! · Das Auto

Information, ein tückisches Ding

Das digitale Paradox · Die Sache mit den Grenzkosten · Energie für umsonst?

Berechnen und Herrschen

Die universelle Maschine · Dienst nach Vorschrift · Algorithmen, die dazulernen

Weltverbesserung™ Inc.

Go West! · Was man nicht messen kann, kann man auch nicht verbessern · Der Digitale Kapitalismus übernimmt das Steuer

Wer sind die Roboter?

Wissenschaftlicher Kapitalismus · Wer ersetzt hier wen? · Content Moderation · Lob der Automatisierung

User-Generated Capitalism

Umzäunte Gärten · Wo Mensch und Bot sich Gute Nacht sagen · Das Kapital sind wir · Ausbeutung 2.0 · Die Sache mit den Daten

Sharing is Caring?

Uber · Airbnb · Inside Airbnb · Demokratischer Kapitalismus · Besitz ist soo 90er!

Kreativ-Arbeit 2.0

Die digitale Bohème · Burn-out · Arbeit – ein Folterinstrument · Jenseits der Arbeit

Die Geburt der Solo-Kapitalisten

Es ist genug für alle da · Sozialismus nach innen · Franchise nach außen

Das Bedingungslose Grundeinkommen und der Digitale Kapitalismus

Die Chicagoer Variante · Das Grundeinkommen von links · Sozialstaat durch Crowdfunding · Die Zukunft des Sozialstaats · Jenseits der Vollzeitstelle · Risikokapital für alle

General intellect – die Transformation von Wissen in Kapital

Die innere Schranke des Kapitals ·

Kapitalismus as a service · Akkumulation durch Innovation · Ist das noch Kapitalismus?

Der Digitale Kapitalismus ist da

Mein Leben als Investment · Big Data for the People!

Anmerkungen

Auswahlbibliografie

Dank

Einleitung

Vor 150 Jahren, als Karl Marx den ersten Band seines Hauptwerks Das Kapital veröffentlichte, war das Leben auf dieser Welt für die Allermeisten ein Jammertal. Zu Lebzeiten des großen Kritikers des Kapitalismus betrug die Lebenserwartung gerade einmal 35 Jahre, 90 Prozent der Weltbevölkerung lebten in absoluter Armut, und so war es immer gewesen. 1970 waren es dann nur noch 60 Prozent, heute sind wir bei ca. 10 Prozent angelangt. Nicht nur ökonomisch, auch politisch geht es der Menschheit heute ungleich besser als noch zu Marx’ Zeiten. Die meisten Forderungen des Kommunistischen Manifests sind erfüllt, ja sie gelten geradezu als Wesensmerkmale unserer Zeit: Allgemeines Wahlrecht, die rechtliche Gleichstellung von Frauen und kostenlose Schulbildung sind heute in vielen Ländern selbstverständlich, ganz zu schweigen von der Einführung von Nationalbanken und der Abschaffung der Kinderarbeit, um nur einige Beispiele aus dem einstmals so radikalen Manifest zu nennen.

Etwa zur gleichen Zeit als Karl Marx in der British Library in London fieberhaft an seinem Hauptwerk arbeitet, versucht Charles Babbage einen programmierbaren Rechenautomaten zu bauen, die Analytical Engine. Der britische Fabrikant, Nationalökonom und Erfinder scheitert zwar an der Umsetzung, hat aber eine komplexe, aus 30.000 Einzelteilen bestehende Maschine erdacht, die in der Lage sein sollte, beliebige Rechnungen durchzuführen. Heute gibt es solche Maschinen – wir nennen sie Computer. Sie sind millionenfach leistungsfähiger als Babbages Maschine und passen gleichzeitig bequem in jede Rocktasche.

Die analytischen Maschinen unserer Tage sind zudem alle miteinander verbunden über ein unsichtbares Netz. Wir nennen es Internet, eine weltweite, überstaatliche, gewöhnlich kostenlos nutzbare Infrastruktur für Kommunikation und Produktion – die Internationale der Information. Es ist zum Rückgrat der Weltgesellschaft und zum wichtigsten Produktions- und Kommunikationsaggregat geworden. Riesige Mengen binär codierter Daten und Anweisungen werden fast mit Lichtgeschwindigkeit übertragen: Das digitale Äquivalent des gesamten Bestandes der British Library im Jahre 1850 – damals die größte Bibliothek der Welt – wird heute 35 Mal pro Sekunde über dieses Netz gesendet.2

Absolute Armut weltweit1

Vermutlich wäre Karl Marx – der immer ein ausgewiesener Anhänger technischen Fortschritts gewesen ist und den wir uns als begeisterten Smartphone-Nutzer vorstellen können – beeindruckt. Berichtete man ihm dann auch noch von Google, dessen erklärtes Ziel darin besteht, »die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen«3, und von Facebook, einer Plattform, auf der die ganze Welt ohne Ansehen von Geschlecht, Alter oder Herkunft Inhalte und Gedanken kostenlos teilen kann, dann wäre er wohl restlos begeistert. Diese Plattformen, die das frei verfügbare Wissen der Welt in Sekundenbruchteilen überall zugänglich machen und Milliarden Nutzerinnen zählen – klingt das nicht nach der Verwirklichung kühner Menschheitsträume? So in etwa hatte Marx sich vermutlich die soziale Utopie vorgestellt, die wahrhaft menschliche Gesellschaft auf der Grundlage von Gemeingut und kollektiver Problemlösung. Wenn wir ihm nun aber erzählen sollten, wie denn das Proletariat die Weltrevolution geschafft hat, um den Informations-Kommunismus zu errichten, würde der schwierigere Part beginnen.

