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Was in Traumatherapien wirklich hilft Einmalige Langzeitstudie mit Erfahrungsberichten ehemaliger Patient:innen Das Buch zeigt auf, wie Traumatherapien über die Lebensspanne nachwirken Beantwortet die Frage, was Psychotherapie tatsächlich leisten kann Wie wirken Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Psychotherapie weiter und können sie auch Jahre danach unterstützende und bewältigende Funktionen haben? Kann die Traumatherapie zu einer lebenslangen Ressource werden? Diese und weitere spannende Fragen sind der Ausgangspunkt für das besondere Buch von Elke Garbe. Die Autorin interviewte hierzu ehemalige Patient:innen Jahre oder sogar Jahrzehnte nach Therapieende. Sie fragte, was es ihnen ermöglicht hat, ihr Trauma zu überwinden und welche Rolle dabei die Psychotherapie spielte. Eine besondere Rückschau mit Fallgeschichten, die einen tiefen Einblick in die inneren Prozesse der Patient:innen und in die traumatherapeutische Arbeit der Autorin gewähren.
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2023
Elke Garbe
Trauma und Lebenswege
Über die Wirksamkeit Tiefenpsychologisch fundierter Traumatherapie
Mit qualitativen Interviews ehemaliger Patient:innen
Klett-Cotta
Alle Interviews und Abbildungen im Innenteil wurden mit freundlicher Genehmigung der Interviewpartner:innen abgedruckt. Die Namen der Interviewpartner:innen werden zur Wahrung der Anonymität nicht genannt, sind der Autorin aber bekannt.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von Fotokon/Adobe Stock
Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Lektorat: Dipl.-Psych. Mihrican Özdem
ISBN 978-3-608-98442-2
E-Book ISBN 978-3-608-12166-7
PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20627-2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort
Kapitel 1
Anlass und Planung dieses Buchs
1.1 Die Auswahl der Personen für ein Interview
1.2 Fragestellung für das Interview und Hypothesenbildung
1.3 Das qualitative Interview als Befragungsmethode
Kapitel 2
Traumatherapie
2.1 Kurze Geschichte der Traumatherapie
2.2 Definition, Diagnosen, Traumatyp 1 und 2
2.3 Die Tiefenpsychologisch fundierte Traumatherapie (TfT)
Kapitel 3
Resilienz und Trauma
3.1 Resilienz
3.2 Überlebensstrategien und Resilienz
Kapitel 4
Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen
4.1 Nichtverarbeitete Traumata werden weitergegeben
4.2 Übertragung und Gegenübertragung
4.3 Neurobiologische Erkenntnisse und Epigenetik
Kapitel 5
Die Interviews
5.1 Martha, 43: »Ich habe immer wieder an dich gedacht«
5.2 Anna, 34: »Ich habe mich sicher gefühlt«
5.3 Julia, 62: »Tschakka funktioniert nicht mehr«
5.4 Monika, 72: »Meine Bären brauch’ ich manchmal immer noch«
5.5 Emil, 26: »Echt gewünscht, dass es danach weitergeht«
5.6 Emil, 26: »Als Kind wusste ich ja gar nicht, was Therapie ist«
5.7 Till, 68: »Wo drei Kinder sind, kann auch noch ein viertes aufwachsen«
5.8 Till, 68: »Warum gibt man ein Kind in öffentliche Erziehung?«
5.9 Emil und Till: Aussöhnung und ein bisschen Frieden
5.10 Angelo, 78: »Es ist vorbei, ich habe es überlebt«
5.11 Christiane, 53, Pflegemutter von Jonny, 11: »Er hatte einfach eine sehr belastende Ausgangslage«
Kapitel 6
Auswertung der Interviews
6.1 Vorbemerkungen
6.2 Extrahierte Kernsätze und Interpretation
6.3 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
6.4 Schlussbemerkungen
Anhang
Brief an ehemalige Patienten
Interviewleitfaden
Literatur
Das Thema Trauma, seine Folgen und die Frage, was hilft, haben mich während meiner gesamten Berufstätigkeit begleitet. Als Sozialpädagogin war ich mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die damals als verwahrlost, frühreif oder »asozial« galten. Ich erkannte, dass ihre Verhaltensweisen als Folgen schwieriger Entwicklungsbedingungen zu verstehen sind. Während meines Psychologiestudiums setzte ich mich mit den Positionen der Antipsychiatrie auseinander. Ich beschäftigte mich mit der Labeling-Theorie und ich verstand, dass Stigmatisierungen der Vermeidung dienen. Sich berühren zu lassen und sich auseinanderzusetzen mit dem, was Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihrem Leben erlebt und erlitten haben könnten, ist aber bei aller Notwendigkeit, Grenzen einzuhalten, eine wichtige Voraussetzung dafür, therapeutisch verstehend und unterstützend tätig zu sein.
Die seit den 1990er-Jahren fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Traumatisierungen, ihre Folgen und die anschließende Entwicklung traumatherapeutischer Methoden gaben mir die Möglichkeit, mich weiter zu qualifizieren. Ich wurde in meinen eigenen Erfahrungen, dem gesammelten Wissen und in meinen eigenen Behandlungsansätzen bestätigt und bereichert. Irgendwann tauchte in mir die Frage auf, wie ich denn meine eigenen traumatischen Kindheitserfahrungen bewältigt hatte. Ich bin mit einer psychisch kranken Mutter aufgewachsen, und mein Vater ist gestorben, als ich 13 Jahre alt war. Die Familie brach auseinander.
Rückblickend erkannte ich, dass ich wohl mit einer guten biologischen Resilienz ausgestattet zur Welt gekommen sein musste. Dazu kamen trotz der Krankheit meiner Mutter ihre Feinfühligkeit und ihre Liebe für ihre Kinder und die große Vitalität und Willenskraft meines Vaters. Beides hatte ich in mir aufbewahrt; sie haben mich bis heute als hilfreiche Introjekte, oder anders ausgedrückt, als positive Selbstanteile begleitet.
Darüber hinaus entdeckte ich schließlich, dass ich während meines ganzen Lebenslaufs an bestimmten kritischen Entwicklungspunkten, in denen die Frage »Wie jetzt weiter?« auftauchte, Glück hatte. Immer wieder gab es Menschen, die es gut mit mir meinten, mir Rat gebend und unterstützend zur Seite standen. Hinzu kamen heilende Prozesse während meiner Lehranalyse. Diesen daran beteiligten Menschen bin ich bis heute dankbar. Wären sie nicht zur rechten Zeit präsent gewesen, hätte ich weitere Krisen in meinem Leben nicht so bewältigt und mein Leben hätte eine andere Richtung nehmen können. Davon bin ich überzeugt.
