Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht - Nathalie Klüver - E-Book + Hörbuch

Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht Hörbuch

Nathalie Klüver

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  • Herausgeber: TRIAS
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Unperfekt … aber glücklich – Familienalltag mitten aus dem Leben gegriffen

Alle Eltern kennen das: So viele Entscheidungen gilt es mit kleinen Kindern täglich zu treffen, so viele Fragen tauchen auf, mit denen man sich noch nie beschäftigt hat. Und die „gut gemeinten“ Ratschläge verunsichern oft mehr, als dass sie einen weiterbringen.
In ihrem neuen Buch hilft Nathalie Klüver, die beliebte und „unperfekte“ Familienbloggerin, Eltern bei den großen Erziehungsfragen ihren eigenen Standpunkt zu finden. Immer mit viel Humor und Verständnis, denn: Es gibt kein Richtig oder Falsch und auch keine Patentlösung. Passende Redensarten und Zitate machen die Themen lebendig.

Quer durch den Familienalltag:

- Schlafen, Stillen, Essen: Wie lösen wir schwierige Situationen?
- Trotzphase, Streit, Schimpfen: Wie bleiben wir liebevoll?
- Vergleich mit anderen … denn beim Nachbarn ist das Gras bekanntlich immer grüner

Ein Leitfaden für Eltern, entspannt ihren eigenen Weg zu gehen.

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Zeit:4 Std. 8 min

Sprecher:Anja Lehmann

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Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

Erziehung einfach unperfekt: Wie du deine Kinder entspannt beim Großwerden begleitest

Nathalie Klüver

1. Auflage 2021

15 Abbildungen

Alles ganz normal, liebe Eltern!

Immer wieder stoße ich in den sozialen Medien auf Fragen von Müttern, die wissen wollen, ob es normal ist, dass ihr drei Wochen altes Baby nicht durchschläft oder dass ihr Dreijähriger nicht allein einschläft. Verunsicherte Mütter fragen sich, ob es normal ist, wenn ihr Zweijähriger sich nicht länger als 15 Minuten allein beschäftigen kann, oder ob es anderen auch so geht, dass ihr Vierjähriger kein Gemüse mag. Und dann sind da die Schwiegermütter oder neunmalklugen Nachbarinnen, die den Müttern erzählen wollen, dass Kinder spätestens mit sechs Monaten allein einschlafen sollten. Oder die Mutter aus der Kindergartengruppe, die es gar nicht verstehen kann, dass Kinder kein Gemüse essen, denn ihre Kinder essen natürlich alles und mögen auch gar keine Süßigkeiten. Sehr hilfreich auch, vielen Dank. Dabei gibt es so viele Dinge im Leben mit Kindern, die einfach normal sind. Die ganz und gar kein Grund zur Sorge sind. Und bei denen man sich gar keinen Kopf machen sollte, ob man selbst etwas falsch macht oder das Kind.

Was keiner über das Leben mit Kindern sagt

Es ist normal, wenn ein Baby nicht allein einschläft. Es ist ebenso normal, wenn ein Dreijähriger, Vierjähriger oder Fünfjähriger nicht allein einschläft. Es ist völlig normal, wenn ein kleines Baby alle zwei Stunden gestillt werden möchte. Es ist total normal, morgens hundemüde zu sein. Es ist ganz normal, wenn eure Kinder kein einziges Paar gleiche Socken im Schrank haben. Es ist normal, wenn ihr abends nur die Hälfte von dem geschafft habt, was ihr euch vorgenommen habt. Auch wenn ihr nur ein Viertel dessen geschafft habt, ist es normal. Es ist normal, wenn im ganzen Haus das Kinderspielzeug umherfliegt. Es ist normal, wenn eure Babys von 20 bis 23 Uhr nur an der Brust sein wollen. Es ist normal, wenn die Klamotten eurer Kinder Löcher und Flecken haben. Ja, auch wenn die Flecken nicht mehr rausgehen. Es ist normal, wenn eure Kinder sich ständig streiten. Es ist normal, ab und zu das Gefühl zu haben: »Ich kann nicht mehr.« Genauso normal ist es, dieses Gefühl nicht nur ab und zu, sondern ziemlich oft zu haben. Es ist normal, wenn ein Dreijähriger im Supermarkt einen Wutanfall bekommt. Es ist normal, wenn kleine Kinder wochenlang nur Nudeln »mit ohne Soße« essen. Es ist normal, wenn euer Baby tagelang nur getragen werden will. Es ist aber auch normal, wenn ein Baby zufrieden allein in seinem Bettchen einschlummert.