Leider müssten wir ihm mitteilen, dass die Lage doch nicht so rosig ist. Dass alte Fragen nach politischer Repräsentation, sozialer Gerechtigkeit und sinnvoller Ressourcenverteilung immer noch nicht gelöst sind. Dass das Privateigentum an Produktionsmitteln immer noch vorherrscht, dass es immer noch Reiche und Arme gibt, die Ungleichverteilung sogar zugenommen hat und noch weiter zunimmt. Dass eben immer noch jeder Zehnte in absoluter Armut lebt, obwohl die reichsten Länder deren vollständige Überwindung aus der Portokasse zahlen könnten.4 Dass das Kapital keineswegs vom Antlitz der Erde verschwunden ist, dass es sich ganz im Gegenteil bester Gesundheit erfreut. Dass Kriege, Unterdrückung, Religion und Unwissenheit nach wie vor diese Gesellschaftsform begleiten, die da Kapitalismus heißt.

Wir müssten ihm erklären, dass wir es mit einem neuen Kapitalismus zu tun haben, in dem Information und ihr Austausch über Datennetze in den Mittelpunkt der ökonomischen und gesellschaftlichen Aktivität geraten: dem Kapitalismus des digitalen Zeitalters. Dass die erwähnten Infrastrukturen und Plattformen zudem vortrefflich harmonieren mit diesem Digitalen Kapitalismus. Dass dieser ein Verwertungsmodell aus der Taufe gehoben hat, dessen Hauptaugenmerk nicht mehr die fabrikmäßige Herstellung von Waren und deren Verkauf ist, sondern die Organisation des Zugangs zu Wissen und Information. Dass Algorithmen zum entscheidenden Produktionsmittel, Daten zum zentralen Rohstoff und Information zur Ware Nummer eins werden. Dass die oben erwähnten Plattformen Google und Facebook profitorientierte Unternehmen sind, die auf der Suche nach Rendite um den Globus jagen wie einst die East India Company, und die das akkumulierte Weltwissen als Quelle ihrer Bereicherung nutzen. Dass sich ebendieser Kapitalismus – Marx selbst hatte das klar gesehen und immer wieder betont – tatsächlich als erstaunlich wandlungsfähig erwiesen hat.

Das Kapital wird digital

In was für Zeiten leben wir? Sind »Globalisierung« oder »Neoliberalismus« adäquate Bezeichnungen dafür? Globalisierung bezeichnet die anwachsende Verflechtung verschiedenster Bereiche des Lebens, wie Wirtschaft und Kultur, über den gesamten Erdball hinweg und ist sicher ein prägendes Kennzeichen der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Allerdings war der Kapitalismus schon immer global. Schon das Manifest wusste über die Bourgeoisie: »Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.«5 »Neoliberalismus« steht für einen marktradikalen neuen Liberalismus, der nach dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus nach 1989 zum herrschenden Paradigma geworden ist. Kernelemente der Agenda der Neoliberalen sind die zehn Punkte, die im sogenannten »Washington Consensus« genannt werden. Diese Maßnahmenliste, die als Politikempfehlung etwa vom Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der US-amerikanischen Zentralbank FED gefördert wird, enthält folgende Vorgaben: verantwortungsvolle Regierungsführung, Demokratisierung, Förderung des Freihandels, Wegfall von Subventionen, Liberalisierung ausländischer Investitionen, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung des Finanzmarkts, Steuersenkungen und Austeritätspolitik.6

Weil Freedom and Democracy 1989 die Systemkonkurrenz gewonnen haben, hat der Kapitalismus keine ernstzunehmenden Gegner mehr, konsequenterweise wurde daraufhin das Ende der Geschichte ausgerufen. Die Folge ist Jean-François Kahn zufolge eine Pensée unique7, eine Gleichschaltung im Denken, die von ideologischen Voraussetzungen stillschweigend ausgeht, die nicht hinterfragt, ja nicht einmal mehr thematisiert werden können und so zu einem Mainstream-Konformismus führen. Und die Ökonomie ist sowieso eine black box oder – wie der ehemalige Vorsitzende der US-Notenbank Alan Greenspan einmal bemerkte: »notorisch undurchschaubar«8. Wenn es keine Alternativen mehr gibt, herrschen Sachzwänge, und politische Entscheidungen werden durch technokratische Prozesse abgelöst. Der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher gebührt die Ehre, die Formel dafür geprägt zu haben: »There is no alternative.«9 Der deutsche Bundeskanzler Schröder übernahm diesen Ausspruch Jahre später wörtlich: »Es gibt keine Alternative.« Und Angela Merkel hat die Sachzwang-Logik als Leitlinie der Politik zur höchsten Vollendung gebracht.

Gleichzeitig werden die eingeschränkten Spielräume der Politik vielerorts beklagt. Die Bewertung einer Rating-Agentur kann über Wohl und Wehe ganzer Staaten entscheiden. Und doch stimmen trotz aller politischen, religiösen und kulturellen Differenzen die Linke mit der Rechten, Angela Merkel mit Wladimir Putin, die chinesische KP mit dem IS überein: Kapitalistische Verhältnisse sind alternativlos. Selbst der Islamische Staat ist letztlich ein mikrokapitalistisches System, das reibungslos Geldökonomie und Scharia zu vereinbaren vermag. Der Kapitalismus war noch nie so tief in Individuen und Gesellschaft verankert wie heute – über alle kulturellen Grenzen hinweg. Der Abschied von fundamentaler Gesellschaftskritik und jeglicher Perspektive auf wirklich radikale Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung ist die Folge, diese müssen erst mühsam wieder erarbeitet werden.