Heute denke ich, dass diese positiven Beziehungs- und Unterstützungserfahrungen, gepaart mit meiner Willenskraft und Feinfühligkeit, für mich der Schlüssel für die Bewältigung meiner jeweiligen persönlichen und beruflichen Entwicklungsschritte waren. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die authentische Begegnung zweier Menschen eine tiefe Erfahrung ist und Spuren hinterlässt, auf die der Mensch als eine wichtige Ressource ein Leben lang zurückgreifen kann. Dabei kann es sich auch um sog. »Inselerfahrungen« handeln, die nur für kurze Momente oder auch in längeren Zeitabschnitten stattfinden, aber dann doch irgendwann enden. Wir können uns an solche, vielleicht auch als »Schlüsselerfahrungen« zu bezeichnenden Momente erinnern. Sie helfen uns auch heute noch, wenn wir eine Hürde bewältigen müssen. So habe ich ein klares Bild in mir, wie wir Geschwister mit unserer Mutter im Frühjahr beim ersten Sonnenschein in einer sonnigen Nische am Rande eines Parks es uns gut gehen ließen. Und ich sehe meinen Vater, wie er mir das Radfahren beibrachte und dabei genug Geduld aufbrachte, bis ich es konnte.
In meinen Psychotherapien und jetzt viele Jahre danach in meinen Interviews habe ich diese Überzeugung bestätigt gefunden. Ehemalige Patienten1 berichteten, dass sie sich hilfreich an manche Momente der Therapie als berührende Begegnungserfahrung erinnern können. Manchmal war es ein Blick, manchmal ein Wort, ein Satz, eine Geste, manchmal die Atmosphäre, die sich im therapeutischen Raum ausgebreitet hatte. Für mich war es eine Überraschung und ein wunderbares Geschenk, dies zu hören. Ich erlebte, wie sich nach vielen Jahren während der erneuten Begegnung diese gleiche Atmosphäre von damals wieder im Raum ausbreiten konnte. Ich verstehe solche Momente der nahen Begegnung als wichtige heilende Gegenwartsmomente (Plassmann 2019; Stern 2020), eingebettet innerhalb einer belastbaren therapeutischen Beziehung. Sie können etwas befrieden, was durch traumatische Bindungserfahrung vor allem während des frühen Lebens verletzt wurde. Ein »Mutter-Vater-Boden«, ein Grundvertrauen kann sich erneut festigen durch die Nähe zu einem haltgebenden Anderen bei gleichzeitiger Einhaltung der nötigen Abstinenz. Am Ende meiner Berufstätigkeit bin ich der Überzeugung, dass die Wiederherstellung dieses tragfähigen Bodens die Basis bietet, dass traumatische Wunden integriert werden können. Therapeutisches Wissen und Techniken kommen hinzu. Verfahren erleichtern den gemeinsamen Weg durch das traumatische Dunkel dann, wenn Patienten von einer tragfähigen therapeutischen Beziehung gehalten werden und dabei auf eigene Ressourcen zurückgreifen können. In einem solchen Milieu ist Wachstum möglich, das beschädigte Selbst kann Konsolidierungsschritte unternehmen, und neues Lernen und Verändern wird angeregt. Inwieweit diese helfen, wenn es zu erneuten traumatischen Erfahrungen während des weiteren Lebens kommt, das war für mich die grundlegende Fragestellung für meine Interviews, die Sie in diesem Buch finden.
Ziel einer Traumatherapie ist es, dass der traumatische Schrecken als Erinnerung verstanden wird. Zeit ist vergangen, hier und jetzt können traumatische Erfahrungen als Teil der Vergangenheit erinnert werden. Es ist vorbei. Traumatherapie kann dazu beitragen, dass sich über die Wunde eine haltende und schützende Narbenhaut bildet. Die traumatische Erfahrung und ihre Folgen lassen sich nicht beseitigen, es ist geschehen, was geschehen ist. Auch sie sind Erfahrungen des gelebten Lebens. Sie können aber in den Hintergrund treten und in neuen Entwicklungsschritten und Erkenntnissen über das Leben münden.
Ich möchte mich sehr herzlich bedanken bei Martha, Anna, Julia, Monika, Emil, Till, Angelo und Christiane. Alle haben mir sehr viel Vertrauen in den Interviews entgegengebracht und mir aus ihrem Leben und Erfahrungen berichtet. Wenn sie dies nicht getan hätten, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Sie tragen dazu bei, dass andere daraus lernen können. Dieses Buch wurde aus dieser Absicht geschrieben.
Kapitel 1
Auf die Idee, dieses Buch zu schreiben, brachte mich Martha. 33 Jahre nach Beendigung einer Kindertherapie hatte sie mich um ein Gespräch gebeten, mich noch einmal in der Praxis besucht und mir von ihrem Leben berichtet. Ich war sehr berührt und beeindruckt darüber, wie schnell sich die Atmosphäre von damals wieder im Raum ausbreitete. Und ich war erstaunt, wie tief bestimmte therapeutische Erfahrungen sich in ihr Gedächtnis eingegraben hatten und fortan zu hilfreichen Begleitern wurden, auch dann, wenn sie in ihrem Leben mit erneut auftretenden Belastungen fertigwerden musste. Ich fragte sie, ob ich ihre Äußerungen bei einer eventuellen Veröffentlichung verwenden dürfe, sie stimmte zu. Einen Tag nach dem Gespräch entschloss ich mich, ein Gedächtnisprotokoll über unser Gespräch zu schreiben. Nach einiger Zeit verdichtete ich es gemäß der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring & Gläser-Zikuda 2008). Ich nahm Dialoge und Fragen und Kommentare meinerseits raus, um Marthas Äußerungen eine bestimmte Konzentration und Prägnanz zu geben. Danach schickte ich Martha dieses so bearbeitete Protokoll und sie stimmte ihm als »so verdichtet gesagt« zu. Während dieses Prozesses begann ich innerlich auf die Äußerungen von Martha mit meinen Erinnerungen, Kommentaren und Interpretationen zu antworten. Ich entschloss mich daraufhin, diese in das Protokoll einzusetzen. Schließlich schickte ich es wieder Martha. Ich fragte sie, ob sie sich vorstellen könne, dass ich das so interpretierte Protokoll unseres Gespräches anonymisiert für eine eventuelle Veröffentlichung in einem Buch benutzen könnte. Ich versicherte ihr, dass ich nichts veröffentlichen würde, womit sie nicht einverstanden sei. Martha gab mir nach einigen Abstimmungen diese Erlaubnis. Als ich mich danach entschied, weitere Rückblicksgespräche in Form von Interviews mit ehemaligen Patienten durchzuführen, entstand Schritt für Schritt die Idee für dieses Buch.