Diese und viele andere Dinge sind ganz normal. Denn das »normal« ist bei Kindern und Familien weit gefasst. Was ist schon normal? Na eben! Für jeden ist etwas anderes normal, alles andere wäre erstens langweilig und zweitens unrealistisch. Es ist doch so: Wir sind alle Individuen, unsere Kinder, wir, unsere Mitmenschen. Wir gehen alle unseren eigenen Weg. Und deshalb können Erziehungsratgeber auch immer nur eine Orientierung geben, eine Art Leitplanke auf der Autobahn sein. Aber eines können sie nicht sein: Gebrauchsanweisungen für das Kind. Erziehung funktioniert nur ohne Dogma, ohne erhobenen Zeigefinger. Kinder kommen nun mal nicht mit einem Benutzerhandbuch auf die Welt. Egal, wie gut wir uns vorbereiten und uns vornehmen, alles richtig zu machen, wir können nicht immer wie aus dem Lehrbuch reagieren. Wer sich das vornimmt, kann nur scheitern! Denn jedes Kind ist eine Wundertüte, das ganze Leben mit Kindern gleicht einer Wundertüte.

Als Eltern müssen wir in zwei Dingen wirklich gut sein: im Flexibelsein und im Nachsichtigsein – nachsichtig mit unseren Kindern und vor allem auch mit uns selbst. Und nachsichtig mit all denen, die uns ungefragt Ratschläge geben – denn oft sind sie einfach nur gut gemeint, auch wenn sie uns manchmal tierisch auf die Nerven gehen.

Euren eigenen Weg zu gehen, dabei flexibel zu sein und sich das herauszupicken, was zu euch passt, dazu möchte ich euch mit diesem Buch ermutigen, das eben kein solches Lehrbuch ist. Ich möchte euch mögliche Wege aufzeigen, erklären, was wissenschaftlich begründet ist, und euch dazu inspirieren, den eigenen Weg zu finden. Erziehung muss nicht dogmatisch sein, Hauptsache ist: Ihr fühlt euch wohl. Denn jedes Kind, jede Mutter, jeder Vater, jede Familie ist anders. Wie mit meinen anderen Büchern und auch mit meinem Blog ganznormalemama.com möchte ich auch mit diesem Buch den Druck von euch nehmen, perfekt zu sein. Denn niemand ist perfekt und niemand muss es sein! Gut genug reicht. Und was das ist, bestimmt jede, jeder von uns ganz allein.

Eure Nathalie

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Alles ganz normal, liebe Eltern!

Was keiner über das Leben mit Kindern sagt

Das Baby ist da. Und nun?

Die erste Zeit mit dem Baby – so viele Fragen

Babys schreien nicht, um uns zu ärgern

Eine sichere Bindung aufbauen

Stillen ist Liebe?

Wie viel Schlafmangel können Eltern ertragen?

So entwickelt sich der Schlaf-Wach-Zyklus

»Schläft es schon durch?«

Einschlafkuscheln ist ganz normal

Auch Eltern brauchen ihren Feierabend

Plötzlich sind sie groß!

Überbehütung und Freiheiten

Negative Gefühle und Rückschläge

Wie viel gefördert ist genug gefördert?

Töpfchentraining – muss das sein?