Allerdings: Vernünftig war der Kapitalismus noch nie. Alle handeln innerhalb des vorgegebenen Framework zwar scheinbar rational, als »rein wirtschaftlich« Denkende und zu uneingeschränkt rationalem Verhalten Fähige, sprich: mit dem Ziel, als Konsument maximalen Nutzen zu erzielen und als Produzent maximalen Profit. Heraus kommt jedoch ein blindes System der Verschwendung und Dysfunktionalität. »Die Prozesse sind im Einzelnen rational und im Ganzen unvernünftig«, bringt Rüdiger Safranski das auf den Punkt.10

Das einzige ähnlich globale, ähnlich omnipräsente und jenseits aller Kritik stehende Phänomen unserer Zeit ist die Digitalisierung, sie halten weder Ochs noch Esel auf. Niemand will und kann diesen Exportartikel aus Kalifornien ausbremsen. Das Internet ist fundamental für ein reibungsloses Funktionieren der gesamten Ökonomie geworden, und es wird gleichzeitig zum elementaren Lebensmittel des Einzelnen, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Das Internet sei ja ein dezentrales Netzwerk, basiere auf Protokollen, die intrinsisch demokratisch seien, Gleichberechtigung unter Peers sei geradezu in seine DNA eingeschrieben, so die landläufige Meinung. Insbesondere Online-Kommunikation sei daher per se demokratisierend, bildend, Hierarchien verflachend und führe zu einer besseren Welt. Die Zivilgesellschaft freut sich über die Rolle von Facebook während des Arabischen Frühlings. Angela Merkel twittert ebenso wie Barack Obama, und Wladimir Putin hat einen professionellen Facebook-Auftritt. Alle waren voll des Lobes über Obamas auf die sozialen Medien gestützte moderne Wahlkampagne, die ausdrücklich auf die Millennials abgestimmt war, also die Gruppe der ab Anfang der 1980er Jahre Geborenen bis zu den heutigen Teenagern. Die Kinder der Baby-Boomer sind mit digitalen Technologien, dem Internet und sozialen Medien aufgewachsen und haben diese sowie damit verknüpfte Nutzungsweisen verinnerlicht. Die Digital Natives, eine neue aufgeklärte und medienkompetente Generation, hatte den Change gewählt.11 Acht Jahre später ist der Katzenjammer groß – auch und insbesondere im Silicon Valley: Donald Trump wurde zu Obamas Nachfolger gewählt mit stolzen 13 Millionen Followern auf Twitter. Die ganze Welt benutzt Google und Facebook (fast), und der unbedingte Wille und gleichzeitig der Zwang mitzumachen, sind universell geworden.

Der Begriff »Digitaler Kapitalismus« fasst beides zusammen: den Konsens über die vermeintliche Alternativlosigkeit kapitalistischer Verhältnisse und die Bereitschaft, sich den Sachzwängen der Waren-Ökonomie zu fügen, einerseits, und die gleichermaßen schicksalsergebene Hinnahme der Digitalisierung à la Silicon Valley und das Mitmachen bei deren Plattformen andererseits.

Kurze Geschichte eines Krisendiskurses

Die internationale Kommunismus-Konferenz 2016 in Rom fragte, was aus dem Kapital im 21. Jahrhundert geworden sei. Es war viel von Politik die Rede, weniger von politischer Ökonomie, und von der digitalen Transformation überhaupt nicht.12 Auch in einem gerade erschienenen Sammelband zu linker Gesellschaftskritik (Die große Regression), der mit einer illustren Autorschaft von Appadurai über Baumann, Latour bis Žižek aufwarten kann, dreht sich alles um Demokratie und Despotismus. Das »Zusammenwirken von Globalisierungsund Neoliberalismusrisiken« wird für den Zustand der Welt verantwortlich gemacht.13 Erst in der Mitte des Sammelbandes erwähnt Ivan Krastev das Internet und schreibt, die Nigerianer seien 1981 noch genauso glücklich gewesen wie die Westdeutschen. Das sei nun nicht mehr der Fall: »Die Nigerianer haben inzwischen Fernsehen, und die Ausbreitung des Internets ermöglicht es jungen Afrikanern heute, sich anzusehen, wie die Europäer leben und wie ihre Schulen und Krankenhäuser aussehen.«14 Das Fernsehen und das Internet seien schuld daran, dass a) die Nigerianer nicht mehr glücklich sind und b) sie auch noch »zu uns« kommen wollen.

Ähnlich onkelhaft äußert sich der ansonsten von mir hochgeschätzte Paul Mason, wenn er »Industriearbeitsplätze in die nördliche Hemisphäre zurückholen«15 will. Die israelische Soziologin Eva Illouz mahnt, die Linke möge sich »wieder beherzt mit der moralischen Welt von Menschen auseinandersetzen, deren Leben zwischen den Mühlsteinen von Kolonialismus und Kapitalismus zerrieben« werde, eine blumig ausgedrückte Variante des sozialdemokratischen Anspruchs, das Volk da abzuholen, wo es steht, auch wenn es ganz rechts steht.16 Diese Gesellschaftskritik erscheint doch erstaunlich paternalistisch, einigermaßen ratlos und nicht eben vorbereitet auf die Transformationen des Kapitalismus selbst.

Es ist gerade einmal elf Jahre her, dass Steve Jobs das iPhone präsentierte. Heute besitzen 2,3 Milliarden Menschen ein Smartphone17 und haben damit mobilen Zugang zum Internet und zahllosen Kommunikationskanälen. Globale Dienste wie E-Mail, Messaging, Karten-Navigation sind heute kostenlos und für alle gleichermaßen in hoher Qualität verfügbar. Technologien, die vor kurzem noch dem Militär vorbehalten waren, wie etwa GPS, oder aufgrund hoher Preise einer zahlungskräftigen Minorität, wie etwa Videotelefonie, sind heute allgegenwärtig. Sie stellen gleichzeitig einen immensen Produktivitätsschub dar, der in volkswirtschaftlichen Messgrößen wie etwa dem Bruttoinlandsprodukt gar nicht auftaucht. Für die vielen Flüchtenden ist das Smartphone zum wichtigsten Begleiter geworden – Informationsquelle, Kommunikations- und Zahlungsmittel zugleich.