Bei der Auswahl derjenigen ehemaligen Patienten, die ich gern interviewen wollte, folgte ich folgenden Kriterien:
Es sollten ehemalige Patienten sein, die traumatische Erfahrungen erlebt hatten und mit denen eine längerfristige Tiefenpsychologisch fundierte Traumatherapie möglich gewesen war.
Es sollten ehemalige Patienten sein, mit denen es nach meiner Erinnerung zu tieferen seelischen Prozessen auf dem Boden einer tragfähigen therapeutischen Beziehung gekommen war.
Diese Therapien sollten mit ausreichend guten Erfolgen im beiderseitigen Einvernehmen abgeschlossen worden sein.
Die ausgewählten Patienten sollten unterschiedliche traumatische Erfahrungen zu unterschiedlichen Zeiten ihres Lebens gemacht haben. Sie sollten unterschiedlichen Alters und möglichst in gleicher Anzahl weiblich und männlich sein.
Die von mir in die engere Wahl genommenen Patienten müsste ich noch erreichen können.
Und sie müssten nach ausreichender Information zu einem Interview von mindestens 1 Stunde bereit sein, unter der von mir vorgeschlagenen Vorgehensweise.
Ich suchte entsprechend meinen Vorgaben ehemalige Patienten aus meiner Kartei aus. Ich entwickelte ein Anschreiben (Anhang 1), indem ich mein Vorhaben erklärte, um ein Interview bat und versicherte, dass ich die daraus entstehenden Texte nur mit ihrer Zustimmung veröffentlichen würde. Alle von mir angeschriebenen Personen waren bereit, für das Interview zur Verfügung zu stehen, und stimmten einer Veröffentlichung unter der Bedingung zu, dass jeder Schritt bis zum endgültigen Druck des Buches mit ihnen abgestimmt werden würde.
Über den damaligen therapeutischen Prozess der ausgewählten Personen hatte ich noch ausreichende Erinnerungen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um Personen, deren erste traumatische Erfahrung bereits in der frühen Kindheit lag und sich diese im weiteren Leben teilweise mehrmals wiederholt hatten. Mir war bis zum Interview wenig darüber bekannt, ob sie auch nach Beendigung der Psychotherapie neue Belastungen traumatisch erlebt hatten und wie sie damit umgegangen waren.
Unter den ausgewählten Personen für das Interview befinden sich drei Besonderheiten: Emil wollte gern, dass auch sein Adoptionsvater Till seine Sicht der Geschichte in einem Interview zur Verfügung stellt. Außerdem wurde auf Wunsch von beiden zum Abschluss ein Dreiergespräch durchgeführt. Vorher hatten sie die von mir verfassten eigenen Protokolle und die des jeweils anderen gelesen.
Angelo wurde im Alter von 71 überfallen und kam einige Zeit danach in die Psychotherapie. Er berichtete von einem bis zu diesem traumatischen Ereignis ausreichend sicheren Leben.
Jonny ist ein 9-jähriger Junge, er befindet sich seit seinem 2. Lebensjahr in einer Pflegefamilie. Er kämpft mit den Folgen seiner frühen Entwicklungs- und Bindungstraumatisierung. Ich habe die Bemühungen der Pflegemutter, Jonny zu verstehen und zu helfen, trotz großer Belastung auch ihrerseits über Jahre supervisorisch begleitet. Dabei ist mir immer deutlicher geworden, wie die Entwicklungsgeschichte dieses Kindes und seine daraus entstandenen jetzigen Schwierigkeiten zu verstehen sein könnten. Da ich Jonny wegen seiner Schwierigkeiten und wegen seines Alters nicht dazu befragen konnte, interviewte ich die Pflegemutter. So ist ein Protokoll entstanden, in dem Jonny durch die Pflegemutter quasi lebendig erlebbar wird, verbunden mit der subjektiven Erinnerung und Sichtweise der Pflegemutter.
Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass natürlich nicht alle meine Psychotherapien erfolgreich geendet sind. Ich habe auch Misserfolge und abrupte Abbrüche erlebt, verbunden mit den Gefühlen der Ohnmacht, Hilflosigkeit, aber auch Wut und Trauer sicherlich beiderseits über nicht gelungene Therapieverläufe. So erinnere ich mich an Ivonne, die bereits als Kind in das Milieu der Prostitution ihrer Mutter eingeführt wurde, und dann, als sie selbst Mutter war, die Motivation entwickelte, ihr Leben zu ordnen. In der Therapie mit mir kam es zu einem intensiven Prozess, in der Ivonne große Entwicklungsschritte bewältigen konnte, bis ein ehemaliger Zuhälter auftauchte und sie mithilfe von Drogen wieder in seine Abhängigkeit zog. Seiner Aufforderung zu folgen, schenkte sie ihm einen Stein, den ich ihr als Übergangsobjekt einmal mitgegeben hatte. Diese von mir damals als Unterwerfung verstandene Handlung löste in mir eine solche Verletzung aus, dass ich die Therapie beenden musste. Es gelang mir aber, Ivonne an eine befreundete Traumatherapeutin zu überweisen, mit der sie die Psychotherapie fortsetzte.
Psychotherapie findet in einer bestimmten Phase des Lebens eines Menschen statt. Es gab vor der Therapie ein Leben. Und es gab Anlässe im Leben eines Menschen, die dazu führten, dass sie mit Herausforderungen und traumatischen Belastungen überfordert waren. Die sich daraus entwickelten Probleme im Umgang mit sich selbst und mit den anderen können dazu führen, eine Psychotherapie zu beginnen. Diese dauert eine bestimmte Zeit. Man könnte sie grundsätzlich als eine hoffentlich hilfreiche Lebensabschnittserfahrung bezeichnen. Danach geht das Leben mit dieser Erfahrung weiter.
Ambulante Psychotherapiestunden finden 1 bis 2 Stunden pro Woche statt, während der Patient seinen bisherigen Kontext weitgehend aufrechterhält oder auch verändert. Der Kontrakt zwischen Therapeut und Patient als Grundlage für die Therapie ist geprägt durch die gemeinsame Hoffnung, dass diese zur Verbesserung des Befindens des Patienten beitragen wird, weil traumatische Erinnerungen verarbeitet werden konnten und er sich dadurch in seinem Lebensganzen besser verstehen und regulieren kann. Nach Beendigung der Therapie geht das Leben weiter. Beide Beteiligten hoffen in der Regel, dass dies auf einem höheren Niveau der Bewältigung weiterer Lebensthemen möglich sein wird. Im weiteren Leben geschehen ihm positive und ausreichend angenehme Erfahrungen. Aber er ist nicht davor geschützt, dass er wieder vor Herausforderungen und eventuell auch vor neuen traumatischen Erfahrungen steht und diese irgendwie bewältigen muss. Meine Frage war: Kann er dann auf die hilfreichen Erfahrungen während seiner damaligen Psychotherapie zurückgreifen, wirken sie dann auch noch stützend, und führen sie dazu, die traumatischen Belastungen auf einem höheren Niveau zu begegnen bzw. zu bewältigen? Wirkt die ehemalige therapeutische Erfahrung als eine Ressource, auf die er neben anderen Ressourcen zurückgreifen kann. Trägt sie zur Resilienz bei der Bewältigung erneuter Belastungen bei? Können sich in einer Tiefenpsychologisch fundierten Traumatherapie hilfreiche Selbstanteile bilden, die auch danach wirksam bleiben?