Lässt sich das Laufenlernen beschleunigen?

Wann darf das Baby allein sitzen?

Wie lernen Kinder sprechen?

Wie viel Spielzeug darf es sein?

Lasst die Kinder spielen!

Zeit für freies Spielen schaffen

Die eigenen Grenzen im Spiel ausloten

Mama, ich will spielen

Je früher, desto besser?

Wie können wir unsere Kinder beim Lernen unterstützen?

Loben – die richtige Dosis macht’s

Mit der Schule kommt der Druck

Jedes Kind kann etwas besonders gut

Von Trotz und Autonomie

Woher kommt die Wut?

»Empathie« heißt das Zauberwort

Trotzdem an Regeln festhalten

Kindern ihre Gefühle zugestehen

Mit Liebe durch die Trotzphase begleiten

Fremdbetreuung ohne schlechtes Gewissen

Früher war mehr »Dorf« als heute

Kinder brauchen unterschiedliche soziale Kontakte

Großeltern können eine große Hilfe sein

Reif für die Krippe?

Der Kindergarten öffnet neue Welten

Kinderfreundschaften – wichtig für das ganze Leben

Trödeln macht einen wahnsinnig!

Wieso Kinder nicht hören

Zeitpuffer einplanen

Auf das Tempo der Kinder einlassen

So werden Kinder zu höflichen Menschen

Gehen wir mit gutem Beispiel voran!

Hilfe, ich mutiere zur Meckermama!

Machtpositionen nicht ausnutzen

Richtig schimpfen will gelernt sein

Die Perspektive des Kindes einnehmen

Direkte Kommunikation hilft

Gefühle ernst nehmen

Mit Humor gegen das Meckern

Eltern sind auch nur Menschen

Meine Suppe ess’ ich nicht!

Mythen rund ums Essen

Kein Stress am Esstisch

Wie viel Süßes darf es sein?

Mama sein ist nicht immer einfach

Nie fertig werden und immer zuständig sein

Supermuttis und ihre Superkinder

Schöne heile Instagram-Welt?

Was hilft gegen den Druck?

Immer diese Ratschläge – Mut zum eigenen Weg

Kinder brauchen keine perfekten Eltern

Stoppt das Sorgen-Karussell!

Atmen gegen Stress

Die 1–1-1–1-Methode

Macht’s wie Beppo, der Straßenkehrer aus »Momo«

Achtsamkeit – kein abgedroschenes Modewort

Raus aus der Opferrolle!

Es ist nicht egoistisch, egoistisch zu sein!

Die Kunst, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren

Kleine Auszeiten schaffen

Wir wachsen mit unseren Aufgaben

Resilienz stärken

Woran sollen sich unsere Kinder später erinnern?

Service

Endnoten

Literaturverzeichnis

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Das Baby ist da. Und nun?

Elternsein ist so eine Sache. Egal, wie viele Bücher du vorher liest, um dich vorzubereiten, egal, wie sehr du in den sozialen Medien mitliest oder mit anderen Müttern redest: Niemand bereitet dich wirklich darauf vor, wie es ist, wenn man sich wochenlang die Nächte um die Ohren schlägt, im Zweistundentakt stillt und tagelang nicht zum Duschen kommt. Niemand ist wirklich darauf vorbereitet, wie schnell ein Kind vom Sonnenschein zum Wutzwerg mutiert. »Ich liebe dich!« und »Du bist die blödeste Mama der Welt!« liegen dicht beieinander. Wie dicht, das erzählt einem vorher niemand. Und selbst, wenn es jemand erzählt: Niemand hat eine Ahnung, wie es sich wirklich anfühlt, bis der Moment da ist.