Gleichzeitig sind viele enttäuscht darüber, was aus der digitalen Welt geworden ist, dass sie von Konzernen und Überwachung geprägt ist. Es ist Mode geworden, die Macht der amerikanischen Internet-Konzerne zu geißeln, deren Monopole zerschlagen zu wollen, europäische Alternativen zu fordern. Schon die Computerpionierin Ada Lovelace beschrieb 1842 in den Kindertagen der informationellen Revolution dieses Wechselspiel: »Bei der Betrachtung eines neuen Gegenstandes zeigt sich häufig die Tendenz, zunächst zu überschätzen, was wir interessant und bemerkenswert finden, um hernach, in einer Art natürlichen Gegenreaktion, dessen tatsächlichen Wert zu geringschätzen, wenn wir feststellen, dass unsere ursprünglichen Vorstellungen unhaltbar waren.«18

Marx’ Lob des Kapitalismus für dessen Fähigkeit zur Innovation ist berühmt. Von Seiten der Linken ist heute wenig davon zu hören. Der Kapitalismus wird doch eher als in der Krise befindlich betrachtet, er habe abgewirtschaftet, heißt es, ökonomisch und moralisch. Er lebe nur noch auf Pump, Finanzkrise und Autoritarismus seien Krisenphänomene eines Systems im Niedergang. Der Digitale Kapitalismus und das Silicon Valley werden eher als ein Randphänomen betrachtet. Dessen Datensammlungen scheinen das größte Problem zu sein, dem mit Regulierung und politischen Maßnahmen Beschränkungen auferlegt werden sollen. Die britische Historikerin Tessa Morris-Suzuki fasste vor über zwei Jahrzehnten die zwei kontrastierenden Positionen der Linken folgendermaßen zusammen: »Entweder sie leugnet, dass die zeitgenössische Informations-Revolution überhaupt eine grundlegende Veränderung in der Natur des Kapitalismus darstellt, oder sie behauptet, sie sei bloßer Ausdruck des Todeskampfs des kapitalistischen Systems.«19

Zu glauben, der Kapitalismus sei dabei, sich selbst zu untergraben oder gleich ganz abzuschaffen, hat eine lange Tradition in der Linken. Ende des 19. Jahrhunderts sahen Rosa Luxemburg und Karl Kautsky den Kapitalismus an geografische Expansionsgrenzen stoßen, da nur noch wenige neue Märkte zu erobern seien: »Das hieße aber nichts anderes als den Bankrott der ganzen kapitalistischen Gesellschaft«, so Kautsky.20 Und Rosa Luxemburg sprach vom bevorstehenden Kollaps und der Rolle als »Konkursverwalter eines bankrotten Systems«, die den Revolutionären dann zukäme.21 Ein paar Jahre später beschrieb Lenin den Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus. In den 1970er Jahren entwarf Ernest Mandel seine Theorie vom Spätkapitalismus, und in den 1990er Jahren prägte Robert Kurz den Begriff »Kasinokapitalismus« für einen Finanzkapitalismus, der nur noch eine kurz vor dem Platzen befindliche Spekulationsblase sei. Immer ist der Kapitalismus eigentlich schon am Ende, hat sein Blatt hoffnungslos überreizt, und der Tag des Zusammenbruchs ist nicht mehr weit. All diese Krisenszenarien haben sich bis dato blamiert. Das Unsichtbare Komitee hat das erkannt und widerspricht dieser Interpretation in ihrem 2015 erschienenen Pamphlet An unsere Freunde: »Was wir erleben, ist nicht eine Krise des Kapitalismus, sondern im Gegenteil der Triumph des Kapitalismus der Krise.«22

Auch die neuen Postkapitalisten – Paul Mason und Jeremy Rifkin an vorderster Stelle – stimmen in den Krisendiskurs ein: »Dieser Kapitalismus funktioniert nicht.«23 Sie prognostizieren keinen großen Knall, dafür aber einen Übergang des Kapitalismus in eine postindustrielle Informationsgesellschaft. Dieser Übergang werde mehr oder weniger friedlich, spontan und schrittweise stattfinden bzw. habe eigentlich schon angefangen. Beides ist meiner Ansicht nach falsch. Der Digitale Kapitalismus ist etwas genuin Neues, eine neue Ära innerhalb der Geschichte des Kapitalismus, eine neue Phase, wie einst der Manchester-Kapitalismus oder der Fordismus. Der Kapitalismus ist nicht in der Krise, er verwandelt sich auch nicht in einen Post-Kapitalismus, im Gegenteil: Er intensiviert sich.

Kapitalismus im Gigahertz-Bereich

Alan Turing stellte 1936 das Konzept einer theoretischen Maschine vor. Diese Blaupause für den modernen Computer ist die vielleicht wichtigste Erfindung des 20. Jahrhunderts: Die universelle Symbolverarbeitungsmaschine kann alles, was in Form eines Algorithmus ausgedrückt werden kann, abarbeiten. Der Radius dieser Maschine, die Grenze dessen, was berechenbar ist, dehnt sich ständig aus. Der Takt der modernen Inkarnationen von Turings brillanter theoretischer Maschine ist um ein Vielfaches höher als bei der Dampfmaschine oder bei Fords Fließbändern. Und er wächst seit den 1960er Jahren exponentiell, wie der Mitbegründer des Chip-Herstellers Intel, Gordon Moore, 1965 empirisch festgestellt hatte.24 Mit der Rechenleistung wachsen die Anwendungsmöglichkeiten. Vergleichen wir die Leistungssteigerung moderner Computer, gemessen etwa an Arbeitsspeicher und Taktfrequenz, mit dem Automobil, kommen phantastische Leistungswerte heraus: Gälte Moores Gesetz auch für Motorleistung und Höchstgeschwindigkeit, könnten wir heute die Strecke Berlin–München in 0,2 Sekunden zurücklegen, angetrieben von Motoren mit vielen Millionen Pferdestärken.