Aufgrund dieser Fragen formulierte ich folgende Hypothese, die ich mithilfe der Interviews verifizieren oder falsifizieren wollte:
Hypothese
Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus einer Tiefenpsychologisch fundierten Traumatherapie (TfT) wirken weiter und können auch Jahre danach als internalisierte hilfreiche Selbstanteile unterstützende und bewältigende Funktionen haben.
Für die Beantwortung dieser Hypothese habe ich folgende Fragen formuliert, die ich bei der Auswertung der Interviews beachten wollte:
Tragfähige psychotherapeutische Beziehung: Gibt es Aussagen darüber, dass sie eine wesentliche Grundlage für einen erfolgreichen therapeutischen Prozess war?
Langfristige Wirkung: Gibt es Äußerungen darüber, ob spätere traumatische Erlebnisse mithilfe der therapeutischen Erfahrungen auf einem höheren Niveau bewältigt und verarbeitet werden konnten?
Spezifischen Erfahrungen: Können die Interviews Hinweise darüber geben, ob spezifische Erfahrungen besonders tragend und hilfreich gewirkt und zur Besserung der psychischen Situation beigetragen haben?
Ressource und Resilienz: Können therapeutische Ergebnisse zu einer Ressource werden, wenn es um Lebens- und Belastungsbewältigung geht, können sie die Resilienz stärken?
Gute Bindungserfahrungen: Kann darüber hinaus angenommen werden, dass neue gute Bindungserfahrungen internalisiert werden konnten, auf die anschließend zurückgegriffen wurde?
Frühere Erfahrungen: Bauen Resilienzerfahrungen während der Therapie auf ebensolchen früheren Erfahrungen auf und erweitern sie sie und können sie im späteren Leben beibehalten werden?
Das Interview sollte diese Themen erfassen können. Gleichzeitig ging es mir nicht darum, einen Interviewleitfaden standardisiert und strikt einzuhalten. Sondern dieser sollte sich je nach Bedürfnis des interviewten ehemaligen Patienten an dessen Schwerpunkte und Bedürfnisse flexibel anpassen können. Ich entschied mich dazu, auch auf die jeweiligen Mitteilungswünsche meines Gegenübers und dem, was ihm wichtig war, einzugehen. Dies in der Hoffnung, mich darin einfühlen zu können in der Absicht, meine darauf entstehenden Resonanzen ihm wiederum mitzuteilen. Ich erwartete durch dieses Vorgehen eine Vertiefung des dialogischen Prozesses, der Selbsterkenntnis und eine Differenzierung der jeweiligen Interviewergebnisse. Deshalb sollte Kreativität und Spontanität Raum haben. Ich stellte mir vor, dass es so am ehesten möglich sein könnte, sich den obigen Fragestellungen qualitativ anzunähern und Wahrheiten zu erfassen. Dabei sollte der Schwerpunkt »Vor dem Trauma – Trauma – Therapie – Bewältigung – das Leben jetzt« als haltender Rahmen erhalten bleiben (→ Abb. 1-1). Nach dem Interview sollten die Protokolle verdichtet und kommentiert werden.
Die sich in diesem Buch befindenden Protokolle sind also das Ergebnis retrospektiv gerichteter Dialoge zwischen dem ehemaligen Patienten und mir als ehemalige Therapeutin im Rahmen von qualitativen Interviews. Viele Jahre nach Beendigung der jeweiligen Therapie wurde miteinander noch einmal auf einen gemeinsamen Prozess, deren Gründe, Inhalte und Folgen geschaut, aus der jeweils anderen unterschiedlichen Sicht.
Abb. 1.1: Die Struktur des Interviews.
Mir war die fehlende Objektivität meines Vorgehens durchaus bewusst. Ich würde keine Interviewerin sein, die der damaligen Therapie mit dem jetzt älter gewordenen ehemaligen Patienten neutral gegenüberstehen könnte. Die damalige therapeutische Beziehung und die sich jeweils gegenseitig beeinflussende Erfahrung der Intersubjektivität zwischen Patient und Therapeut damals würde auch die Interviewsituation heute emotional einfärben. Ich akzeptierte, dass das Interview und auch die Auswertung der Protokolle von dieser Subjektivität im positiven Sinne beeinflusst sein würden. Ich entschied mich, als ein haltgebendes, strukturierendes Element einen kurzen Fragebogen für das Interview und deren anschließende Auswertung zu erarbeiten.
Der von mir erstellte Fragebogen als Interviewleitfaden (Anhang 2) orientiert sich an den Inhalten des Gespräches mit Martha. Bis auf dieses erste Gedächtnisprotokoll wurden alle weiteren Interviews auf Band aufgenommen und anschließend aufgeschrieben. Auf diese Weise sind 9 Interviews entstanden, die ich anschließend verdichtete, kommentierte und schließlich mit den Interviewten abstimmte.
Die Verdichtung der Protokolle sollte gleiche Textstellen zusammenfassen und den Text lesbarer machen. Dadurch sollte es möglich werden, inhaltliche Aussagen der Interviewten in ihrer Bedeutung prägnant herauszustellen. Außerdem nahm ich mir vor, wenn irgend möglich, Äußerungen meinerseits herauszunehmen, ohne dass sich die jeweiligen inhaltlichen Aussagen des Textes verändern würden.
Die Interviews und die Interpretation der Protokolle (Kommentare) sollten auf dem Boden einer tiefenpsychologisch orientierten Sichtweise durchgeführt werden unter Anwendung der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse. Mein Wissen über andere therapeutische Verfahren und Theorien aus der Verhaltenstherapie, systemischen Therapie, Körpertherapie und Traumatherapie wollte ich mit einfließen lassen, soweit mir dies sinnvoll erschien. Diese Entscheidung beruhte darauf, dass ich auch die damals durchgeführten Therapien auf eben diesem komplexen fachlichen Hintergrund durchgeführt hatte. Mein damaliges und jetziges Erleben und Denken gegenüber den Äußerungen der Interviewteilnehmenden wollte ich einbeziehen. Ebenso wollte ich die damals für mich wichtigen theoretischen Hintergründe meines Handelns berücksichtigen wie meine heutigen während des Interviews und der Arbeit an den Protokollen. Je nachdem, wie es mir sinnvoll erschien, sollten eben solche Kommentare im Protokoll oder am Ende des Protokolls eingefügt werden.