Ich hatte keine Ahnung, dass man, egal, wie viele Bücher im Regal stehen, zehnmal dasselbe Buch vorlesen muss. Ach Quatsch, zwanzigmal. Am Tag. Ich hatte keine Ahnung, wie anstrengend es sein kann, stundenlang im Kaufmannsladen einkaufen zu gehen und gefühlt 100-mal zu sagen: »Ich hätte gern noch eine Tragetasche.« Und nein, ich war auch nicht darauf vorbereitet, wie viel Dezibel man ertragen kann. Stundenlang. Ohne Pause. Und dass man es dennoch schafft, nebenher zu telefonieren und gleichzeitig mit einer Hand ein Brot zu schmieren. Ich wusste nicht, wie viel Schnodder aus einer Babynase laufen kann – wo kommt das alles her?! Ich hatte ja keine Ahnung!

Ebenso wenig wie mir vor dem ersten Kind bewusst war, dass der Alltag mit einem Mal von 100 auf 0 heruntergebremst wird. Vom Baby. Es war mir nicht ansatzweise klar, wie es sich anfühlt, wenn man keine Zeit zum Duschen hat, nicht einmal, um auf die Toilette zu gehen. Dass es Jahre dauern würde, bis ich mal wieder allein (!) aufs Klo gehen würde, hatte man mir auch verschwiegen. Wahrscheinlich hätte ich es sowieso nicht geglaubt. Und was mir nie im Geringsten klar war: Wie viel Liebe man für so einen kleinen Menschen empfinden kann. Einfach so. Bedingungslos. Und wie diese Liebe sich vermehrt, wie ein Hefeteig, der einfach immer mehr aufgeht.

Die erste Zeit mit dem Baby – so viele Fragen

Das Telefon klingelt. Aber ich lasse es klingeln. Nicht, weil ich keine Lust habe ranzugehen. Sondern, weil ich mich nicht rühren kann. Meine Tochter schläft. Auf mir drauf. Aber wehe, ich bewege mich oder wage es, sie abzulegen: Rabäh, los geht das Babykonzert! Es ist mal wieder einer dieser Tage, an denen sie auf mir wohnt. »Babys schlafen ja so viel«, hat man mir gesagt. Nur leider ausschließlich auf mir drauf. Und auch, wenn sie wach ist, ihr Lieblingsplatz zurzeit: Mamas Arm. Immer. Mamas Arm. Rund um die Uhr. Mamas Arm!

Beim ersten Kind hatten wir eine Wiege gekauft, einen sogenannten Stubenwagen. So kann das Baby immer bei uns sein, wenn es schläft, haben wir gedacht. Falsch gedacht. Den Stubenwagen verschenkten wir nach einigen Monaten ungenutzt. Denn auch unser erstes Kind »wohnte« quasi auf mir. Manchmal wochenlang.

Statt den Stubenwagen durchs Haus zu schieben, wurde ich Meisterin im »Dinge mit einer Hand erledigen«: Dosen öffnen mit einer Hand? Eine Leichtigkeit! Zwiebeln schneiden ebenso. Mein erstes Buch schrieb ich zum größten Teil einhändig tippend. Mit jedem Kind perfektionierte ich diese Eigenschaft mehr. Aber auch wenn mir diese Tage damals ewig vorkamen, in denen meine Kinder nirgendwo anders als auf meinem Arm sein wollten: Sie waren irgendwann plötzlich vorbei. Alles nur eine Phase – die ich, wie so viele dieser Phasen, an manchen Tagen fast schmerzlich vermisse.

Geboren wird nicht nur das Kind durch die Mutter, sondern auch die Mutter durch das Kind.

Getrud von Le Fort

Menschenkinder sind Traglinge. So wie unsere nächsten Verwandten, die Affenbabys. Es ist eine Art »genetische Grundausstattung«, mit der wir auf die Welt kommen, wie der Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten schreibt. ▶ [1] Was diese Theorie in der Praxis bedeutet, können sich viele Mütter vor dem ersten Kind nicht vorstellen. Erst, wenn man diese Tage selbst erlebt hat, an denen das Baby nicht mehr abgelegt werden möchte, man quasi zusammengewachsen ist, fängt man an zu begreifen, was mit »Tragling« gemeint ist. Und egal, wie schön diese Nähe ist, wie sehr man sie genießt: Diese Tage können lang sein. Sehr lang.

