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Traumatisierte Patienten im Kindes- und Jugendalter haben meist Schwierigkeiten, die notwendigen und altersgemäßen Entwicklungsschritte im Leben aus eigener Kraft zu leisten. Pädagogische und therapeutische Angebote können wirken, wenn sie es ermöglichen, über gute Beziehungserfahrungen die Schäden früher Entwicklungstraumatisierungen zu verändern. Frühe Traumatisierungen bestimmen die Entwicklungschancen eines Kindes wesentlich mit. Kinder aus Familien, die an gesellschaftlichen Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten wenig teilhaben können, leiden unter den Folgen von Gewalt wesentlich schwerer und häufiger, denn sie haben weniger Chancen, Ressourcen zu entwickeln. Das Buch zeigt: - wie die Betroffenen eine tragfähige Beziehung zu BetreuerInnen und TherapeutInnen aufbauen, - wie Re-Traumatisierungen vermieden werden, - wie eine gemeinsame Sprache als Grundlage für den Abbau von Berührungsängsten zu BetreuerInnen und TherapeutInnen gefunden werden kann und - wie Lösungen für das gegenwärtige Leben gefunden werden. - Ein schulenunabhängiges Vorgehen für tragfähige Lösungen - Traumatisierung bewältigen heißt: aktiv in der Therapie tätig werden Dieses Buch richtet sich an: - TraumatherapeutInnen - Kinder- und Jugendlichen-PsychotherapeutInnen - PsychologInnen, ÄrztInnen - SozialarbeiterInnen und BetreuerInnen - Alle PraktikerInnen in Heimen, Kliniken und Praxen
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Seitenzahl: 478
Veröffentlichungsjahr: 2015
Elke Garbe
Das kindliche Entwicklungstrauma
Verstehen und bewältigen
Mit einem Vorwort von Karl Heinz Brisch
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Klett-Cotta
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Umschlag: Roland Sazinger, Stuttgart
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Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94879-0
E-Book: ISBN 978-3-608-10779-1
PDF-E-Book-ISBN 978-3-608-20263-2
Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort von Karl Heinz Brisch
A. THEORETISCHER TEIL
1. Einführung
2. Das Entstehen kindlicher Entwicklungstraumatisierungen
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Symptome einer PTBS
Diagnose einer PTBS
Die Traumatypen I und II
Traumatyp I – Monotraumatisierungen
Traumatyp II – Komplextraumatisierungen
Das Traumatisierungsmilieu in der kindlichen Entwicklung und seine Folgen
Kriterien für traumatisierende Entwicklungsbedingungen
Folgen traumatisierender Entwicklungsbedingungen
Formen kindlicher Traumatisierungen
Misshandlungen
Sexueller Missbrauch
Vernachlässigung
Häufige Bindungsabbrüche
Migration und Flucht
Bewältigungsmöglichkeiten von Entwicklungstraumatisierungen
Resilienz und Bewältigung
Ressourcen
Risikofaktoren
3. Neurobiologische Prozesse – das Gehirn als Überlebenswächter
Das Gedächtnis
Das menschliche Gehirn und Traumabewältigung
Das Stammhirn (Medulla oblongata)
Das Limbische System
Die Bedeutung von Transmittern und Hormonen bei normaler und traumatischer Reizverarbeitung
Der Kortex (Großhirn)
Die Amygdala (Mandelkern)
4. Die Entwicklung des Selbst – Traumatisierung und Dissoziation
Das Selbst nach Heinz Kohut
Das Selbst – Entwicklung unter normalen Bedingungen
Frühe Entwicklung (1–3 Jahre)
Vorschulentwicklung (4–6 Jahre)
Latenzphase
Pubertät und Adoleszenz
Das Selbst – Entwicklung unter traumatisierenden Bedingungen
Entwicklungsreaktionen traumatisierter Kinder, die Bildung traumaassoziierter Selbstanteile
Der Panische
Der Wütende
Der Anpasser
Der Widersprecher
Der Schuldige
Der Beobachter
Der Wissende
Der Fühlende
Der Sehnsüchtige
Der Beschützer
Der Gute
Der Bewältiger
Bewältigungsstrategien
Defensive Reaktivität
Selbstverletzung
Überlebensstrategien nach Ende der Traumatisierung
Das traumatisierte, fragmentierte Selbst
5. Dissoziation
Dissoziation als Ichstärke
Dissoziation als Bewältigungsmechanismus – Die peritraumatische Reaktion
Erklärungsansätze zum Vorgang der Dissoziation
Der Begriff der Dissoziation
Die Ego-State-Therapie
Anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil (ANP) und Emotionaler Persönlichkeitsanteil (EP)
Folgen der Dissoziation
Täterintrojekte oder täterimitierende Anteile
Reviktimisierung
Reinszenierung
Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen
Projektionen, projektive Identifikation
B. PRAKTISCHER TEIL
6. Institutionelle Hilfen und Kooperation
Jugendhilfe – Die wichtigsten Hilfsformen
Ambulante Hilfen
Erziehungsberatung
Teilstationäre Hilfen, Tagesbetreuungen
Der Schutzauftrag der Jugendhilfe
Pflegefamilien
Stationäre Hilfen und Gewaltenschutzgesetz
Inobhutnahme
»Sichere Orte« bereitstellen
Jugendhilfe – Wichtige rechtliche Grundlagen
Das Grundgesetz
Bürgerliches Gesetzbuch
Das Sozialgesetzbuch
Das Kinderschutzgesetz
Umsetzungsgebot
Notwendige fachliche Ergänzungen und Kooperationen in der Arbeit mit traumatisierten Kindern
Kooperation und Netzwerkarbeit
Die Schweigepflicht
Traumapädagogik
Psychotherapie
Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
Traumatherapie
Psychiatrie
7. Das Gemeinsame von Sozialpädagogen und Psychotherapeuten
Aspekte der traumafokussierten sozialpädagogischen und therapeutischen Arbeit
Das Besondere pädagogischer Traumahilfe
Die gemeinsamen Arbeitsbereiche von Traumapädagogen und Traumatherapeuten
Das Besondere traumafokussierter Psychotherapie
8. Praxis der Traumatherapie und Traumapädagogik
Der erste Schritt: Äußere Sicherheit herstellen
Äußere Sicherheit – Die Trennung vom Täter
Unterstützende Bezugspersonen
Die Bedeutung von Gerichtsprozessen
Rechtslage und Aufenthaltsstatus
Finanzierung
Der zweite Schritt: Innere Sicherheit aufbauen
Was ist innere Sicherheit?
Voraussetzungen für das Entstehen innerer Sicherheit
Arbeitskontrakt
Psychoedukation
Der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung
Stabilisierungsmethoden und -übungen
Imagination und Erinnern
Der gute innere Begleiter
Den inneren sicheren Ort aufbauen
Ressourcen reaktivieren und aktivieren
Integratives Arbeiten mit Selbstanteilen
Affektregulation entwickeln
Zusammenfassung
Der dritte Schritt: Traumaintegration aus psychotherapeutischer, tiefenpsychologisch-orientierter Sicht
Voraussetzungen und wichtige Prinzipien
Wichtige Arbeitsinstrumente für die Traumaintegration
Kindheitserinnerungen als Ausdruck des kindlichen Selbst von damals
Die Methode der »Integration traumaassoziierter Selbstanteile« in zwölf Schritten
Einführung
Vorbereitung
1. Schritt: Das Ich-Selbst im Hier und Jetzt
2. Schritt: Das Ich-Selbst im Hier und Jetzt und das biosoziale Netzwerk
3. Schritt: Das Ich-Selbst im Hier und Jetzt und die inneren Ressourcen
4. Schritt: Das Ich-Selbst und Schwierigkeiten im Hier und Jetzt
5. Schritt: Das Ich-Selbst und die Zukunftsvision
6. Schritt: Die Anerkennung von Zeiträumen
7. Schritt: Das Ich-Selbst im Dort und Damals
8. Schritt: Das Ich-Selbst im Dort und Damals und die inneren Ressourcen
9. Schritt: Das Ich-Selbst im Dort und Damals und die äußeren Ressourcen
10. Schritt: Das Ich-Selbst und die traumatische Situation im Dort und Damals
11. Schritt: Täterintrojekte und täteridentifizierte Selbstanteile in ihrer Überlebensleistung verstehen und würdigen
12. Schritt: Das Bearbeiten traumaassoziierter und traumaverarbeitender Gefühle
Besonderheiten in der traumatherapeutischen Arbeit mit jüngeren Kindern
Entwicklungsentsprechende Ausdrucksformen
Sprache und Gefühle
Körperkontakt
Zeitabstand
Angst, Vermeidung und Kontrolle
Bindungsverhalten
Die Bindungspersonen
Psychoedukation
Posttraumatisches Spiel
Interventionen
Vier Fallberichte: Traumatherapie mit jüngeren Kindern
Mussa (5 Jahre)
Nelli (7 Jahre)
Anna (6 Jahre)
Jasmin (6 Jahre)
9. Schlussbetrachtung
Verarbeitung und Integration
Was ist Traumaintegration und was nimmt der Klient mit?
Abschied und Trennung
Glossar
Diagnosematerialien
Literatur
Dank
Seit vielen Jahren kenne ich die wunderbare Art des psychotherapeutischen Zugangs von Elke Garbe, die sich einen besonderen Verdienst erworben hat, mit schwerst und früh entwicklungstraumatisierten Kindern eine eigene Methode der erfolgreichen Arbeit zu entwickeln. Sie hat hierbei ein bemerkenswertes Therapiemodell aus ihren praktischen Erfahrungen aufgebaut, das für diese Kinder ausgesprochen hilfreich ist, wie ich selbst in ihren Workshops erfahren und kennenlernen konnte.
Ich freue mich sehr, dass Elke Garbe dem Wunsch vieler Kolleginnen und Kollegen entsprochen hat, ihre jahrzehntelangen Erfahrungen nun in einem umfassenden Werk vorzulegen. Es spiegelt ihr tiefes Wissen und ihre höchst kompetente Art wider, mit diesen schwer traumatisierten Kindern überhaupt in Kontakt zu kommen, eine sichere Bindung aufzubauen und therapeutische Entwicklungsprozesse auf den Weg zu bringen. Diesen Wissensschatz hat sie für alle Leserinnen und Leser verständlich lesbar und nachvollziehbar in ihrem Buch aufbereitet und zur Verfügung gestellt, was ich selbst als ein Geschenk erlebe. Nur selten können wir so differenziert an und von dem Erfahrungsschatz einer geschätzten Kollegin lernen.