Moores Gesetz oder: wenn Autos Computer wären

Die weltweit operierenden Unternehmen des Digitalen Kapitalismus sind nicht nur erfolgreich, sie verändern unser Leben grundlegend. Durch neue Geschäftsmodelle, Unternehmenskulturen und Strategien bestimmen sie, wie sich der Kapitalismus verändert. Das Internet – die ihren Geschäften zugrunde liegende Infrastruktur – wird zur Schlüsseltechnologie: Was das Auto in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, Ikone des Fortschritts und Namensgeber für eine Ära, den Fordismus, ist Anfang des 21. Jahrhunderts das Netz. Die digitale Oligarchie der Google, Facebook & Co. erschließt uns das WWW, macht die Erdoberfläche für uns navigierbar, scannt alle Bücher dieser Welt ein, sorgt für Freundschaften und deren Pflege und findet in allen Lebensbereichen den perfect match. Wir nutzen gerne diese kostenlosen Services, haben aber keinen Einblick in deren Funktionsweise. Ihre Algorithmen »organisieren die Welt für uns, und wir haben diese datengespeiste Bequemlichkeit gerne angenommen.«25

Das Silicon Valley tritt an mit dem Versprechen, aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Das Weltbild der digitalen Oligarchie ist eine kreative Mischung aus dem festen Glauben an die Segnungen des freien Marktes, einem fetischistischen Verhältnis zu Technologie sowie Elementen kalifornischer Gegenkultur. Sie will nicht Produkte verkaufen, sondern die Welt verändern. Das Versagen des öffentlichen Sektors, der Rückzug des Staates und anderer öffentlicher Institutionen aus vielen Bereichen des Lebens ist ihnen Anlass, in diese Lücke vorzustoßen. Die Logik der business improvement districts, die man aus dem Urbanismus kennt, funktioniert so: Private Unternehmen übernehmen oder finanzieren öffentliche Aufgaben im städtischen Raum, erkaufen sich ein Mitspracherecht und transformieren ihn nach ihren eigenen Regeln. Letztendlich wird so aus öffentlichem Raum eine Simulation desselben, er wird zum Privatgelände.

Wir haben es mit einer neuen Phase des Kapitalismus selbst zu tun, wir beobachten die Herausbildung eines neuen Akkumulationsmodells. Ein Kapitalismus entsteht, der nicht mehr lebendige Arbeit direkt ausbeutet, nicht mehr im direkten Produktionsprozess Mehrwert abschöpft, sondern dem es stattdessen gelingt, die gesamte Gesellschaft mit ihren Gedanken und Tätigkeiten in den Dienst zu nehmen für die Generierung von digitalem Profit – die Silikolonisierung der Welt.26 Die herrschende Klasse des Internets zählt zwar viele Angestellte, aber deren Zahl ist verschwindend gering im Vergleich zu den Millionen Usern, die für sie arbeiten – wir alle. Das Kapital hat neue Wege gefunden und findet sie täglich neu, um aus Geld mehr Geld zu machen – selbst mit dem wunderlichen Ding, das da digitale Information heißt, diesem Zwitter aus Ware und Dienstleistung, Allgemeingut und Privatbesitz. Ein Digitaler Kapitalismus entsteht, der mit Information, Algorithmen und User Generated Content sein Geld verdient. Ein Kapitalismus auch, der das Kyoto-Protokoll ernst nimmt, der mit den fossilen Brennstoffen und der Umweltverschmutzung Schluss machen will. Der beste Kapitalismus, den wir je hatten. Und trotzdem noch Kapitalismus. Was würde Marx dazu sagen?

Der Weg zum Digitalen Kapitalismus

Jahrtausendelang war die Landwirtschaft wichtigster Wirtschaftszweig und Grundlage gesellschaftlicher und politischer Organisation. Erst mit der industriellen Revolution, die in den europäischen Ländern Anfang des 19. Jahrhunderts Fahrt aufnimmt, wird diese Dominanz überwunden – der Siegeszug massenhafter Produktion industrieller Waren setzt ein. Der Feudalismus hat diese technologische Entwicklung nicht überlebt. Dampfmaschinen und Lokomotiven überrollten die feudalen Strukturen und halfen mit, eine neue Gesellschaftsordnung aus der Taufe zu heben, die die ständige Umwälzung ihrer eigenen Grundlagen zur Folge und Voraussetzung zugleich hat: das kapitalistische Fabriksystem.

Die Grafik zeigt die relative Bedeutung verschiedener Branchen in der globalen Ökonomie seit 1800. Die absolute Produktion, auch die landwirtschaftliche, ist dabei immer weiter gestiegen, nicht zuletzt aufgrund der Einführung industrieller Methoden in der Landwirtschaft. Im Kommunistischen Manifest von 1848 steht die Forderung nach der Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie sowie nach der allmählichen Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land. Daran lässt sich ermessen, wie dominierend damals, im Advent des neuen Fabriksystems, die Landwirtschaft noch gewesen ist. Im Jahr 1867, wenige Jahre vor dem Schnittpunkt der beiden Kurven Landwirtschaft und Produktion, erscheint Das Kapital, also zu einer Zeit, in der die Industrie noch lange nicht dominiert.