Das Beruhigende: Diese Phasen gehen vorbei, wenn die Kinder größer und selbständiger werden (wobei es immer wieder »Rückfälle« gibt, nämlich immer dann, wenn Kinder besonders viel Neues lernen und verarbeiten müssen). Und: Es ist völlig normal, dass Babys schreien und quasi »auf der Mutter« wohnen!

Ein Blick zurück in die Geschichte der Menschheit zeigt, wieso das so ist: Babys, die sich, ohne zu meckern, ablegen ließen, waren die Ersten, die einem Angriff von Säbelzahntiger & Co. zum Opfer fielen. Menschenbabys kommen im Gegensatz zu Pferdebabys oder Elefantenbabys wehrlos zur Welt – sie können nicht einfach wegkrabbeln, geschweige denn laufen, wenn die Herde bedroht wird. Über die Jahrtausende hinweg wurden Menschenbabys getragen, beispielsweise beim Sammeln von Beeren im Wald, oder bei der Feldarbeit einfach umgebunden. Erst die industrielle Revolution machte es nötig, dass Mutter und Kind getrennt wurden, denn die Kinder konnten meist nicht mit an den Arbeitsplatz. Auch im Haushalt fiel die Notwendigkeit weg, das Baby ständig am Körper zu tragen: Schließlich gab es keinen Säbelzahntiger mehr und mit Wiegen und Babybetten eine sichere Umgebung, in der man das Kind ablegen konnte.

Doch Tragen hat auch in heutigen Zeiten ohne hungrige Säbelzahntiger vor der Höhle Vorteile für Babys: Das Tragen stärkt die Bindung, der enge Körperkontakt beruhigt. Durch das Tragen wird außerdem der Gleichgewichtssinn stimuliert, da das Baby ständig die Bewegungen der Mutter (oder des Vaters) ausgleicht. So werden ganz nebenbei auch noch die Muskeln trainiert. Übrigens: Die Befürchtung, dass Kinder, die viel getragen werden, später robben und krabbeln lernen als andere Kinder, bewahrheitet sich nicht. Das hat der Blick auf verschiedene Kulturen, in denen Babys traditionell lange und viel getragen werden, gezeigt.

Babys schreien nicht, um uns zu ärgern

Mehrere Studien haben auch ergeben, dass Kinder, die viel getragen werden, weniger schreien. ▶ [2] Was für uns Eltern eine enorme Entlastung ist, denn machen wir uns nichts vor: Babys schreien. Sie schreien mitunter viel. Sehr viel. Und gerade beim ersten Kind ist es nicht immer einfach herauszufinden, was der kleinen Maus gerade fehlt. Hunger? Windel voll? Windel zu eng? Langeweile? Zu warm? Zu kalt? Schmerzen? Oder einfach nur zu viele Eindrücke, zu viel Action?

Schreien ist für Babys die einzige Möglichkeit, auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Ein Baby kann nicht rufen: »Hey, Mama, ich habe Hunger!« oder »Zeit für eine neue Windel!« Wenn wir uns das immer wieder vor Augen führen, dann fällt es schon viel leichter, das Schreien zu ertragen und darauf zu reagieren. Durch die Reaktion der Eltern auf das Mitteilen der Bedürfnisse erfährt das Baby, dass es sich auf seine Bezugspersonen verlassen kann: »Mama ist da und zieht mir warme Socken an, wenn mir kalt ist.« So entsteht ein inneres Gefühl der Sicherheit. Das Baby entwickelt Selbstvertrauen und das Gefühl, sich auf die Umwelt verlassen zu können.