Der theoretische Teil des Buches ist eine ausgesprochen gut verständlich zu lesende Darstellung der Entstehungsbedingungen kindlicher Entwicklungstraumatisierungen. Hier wird selbst für den bereits kundigen Leser nochmals zusammengefasst und überschaubar erläutert, wie traumatische Prozesse entstehen, welche verschiedenen Formen es gibt, welche psychischen und biologischen Prozesse hierdurch beeinträchtigt werden und wie auf der Grundlage dieser neurobiologischen Veränderungen die gesamte Entwicklung des Kindes durch frühe Traumatisierungen gefährdet ist. Ein besonderer Schwerpunkt der theoretischen Ausführungen liegt auf der Entwicklung des Selbst, das durch traumatische Erfahrungen geschädigt, verzerrt oder in pathologische Entwicklungsprozesse gedrängt wird. Es wird sehr gut nachvollziehbar, wie das Selbst aufgrund von traumatischen Entwicklungsbedingungen dissoziative Bewältigungsmuster herausbilden muss. Dies macht auch die verschiedenen Symptomentwicklungen verständlich. Insofern bietet das Buch eine hervorragende und theoretisch neu konzipierte Darstellung einer traumatischen Selbstentwicklung, wie sie nach meiner Kenntnis bisher in dieser Form noch nicht beschrieben wurde.
Diese Darstellung ist bestens geeignet, um in dem zweiten, umfassenden praktischen Teil dieses Buches die therapeutischen Interventionen von Elke Garbe nachvollziehbar werden zu lassen. An vielen Praxisbeispielen erläutert sie, wie sie mit den schwer traumatisierten Kindern eine Beziehung aufbaut, vom Erstkontakt bis hin zur therapeutischen Bearbeitung traumatischer Inhalte. Dabei spielt immer die emotionale Sicherheit und der Zugang zum verletzten inneren Kern des Selbst eine große Rolle. Symbolgegenstände helfen dabei, auf einer vorsprachlichen Ebene einen Zugang zu den verletzten Selbstanteilen zu finden und diese auf einer symbolischen Behandlungsebene – zunächst im äußeren Raum, dann aber auch im inneren Raum – durch Identifikation und Reidentifikation zu entwickeln, sodass Heilungsprozesse in Gang gesetzt werden.
Die Kooperation und Zusammenarbeit mit anderen Institutionen im Sinne der Herstellung von äußerer Sicherheit und die Wertschätzung für die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – etwa beim Jugendamt und in den Jugendhilfeeinrichtungen – ist für Elke Garbe genauso selbstverständlich wie die Arbeit auf der inneren Bühne des kindlichen Selbst. Somit kommt es zu einem Dialog und – wenn es gut geht – auch zu einer Integration von »äußerer« Real-Raum-Ebene und »innerer« psychischer Ebene. Elke Garbe hat auf dem Boden ihrer eigenen beruflichen Erfahrung sehr viel auch aus dem Bereich der Sozialarbeit integriert, weil sie eine der wenigen ist, die aufgrund ihrer beruflichen Ausbildung die Welten von Sozialarbeit, Psychologie, Traumatherapie und Traumapädagogik gleichermaßen im Blick haben und miteinander in Dialog bringen kann.
Das vorgelegte Buch ist daher auch für Traumapädagogen und solche, die sich darin weiter- und fortbilden möchten, eine ausgezeichnete Grundlage. Gerade im Praxisteil werden die verschiedenen Schritte der Therapie von der äußeren zur inneren Sicherheit und der traumatischen Verarbeitung bis hin zur Traumaintegration so verständlich dargestellt, wie ich dies bisher selten in einem Buch für Kinder- und Jugendlichenbehandlungen verfolgen konnte.
Es ist Elke Garbe hervorragend gelungen, die von ihr entwickelte, lebendige und höchst feine Art der Behandlung von traumatisierten Kindern hier in Buchform vorzulegen und damit einem großen Leserkreis zugänglich zu machen. Ich danke ihr für diese lehrreiche Arbeit von ganzem Herzen und wünsche diesem Buch eine große Verbreitung bei Beratern, Pädagogen, Psychotherapeuten, genauso wie bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Jugendhilfe und der Sozialarbeit. Alle diese Berufsgruppen können von diesem Buch nur profitieren und mit den gewonnenen Erkenntnissen traumatisierte Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg in eine gesündere Entwicklung besser begleiten.
Karl Heinz Brisch, München im Januar 2015
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach.
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan? –
Kennst du es wohl?
Dahin, dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
(Johann Wolfgang von Goethe)
Kindheit ist die Entwicklungsphase zwischen Geburt und Vollendung des 14. Lebensjahres. Wenn wir von Kindheit sprechen, differenzieren wir nicht, welche Phase der Kindheit wir eigentlich meinen. »Kindheit« beschreibt etwas Dynamisches, Komplexes, sich ständig in Entwicklung Befindliches, sich in verschiedenen gesellschaftlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebenswelten Abspielendes. Kindheit kann als kontinuierlicher Entwicklungspfad verstanden werden, der aus der anfangs totalen Abhängigkeit von der Bindungsperson in die zunehmende Selbständigkeit und Unabhängigkeit führen soll. Bindungen verändern sich im Laufe der Entwicklung. Während der Säugling ganz auf die Fürsorge der Bindungsperson angewiesen ist, brauchen 14-jährige Kinder diese oft nur noch als Rückenstütze, als Absicherung und Begleitung bei ihren zunehmend selbständiger werdenden Schritten. Neue Formen von Bindungen und Beziehungen kommen hinzu und müssen geregelt werden. Kinder bilden im Laufe ihres Lebens aus internalisierten Erfahrungen mit Bindungspersonen »innere Arbeitsmodelle« und wenden sie zur Regulierung von Beziehungen an. Diese können sehr verschieden sein, je nachdem, welche Erfahrungen sie mit der Welt und ihren Bindungspersonen gemacht haben. Wir wissen, dass sozioökonomisch schwierige Lebensbedingungen einen negativen Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern haben. Die Chancen, sich in das gesellschaftliche Leben zu integrieren und an den gesellschaftlichen Ressourcen teilzuhaben, werden stark beeinflusst durch die jeweilige sozioökonomische Schichtzugehörigkeit (vgl. 14. Kinder- und Jugendbericht des BMFSFJ 2013).
Gerade Traumatisierungen in der Kindheit, oft verursacht durch Bindungspersonen, können dafür verantwortlich sein, dass weitere Schritte durch das Leben nicht oder nur mühsam gelingen. Je früher sie geschehen, desto tiefgreifender beeinflussen sie das Wachstum des neuronalen Systems. Die kindliche Widerstandskraft reicht nicht aus, um sie allein zu bewältigen, weshalb rechtzeitig fachgerechte Hilfen zur Verfügung stehen müssen. Traumatisierungen durch Bindungspersonen sind besonders schwer zu bewältigen, stellen diese doch in der Kindheit den »sicheren Hafen« bereit, wenn Gefahr droht. Finden Kinder keine Zuflucht bei ihren Bezugspersonen, müssen sie auf andere Notlösungen zurückgreifen.
In meinen Versuchen, Menschen mit Entwicklungstraumatisierungen zu helfen, kristallisierte sich folgende Frage heraus: »Wie hast Du das überlebt?« Wie schaffen es Menschen, sich aus einer Kindheit, die geprägt ist von körperlicher und seelischer Gewalt, Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch, Bindungsabbrüchen und Zwangsmigration ins Erwachsenenalter durchzuarbeiten? Was hilft ihnen? Wie können sich sogenannte »Bewältigungsstrategien« schließlich umwandeln in Lebensstrategien? Der Begriff Bewältigungsstrategie geht auf Richard Lazarus zurück. Er benutzte ihn in seinem Coping-Modell zur Bewältigung von Stress (Lazarus 1999). Lazarus ging davon aus, dass Stressfaktoren neu bewertet werden müssen, damit sie neutralisiert werden können. Die Bedeutung des Begriffes geht aber darüber hinaus: In einer traumatischen Situation ist es nicht nur eine kognitive Leistung, sondern es ist das Zusammenspiel vieler Faktoren des Organismus »Mensch« mit dem Ziel, das Überleben zu sichern. Im Begriff »Bewältigungsstrategie« ist das Wort »Gewalt« verborgen. Es geht also vorrangig um die Bewältigung von Gewalterfahrungen.
Eine traumatische Erfahrung ist ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauernde Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.« (Fischer/Riedesser 1999, S. 83)
»Trauma« wird heute als mögliche Folge von Gewalterfahrung verstanden und Präventionen sollen erreichen, dass es gar nicht zu Gewalthandlungen kommt. Dennoch wachsen viele Kinder immer noch unter bedrohlichen Lebensverhältnissen auf, sie werden geschlagen, vernachlässigt und sexuell missbraucht. Sie sind Objekte der Befriedigung, der Affektregulierung für Erwachsene. Diese Tatsache wird nicht selten verschwiegen und bagatellisiert. Folgen von Gewalt und Traumatisierungen werden transgenerativ weitergegeben, ohne dass sie rechtzeitig verarbeitet werden konnten (Baer/Frick-Baer 2013). Gefahrensituationen werden oft nicht erkannt und Hilfen sind oft nicht ausreichend, um Kinder in Sicherheit aufwachsen zu lassen. So sehr wir wollen, dass Ersatzfamilien, Jugendhilfeeinrichtungen, Psychiatrien, Psychotherapien »sichere Orte« sind (Kühn 2008), können sie es eben nicht immer ausreichend sein. Gerade die aktuellen Ergebnisse der Begleitforschung des Runden Tisches Sexueller Missbrauch der Bundesregierung machen das deutlich (Fegert et al. 2013).
Dieses Buch soll vor allem Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Sozialpädagogen, Lehrer, Erzieher, Kinder- und Jugendlichenpsychiater, Jugendliche und Erwachsene mit entwicklungstraumatischen Erfahrungen und ihre Angehörige ansprechen. Mein Anliegen ist, sie zu unterstützen und zu ermutigen, nach Wegen zu suchen, wie der Entwicklungsfaden wieder aufgenommen werden kann. Dabei werden Forschungsergebnisse bezüglich der Auswirkungen von Gewalt und ihrer Bewältigung berücksichtigt. Es soll die verschiedenen Fachkräfte dazu ermutigen, enger und mit multiperspektivischem Blick zusammenzuarbeiten. Um erfolgreich zu sein, müssen Traumapädagogen, -therapeuten und Psychiater voneinander wissen, um im Hier und Jetzt die traumatischen Entwicklungsbedingungen des Dort und Damals aufarbeiten und bewältigen zu können.