Für die anschließende Auswertung und die Beantwortung der Hypothesen sollten aus den verdichteten Protokollen entsprechende kurze Textstellen extrahiert und anschließend interpretiert werden. Dies sollte dazu dienen, die am Anfang aufgestellten Hypothesen zu bestätigen oder zu verwerfen.
Kapitel 2
Trauma, seine Folgen und Bewältigung waren schon immer Themen in Mythen, Märchen und Sagen. So wie es auch friedliche Entwicklungszeiten im Leben der Menschen gab, wurden sie immer wieder von Phasen der Gewalt, Verfolgung und anderen Belastungen unterbrochen. Mit der Entwicklung der Psychoanalyse (Charcot, Janet, Freud) und dem Beginn der Erforschung psychischer Erkrankungen entstanden Ende des 19. Jahrhunderts erste Theorien zum Zusammenhang von Gewalterfahrung und deren Auswirkung auf die Gesundheit. In den 1970er-Jahren erfuhr die Traumaforschung und die bis dahin entwickelten Ansätze der traumatherapeutischen Behandlung einen neuen Aufschwung. Dies vor allem durch die Konfrontation mit den traumatisierten und schwer integrierbaren Vietnam-Kriegsveteranen in den USA. Weitere Impulse kamen durch die Beschäftigung mit den generationsübergreifenden Folgen des Holocaust und aus der Frauenbewegung. Die Auseinandersetzung mit den Themen sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung in der Kindheit unter dem Gesichtspunkt der Traumatisierung folgten. In den letzten Jahren richtete sich der Blick auch auf die Themen Flucht, Vertreibung und Zwangsprostitution.
Aufgrund dieser Entwicklung wissen wir heute vieles darüber, was ein Trauma ist, welche Schäden in einem Menschen aufgrund traumatischer Erfahrungen entstehen können und wie auch das Leben danach schwer beeinträchtigt sein kann. Wir wissen aber auch mehr darüber, was hilft, diese Einbrüche zu bewältigen, anstatt ihnen zu unterliegen (Resilienz). Und wir haben Erkenntnisse dazu, wie Traumafolgestörungen wieder heilen können. Hier spielen vor allem neurobiologische Forschungsergebnisse und Forschungen zur Bindungs- und Entwicklungstheorie eine wichtige Rolle. Seit Erscheinen des bahnbrechenden Buches von Judith Herman »Die Narben der Gewalt« (1994) bis zur Veröffentlichung des ersten deutschsprachigen wissenschaftlichen Standardbuchs »Lehrbuch der Psychotraumatologie« (Fischer & Riedesser 1999) hat sich innerhalb der psychotherapeutischen Behandlungsmethoden eine enorme Veränderung der Sicht auf das Trauma und der daraus folgenden Behandlungsplanung ergeben. Hilfreich dabei war auch die Integration neuer neurobiologischer Forschungsergebnisse. Dies ermöglicht es uns heute, nicht mehr zwischen psychisch und somatisch unterscheiden zu müssen, sondern den Organismus als ein großes Netzwerk psychischer, kognitiver und somatischer Prozesse zu verstehen.
Als ich die Psychotherapie mit Martha durchführte und danach das Buch »Martha, Psychotherapie eines Mädchens nach sexuellem Missbrauch« veröffentlicht wurde (Garbe 1991), waren das Buch von Judith Herman und viele weitere Fachbücher über die Behandlung von Traumafolgestörungen noch gar nicht erschienen. Der gesellschaftliche Diskurs, dem ich mich damals zugehörig fühlte, konzentrierte sich auf die feministisch gefärbte Debatte des sexuellen Missbrauches durch Bindungstäter und deren Folgen für die Kinder. Viele Psychotherapeutinnen, Ärzte, Pädagoginnen sahen sich mit dem Fakt sexueller Übergriffe und Verletzungen vor allem innerhalb maligner Familiensysteme konfrontiert und suchten nach Antworten.
Ich war damals Leiterin einer Erziehungsberatungsstelle, die sich in einem benachteiligten Stadtteil einer Großstadt befand. Wir waren als Team mit dem Vorhandensein des sexuellen Missbrauches in Familien alltäglich befasst und suchten ebenso nach Antworten. In diesem Zusammenhang führte ich die Therapie mit Martha durch, ein 9-jähriges Mädchen, das von ihrem Stiefvater über Jahre sexuell missbraucht worden war. Ich griff als feministisch und sozialpsychiatrisch orientierte Sozialpädagogin und Psychologin auf mein vorhandenes therapeutisches Wissen zurück, nutzte meine Kenntnisse der humanistischen Therapiemethoden, gepaart mit tiefenpsychologischem Fachwissen, und integrierte traumatherapeutische Methoden, so wie sie mir damals sinnvoll erschienen.
In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird Trauma wie folgt diagnostiziert: »Ein Trauma ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (Dilling et al. 1999, S. 169). In der ICD-11 befinden sich nun weitere Diagnosen, so die Diagnose der komplexen Traumafolgestörung, die eine differenziertere Diagnostik möglich machen.
Obwohl die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bereits im 19. Jahrhundert Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung war, fand die Diagnose erst 1980 Eingang in das amerikanische Diagnose-Manual DSM, das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (Falkai & Wittchen 2015). Diese Entwicklung war eine notwendige Folge gegenüber der Hilflosigkeit der aus dem Vietnamkrieg (1955–1975) heimkehrenden amerikanischen Soldaten und deren Symptomatik (Post-Vietnam-Syndrom). Auf diesem Hintergrund ist auch das erwähnte Buch von Judith Herman 1994 zu verstehen. Sie wies bereits damals darauf hin, dass es notwendig sei, zwischen einfacher Traumatisierung (Typ 1) und komplexer Traumatisierung (Typ 2) zu unterscheiden, da die Symptomatik unterschiedlich komplex sei und die psychotherapeutische Behandlung entsprechend angepasst werden müsste. Dieser Position wird nun auch bei der Überarbeitung des DSM Rechnung getragen. In der nächsten Herausgabe des DSM und der ICD soll die Diagnose »komplexe posttraumatische Belastungsstörung« aufgenommen werden.