Erst das 20. Jahrhundert bringt ein Modell hervor, das den Siegeszug der Industrie vollendet: den durch annähernde Vollbeschäftigung, Massenproduktion und -konsum gekennzeichneten Fordismus. Im Oktober 1913 eröffnete Henry Ford die erste sich selbst bewegende Montagestraße und legte damit den Grundstein für den heutigen Weltmarkt an Massengütern. Frederick Taylors Ideen eines »wissenschaftlichen Managements« des Produktionsprozesses treiben die kostensparende und effiziente Produktion von Konsumgütern voran. Ungelernte Arbeiter*innen wurden in eine mechanisierte und automatisierte Maschinerie eingebunden, Arbeitsteilung kleinteilig organisiert und vom Management streng überwacht. Erst klare Arbeitsteilung, eine detaillierte Trennung einzelner Montageschritte und die Einführung eines strikten Programms, nach dem diese Arbeitsschritte entlang des sich bewegenden Produktionsbandes zu erfolgen hatten, ermöglichten ein System standardisierter Massenproduktion. Ebenso wichtig wie die Massenproduktion war Henry Fords Credo, die Arbeiter an den Bändern sollten die Produkte, an deren Herstellung sie beteiligt waren, selbst erwerben können. Durch relativ hohe Löhne, die den Arbeitern genau das ermöglichen sollten, schuf Ford die Blaupause eines Gesellschaftsmodells, das auf Massenproduktion für einen homogenen Massenmarkt beruhte.

Information auf dem Vormarsch1

Nach und nach wurde dieses Modell zum weltweiten Standardmodell kapitalistischer Entwicklung, wobei Staaten und Konzerne bei der Durchsetzung dieser gewaltigen Transformation Hand in Hand arbeiteten. Lange Zeit nämlich wurde dem neuen Modell, das von den USA aus seinen Siegeszug antrat, in Europa Skepsis entgegengebracht. Das vorherige, auf Schwerindustrie, öffentliche Infrastrukturmaßnahmen und hohe Militärausgaben basierende Modell hatte noch auf Luxusgüterproduktion für eine Elite gesetzt und war durch pointierte Klassenspaltung gekennzeichnet. Die Ausbeutung der Kolonien gewährleistete den Zugang zu Rohstoffen. Das war z. B. das Modell des British Empire; Spuren davon sind bis heute in der starken Lifestyle-Differenz zwischen der Oberklasse und der Arbeiterklasse in England sichtbar. In den USA hingegen führte der Massenkonsum zu relativem Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten und auch zu einer stilistischen Annäherung von arm und reich: Turnschuhe, Basecap, Jeans – bis heute ist dieser egalitäre Kleidungsstil typisch für Amerikanerinnen und Amerikaner. »Von Detroit im Jahr 1913 bis nach Shanghai im Jahr 2013, die vielfältigen Inkarnationen dieser neuen Produktions- und Konsumtionsweise haben sich als ökonomische Leitbilder für einen Großteil der Menschheit etabliert – nicht ohne gelegentlichen beharrlichen Widerstand«2, so fasst der brasilianische Politikwissenschaftler Alfredo Valladão den Siegeszug des neuen demokratisierenden Produktionsund Konsumtionsmodells zusammen.

Es hat lange gedauert, bis rund um den Globus überall die gleichen Produkte nachgefragt wurden, aber es ist gelungen. Die Werbeindustrie der USA hat daran erheblichen Anteil, denkt man etwa an die Omnipräsenz von Coca-Cola, die absolut identisch überall auf der Welt verkauft wird, ohne jedes Zugeständnis an lokale oder nationale Besonderheiten des Geschmacks. »Jeder Kunde kann sein Auto in jeder beliebigen Farbe lackiert bekommen, solange die Farbe, die er will, schwarz ist.« Henry Fords bei einem Meeting im Jahre 1909 geäußertes Statement ist berühmt geworden. Nur durch Einheitlichkeit war es möglich, das Auto so billig herzustellen, dass es zum ersten Mal zum Massenprodukt werden konnte, und nicht mehr nur einer kleinen Elite vorbehalten war. Ford weiter: »Ich werde ein Auto für die große Masse bauen. Es wird aus den besten Materialien und von den besten Männern zusammengebaut werden, nach den einfachsten Designs, die moderne Technik zu entwickeln imstande ist. Aber es wird so niedrig im Preis sein, dass kein Mann, der ein gutes Gehalt verdient, nicht in der Lage wäre, eins zu besitzen – und mit seiner Familie die Segnungen der Freude in Gottes offenen Weiten zu genießen.«3

Vom Fordismus zum Informations-Kapitalismus

Mitte der 1970er Jahre gerät das fordistische Modell in die Krise. Die Ölkrise einerseits und die mikroelektronische Revolution, der Beginn der Digitalisierung und des Einsatzes von Computern in allen Bereichen andererseits läuten das Ende einer Ära ein. Insbesondere in den westlichen Industriestaaten findet ein Strukturwandel statt, der durch den Abbau industrieller Infrastrukturen, Rationalisierung und damit ein substanzielles Schrumpfen der Anzahl der Beschäftigten in der direkten Produktion gekennzeichnet ist. Gleichzeitig gewinnen flüchtige Arbeitsleistungen an Bedeutung: die Dienstleistungen. Der Terminus Dienstleistungsgesellschaft wird geprägt – die Verkäufer, Beraterinnen, Friseure und Web-Designerinnen werden immer mehr.