Abb. 1: Die Arbeitsbeziehung zwischen dem Klienten und seinen Helfern im Hier und Jetzt
In diesem Buch wird besonders die Notwendigkeit der zeitnahen Hilfe nach kindlichen Traumatisierungen hervorgehoben. Zunehmend setzt sich auch die Überzeugung durch, dass nicht verarbeitete kindliche Traumatisierungen ein ganzes Leben lang zu bewältigen sind. Oft sind im Laufe des Lebens mehrere Traumatherapien notwendig, weil zu bestimmten Phasen des Lebens durch die Bewältigung anstehender Lebensaufgaben das Trauma erneut aktiviert wird. Es besteht zudem immer wieder die Chance, die Richtung der weiteren Entwicklung zu modifizieren. Manchmal wird dafür Hilfe von Freunden oder Professionellen benötigt, manchmal führen besondere Erfahrungen zu der Erkenntnis und dem Mut etwas zu verändern. Entwicklung geschieht ein Leben lang, bis zum Tod. Bis dahin kann die Richtung mitbestimmt werden.
Gewalt ist immer bedrohlich, aber wir wissen, dass nicht jede Gewalterfahrung zu Schädigungen in der weiteren Entwicklung führen muss. Akuttraumatische Reaktionen können sich zurückentwickeln, wenn zeitnah ein unterstützendes Milieu und ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen.
Die Folgen von Gewalteinwirkung im Menschen ergeben sich aus dem Zusammenprallen von »bedrohlichen Situationsfaktoren« (Fischer/Riedesser 1999, S. 83) mit der jeweils individuellen Reaktion des Menschen. Diese wird beeinflusst durch seine Widerstandskraft (Resilienz), seine Ressourcen, seine traumatischen Vorerfahrungen (Viktimisierung) und seine individuellen Bewältigungsstrategien. Es spielt eine große Rolle, wie danach mit dem Betroffenen umgegangen wird, ob ihm zeitnah fachkompetente Hilfe zukommt und ob er in einem sozialen Netzwerk Schutz und Sicherheit findet.
Traumafolgestörungen und ihre Diagnosen sind heute benannt, wenn auch differenzierungsbedürftig. Symptome sind beschrieben und es gibt verschiedene Diagnostikmanuale, die diese erfassen können (Dilling et al., ICD-10 1993). Wir wissen, dass Menschen leicht erregbar und unruhig sind. Wir wissen auch, dass sie sich bereits durch geringe Einflüsse an die traumatische Erfahrung erinnern können und wieder mit Panik, Flucht- und Verteidigungstendenzen reagieren. Sie versuchen deshalb, alles zu vermeiden, was sie an das traumatische Geschehen erinnern könnte. Für Traumatisierte ist die Zeit nach dem Geschehen stehen geblieben und es fällt ihnen schwer, mit der realen Zeit mitzugehen.
Nicht verstehbares, schnell wechselndes und nicht altersgerechtes Verhalten sind sehr oft Folgen von kindlichen Entwicklungstraumatisierungen. Das macht den Umgang mit Betroffenen oft schwer. Es ist bekannt, dass das Verhalten mit dem Phänomen der Dissoziation zu tun hat. Entstanden während der traumatischen Erfahrung als Überlebenssicherung, beinhalten Dissoziationen Informationen über Gewalterfahrungen, die nicht verarbeitet sind. Traumatische Erfahrungen werden fragmentiert und – gekoppelt an den Wahrnehmungsfunktionen – neuronal gespeichert. Sie können später ebenso fragmentiert als »Puzzleteil« einer traumatischen Situation abgerufen werden, ohne dass dieses bewusst steuerbar ist. Dissoziationen führen so ungesteuert zu traumatischen Reaktionen aus längst vergangenen Zeiten. Gleichzeitig war die Dissoziation jedoch auch positiv daran beteiligt zu überleben. Als erfolgreiche Bewältigungsstrategie hat sie sich über die Zeit selbständig gemacht. Ihre Aufrechterhaltung gestaltet im Hier und Jetzt aber den Umgang mit sich selbst und mit den Anderen schwierig.
Ein Jugendlicher (16 Jahre) wird von seinem Bezugserzieher mit vorwurfsvoller, etwas lauter Stimme darauf hingewiesen, dass er seinen Wochendienst in der Wohngruppe immer noch nicht gemacht hat. Er geht sofort in Verteidigungsposition, hebt die Fäuste und sagt: »Willst Du mich angreifen, oder was?«
Nach einer Supervision versteht der Erzieher, dass seine laute, vorwurfsvolle Stimme im Jugendlichen die früheren, gespeicherten Erfahrungen mit dem Geschrei, den Vorwürfen und den Schlägen seines Vaters aktiviert haben muss. Dies löste in der Reaktion des Jugendlichen ungesteuert den Verteidigungsreflex aus. Der Erzieher nimmt sich vor, in einer ähnlichen Situation freundlich im Kontakt den Jugendlichen an seinen Dienst zu erinnern.
Als das klappt, ist er selbst erstaunt. Der Jugendliche bemerkt die Veränderung und sagt: »Siehst Du, man muss mit mir nur respektvoll umgehen.« Beide lachen.
Traumatische Erfahrungen können ein Leben völlig verändern, nichts ist mehr so wie vorher. Wenn der Betroffene Glück hat, gibt es einen Anfang und ein Ende. Also ein Leben vor dem Trauma und eines danach. Die Erfahrung der Sicherheit konnte vorher gemacht werden. Als Ressource hilft sie, das Trauma zu überleben und ermöglicht im Idealfall nach Beruhigung wieder ein sich neu eröffnendes sicheres Leben schrittweise anzunehmen.
Die traumatischen Erfahrungen von Kindern bezeichne ich in diesem Buch als Entwicklungstraumatisierungen (Streeck-Fischer 2006; Sachsse 2004; Heller/Lapierre 2013), weil traumatische Belastung oft über längere Zeit während einer Phase geschehen, in der grundlegende Entwicklungsschritte bewältigt werden müssen, die für die Gestaltung des weiteren Lebens prägend sind. Oft geschehen diese Traumatisierungen durch Bindungspersonen, auf die ein Kind existentiell angewiesen ist. Kinder sind immer abhängige Wesen, die sich allein nur bedingt selbst vertreten können. Dies sind wesentliche Unterschiede zu späteren Phasen des menschlichen Lebens.
Gerade in ihrem Entwicklungsumfeld erfahren traumatisierte Kinder oft schon sehr früh, dass die Bindungsperson kein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln kann. Angst, Schmerz und Einsamkeit werden so schnell als Normalzustand wahrgenommen. Erst wenn sie mit anderen Lebenswelten – z.B. der Besuch bei der Oma, der Nachbarin, im Kindergarten, in der Schule – in Berührung kommen und älter geworden sind, fangen sie an zu vergleichen, zu hinterfragen. Die Kinder beginnen, die eigenen bedrohlichen Erfahrungen anders einzuordnen als die beobachteten, wohligen Erfahrungen anderer Kinder. Aber das Gehirn speichert alles, was an Reizen stark genug ist, um wahrgenommen zu werden. Schon vorgeburtlich und danach werden diese Erfahrungen durch den Aufbau basaler neuronaler Verknüpfungen im Gehirn verankert (Hüther 2002). Sie werden im Laufe des Lebens durch sich wiederholende Erfahrungen bestätigt und immer wieder verstärkt. Gerade die frühen Erfahrungen mit Bindungspersonen beeinflussen die natürliche Aufgabe des Organismus, ein Urvertrauen in die Welt zu entwickeln und zu lernen, vom Zustand der Erregung und Spannung in den Zustand der Entspannung und Ruhe zu kommen. Traumatische Erfahrungen mit Bindungspersonen werden kognitiv durch verzerrte Erklärungsmuster umgedeutet. Dies geschieht, um Bindungen zu Tätern aus dem nahen Umfeld aufrechterhalten zu können, da sie überlebensnotwendig sind. Schuld und Schamgefühle finden hier ihre Erklärung.
Für betroffene Kinder wurde ein breites Spektrum an Behandlungsmethoden entwickelt. Es gibt Beratungsstellen, psychotherapeutische Praxen, Kliniken und Jugendhilfeeinrichtungen, die wissen, was traumatisierte Kinder brauchen. Polizei und Richter sind sensibler geworden, es existieren Opferschutzgesetze. Und doch sind immer noch viele Kinder in ihrem Zuhause, Ersatzfamilien, Wohngruppen, Heimen nicht sicher aufgehoben. In vier von fünf Heimen wurde in den letzten Jahren dem Verdacht des sexuellen Missbrauches nachgegangen (Fegert et al. 2013). Manche Klienten äußern nach einer Traumabehandlung, dass sie nicht ausreichend profitieren konnten. Es gibt Missbrauch in der Therapie. Um dies zu ändern, bedarf es für eine Weiterentwicklung der Hilfemöglichkeiten der Zusammenarbeit in Netzwerken. Betroffene, Angehörige, Praktiker, Wissenschaftler und Politiker sollten weiter gemeinsam an Runden Tischen erarbeiten, wie noch sicherer erreicht werden kann, dass Kinder geschützt aufwachsen können.
Abb. 2: Die Posttraumatische Belastungsstörung (nach Van der Kolk, 2000)
Der erste Schockzustand, den wir auch als »peritraumatische Reaktion« verstehen können, entspricht bereits einem dissoziativen Zustand. Der Mensch ist in einem hoch erregten Zustand, er ist nicht voll hier und jetzt orientiert, er schaltet ab, betäubt sich, geht innerlich weg. Es ist die einzige Möglichkeit des Überlebens in einer nicht aushaltbaren und verstehbaren Situation. Dieser Zustand kann unterschiedlich lange im Organismus auch nach Beendigung des traumatischen Geschehens aufrechterhalten werden. Er dient dem Überleben in einer nicht aushaltbaren Situation. Genau genommen können wir inzwischen sagen, dass Traumafolgestörungen deshalb bestehen, weil das traumatische Geschehen innerlich noch nicht beendet werden konnte und mit einem Teil der Organismus aufrechterhalten werden muss (Levine 1998). Dissoziative Zustände dienen dazu, nicht aushaltbare traumatische Erfahrungen haltbar und somit aushaltbar zu machen.