Eine sichere Bindung aufbauen

Körperkontakt und Geborgenheit in der eigenen Familie sind im ersten Lebensjahr die Voraussetzung dafür, dass Babys eine sichere Bindung und ein Urvertrauen aufbauen. Dieses Urvertrauen ist die Basis für eine spätere Selbständigkeit. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson bezeichnet es auch als »Gefühl des Sich-verlassen-Dürfens«, das einen »Eckstein der gesunden Persönlichkeit« bilde. Je unsicherer dieses Vertrauen, desto größer ist das Misstrauen. Es lässt Verlustängste entstehen, die bis ins Erwachsenenleben hinein bleiben können und Probleme im Umgang mit Konflikten nach sich ziehen können. ▶ [3] Der Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby nennt es »das Konzept der sicheren Bindung«. Je mehr Bindungspersonen dabei auf die Wünsche des Babys eingehen, umso sicherer wird die Bindung sein. ▶ [4]

Eigentlich ein ganz einfaches Prinzip. Unser Baby möchte uns nicht manipulieren, wenn es schreit. Es drückt einfach nur seine Bedürfnisse aus. Deshalb können wir Babys auch nicht verwöhnen. Egal, was Großeltern oder andere sagen: Der Spruch »Schreien kräftigt die Lungen« ist Blödsinn! Ebenso wie es Blödsinn ist, dass Babys nur alle vier Stunden gestillt werden dürfen oder dass sie allein einschlafen müssen. Wenn Eltern in den ersten Monaten feinfühlig und direkt auf ihr Baby reagieren, dann haben sie auch mit großer Wahrscheinlichkeit ein sicher gebundenes Kind. Denn so zeigen sie, dass sie da sind, dass sie ihr Kind ernst nehmen und dass sich das Kind auf sie verlassen kann. Je sicherer die Bindung des Kindes an seine Bezugspersonen, umso besser wird das Kind seine Umwelt entdecken können und umso besser wird es später auch mit der (kurzzeitigen) Trennung von seinen Bezugspersonen umgehen können. Eine sichere Bindung gibt nämlich ein starkes Selbstwertgefühl. ▶ [5]

Dieses Gefühl der Geborgenheit ist einer der Grundpfeiler einer sicheren Bindung und Beziehung zu den Eltern. Viel mehr als ein Abarbeiten von vermeintlichen »bindungsorientierten Checklisten«, wie manche dogmatische Attachment-Parenting-Anhänger in den sozialen Medien suggerieren. Bindung hängt davon ab, wie feinfühlig wir auf unsere Kinder reagieren und auf ihre Bedürfnisse eingehen. Auch wer sein Baby nicht stillen kann oder will, kann trotzdem für eine sichere Bindung sorgen – und muss deshalb kein schlechtes Gewissen haben. Ebenso ist es kein Muss, sein Baby ausschließlich im Tragetuch zu tragen. Auch wer einen Kinderwagen bevorzugt, kann eine gute Bindung zu seinem Baby haben. Und schon gar nicht sind Dinge wie Reboardersitze im Auto ausschlaggebend, ob man sein Kind bindungsorientiert erzieht, ganz egal, was teilweise geschrieben wird!

Vertrauen ist die Basis für eine gesunde Entwicklung, aber nicht nur das. Es ist auch die Basis für das Lernen und dafür, dass sich Nervenzellen im Hirn miteinander verknüpfen. Je größer das Vertrauen, umso größer ist die Bereitschaft von Kindern, sich auf etwas Neues einzulassen. Bei zu viel Druck und Verunsicherung können neue Erfahrungen im Gehirn nicht mehr so gut abgespeichert werden, das Kind verliert die Offenheit und Neugier, sich auf etwas Neues einzulassen. Eine gute Bindung und ein sicheres Vertrauen in die Eltern schafft also beim Baby die besten Voraussetzungen, Neues zu lernen und im Gehirn zu verankern – und ist damit wichtiger als PEKiP, Babymassage und erst recht Baby-Englisch.