Daniel Bell kann als einer der ersten gelten, der diese postindustrielle Gesellschaft beschrieben hat.4 Der in Harvard lehrende Soziologe hatte in den 1970er Jahren den Abschied vom Fordismus gepredigt und in der neuen Informationsgesellschaft intellektuelle Wissensarbeiter am Werk gesehen, er hat mit seinen Thesen eine ganze Generation an Intellektuellen und Politikern beeinflusst. Die postindustrielle Gesellschaft weist nach Bell folgende zentrale Merkmale auf: eine Verschiebung der zentralen ökonomischen Aktivität weg von der Produktion von Gütern hin zu einer Dienstleistungswirtschaft und die damit zusammenhängende Herausbildung einer »professionellen und technischen Klasse« an Wissensarbeitern, Akademikern, Ingenieuren, kurz: gut ausgebildeten Fachleuten (white-collar workers), der neuen Mittelklasse der Wissensgesellschaft. Weiterhin betont Bell die Bedeutung theoretischen Wissens, das zur Grundlage von Innovationen und politischen Entscheidungen wird. Für heutige Ohren klingen »Zukunftsorientierung durch geplante Innovationen« und eine »neue computergestützte intellektuelle Technologie« etwas esoterisch, es sind aber alles in allem verblüffend treffende Charakterisierungen einer Gesellschaft, in der Wissen und Information tatsächlich die alte industrielle »Maschinentechnologie« in den Hintergrund gedrängt haben.

Wir leben heute in einer Zeit kurz vor dem Schnittpunkt der drei Kurven Produktion, Dienstleistungen und Information. Der Siegeszug einer neuen Produktionsweise ist in vollem Gange, aber noch längst nicht abgeschlossen. Noch zu Marx’ Zeiten war die Vorstellung, die Industrieproduktion könne einmal die alles dominierende Produktionsweise werden, einigermaßen radikal. Wir tun uns heute ähnlich schwer mit der Vorstellung, dass sich in Zukunft die Produktion und die Dienstleistungen dem Primat der Information werden unterordnen müssen.

Macht kaputt, was euch kaputtmacht!

Jedes Jahr veröffentlicht das US-Wirtschaftsmagazin Fortune eine Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt: die FG500. Seit dem Jahr 2000 gingen 52 Prozent der in ihr aufgeführten Unternehmen entweder in Konkurs, wurden aufgekauft oder haben aufgehört zu existieren.5 Die Aushöhlung ganzer Branchen durch neue Verfahren und Geschäftsmodelle wird jedoch keinesfalls als Problem oder gar als Krisensymptom gedeutet, sondern als Beweis für die Überlegenheit kapitalistischer Marktwirtschaft – diese Zahlen wurden von der Wirtschaftspresse und in den Publikationen der Consulting-Gruppen geradezu gefeiert! Oft begleiten ultraliberale und antiregulatorische Diskurs-Elemente dieses Lob. »Disruptive Innovation« oder »Disruption« ist zum Modewort geworden. Es bezeichnet die Etablierung neuartiger, bisher unbekannter Produkte oder Dienstleistungen, die als kleine Nischeninnovation beginnen und bestehende Märkte von unten erobern, deren Regeln verändern und letztlich etablierte Player verdrängen können. Der vom Harvard-Professor Clayton Christensen6 bereits in den 1970er Jahren beschriebene Mechanismus erlebt im Zeitalter der Online-Plattformen einen zweiten Frühling: Unternehmen wie Uber und Airbnb gelten als Paradebeispiele für digitale Disruption und die Fähigkeit des Kapitalismus, sich immer wieder neu zu erfinden.

Schon Karl Marx hatte, wenngleich er den Begriff nicht erfunden hat, doch das Grundprinzip erkannt: »Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.«7 Der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter ging noch einen Schritt weiter: Er hatte sich explizit mit Innovation und ihren Auswirkungen auf die Ökonomie im Kapitalismus beschäftigt und lieferte in seinem erstmals 1942 auf Englisch erschienenen Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie eine Steilvorlage für diese Feier der kreativen Zerstörung: »Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerksbetrieb und der Fabrik zu solchen Konzernen wie dem U.S.-Steel illustrieren den gleichen Prozess einer industriellen Mutation […], der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft.«8 Das Konzept der »schöpferischen Zerstörung«, das den Prozess der Innovation als Erneuerung einerseits und Zerstörung andererseits beschreibt, ist Schumpeter zufolge das »für den Kapitalismus wesentliche Faktum«9. Immer wieder gelang es dem Kapitalismus, technische Innovationen hervorzubringen und gleichzeitig deren systemsprengende Potenziale zu neutralisieren.

Die Liste an Erfindungen, Innovationen und Technologien, die schon als mit dem Kapitalismus nicht kompatibel bezeichnet wurden, diesen tendenziell in Frage stellend, mit denen er sich quasi sein Ende eingebrockt hätte, ist lang: Telefon, Radio, Fernsehen, gar Flugzeuge, Kopiergeräte und Modems – das ist nur eine kleine Auswahl an Technologien, von denen sich die Zeitgenossen wenn auch nicht unbedingt die Revolution und das Ende des Kapitalismus, so doch Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit oder gar den Weltfrieden erhofft hatten.

Francis Fukuyama beschrieb in The End of History and The Last Man, seinem epochalen Text über das Ende der Sowjetunion, aus dem auch das vielzitierte »Ende der Geschichte« stammt, wie eine Informationstechnologie zum »Sieg der Demokratie« beigetragen hatte. Medientechnologien wie der Videorekorder hatten dem American way of life in der Sowjetunion gewaltfrei zum Sieg verholfen und waren, Fukuyama zufolge, letztlich entscheidender als aller politische Aktivismus: »Das ist der Endsieg des Videorekorders.«10 Auch dem Computer und dem Internet und ihrem emanzipierenden Potenzial hatte man in Vorstellungen vom weltweiten globalen Dorf (Marshall McLuhan11) oder einem dezentral regierten Cyberspace (John Perry Barlow12) hoffnungsvoll entgegengesehen.