Überregung ist die Folge von Überausschüttung der Stresshormone während der Traumatisierung und danach. Der Mensch kommt nicht zur Ruhe, eine innere Getriebenheit bestimmt ihn, die ihn auch nachts nicht schlafen lässt. Konzentration ist oft unmöglich, ständige Anspannung, Nervosität und innere Unruhe sind die Folgen. Kinder kommen in der Schule nicht mit, Erwachsene schaffen es nicht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren; sie verspüren Ungeduld, Körperverspannungen und Erschöpfung. Bei kleinsten unangenehmen Reizen kann es zu Affektdurchbrüchen kommen.
Intrusion ist das erneute Eindringen von traumatischen Erfahrungen in das Erleben. Es ist gebunden an die Wahrnehmungskanäle. Über Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Ertasten wird ein traumaassoziierter Reiz wahrgenommen und darauf erneut mit Panik reagiert. Diese Auslösesituationen bezeichnen wir als Trigger. Damit ist gemeint, dass kleine äußere Reize, die an das traumatische Erleben erinnern, diese Intrusion auslösen können. Aber auch innere Reize können Trigger sein. Bestimmte Gefühle, Gedanken, Körperreaktionen, die an die Reaktion während der Traumatisierung erinnern, können Flucht-, Verteidigungs- oder Totstellreflexe auslösen. Der Mensch reagiert dann so wie damals, er ist in Panik, fühlt sich ohnmächtig und ausgeliefert. Ein Flashback bedeutet, dass das Wiedereindringen der Traumaerfahrung die ganze Person umfasst, sie erlebt sich als Ganzes, so wie sie sich damals erlebt hat. Es gibt in diesem Moment keine Distanz zu dem Erleben. Eine solche Situation ist eine Retraumatisierung und verstärkt die traumaassoziierten Erinnerungsspuren im Gehirn. Häufig sind Trigger, die die psychische Reaktion auslösen, nicht bewusst. Erst in Beratung oder Therapie können sie erarbeitet werden.
Vermeidung ist das dritte wichtige Symptom. Der Mensch neigt dazu, möglichst alle Triggersituation in seinem Leben zu vermeiden. Dazu gehören Orte, Personen des traumatischen Geschehens, auch Gerüche, Geräusche, Farben und vieles mehr. Natürlich gehören dazu auch die Vermeidung von Nähe und Bindung zu Menschen, die Vermeidung von Sexualität, von Auseinandersetzung ebenso wie auch die Vermeidung von bestimmten inneren Zuständen. Damit soll das Wiedereindringen von Intrusionen verhindert werden. Wird die Vermeidung aufrechterhalten, wird das Leben eng und leer.
Das posttraumatische Spiel Kinder bis zum zehnten Lebensjahr benutzen diese Verarbeitungsmöglichkeit. Es ist der Versuch, spielerisch das erfahrene Trauma dadurch zu bewältigen, dass es immer wieder in Szene gesetzt wird. Dabei spielen die Guten und die Bösen eine Rolle, der Täter und das Opfer. Das Spiel allein kann aber nicht zur Bewältigung einer traumatischen Erfahrung führen. In der Therapie fügt der Therapeut ein drittes, helfendes Element hinzu, damit es zu einer Weiterentwicklung kommen kann.
Die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS) kann vergeben werden, wenn laut der Internationalen statistischen Klassifikation für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme (ICD) zusätzlich zu den beschriebenen Symptomen ein traumatisches Ereignis, eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung nachweisbar ist und mindestens sechs Monate zurückliegt. Dies lässt sich relativ leicht diagnostizieren, wenn es sich um eine Monotraumatisierung handelt und das traumatische Ereignis bekannt ist. Bei kindlichen, sich wiederholenden Traumatisierungen kann ein einziges Ereignis für die vorhandenen Symptome nicht verantwortlich gemacht werden, da das gesamte Lebensmilieu des Kindes oft traumatisierend wirkte. Außerdem haben sich über längere Zeit verschiedene weitere Symptome entwickelt, die auf mögliche traumatische Erfahrungen hindeuten können, aber auch andere Diagnosen rechtfertigen könnten. Dann besteht die Gefahr, dass Symptome falsch interpretiert werden. Häufig ist es so, dass wir nur Symptome finden, die traumatischen Ereignisse selbst sind jedoch nicht verifizierbar. Ein entsprechendes traumatisches Ereignis als erstes Kriterium für die Diagnose ist deshalb oft nicht nachweisbar. Dies kann verschiedene Gründe haben:
Ereignisse können zwar erinnert, aber aus Selbstschutz nicht mitgeteilt werden.
Ereignisse können zwar erinnert, aber selbst nicht geglaubt werden.
Ereignisse können nicht mitgeteilt werden, weil es ein Verbot gibt oder eine Loyalität mit dem Täter existiert.
Ereignisse können zwar als Bilder oder Körperphänomene erinnert werden, aber es gibt keine Sprache dafür.
Ereignisse können nur in einzelnen Fragmenten erinnert werden, deren Bezug zum traumatischen Geschehen aber unklar oder unvollständig ist.
Ereignisse können nicht erinnert werden, es besteht eine Amnesie (Gedächtnislücke).
Zum Zeitpunkt des traumatischen Geschehens war das Kind jünger als vier Jahre, sodass es noch nicht als Geschichte im Gedächtnis gespeichert werden konnte.
Erinnerungen existieren nur in Form von Affekten und Körperreaktionen.
Die Diagnosekriterien lassen sich oft angemessen auf Menschen mit Monotraumatisierungen, die ansonsten in einem hinlänglich normalen Milieu leben, anwenden. Schwierig ist die Feststellung der Diagnose also, wenn während der frühen Kindheit über lange Zeit Gewalt stattgefunden hat. Die Diagnose »PTBS« im ICD wird mit ihrer Forderung nach einem nachweisbaren traumatischen Ereignis, ihrem Zeitfenster von einem halben Jahr (Auftreten der Symptome) und ihrem eingegrenzten Symptomkatalog der psychischen Realität entwicklungstraumatisierter Kinder nicht gerecht. Sie umfasst nicht das typische Traumatisierungsmilieu und die Entwicklungsfolgen dieser Kinder. Sie beinhaltet auch nicht die besondere Reaktionsweise eines Kindes. Diese agieren ihre Symptome im Verhalten, im Spiel, in Imaginationen aus. Sie reinszenieren, erfinden Geschichten, verlieren Fähigkeiten, die sie schon konnten, werden extrem klammernd, das Bindungssystem (Brisch 1999) wird aktiviert. Sie entwickeln Bewältigungsmechanismen, die sie in ihren Alltag einbauen und aus denen heraus sie bei Belastung reagieren. Sie haben aggressive Ausbrüche, können sich in der Schule nicht konzentrieren, stören oder isolieren sich.
In der Erziehungsberatung wird der 8-jährige Helmut mit einer ausgeprägten Enkopresis (Einkoten) von seiner Mutter vorgestellt. Er hat eine fünf Jahre ältere Schwester. Der Vater ist Fernfahrer, die Mutter Hausfrau. Aus der Anamneseerhebung und der Diagnostik ergibt sich das Bild einer scheinbar normalen Familie. Die beginnende, verhaltenstherapeutisch orientierte Therapie bringt keine Erfolge. Nachdem eine leidlich tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut werden konnte, berichtet Helmut, dass er regelmäßig mit dem Vater am Wochenende auf Fernfahrt geht und auch mit ihm im Laster übernachtet. Während er das berichtet, wirkt er bedrückt und verschlossen. Weitere Fragen lässt er nicht zu. In der Therapeutin entsteht der Verdacht des sexuellen Missbrauchs. Die Therapeutin sagt: »Da ist etwas, was Du noch nicht preisgeben kannst, ich respektiere das.« Helmut schweigt. In dieser Therapie gelingt es nicht, den Verdacht zu erhärten.
Viele Jahre später erscheint die inzwischen jugendliche Schwester und sucht Hilfe wegen einer Depression. Sie berichtet unter anderem, dass sie unter Schuldgefühlen leide, weil sie damals ihrem Bruder nicht geholfen habe. Der Vater habe ihn während der Fahrten mit dem Laster regelmäßig anal vergewaltigt. Das habe er ihr damals erzählt.
Die Reaktionsweisen von Kindern nach Entwicklungstraumatisierungen finden wenig Berücksichtigung im ICD. Hier ist Nachbesserung notwendig, wie bereits erkannt und diskutiert wurde (Herpertz, Dahlmann et al. 2003; Streeck-Fischer 2012). Die Autoren schlagen die Einführung der Diagnose »Entwicklungstraumastörung« und deren Übernahme in das ICD vor. Von anderen Fachleuten wurden andere Begriffe in die Diskussion eingebracht. So stellt Brisch bei den umfassenden Folgen von traumatischen Erfahrungen während der frühen Phase der Entwicklung die Bindungsqualität besonders in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Er betont, dass die Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen frühe Störungen der Entwicklung – etwa durch Traumatisierungen in den ersten Lebensjahren – vorliegen, den Therapeuten vor große Herausforderungen stellt (Brisch, 2011). Diese Problematik betont auch Wöller, wenn er von »Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen« spricht und die Zusammenhänge zwischen frühen traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und der späteren Herausbildung von Persönlichkeitsstörungen wissenschaftlich belegt. Er zeigt Wege der Behandlung von persönlichkeitsgestörten Patienten mit frühen Traumatisierungserfahrungen auf (Wöller 2009). Schellong schlägt in diesem Zusammenhang eine Klassifizierung der Diagnosen vor, die die unterschiedlichen Folgen von traumatischen Erfahrungen berücksichtigen sollen (Schellong 2013).
Entwicklungstraumastörungen lassen sich nach Abb. 3 unter Typ II, aber vor allem auch unter Typ III und IV finden. Um die komplexen Folgen kindlicher traumatischer Entwicklungswege ausreichend zu respektieren, müssen sie deshalb als eine Unterkategorie der komplexen Traumafolgestörung verstanden werden. Forschungsergebnisse weisen eindeutig in die Richtung, dass die Folgen früher lang anhaltender Traumatisierungen vor allem durch Bindungspersonen komplexer und tiefer in die Persönlichkeit eingegraben sind als jene komplexen Traumatisierungen, die während einer späteren Lebensphase geschehen.
Sollte der Begriff der komplexen Traumafolgestörung im nächsten ICD als Diagnose übernommen werden, wäre dies ein Schritt in die richtige Richtung.
Typ I
einfache PTBS
Intrusionen, Vermeidung,
Hyperarousel, ohne Komorbidität
Typ II
PTBS plus traumakompensatorische Symptomatik
plus Komorbidität, z.B.