Die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung (ICD 10, F43.1) beschreibt im Wesentlichen den Traumatyp 1. Folgende Symptome müssen diagnostiziert worden sein: Vermeidung, Intrusion, Übererregung in Verbindung mit einem traumatischen Ereignis, das ein halbes Jahr zurückliegen soll. Für die Behandlung gibt es inzwischen eine Vielzahl von Behandlungsvorgaben, die sich in der Regel aus den klassischen Schritten 1. Stabilisierung, 2. Konfrontation, 3. Integration zusammensetzen.
Der Traumatyp 2 bezeichnet dagegen die vielfältige Symptomatik einer komplexen Traumafolgestörung. Sie tritt in der Regel nach seriellen und komplexen Traumatisierungen auf, die oft in der frühen Kindheit und Jugend beginnen, aber auch während der gesamten Lebensspanne stattfinden können. Häufig wird sie verursacht durch Bindungspersonen, auf die der Mensch angewiesen ist. Oder sie geschehen in bedrohlichen Situationen, aus denen der Mensch nicht fliehen kann, wie Aufwachsen in Armut oder im Krieg. Entwicklung geschieht ein Leben lang, sie kann durch schwere und wiederholte traumatische Ereignisse schwer beeinträchtigt werden. Dies vor allem dann, wenn weitere Risikofaktoren vorherrschen und nicht über eine ausreichende Resilienz und Unterstützung verfügt wird.
Heute ist es fachlicher Konsens, dass die Folgen des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit, ebenso wie seelische, kognitive und körperliche Vernachlässigung und andere Formen der seelischen und körperlichen Misshandlungen traumatisierend wirken. Die daraus entstehenden Symptome sind in der Regel als komplexe Traumafolgestörung zu diagnostizieren. Neben dieser Diagnose bestehen häufig andere Diagnosen, wie z. B. Angst, Depression, Dissoziation, somatoforme Störungen, emotionale Störung des Kindesalters, Entwicklungsverzögerung, ADHS. Eine gute Diagnostik einschließlich der gründlichen Erhebung der Anamnese ist Voraussetzung für weiteres therapeutisches Handeln. Die Begriffe Bindungstraumatisierung (Brisch 2017) und Entwicklungstraumatisierung (Garbe 2022; Streeck-Fischer 2006; van der Kolk 2015) spielen in diesem Zusammenhang oft eine Rolle. Während der Begriff der Entwicklungstraumatisierung seinen Schwerpunkt auf die Tatsache legt, dass Entwicklungsverläufe durch traumatische Erfahrungen stark beeinträchtigt werden können, richtet der Begriff der Bindungstraumatisierung seinen Schwerpunkt auf die Beeinträchtigung der Bindungsqualität als einen wichtigen resilienten bzw. risikoreichen Faktor für die weitere Entwicklung. Beide Begriffe sind als Unterbegriffe komplexer Traumafolgestörungen zu verstehen. Sie legen ihren Fokus einerseits auf das Erleben kindlicher Traumatisierungen. Die Beeinträchtigung geschieht vor allem dann, wenn die Verantwortung dafür innerhalb eines Familiensystems oder anderen Lebensgemeinschaften liegt, also Bindungspersonen Verursacher sind, und dies oft bereits über Generationen. Sie beschreiben aber andererseits auch die Folgen von seriellen Traumatisierungen während der gesamten Lebensspanne. Entwicklung findet ein Leben lang statt und Bindungspersonen brauchen wir ebenso ein Leben lang.
Einmalige, schwere und länger anhaltende traumatische Erfahrungen können einen Menschen aber auch dann aus der Bahn werfen, wenn das Leben bisher ausreichend gut verlief und Bedrohungen bisher gut bewältigt werden konnten. Das Herausfallen aus dem eigenen Lebensentwurf und das plötzliche Zerbrechen der Sicht auf die Welt können ein konsolidiertes Selbst (Kohut 1979) angreifen, Identität ins Wanken bringen und sprachlos machen. Auch dies kann schließlich zu einer komplexen Traumafolgestörung führen.
Aber nicht immer müssen traumatische Erfahrungen dazu führen, dass sich entsprechende Störungen herausbilden. Während der letzten 20 Jahre hat die Resilienzforschung Erkenntnisse dazu vermittelt, unter welchen Voraussetzungen traumatische Erfahrungen so bewältigt werden können, dass sie schließlich auch ohne therapeutische Hilfe heilen und sogar einen Entwicklungswachstum anregen (Masten 2016; Welter-Enderlin 2016).
1999 regelte das neue Psychotherapeutengesetz (PsychThG), dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) als ein neues psychotherapeutisches Verfahren zur Behandlung zugelassen wird. Sie beruht in ihren Grundlagen wesentlich auf Theorien der Psychoanalyse, wie unter anderem die Konflikttheorie von Sigmund Freud, die Objekttheorie von Otto Kernberg und die Selbsttheorie von Heinz Kohut. In ihre Behandlungsansätze wurden jedoch weitere therapeutische Ansätze humanistischer Therapiemethoden und neurobiologische Erkenntnisse integriert. Das Verfahren ist tiefgehend, aber fokusorientiert und strukturiert. Es beachtet Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse, Widerstands- und Abwehrgeschehen und anerkennt die tragfähige therapeutische Beziehung als Basis. Die aktuelle Belastung des Patienten begründet in der Regel die Aufnahme der Therapie und führt während seiner Bearbeitung zur ursprünglichen, in früheren Lebenszeiten entstandenen Belastung, die dann fokussiert soweit in die Bearbeitung kommen soll, bis sich die aktuelle Belastung konsolidiert.
Parallel zu der Entwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie entwickelte sich die Traumatherapie. Es wurde zunehmend deutlicher, dass einem Krankheitsgeschehen oft eine nicht verarbeitete traumatische Belastungserfahrung in früheren Lebensphasen zugrunde lag. Man erkannte, dass sich die Folgen allein mit der Konflikttheorie, der Theorie der Persönlichkeitsstörungen und den Theorien der psychiatrischen Erkrankungen nicht ausreichend erklären und behandeln ließen. Praxiserfahrung und Traumaforschung führten zu der Entwicklung einer Theorie von Trauma und deren Therapiemethoden. Heute stehen wir an einem Punkt der Erkenntnis, dass vor allem Patienten mit einer komplexen und frühen Traumatisierung eine Behandlung benötigen, die tiefenpsychologische und beziehungs- und verhaltensorientierte Therapiemethoden verbindet mit den neu entwickelten Traumatherapiemethoden. Theorien und Methoden aus beiden Richtungen müssen sich den jeweiligen Behandlungsprozessen anpassen und diese begründen. Der Begriff »Tiefenpsychologisch fundierte Traumatherapie« (TFT) meint in diesem Zusammenhang die Verbindung des Standards der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit den Erkenntnissen und Methoden der Traumatheorie und Traumatherapie. Für die TFT gilt im Besonderen, dass die tragfähige therapeutische Beziehung zwischen Patient und Therapeut als eine wesentliche Grundlage Beachtung erfährt.