Auf Seiten der Linken gab es ebenfalls die Hoffnung, der Cyberspace hätte das Zeug zu einem diskriminierungs- und herrschaftsfreien Raum, in dem sich Identitäten frei entfalten könnten. Vilém Flusser kann mit seinem Universum der technischen Bilder13 als einer der euphorischsten Vordenker eines Cyberspace gelten, der emanzipative Gesellschaftsvorstellungen vorwegnimmt. Die 1990er Jahre waren geprägt von einer allgemeinen Aufbruchsstimmung, der Datendandy der Agentur Billwet war unterwegs, Linux kam auf sowie die Hoffnung, freie Software würde sich als nicht-kapitalistische Nische ihren Platz erobern können und ein kleines bisschen »Reich der Freiheit« entstehen lassen. Aus einer Euphorie um selbstbestimmte Vernetzung heraus war schon in den 1980er Jahren der Chaos Computer Club gegründet worden. Aber selbst technische Entwicklungen, die Besitzverhältnisse direkt in Frage stellen, wie freie Software oder Peer-to-Peer-Technologien, sind heute integraler Bestandteil der kapitalistischen Ökonomie geworden.

Ein großes, altehrwürdiges Unternehmen aus der Elektrobranche hat kürzlich eine neue Abteilung für digitale Herausforderungen gegründet. Das Unternehmen, das dank seiner Forschungs- und Entwicklungsabteilung auf eine lange Tradition an Produktentwicklung zurückblicken kann, verspricht sich davon, in Zukunft schneller mit marktreifen Produkten und Dienstleistungen aufwarten zu können, nämlich bereits nach etwa einem Jahr gegenüber den drei bis fünf Jahren Entwicklungszeit in einem eher traditionellen Umfeld. Damit nicht genug: Beschäftigte der Entwicklungsabteilung bekommen Freiräume für Kreativität, allen angestellten Forschern wird freie Zeit zum Basteln an selbstgewählten Projekten gewährt – ein Prinzip, das die Entstehung neuer Ideen fördern soll und bei den digitalen Playern und in der Kreativwirtschaft schon lange üblich ist. Aber auch schon die Bell Labs, die Forschungsabteilung der Bell Telephone Company, wandten dieses Prinzip seit den 1940er Jahren an, um kreatives Potenzial ihrer Beschäftigten auszunutzen.14 Nun ist das Prinzip also in Deutschlands Elektroindustrie angekommen: Die Rede ist von Bosch.

Doch der 59-jährige Bosch-Chef Volkmar Denner will seine 375.000 Mitarbeiter auch auf anderen Wegen zu neuen Ideen anstacheln: Per Videobotschaft rief er die Beschäftigten dazu auf, die eigenen Geschäftsmodelle anzugreifen. Weit über tausend Teams aus aller Welt schickten mittlerweile Antworten per Video – die besten werden nun ausgewählt und können zwei Monate lang ihre Angriffe aufs eigene Unternehmen ausarbeiten: »Besser, wir finden selbst die Schwachstellen unserer Geschäfte, als dass es andere tun.«15 So groß ist die Angst dieses Unternehmens vor der Disruption, dass es versucht, dieser zuvorzukommen und seine eigene Abschaffung lieber hausintern zu entwickeln.

Ob diese Strategie aufgehen wird, ist durchaus fraglich, schaut man sich das Beispiel von Kodak an, das Jaron Lanier so eindrucksvoll in seinem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Buch Wem gehört die Zukunft?16 angeführt hat. Die Firma war in den späten 1970er Jahren unangefochten Marktführerin im Bereich der analogen Fotografie. Kodak beschäftigte 1973 120.000 Angestellte weltweit und verdiente ein Vermögen mit der Produktion und dem Vertrieb von Filmen sowie deren Entwicklung und dem Herstellen von Abzügen: Das Unternehmen war 28 Mrd. US-Dollar wert. Und heute? Heute zählt Kodak nur noch ganze 7000 Mitarbeiter, hat sich auf die Herstellung professioneller Druckmaschinen zurückgezogen und mit Fotografie nichts mehr am Hut. Hat das Unternehmen etwa die Entwicklung verschlafen? Ganz im Gegenteil: Kodak hat die Digitalfotografie selbst erfunden! Die Firma war aber trotz ihrer Monopolstellung, trotz erfolgreicher Forschungen und innovativer Produktentwicklung nicht in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Zu radikal waren die Konsequenzen ihrer eigenen Erfindung: Bei der Digitalfotografie gibt es keinen Film mehr, der produziert und vertrieben werden müsste. Das Entwickeln der Filme entfällt, das Erstellen von Abzügen schließlich wird den Kunden selbst in die Hand gegeben. Die Kodak-Manager schreckten vor den weitreichenden Folgen der Disruption des eigenen Geschäftsmodells zurück, und die Innovation verschwand in der Schublade. Das Geschäft mit der digitalen Fotografie machten andere: die Smartphone-Hersteller sowie Facebook und Instagram – digitale Plattformen also.

Heute dauert es oft nur wenige Monate, bis aus einer Idee ein Produkt, aus einem Konzept eine Online-Plattform, aus einem Service eine App geworden ist, der vom ersten Moment der Veröffentlichung, des Online-Gehens an potenziell die ganze Welt als Markt zur Verfügung steht. Gleichzeitig ist es keine Sicherheitsgarantie mehr, einen großen Kundenkreis zu haben, lange Jahre im Geschäft und ein etabliertes Unternehmen zu sein. Mit ein paar Klicks können die Kunden zu einem anderen Anbieter im Netz wechseln, woanders einkaufen, zu einem anderen Dienstleister gehen.