Angst, Depression, Somatisierung,
Abhängigkeitserkrankungen,
Depersonalisation, Derealisation,
sonstige kompensatorische Symptome
Typ III
PTBS plus persönlichkeitsprägende Symptomatik
plus schwere emotionale Instabilität
dissoziative Symptomatik,
Bindungs- und Beziehungsstörungen,
verändertes Selbst- und Weltbild
Typ IV
PTBS plus komplexe dissoziative Symptomatik
plus Amnesien, Teilidentitätsstörungen,
Identitätswechsel
Abb. 3: Diagnostik und Symptomatik von Traumafolgestörungen (nach Schellong 2013)
Es gibt unterschiedliche Traumatisierungshintergründe. Bereits Judith Herman (1993) entwickelte deshalb die Aufteilung in Traumatyp I (Monotraumatisierung) und Traumatyp II (Komplextraumatisierung). Unter Traumatyp I werden seitdem Folgen von Traumatisierungen verstanden, die einmal geschehen und einen Anfang und ein Ende haben innerhalb eines sonst relativ normal verlaufenden Lebens. Dazu gehören z.B. Unfälle, Operationen, Naturkatastrophen, einmalige Misshandlungen, Überfälle, Vergewaltigungen. Das Fallbeispiel Marie soll verdeutlichen, wie eine Monotraumatisierung das bisherige Gefühl von Sicherheit abrupt unterbrechen kann und wie es sich aber bei guten inneren und äußeren Ressourcen in einer möglichst schnell einsetzenden Therapie wieder herstellen lässt. Dabei wurde die Methode des Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) eingesetzt (Shapiro 1998a/b).
Die Mutter sagt zu Marie (4 Jahre): »Die Straße ist frei, lauf rüber, da ist Papa, der wartet auf Dich.« Marie läuft los. Unvorhersehbar kommt ein Auto um die Ecke, erfasst Marie, schleudert sie über die Windschutzscheibe. Sie kommt mit einem Schock und einem gebrochenen Bein mehrere Wochen ins Krankenhaus. Nach der Behandlung wieder zu Hause verweigert Marie das Laufen. Sie will nur auf den Arm von Papa und Mama.
In der ersten Therapiestunde wird Folgendes deutlich:
Marie will nicht mehr über den Unfall sprechen, sie will auch nicht, dass die Eltern darüber sprechen, »weil das doof ist«. Damit meint sie, dass die Gespräche das innere traumatische Geschehen immer wieder aktivieren (Trigger) und sie sich belastet fühlt.
Marie versucht, die schockartig unterbrochene gute Bindung zu den Eltern wieder zu reparieren, indem sie sich anklammert und bereits gelernte Autonomieschritte aufgibt.
Indem die Therapeutin diese Erkenntnis in einer Familientherapiesitzung vermittelte und Marie sich schließlich im Arm der Mutter einkuscheln kann, lässt Marie sich darauf ein, dass die Therapeutin den Unfall vorspielt. Während dies geschieht, korrigiert sie und greift schließlich in das Spiel ein. Dann sagt sie: »Das Schlimmste war das Krankenhaus, Mama. Du warst nicht da, der Doktor kam mit der großen Spritze!« Die Therapeutin bestätigt, dass es schlimm war, dann erzählt Marie weiter: »Ich war so allein, da war die Tigerente auf dem Bett, das war gut.« Marie weint. Die Therapeutin leitet die Mutter an, sie zu halten und zu trösten. Beide weinen.
In zwei weiteren Sitzungen wiederholt sich das Geschehen. Jeweils differenzierter berichtet Marie nun ihre Erinnerungen, erzählt von ihrer Angst, ihren Schmerzen, ihrer Sehnsucht und äußert ihre Wut auf die Eltern, dass die nicht verhindert haben, dass der Unfall passierte. Die Therapeutin begleitet den Prozess verbal bestätigend und zusätzlich mit wechselseitigen Stimulierungen der Fußsohle (EMDR). Damit soll die neuronale Verarbeitung der traumatischen Erfahrung intensiviert werden. In der vierten Sitzung bringt Marie eine Stoffblume mit. »Die ist für Dich«, sie kommt selbständig gehend in den Therapieraum. Die Eltern berichten, dass Marie nun wieder laufen kann. Ein letztes Elterngespräch nach zwei Monaten ergibt, dass Marie symptomfrei ist.
Menschen mit Komplextraumatisierungen haben eine Reihe von traumatischen Erfahrungen, oft verschiedenster Art hinter sich. Es gibt oft keinen eindeutigen Anfang und kein wirkliches Ende. Das Leben ist Trauma und etwas anderes ist kaum vorstellbar. Traumatisierende Entwicklungsbedingungen in der Kindheit wie körperliche und seelische Misshandlungen, Vernachlässigungen, sexueller Missbrauch, häufige Wechsel der Beziehungspersonen und der Lebensmittelpunkte, überleben mit sich misshandelnden Eltern, mit chronisch kranken Eltern, Flucht und Vertreibung aus Heimatländern sind deshalb Teile von Komplextraumatisierungen. Gerade jene frühen traumatischen Erfahrungen beeinträchtigen die Entwicklung erheblich und bestimmen über den Erfolg oder Misserfolg bei der Bewältigung weiterer Entwicklungsaufgaben und Belastungen. Sie führen oft zu unspezifischen Störungen, die es erschweren, sie als Folge von kindlichen Entwicklungstraumatisierungen zu verstehen (Streeck-Fischer 2012). Während der Begriff der Komplextraumatisierung alle Formen multipler Traumatisierung umfasst, kann kindliche Entwicklungstraumatisierung als eine wichtige Unterkategorie davon verstanden werden, sie hebt deren frühe Verursachung durch verschiedene Formen der Gewalterfahrung durch Bindungspersonen oder den Verlust derselben hervor. Die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf die sich entwickelnde Persönlichkeit ist entscheidend davon abhängig, ob es möglich war, vor Beginn der traumatischen Erfahrungen gute Bindungs- und Bewältigungserfahrungen internalisiert zu haben. Dies bestimmt die Qualität ihrer Bewältigung oder Nichtbewältigung und beeinflusst häufig, ob weitere Traumatisierungen folgen werden oder sich schwere komplexe Traumafolgestörungen entwickeln.
In Abb. 4 soll beispielhaft der Verlauf einer Entwicklungstraumatisierung im Kontext-Kontinuum-Schema veranschaulicht werden. Dabei wird zwischen traumatischen Belastungen und äußeren Ressourcen unterschieden. Die Altersskala zeigt das jeweilige Entwicklungsalter an, das zu den jeweils zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben in Beziehung gesetzt werden kann. Der Kontext meint das jeweilige Lebensumfeld des Kindes, es unterscheidet sich nach der jeweiligen emotionalen Bedeutung für das Kind. Die dunkelgrauen Bögen zwischen den traumatischen Ereignissen bezeichnen belastende »Affektketten« (Huber 2011). Die hellgrauen Bögen zeigen unterstützende Affektketten an. Dieses Schema ist hilfreich, um anamnestische und diagnostische Erkenntnisse zu dokumentieren und kann entsprechend weiterer Erkenntnisse fortgeschrieben werden. Gleichzeitig kann das Schema Grundlage für eine ressourcenorientierte Traumabearbeitung sein, bei der unterstützende Affektketten zur Stabilisierung aktiviert werden.
Abb. 4: Schema Kontext-Kontinuum und Entwicklung
Kindheit ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass wichtige, basale Entwicklungsschritte bewältigt werden müssen. Ihre Speicherung geschieht in einem Gehirn, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefestigt ist. Erste neuronale Verbindungen werden durch traumatische Erfahrung basal geprägt und bestimmen die weitere Entwicklung des Gehirns (Hüther et al. 2010). Deshalb wirken sich Traumatisierungen, die in dieser Zeit geschehen, besonders tief auf die psychische Struktur und damit auf alle weiteren Entwicklungsschritte aus. Vor allem, wenn sie über lange Zeit geschehen und Kinder in einem Traumatisierungsmilieu aufwachsen müssen.
Wichtige Formen früher Traumatisierung sind sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, häufige Bindungsabbrüche, frühe Migration.
Symptome von Kindern und Jugendlichen sind oft so unspezifisch, dass sie nicht als Anpassungsleistungen an ihre Traumatisierungswelt verstanden werden können. Streeck-Fischer (2012) benennt sieben Kriterien, die auf traumatisierende Entwicklungsbedingungen hinweisen, sie sollen im Folgenden verkürzt wiedergegeben werden.
Kriterium A: Exposition
Unmittelbare Erfahrung oder Zeuge von wiederholten und schweren Episoden interpersoneller Gewalt;
Signifikante Störung einer beschützenden Pflege infolge von wiederholtem Wechsel von Pflegepersonen, wiederholten Trennungen von der primären Pflegeperson oder Erfahrung von schwerem und anhaltendem emotionalen Missbrauch.
Kriterium B: Affektive und physiologische Dysregulation
Unfähigkeit, Affekte zu modulieren, zu ertragen und sich von ihnen zu erholen, einschließlich verlängerter und extremer Ausbrüche oder Immobilisierung;
Störungen in der Regulation von Körperfunktionen;
Verminderte Aufmerksamkeit/Dissoziation von Wahrnehmung, Gefühlen und Körperzuständen;
Eingeschränkte Fähigkeit, Gefühle und Körperzustände zu beschreiben.
Kriterium C: Aufmerksamkeits- und Verhaltensregulation
Vorstellungen von Drohungen oder eingeschränkte Fähigkeit, Drohungen wahrzunehmen, mangelhaftes Erkennen von Sicherheit oder Gefahr;
Eingeschränkte Fähigkeit zum Selbstschutz, extremes Risikoverhalten, Thrill-Suche;
Maladaptive Versuche der Selbsttröstung;
Habituelle oder reaktive Selbstverletzungen;
Unfähigkeit zu zielgerichtetem Verhalten.
Kriterium D: Selbst- und Beziehungsdysregulation
Schwierigkeit oder Unfähigkeit, nach Trennung die Beziehung wieder aufzunehmen;
Negatives Selbstgefühl, Hilflosigkeit, Wertlosigkeit, mangelnde Effektivität, Mangelgefühl;
Extremes und anhaltendes Misstrauen, Verweigerung oder Mangel an reziprokem Verhalten in engen Beziehungen;
Reaktive oder körperliche Aggression;
Unpassende Versuche, Kontakt zu bekommen;
Eingeschränkte Fähigkeit, empathische Erregung zu regulieren bei tatsächlichem Mangel an Empathie.
Kriterium E: Posttraumatische Symptome im engeren Sinne
Das Kind zeigt wenigstens zwei Symptome aus den Bereichen Überregung, Vermeidung, Intrusion.