Auch wenn es wichtig ist, auf die Bedürfnisse des Kindes schnell zu reagieren, heißt das nicht, dass wir Eltern unsere eigenen Bedürfnisse permanent hintanstellen müssen. Selbstaufgabe zugunsten einer sicheren Bindung ist eine Rechnung, die nicht aufgeht. Denn eine Mutter, die sich nie um sich selbst kümmert, hat irgendwann keine Kraft mehr, sich um andere zu kümmern. Mehr dazu in Kapitel ▶ »Es ist nicht egoistisch, egoistisch zu sein!«.

Stillen ist Liebe?

Es gibt kaum ein Thema, an dem sich die Geister so sehr scheiden wie am Stillen. Dabei ist das eine Sache, bei der jede Mutter ihren eigenen Weg finden muss. Es ist wichtig, dass sich Mutter und Kind wohlfühlen. Auch wie lange ihr stillt, entscheidet ihr selbst. Ihr könnt übrigens auch weiterstillen, wenn die Elternzeit vorbei ist. Dass euer Kind in der Betreuung ist, ist kein Grund abzustillen.

Ich wollte immer stillen. Die Vorteile des Stillens lagen auf der Hand: auf das Kind abgestimmte Nährstoffe und Kalorien, Antikörper der Mutter gehen auf das Baby über, in der Muttermilch sind wichtige Milchsäurebakterien, die förderlich für eine gesunde Darmflora des Babys sind (und damit für das Immunsystem), die Brust ist immer da, die Muttermilch hat immer die richtige Temperatur und Stillen ist Nähe und Bindung. Vor allem nachts ist Stillen ideal: einfach nur das Baby im Liegen andocken anstatt ein Fläschchen anschütteln – der Vorteil erschloss sich mir schon allein aus Bequemlichkeitsgründen. Ich hatte mich gut vorbereitet, wusste, dass die Vormilch, das Kolostrum, besonders nahrhaft ist und besonders viele Antikörper der Mutter in diese Milch übergehen. Ich war bestens informiert. Sogar über Stillhaltungen hatte ich mich eingelesen.

Nur auf eins war ich nicht vorbereitet: dass mein Sohn Schwierigkeiten beim Saugen haben könnte. Von dem romantischen Bild, das ich hatte, blieb in den ersten Tagen nach der Geburt nichts übrig. Statt mein trinkendes Kind selig lächelnd im Arm zu haben, saß ich alle zwei Stunden im Bett, eine Milchpumpe an der schmerzenden Brust. Die ersten Tage pumpte ich ab und spritzte ihm die Vormilch mit einer kleinen Spritze in den Mund. Einer sehr engagierten Stillberaterin im Krankenhaus ist es zu verdanken, dass ich dranblieb und meinen Sohn immer wieder anlegte – bis er aus eigener Kraft saugen konnte. Ich habe ihn dann ein Jahr lang gestillt. Bei meinen beiden anderen Kindern klappte das Stillen sofort, die Übung meinerseits machte sich bemerkbar. Ich habe sie beide bis nach dem dritten Geburtstag gestillt. Weil sie es wollten, weil ich ihnen Zeit geben wollte, sich selbst von der Brust zu verabschieden, und weil ich immer gern gestillt habe.

Damit möchte ich aber nicht sagen, dass jede Mutter drei Jahre lang stillen muss. Oder dass überhaupt jede Mutter stillen muss. Aber ich möchte alle ermutigen, die am Anfang mit Problem zu kämpfen haben, sich an die Hebamme zu wenden und nicht vorschnell aufzugeben! Zertifizierte Stillberaterinnen haben viele Tipps, sie begleiten euch und haben ein offenes Ohr für eure Fragen. Auch bei Schmerzen beim Stillen kann euch eure Hebamme weiterhelfen. Gut zu wissen: Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen für die Dienste einer Hebamme während der gesamten Stillzeit. Ihr könnt euch also auch nach dem Wochenbett immer an sie wenden.