Zu dem Zweck der schonenden Traumabearbeitung wurde während meiner Praxis schließlich die tiefenpsychologisc00h fundierte Methode der ITS, der »Integration traumaassoziierter Selbstanteile« entwickelt (Garbe 2022). Innerhalb dieser Methode kann die vorsichtige Annäherung an die traumatische Erfahrung auf dem Boden der inneren und äußeren Ressourcen erfolgen. Mithilfe von Symbolen können Ressourcen und Belastungen, die sich im Inneren der Person (Selbst) und seiner Umgebung (Außen) im Hier und Jetzt befinden, symbolisch dargestellt werden. Erst nach ihrer Bearbeitung kommt es zu einem Übergang in das Dort und Damals mit seinen Ressourcen und Belastungen im Inneren (Selbst) der Person und in seiner Umgebung (Außen). Innen und Außen werden dabei durch Seile sichtbar getrennt. Nachdem die Überlebensstrategien als Ressource gewürdigt wurden (»Wie hat das Kind überlebt?«), wird das Leiden des damaligen Kindes anerkannt und dabei das eigentliche traumatische Geschehen achtsam in den Blick genommen. In dieser Methode schauen Patient und Therapeut gemeinsam auf ein drittes, symbolisch durch Material sichtbar ins Außen gelegtes Element des Erlebens im Hier und Jetzt und danach im Dort und Damals. Dieses Vorgehen macht es vielen Patienten leichter, die Angst vor der erneuten Berührung traumatischer Erfahrungen zum Zwecke der Verarbeitung Schritt für Schritt aus der Distanz zu überwinden. Ein weiterer Vorteil dieser Art von Teilearbeit ist die Möglichkeit, jederzeit zur Stabilisierung auf die Ressourcen zurückgreifen zu können. Außerdem ist das Durchführen von Dialogen zwischen Anteilen aus den verschiedenen Zeiten und zwischen Ressourcen und Belastungen möglich. Es wird auf dem Boden einer tragfähigen therapeutischen Beziehung auf ein vom inneren Erleben symbolisch nach außen externalisiertes Geschehen geschaut. Dies entlastet und macht die emotionale Annäherung an das erlebte Trauma leichter. Während der Bearbeitung des traumatischen Ereignisses im Dort und Damals tauchen in der Regel folgende Sätze auf: »Das hätte doch einer sehen müssen, da hätte doch einer kommen müssen und hätte das beenden müssen. Das geht doch nicht, dass man das Kind dort allein lässt, das darf nicht sein.« Hilfreich an dieser Stelle der Traumabearbeitung war immer, Sicherheit durch spielerische Rettungsaktionen wiederherzustellen und imaginär nachzuholen, die damals nicht vorhanden waren. Diese Erfahrung legt sich wie ein heilender Verband auf eine schmerzliche Wunde und hilft, dass sie zur Ruhe kommen kann.
Zu den Standards der TFT gehört allen voran eine tragfähige therapeutische Beziehung. Psychotherapie braucht Zeit, Tragfähigkeit, Einfühlung, Respekt, Authentizität, Sicherheit, Geduld – zur Verfügung gestellt durch eine Fachperson in einem sicheren Raum, wenn sie erfolgreich sein soll. Die Patientin stellt ihrerseits ihr Wissen und ihre Motivation zur Verfügung, damit der therapeutische Prozess gelingt. Der Aufbau und das Einhalten einer Arbeitsbeziehung ist die Basis für einen erfolgreichen therapeutischen Prozess. Die Anwendung von Methoden und Techniken können dabei hilfreich sein, sind aber oft zweitrangig. Ich zitiere die Äußerungen vieler meiner früheren Patienten, oft am Ende der Therapie: »Ich wusste immer, dass sie mich halten/aushalten können, dass ich mich meinem Erleben hingeben kann, dass Sie mich jederzeit sicher begleiten können.« Es soll verdeutlichen, dass wir uns als Therapeutin nur so weit auf traumatisches Wiedererleben des Patienten einlassen sollen, wie wir sicher sind, dass wir es auch tragen können.
Abbildung 2-1 fasst zusammen, wie die TFT zur Bildung positiver Selbstanteile beitragen kann.
Abb. 2-1: Tiefenpsychologisch fundierte Traumatherapie (TfT).
Im Folgenden sind die Standards der TFT aufgeführt:
Tragfähige therapeutische Beziehung: Sie ist der Boden einer wirksamen Traumatherapie. Die Erfahrung und die Introjektion einer tragfähigen therapeutischen Beziehung ist Voraussetzung dafür, dass Traumakonfrontation in Sicherheit stattfinden kann. Es können sich neue Bindungs- und Beziehungskompetenzen im Patienten bilden, die damit eine Nachreifung struktureller Defizite auf der Ebene der Bindung, der Identität und der Affektregulation ermöglichen. Dieser Prozess ist ein innerer Reifungsprozess, der zur Bildung hilfreicher Selbstanteile führt.
Zuhören, einfühlen, spiegeln, mentalisieren, klarifizieren sind Basisinterventionen des Therapeuten und ermöglichen das Erleben von Gegenwartsmomenten (Stern 2020; Plassmann 2019).
Sichere äußere Struktur: Innerhalb dieses Vorgehens und unter Beachtung haltgebender und strukturierender Interventionen gelingt es schrittweise, dass auch komplexe und frühe traumatische Erfahrungen aus dem Dort und Damals mit einer dritten Person in einem sicheren Raum bei Einhaltung der Affekttoleranzgrenze (windows of tolerance, s. Kap. 5.11) im Hier und Jetzt zur Verarbeitung kommen können.
Konfrontative Techniken sind der Belastbarkeit des Patienten angepasst. Sie werden erklärt und der Patient stimmt dieser Art der Behandlung zu. Die sanfteste Form der Konfrontation ist das Gespräch.
Doppelte Aufmerksamkeit: Die Patientin befindet sich während einer Konfrontation mit traumatischem Material in einem Erleben der »doppelten Aufmerksamkeit«: Ein Anteil des Ichs ist mit seiner Wahrnehmung im Hier und Jetzt, der andere Anteil im Dort und Damals fokussiert.
Die Beachtung von Übertragung und Gegenübertragung findet regelmäßig statt und wird bei Bedarf entsprechend reguliert. Die Tiefenpsychotherapie erkennt maligne Übertragungsprozesse und löst sie möglichst bald auf. Hier sind Methoden des Containments unterstützend.