Kriterium F: Dauer der Störung
Mindestdauer etwa sechs Monate.
Kriterium G: Funktionelle Beeinträchtigung
Schule: Leistungseinschränkung, Schulverweigerung, Disziplinprobleme;
Familie: Konflikte, Weglaufen, Beziehungsabbrüche, mangelnde Übernahme von Verantwortung etc.;
Gleichaltrigengruppe: Isolation, abweichende Bindungen, anhaltende Konflikte, Teilnahme an gewalttätigen, gefährlichen Handlungen;
Gesetzesprobleme: wiederholte Verurteilung, Missachtung von Gesetzen und moralischen Standards;
Gesundheit: körperliche Erkrankungen oder Probleme, Störungen des sexuellen, immunologischen, kardiopulmonalen, sensorischen Systems, chronischer Schmerz;
Ausbildung/Beruf: mangelndes Interesse an Arbeit/Ausbildung, Unfähigkeit, Jobs zu bekommen oder zu behalten, Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten.
Diese Diagnosekriterien für entwicklungstraumatisierte Kinder und Jugendliche entsprechen den alltäglichen Erfahrungen von Betroffenen, Angehörigen und Mitarbeitern der Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendpsychotherapie und -psychiatrie. Sie machen aber auch deutlich, wie schwierig ein Rückschluss auf bestehende oder unverarbeitete kindliche Traumaerfahrungen ist. Feinfühlig und mit Durchhaltevermögen muss versucht werden, einen Zugang zu diesen jungen Menschen zu bekommen. Nach meinem Verständnis sind diese Symptome indirekt und oft unbewusst Botschaften über erlebte, nicht verarbeitete traumatische Lebensbedingungen, die danach suchen, verstanden zu werden. Damit dies möglich wird, ist der Aufbau einer tragfähigen, helfenden Beziehung, die sich oft wie ein holpriger, beschwerlicher Wanderweg anmutet, eine unbedingte Voraussetzung. Es gibt scheinbar leichte Strecken, die durch plötzlich auftretende schwierige Wegpassagen entmutigen und zur Aufgabe verleiten können. Gerade an diesen Stellen ist es wichtig durchzuhalten. Handelt es sich doch um Personen, die aufgrund ihrer »Bindungs-Tätererfahrungen erst einmal alles vermeiden, was nach »Nähe riecht«. Gleichzeitig verspüren sie eine immense innere Sehnsucht danach. Allein dieser Widerspruch macht deutlich, wie zerrissen Entwicklungstraumatisierte sich zwischen diesen beiden Polen fühlen müssen. Spannung entsteht innerlich zwischen verschiedenen traumaassoziierten Selbstanteilen, aber auch äußerlich zwischen sich und den Anderen.
Familiengeschichten, in denen in der Kindheit selbst traumatisierte Eltern nicht in der Lage sind, ausreichend für das Kind zu sorgen, sind die Regel. Jugendhilfeakten sind oft Zeugnisse dieser transgenerativen Weitergaben von Entwicklungstraumatisierungen. Eltern geben über die Bindung eigene traumatische Erfahrungen und deren Folgen an die Kinder weiter. Viele dieser Kinder und Jugendlichen kommen mit ihren Erfahrungen sehr früh in öffentliche Erziehung. Allein in Deutschland gibt es 60000 Pflegestellen. Es ist die häufigste Form der Fremdunterbringung, vor allem für jüngere Kinder (Statistisches Bundesamt 2011). Hier soll in einem familienähnlichen Milieu versucht werden den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre traumatischen Erfahrungen zu bewältigen. Durch Halt gebende Interventionen der Pflegeeltern soll der Rahmen geschaffen werden, dass Kinder neue Bindungen entwickeln können (Gahleitner et al. 2014). Nicht selten scheitern Pflegeeltern an diesen hohen Erwartungen aufgrund zu geringer Unterstützung.
Bevor dann ein weiterer Lebensmittelpunkt gesucht werden muss, kann versucht werden, das Kind wieder zu den Eltern zurückzugeben. Dies geschieht in der Hoffnung, dass sich die Eltern in der Zwischenzeit ausreichend stabilisieren konnten. Betroffene Eltern bekommen oft Unterstützung in Form von Sozialpädagogischer Familienhilfe. Mehrmals wöchentlich kommt eine sozialpädagogische Fachkraft in die Familie und unterstützt das Familiensystem. Gelingt dies nicht, folgen im nächsten Schritt oft Kinder- und Jugendpsychiatrie und therapeutisch ausgerichtete Wohneinheiten. Bis dahin hat der nun inzwischen Jugendliche viele Bindungsabbrüche erlebt, immer wieder Erfahrungen mit Gewalt und Vernachlässigung gemacht, sodass er sich nicht mehr auf Bindungen einlassen mag. Er entwickelt die Überzeugung: »Erwachsene schädigen doch, ich vertraue nicht mehr« (Garbe 1998). Der Grundstein für diese negative Grundüberzeugung wird während der Entwicklungstraumatisierungen gelegt. Entwickeln sich darauf nicht ausreichend sichere und stabile Lebensmittelpunkte, können die Folgen der Traumatisierungen nicht revidiert werden und verfestigen sich weiter als Überlebensstrategie.
Kosta (17 Jahre) lebt seit zwei Jahren in einer großen Jugendhilfeeinrichtung. Er beginnt sich dort zu stabilisieren.
Zur Vorgeschichte:
1996: In Russland geboren, mit zehn Monaten verlässt die Mutter ihn, sie lehnt ihn ab.Der Vater lebt mit ihm in der gleichen Blocksiedlung, er arbeitet und ist dem Jungen gegenüber ambivalent mit aggressiven Durchbrüchen. Kosta wird von seinen Großeltern betreut.2000: Mit vier Jahren endgültige Trennung von der Mutter, sie hat kein Interesse an ihm. 2003: Der Vater heiratet zum zweiten Mal, die Stiefmutter lehnt ihn ab.2005: Ausreise der Familie nach Deutschland. Kosta wird dort mit der drei Jahre älteren Tochter der Stiefmutter konfrontiert.2007: Erster Psychiatrieaufenthalt, da die Stiefmutter Angst hat, dass Kosta ihrer Tochter etwas antut. Affektdurchbrüche, dissoziales Verhalten, schließlich Zurückführung in die Familie.2010: Erster Heimaufenthalt wegen Diebstahl, Lügen, jugendlichem Vandalismus.2011: Zweiter Heimaufenthalt. Offenes Konzept, dort ist er wegen Affektdurchbrüchen und kriminellen Handlungen (17 Delikte) nicht tragbar.2011: Dritter Wechsel in eine große Jugendhilfeeinrichtung, anfangs geschlossen, später halb offen mit engmaschiger Bezugsbetreuung. Kosta braucht Verlässlichkeit und Klarheit, will selbst entscheiden. Affektdurchbrüche, wenn er hört: »Du musst«. Bisher ist Kosta dort straffrei aber beeinflussbar. Er besucht die Werkstatt der Einrichtung und möchte Schlosser werden. Dort zerschlägt er ausgediente Geräte und baut aus dem Schrott Skulpturen. Der Kontakt zum Vater ist sporadisch; der Vater meldet sich nur dann bei ihm, wenn er etwas von Kosta will.Kosta versucht, nach einer bindungsunsicheren Entwicklung mit traumatischen Erfahrungen, sich selbst eine Existenz aufzubauen (Autonomiesuche). Gleichzeitig wünscht er emotionalen Halt. Bindungen mit Elternersatzpersonen vermeidet er aus Angst vor erneuten traumatischen Erfahrungen. Deshalb sucht er die Nähe zu Gleichaltrigen, bei denen er Anerkennung für seinen »kriminellen Mut« findet (Abhängigkeit). Das stärkt nur scheinbar sein Selbstbewusstsein und er gerät damit in Konflikte mit den gesellschaftlichen Anforderungen.
In der Jugendhilfeeinrichtung findet er Halt durch klare Strukturen, Verlässlichkeit, Offenheit und die Balance von Nähe und Distanz in der Beziehung. Das ermöglicht ihm sich mehr einzulassen. In der Werkstatt findet er neue Wirksamkeitserfahrungen, entwickelt realistische Ziele. Seine Wut und seine damit verbundenen Affektdurchbrüche kompensiert er kreativ, er zerschlägt etwas Ausgedientes zu Schrott und baut daraus etwas Neues.
Je länger Kinder in traumatisierenden Milieus verbleiben müssen, je öfter es parallel zu Bindungsabbrüchen kommt und je älter sie werden, desto unspezifischer, aber auch desto tiefer in die Persönlichkeit eingegraben und differenzierter sind die Symptome (vgl. Abb.5).
Lebensphase
Symptome
Frühe Kindheit
Bindungsstörungen, oppositionelles Verhalten, Entwicklungsverzögerungen
Mittlere Kindheit
Schulversagen, Störungen des Sozialverhaltens, Dysphorie, Lustlosigkeit, depressive Symptome, Selbstwertproblematik, geringere soziale Kompetenz
Jugendalter
Selbstverletzungen, Suizidalität, Substanzmissbrauch, Störung des Sozialverhaltens, auffälliges sexualisiertes Verhalten, körperliche und sexuelle Aggression, dissoziative Störungen
Erwachsenenalter
Persönlichkeitsstörungen, dissoziative Störungen, depressive Störungen, körperliche Erkrankungen, erhöhtes Risiko eigene Kinder zu misshandeln
Abb. 5: Symptome der Traumafolgestörungen (nach De Bellis 2001)
Im ICD sind weitere Diagnosen beschrieben, die Folgen früher Entwicklungstraumatisierungen sein können (vgl. Abb.6). Oft werden mehrere Diagnosen nebeneinander vergeben, man spricht dann von Komorbidität. Klienten können ein komplexes Störungsbild mit sehr unterschiedlichen Symptomen entwickeln, die nicht unbedingt gleich darauf schließen lassen, dass es Entwicklungstraumatisierungen gab. Oft sind diese völlig in der Amnesie und nur bruchstückhaft, also fragmentiert, erinnerbar. Im Laufe der verschiedenen Betreuungs- und Behandlungsstationen dieser Kinder rückt ihre aktuelle Verhaltensauffälligkeit immer mehr in den Vordergrund professionellen Handelns. Der Fokus wird dann zunehmend auf die Symptome gelegt, sie sollen »wegpädagogisiert« werden. Die frühen traumatisierenden Hintergründe rücken dabei zunehmend ins Abseits. Eine wirkliche Stabilisierung und damit ein schrittweiser Rückgang der Auffälligkeiten gelingen nur dann, wenn die Problematik als Folge früher Extrembelastungen verstanden wird (vgl. Kap. 4).
F 40–42 Angststörungen
F 43 Akute Belastungsstörung
F 43.1 Posttraumatische Belastungsstörung
F 43.2 Anpassungsstörung
F 43.2 Depressive Reaktionen
F 44 Dissoziative Störungen
F 45 Somatoforme Störungen
F 50 Essstörungen
F 52 Sexuelle Funktionsstörungen
F 48.1 Depersonalisation/Derealisation
F 60 Persönlichkeitsstörungen
F 62.1 Andauernde Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastung
F 80–89 Entwicklungsstörungen im Kindesalter
F 90–98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Abb. 6: Weitere ICD-Diagnosen nach Traumatisierungen
Die Folgen lange anhaltender Traumatisierungen, ein Leben in Unsicherheit, Einsamkeit und Gewalt, führen schließlich zu Veränderungen in den inneren psychischen Strukturen und können sich in den verschiedensten Symptomen zeigen, die es schließlich immer schwerer machen, sie als Traumafolgestörung zu erkennen. In den Unterlagen der Bewohner stationärer Betreuungseinrichtungen nach der Psychiatrie fehlt oft eine genaue Anamnese, aus der Mitarbeiter erkennen können, dass die Problematik des Jugendlichen und des Erwachsenen Folgen von anhaltenden Entwicklungstraumatisierungen sein könnten. Man spricht dann von strukturellen Persönlichkeitsstörungen oder von andauernden Persönlichkeitsveränderungen nach Extremstress.
Van der Kolk (2000) hat die Veränderungsbereiche beschrieben. Er verweist darauf, dass traumatisierte Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen häufig falsch diagnostiziert werden (vgl. Abb.7), dies sei bereits 1992 von Herman erkannt worden.
Veränderungen in den Bereichen:
Affektregulation und ImpulskontrolleAufmerksamkeit und BewusstseinSelbstwahrnehmung und SelbstwertWahrnehmung des TätersWahrnehmung des UmfeldesBeziehungsgestaltungKognitive ÜberzeugungenEntwicklungsverzögerungenAbb. 7: Folgen lang anhaltender, komplexer traumatischer Situationen
Herman vertrat die Position, dass aufgrund der großen Anzahl und der Komplexität der Symptome die Behandlung häufig bruchstückhaft und unvollständig sei. Aufgrund ihrer charakteristischen Schwierigkeiten enge Beziehung einzugehen, seien diese Personen anfällig für eine Reviktimisierung (Traumawiederholungsneigung) durch Bezugspersonen. Darunter fasste Herman nicht nur Partner, Freunde, sondern auch Betreuer, Therapeuten, Pädagogen und Ärzte zusammen. Je früher die Traumatisierungen stattfinden würden, desto weniger differenziert können sich Persönlichkeitssysteme entwickeln. Auf Herman (1993) und Van der Kolk geht auch die Diagnose DESNOS (disorder of extreme stress not otherwise specified – nicht näher bezeichnete Störung nach Extremstress) zurück. Sie wurde im DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) endlich aufgenommen.
Van der Kolk beschreibt eine Vielfalt von Symptomen der Diagnose DESNOS. Sie umfassen den Bereich der Modulation von Gefühlen, den Umgang mit Aggressionen und Sexualität, die Neigung zu impulsivem, selbstzerstörerischen, risikoreichem Verhalten. Er beschreibt die Neigung zu Amnesien, Dissoziation und die Schwierigkeit realitätsgerecht wahrzunehmen, die Schwierigkeit zu vertrauen, Beziehungen aufrechtzuerhalten, andere und sich selbst zu schädigen. Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit bestimmen das innere Grundgefühl. Zusammengefasst ist der Symptombereich der Diagnose DESNOS in Abb.8 dargestellt. Er schreibt: »Wenn es stimmt, dass traumatisierte Personen dazu neigen, auf der emotionalen und kognitiven Stufe, auf der sie traumatisiert sind, stehen zu bleiben – wie von Janet, Kardiner und vielen nachfolgenden Trauma-Forschern beobachtet, dann werden sie dazu tendieren, dieselben Mittel einzusetzen, um die aktuellen Belastungen zu umgehen, wie die, die sie auf der Entwicklungsstufe eingesetzt haben, auf der das Trauma zum ersten Mal geschah.« (Van der Kolk 2000, S. 192)
A. Veränderung in der Regulierung affektiver Erregung
B. Veränderungen in Aufmerksamkeit und Bewusstsein
C. Somatisierung
D. Chronische Persönlichkeitsveränderung
E. Veränderung in den Sinnbezügen
Abb. 8: Symptombereiche der Diagnose DESNOS
Seitdem Van der Kolk dieses schrieb, sind bereits 14 Jahre vergangen. Auch Wöller hat den Zusammenhang von komplexen psychischen Traumatisierungen und Persönlichkeitsveränderungen herausgearbeitet. Er betont, dass zahlreiche empirische Studien die Hypothese unterstützen, dass Traumatisierungen in der Kindheit und die Entstehung einer Persönlichkeitsstörung eng miteinander verbunden sind. Schließlich kommt er zu dem Schluss, dass es einen hohen Zusammenhang zwischen physischen und sexuellen Traumatisierungen und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gibt. Dies gelte für zwei Drittel bis zu drei Viertel aller von ihm untersuchten Fälle. Körperliche und sexuelle Traumatisierungen in der Kindheit seien »offenbar am häufigsten bei der paranoiden, der emotional instabilen, der abhängigen und der dissozialen Persönlichkeitsstörung« zu finden (Wöller 2009).
Auch die Überzeugung, dass sich nach frühkindlichen Entwicklungstraumatisierungen zum Zwecke des Überlebens eine dissoziative Symptomatik bilden muss, setzt sich immer mehr durch (Van der Kolk et al. 2000, S. 179; vgl. Kap. 4, Das traumatisierte, fragmentierte Selbst).
Heute wissen wir aufgrund neuer neuronaler Forschungsergebnisse und aufgrund der Erkenntnisse aus der Resilienzforschung, dass es auch für Menschen mit schweren Traumafolgestörungen (vgl. Abb.9) erfolgreiche Behandlungen und Hilfen geben kann. Für Kinder und Jugendliche bedeutet dies vor allem das Nachholen von guten Bindungserfahrungen im Hier und Jetzt in einer sicheren Umgebung mit klaren Grenzen. Nach Entwicklungstraumatisierungen wollen sie vorrangig eines: Sie wollen angenommen und verstanden werden, damit sie den Entwicklungsfaden wieder aufnehmen können. In einem Halt gebenden Milieu besteht die Chance, auf dem Boden unterstützender, ermutigender Bindungserfahrungen möglichst viele neue Bewältigungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen. Sie sorgen damit für die innere Beruhigung der traumaassoziierten Erinnerungsstrukturen. Dies erfordert von der Bezugsperson neben einer guten fachlichen Ausbildung innere Standfestigkeit, Klarheit, Warmherzigkeit und vor allem Durchhaltevermögen und geringe Kränkbarkeit bei Affektdurchbrüchen, die sich oft gegen die Bezugsperson richten. Wo sollen diese Kinder denn mit ihrer Wut hin, wenn nicht zu den Menschen, die ihnen Halt und Akzeptanz bieten?
F 60.0 Paranoide Persönlichkeitsstörung
F 60.1 Schizoide Persönlichkeitsstörung
F 60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung
F 60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
F 60.4 Histrionische Persönlichkeitsstörung
F 60.5 Anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung
F 60.6 Ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung
F 60.7 Abhängige Persönlichkeitsstörung
F 60.8 Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Abb. 9: Persönlichkeitsstörungen nach ICD
In der fachlichen Diskussion wurden bisher häufig vier Bereiche diskutiert, wenn es um frühe, chronische Traumatisierungen ging: Sexueller Missbrauch, psychische und physische Misshandlung, Vernachlässigung und Trennungen von Bindungspersonen. Was nun zunehmend in den Fokus der Diskussion gerät, sind die Folgen von Flucht und Vertreibung während der Kindheit (Stauf 2012). Diese Thematik soll hier miteinbezogen werden. Obwohl jede der fünf Formen seine spezifische Problematik aufweist, wissen wir, dass sie oft in Kombination miteinander auftreten. Sozioökonomische Lebensbedingungen sind für viele Menschen weltweit bedrohlich. Sie bestimmen die Möglichkeit, mit guten und sicheren Bindungserfahrungen aufzuwachsen, erheblich mit. Kriege, Armut und Verfolgung zwingen Menschen, ihr Land zu verlassen. Zunehmend machen sich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit Schleppern auf den Weg durch Wüsten, über Meere und Gebirge mit dem Ziel, ein menschenwürdigeres Leben zu finden. Sie müssen sich dabei von ihren Bindungspersonen trennen und erleben weitere Traumatisierungen. Entwicklung geschieht nicht in einem privaten Raum allein, sondern unter gesellschaftlichen Bedingungen.
Kindesmisshandlung hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben (Helfer/Kempe/Krugmann 2002). Heute unterscheiden wir zwischen psychischer und physischer Misshandlung. Schlagen mit Gegenständen, verbrennen, kneifen, schubsen, stoßen, festbinden, einsperren, zum Essen zwingen sind Formen physischer Misshandlung. Verbale und nonverbale Entwertungen, Missachtungen, Ausgrenzungen, Beschimpfungen und Bestrafungen durch Schweigen sind Formen psychischer Misshandlung. Im Abstrakt zur Gewaltstudie der Universität Bielefeld 2013 wird berichtet, dass 25% der befragten Minderjährigen über verbale erlebte Misshandlungen berichten. Obwohl noch wenig erforscht, wird davon ausgegangen, dass ihre Folgeschädigungen immens sind. Insbesondere verbale Missachtungserfahrungen führen deutlich – und auch stärker als körperliche Gewalterfahrungen – zu emotionalen Problemen, die sich auf das Wohlbefinden, das Selbstvertrauen sowie die Selbstwirksamkeitserfahrungen junger Menschen auswirken (Ziegler 2013).
Misshandlungen geschehen häufig aus dem Affekt heraus. Überforderte Eltern erleben Hilflosigkeit, Wut und Ohnmacht angesichts eines für sie schwer auszuhaltenden Verhaltens des Kindes und reagieren aus dem Affekt. Um sich durchzusetzen und sich innerlich wieder zu regulieren, misshandeln sie körperlich und seelisch. Misshandlungen werden aber auch von Personen durchgeführt, die ihr inneres, narzisstisches Gleichgewicht über das Quälen des Opfers regulieren müssen. Es ist wichtig für sie, das Leiden und das Bedürfnis nach Wiederannäherung zu sehen, um sich mächtig fühlen zu können.