Abwehr- und Widerstandsgeschehen müssen zeitnah verstanden und reguliert werden. Dabei gilt der Grundsatz, dass Abwehrformen eine Schutzfunktion haben.
Bewältigungs- und Überlebensstrategien: Sie werden als eine Leistung, das eigene Leben zu retten, gewürdigt. Dies wirkt stabilisierend.
Methoden und Techniken werden in das Vorgehen nach Bedarf und Belastungsmöglichkeit integriert.
Verschiedene Formen der Dissoziationen werden erkannt und in die Art der Bearbeitung einbezogen.
Umgang mit Vermeidung: Die oft unbewusste Angst des Patienten, sich an traumatisches Material heranzuwagen, wird erkannt, verstanden und bearbeitet. Wenn die Therapeutin die Bedeutung der Vermeidung nicht erkennt und sich ihr anschließt, stockt der therapeutische Prozess aufgrund schädigender Gegenübertragungsprozesse.
Sanfte Konfrontationsmethoden können auch als Deutung verstanden werden. Werden sie sanft im Rahmen des Umgangs mit Vermeidung innerhalb der therapeutischen Beziehung angewendet, können sie den Verarbeitungsprozess wieder aktivieren.
Therapeutische Spaltung: Der Therapeut muss deshalb in der Lage sein, jederzeit seine zwischen Affekt und Kognition oszillierende Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Auf einer Metaebene beobachtet und diagnostiziert er einerseits das Geschehen und auf der anderen Seite richtet er seine Wahrnehmung auf die Gefühle des Patienten. Verstehend spiegelt er beides emphatisch zurück. Gelingt dieses, geschieht im Patienten oft ein tiefes Gefühl von Verstanden- und Gesehenwerden, das für seinen Gesundungsprozess eine profunde positive Bedeutung haben kann.
Neurobiologische Forschungsergebnisse: Ihre Beachtung ermöglicht es, körperliche Reaktionen während der Behandlung ausreichend zu würdigen und zu interpretieren. So können sanfte Körperinterventionen den Prozess voranbringen (Ogden 2000).
Psychoedukation ermöglicht, dass der Patient das eigene Erleben besser einordnen und verstehen kann; dies reduziert Angst. Der Patient fühlt sich als Subjekt in die Behandlung einbezogen.
Es gibt eine Reihe von hilfreichen Methoden und Techniken der Traumabearbeitung. Zum passenden Zeitpunkt und mit Zustimmung des Patienten angewendet, sind diese Methoden innerhalb des Behandlungsprozesses im Sinne einer Traumaintegration vor allem bei komplex traumatisierten Patienten sehr hilfreich. Dabei ist zu betonen, dass es sich hier um eine Auswahl handelt.
Erzählen lassen und zuhören
Imaginative Verfahren
Rollenspiele mit anderen Bindungspersonen (Mutter, Vater)
Rollenspiel mit eigenen inneren Anteilen
Innere-Kind-Arbeit
Ego-State-Arbeit/Arbeit mit Selbstanteilen
Kreative Methoden: malen, tonen, basteln
Kognitive Umstrukturierung
Achtsame Methoden der Körpertherapie
EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing)
PITT (Psychodynamisch imaginative Traumatherapie)
ITS (Integration traumaassoziierter Selbstanteile)
Andere Formen schonender Traumakonfrontation
Kapitel 3
Resilienz bedeutet Widerstandskraft. Sie ist nichts Feststehendes, Greifbares, Konkretes, sondern zeigt sich in Fertigkeiten, Begabungen, Eigenschaften. Menschen mit einer hohen Resilienz verfügen über innere Stabilität und Flexibilität, sie können sich an verändernde Umweltbedingungen immer wieder neu anpassen. Resilienz ist vor allem ein Regulator während der Bewältigung von Belastungen und Herausforderungen. Sie ist teilweise biologisch mitgegeben (Rutter 1999), aber auch erlernbar. Resilienz wird vor allem in Krisen- und Belastungssituationen benötigt, aber auch als eine dauerhafte, flexible Anpassungsleistung an sich ständig verändernden Lebensbedingungen. So wie nichts bleibt, wie es gerade ist, muss sich der Mensch aktiv und beweglich in jeweils neuen Situationen zurechtfinden.
Besonders wichtig ist Resilienz während der Kindheit und Jugend, wenn große Entwicklungsschritte in Richtung Erwachsenwerden zu bewältigen sind. Die Abhängigkeit von schützenden und stützenden Erwachsenen ist dann besonders groß. Sind diese nicht ausreichend in der Lage, ihnen die notwendige Fürsorge und Unterstützung zu geben, vernachlässigen sie gar ihr Kind oder misshandeln es und kann dies nicht durch andere nahestehende Personen ausgeglichen werden, dann kommt es besonders auf die entwickelte oder eben auch mitgegebene Resilienz des Kindes an, damit es eine solche Situation dennoch bewältigen kann.
Es gibt Erkenntnisse, dass Kinder, die in belasteten Milieus (Armut) aufwachsen, dennoch über eine hohe Resilienz verfügen können. Dies wurde unter anderem in der Kauai-Studie (Werner 2008) nachgewiesen. Denn Zugehörigkeit und Bindung können auch in armen Familien gelebt werden – das eine schließt das andere nicht unbedingt aus. Arme Familien können ein haltendes Netzwerk entwickeln und gemeinsam nach Strategien suchen, wie sie am besten überleben können. Straßenkinder können sich als Gruppe zusammenschließen und gemeinsam Überlebensstrategien entwickeln. Entwicklung ist eben auch individuell. Resilienz ist biologisch mitgegeben und erlernt, und die mitgegebene und erlernte Resilienz sind auf eine komplexe Weise miteinander verbunden, wirksam und veränderbar. Resilienz differiert offensichtlich von Mensch zu Mensch. Unterstützend wirken auch unter schwierigen Entwicklungsbedingungen sogenannte »Inselerfahrungen«: die Mutter einer Freundin, der Fußballtrainer, Nachbarinnen, ein funktionierendes soziales Netz, die Natur, Bildung, aber auch zusätzliche pädagogische und soziale Hilfen und Psychotherapie.
Tab. 3-1: Viele Faktoren beeinflussen die Gesundheit (nach Kaherkar 2014)
Negative Faktoren
Positive Faktoren
Stress
Trauma
Umweltgifte, Radioaktivität
Drogen
Chemikalien
Mikrobiome
Erkrankungen
Finanziell abgesichert sein
Gesunde Ernährung
Sport
Entspannung
Positive Bindungen
Medizin
Psychotherapie
Natur