Gewalt gegen Kinder kann seine Ursache aber auch in eigenen Misshandlungserfahrungen in der Kindheit haben, die nicht verarbeitet wurden (Wöller 2009).Wöller berichtet von Untersuchungen, in denen nachgewiesen wurde, dass in misshandelnden Familien aufgewachsene Kinder lernen, das aggressive Verhalten der Eltern als angemessenes Erziehungsverhalten anzusehen, wenn die Misshandlung nach tatsächlichen Verfehlungen eingesetzt und von den Eltern rationalisierend kommentiert werden. Es wurde nachgewiesen, dass Menschen, die selbst misshandelt worden waren, eher dazu neigen, Misshandlungen als angemessene Verhaltensweise zu beurteilen und dass sie eigene erlebte Misshandlungen als notwendige Härte der elterlichen Erziehung rechtfertigen. Dies wird in Überzeugungen, wie »Das hat mir nicht geschadet, das schadet auch nicht meinen Kindern« deutlich.
Wenn Kindererziehung in größeren sozialen Kontexten stattfindet und funktionierende soziale Netzwerke vorhanden sind, findet Misshandlung seltener statt. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Annahme, dass überforderte, auf sich allein gestellte Eltern eher zu Misshandlungen neigen als Eltern, die sich emotional, sozial und ökonomisch ausreichend sicher fühlen. Kinder, die in ihrem Umfeld Wertschätzung erfahren und die sich in einem guten gesundheitlichen Zustand befinden, sind besser geschützt vor Misshandlungen. Kinder, die in ihrer physischen Ausstattung nicht der Wertvorstellung der jeweiligen Gesellschaft entsprechen, dazu zählen auch behinderte und andersfarbige Kinder, sind eher von Misshandlung bedroht. Ebenso ergeht es Kindern, die sich in einer Entwicklungsphase befinden, in denen sie bereits oppositionelles Verhalten zeigen können (Korbin 2002). Die Folgen früher Gewalterfahrungen für die weitere Entwicklung sind immens (Diebold 1998, S. 133). Vor allem scheinen Somatisierungsstörungen und Schmerzerkrankungen in einem Zusammenhang zu körperlichen Misshandlungen zu stehen. Es wird diskutiert, inwieweit frühe Gewalterfahrungen zu späterer Täterschaft führen. Auch der Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und der späteren Entwicklung einer Borderline-Störung wird zunehmend anerkannt (Sack/Sachsse/Schellong 2013).
2012 wurden insgesamt 14082 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Minderjähriger zur Anzeige gebracht. Davon waren 955 der Opfer männlich und 13127 weiblich im Alter von 1 bis 14 Jahren (Polizeiliche Kriminalstatistik 2013). Es muss aber von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, da die Schwelle, Anzeige zu erstatten immer noch sehr hoch ist. Auch die Zahl der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch im Internet (StGB §§ 176a, b) ist in den letzten drei Jahren deutlich gestiegen. Lagen 2011 die Fallzahlen noch bei 588, haben sie sich innerhalb von zwei Jahren auf 1131 fast verdoppelt (Polizeiliche Kriminalstatistik 2013).
Öffentliche Debatten und Ergebnisse zum Runden Tisch machen deutlich, dass es sich nicht nur um ein Problem im Privatbereich von Kindern handelt, sondern dass sich in Institutionen (Kirchen, Schulen, Internaten, Heimen) ein Milieu entwickeln kann, in dem sexueller Missbrauch möglich wird (Fegert et al. 2013). Wir verstehen unter sexuellem Missbrauch eine Handlung mit oder ohne Körperkontakt zwischen einem Täter und einem ihm unterlegenen Kind oder Jugendlichen. Es besteht eine Abhängigkeitsbeziehung. Der Täter benutzt das Kind zur eigenen Befriedigung seiner Machtbedürfnisse mit sexuellen Handlungen. Er verfügt über eine mangelnde Einfühlung in das Erleben des Kindes. Das Gebot der Geheimhaltung ist dieser Situation immanent.
Bei sexuellem Missbrauch handelt es sich um eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Sexuelle Handlungen an oder mit Kindern sind immer strafbar (StGB §§ 174, 176, 176a, 179, 182). Eine Einwilligung eines Kindes ist dabei bedeutungslos. Das Opfer ist während der Missbrauchshandlungen oft der einzige Zeuge. Ist eine Tat erst einmal angezeigt, wird auch ermittelt, weil es sich um ein Offizialdelikt handelt. Das Kind wird dann befragt, weil in unserem Staat die »Unschuldsvermutung« gegenüber dem Täter gilt. Dabei wird geprüft, ob die Aussagen des Kindes glaubwürdig sind (vgl. Kap. 3, Das Gedächtnis). Obwohl es in den letzten Jahren einige Verbesserungen für den Zeugenschutz gegeben hat, ist auch eine einmalige Befragung des Kindes immer noch eine erhebliche Belastung für das Kind. Sie führt häufig zu Retraumatisierungen. Videovernehmungen und die Beistellung eines Zeugenanwaltes ermöglichen zwar Erleichterungen, dennoch aktivieren Befragungen und Verhandlungen das erlebte Trauma. Deshalb muss bei jeder möglichen Strafanzeige vorher gut überlegt werden, ob ein Strafverfahren zum Wohle des Kindes ist oder ob es allein dem Wunsch nach Bestrafung des Täters dient. Auch sollte eine große Sicherheit darin bestehen, dass das Verfahren erfolgreich ist. Die Bedürfnisse des Opfers und deren Bezugspersonen nach Bestrafung des Täters sind sehr verständlich. Es kann aber eine erhebliche Belastung für das Kind darstellen, wenn ein Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt wird. Die Verjährungsfrist für sexuelle Missbrauchshandlungen wurde in den letzten Jahren verlängert und beginnt erst, wenn das Opfer 21 Jahre alt ist und endet nach 20 Jahren. Hiermit wurde der Tatsache entsprochen, dass Menschen erst viel später in der Lage sind, eine Gerichtsverhandlung durchzustehen. Aber auch diese Verlängerung reicht nicht aus, weil viele Menschen sich erst sehr spät in ihrem Leben an erfahrene Missbrauchssituationen in ihrer Kindheit erinnern können. Es wird von Fachberatungsstellen gefordert, die Verjährungsfrist völlig aufzuheben, sodass jederzeit noch eine Strafanzeige gestellt werden kann, dies würde eine weitere Verbesserung darstellen.
Die vorrangige Herstellung des Schutzes des Opfers kann oft gewährleistet werden, ohne dass eine Strafanzeige gestellt werden muss. Dafür ist das Zivilrecht zuständig. Familiengerichte entscheiden über den Schutz des Kindes und über sein Wohl (vgl. Kap. 6). Die unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs der Bundesregierung hat nun ein Hilfeportal in das Internet gestellt, über welches Betroffene, Angehörige und Fachkräfte Informationen und Hilfe finden können (www.hilfeportal-missbrauch.de).
Im Gegensatz zu Misshandlungen geschieht der sexuelle Missbrauch in der Regel nicht abrupt. Er wird oft schleichend, für das Kind anfangs kaum merklich, in die Beziehung eingeführt. Das Kind befindet sich in einer Situation, in der die anfangs noch relativ gut anfühlende Zuwendung eines Menschen zunehmend komisch, eklig, unangenehm wird. Da Täter aber oft versuchen, über das Benutzen der entstandenen Beziehung dem Kind Glauben zu machen, dass das, was er tut, schön ist, dass er das darf, dass es aber darüber schweigen soll, gerät das Kind zunehmend in eine »Sprachverwirrung« (Ferenczi 1933). Qualitäten von Bindung und Bedrohung werden im Erleben des Kindes verzahnt mit Gefühlen der sexuellen Lust eines körperlich-sexuell ausgereiften Täters. Das Kind schwankt innerlich zwischen den Gefühlen der Scham und Schuld und der Bedürftigkeit nach Bindung und Zuwendung hin und her. Diese neuronal gespeicherten Erfahrungen machen es vielen Opfern später nur schwer möglich, befriedigende Beziehungen zu sich selbst und zu Anderen aufzubauen, weil diese enge Verzahnung für sie nicht aufzulösen ist. Sie fühlen sich oft zerrissen zwischen ihrem Bedürfnis nach Nähe und ihrer Angst davor. Partnerschaften mit Sexualität sind oft extrem schwierig. Auffallend viele Menschen mit Borderline-Diagnose berichten, dass sie als Kind sexuell missbraucht wurden; schon Rhode-Dachser (1991) berichtete über diesen Zusammenhang. Viele andere Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Sucht und Schmerzerkrankungen können Folgen von sexuellem Missbrauch sein (Wöller 2009). Um den möglichen Schweregrad der Schädigungen nach sexuellem Missbrauch einschätzen zu können, spielen viele Faktoren eine Rolle. Dabei gilt, dass jeder Fall individuell ist und somit auch individuell bewertet werden muss. Dies geschieht am erfolgreichsten in einer Gruppe von Fachleuten in sogenannten Fallkonferenzen. In Abb. 10 finden Sie eine Liste von Kriterien zur Einschätzung der Folgen von sexuellem Missbrauch.
Interventionen nach sexuellem Missbrauch sollten in einem multiprofessionellen Team sorgsam geplant werden. Entsprechende Fachberatungsstellen können dabei unterstützende Hilfe leisten.
Kinder brauchen für gesundes Wachstum ein ausgewogenes Maß an Stimulierung von außen, das sowohl ihr Explorationsbedürfnis als auch ihr Bindungsbedürfnis befriedigt. Es muss Zeiten der Aktion und Zeiten der Ruhe und der Erholung beinhalten. Während wir sexuellen Missbrauch und Misshandlung eher als Überstimulierung verstehen können, also als ein zu viel an Reizen, ist Vernachlässigung eher eine Form der Unterstimulierung, also ein zu wenig an Reizen. Bindungspersonen zeigen kaum Interesse an ihren Kindern; sie nehmen zu wenig körperlichen und emotionalen Kontakt mit ihren Kindern auf (Wöller 2009). Bindungslosigkeit, Gefühlsunterdrückung, verminderte Fähigkeit zur Empathie, Neigung zu Gewalt, Delinquenz und verringerte Lernfähigkeit können die Folgen sein (Polansky et al. 1981).
Abb. 10: Einschätzungskriterien der Folgen von sexuellem Missbrauch (nach Bange/Körner 2002)