Das Kuckucksei - Carolyn J. Cherryh - E-Book

Das Kuckucksei E-Book

Carolyn J. Cherryh

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Beschreibung

Fremder unter Fremden

Ein fremdes Schiff dringt in das System der Shonunin ein. Es kommt zu einem Missverständnis, infolge dessen es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung kommt. Das fremde Schiff vernichtet einen Großteil der Shonunin-Flotte, ehe es zerstört werden kann. Als das Wrack untersucht wird, findet man lediglich fünf Tote. Was muss das für eine Spezies sein, wenn nur fünf Individuen ein solches Blutbad anrichten können? Was für eine überlegene Technik steckt hinter dieser verheerenden Feuerkraft? Die Shonunin wissen, dass die Fremden einen Funkspruch absetzen konnten, ehe ihr Schiff vernichtet wurde. Um mehr über die zweibeinigen, haarlosen Fremden zu erfahren, lassen sich die Shonunin auf ein gefährliches Experiment ein …

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C. J. CHERRYH

DAS KUCKUCKSEI

Roman

Das Buch

Ein fremdes Schiff dringt in das System der Shonunin ein. Es kommt zu einem Missverständnis, infolge dessen es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung kommt. Das fremde Schiff vernichtet einen Großteil der Shonunin-Flotte, ehe es zerstört werden kann. Als das Wrack untersucht wird, findet man lediglich fünf Tote. Was muss das für eine Spezies sein, wenn nur fünf Individuen ein solches Blutbad anrichten können? Was für eine überlegene Technik steckt hinter dieser verheerenden Feuerkraft? Die Shonunin wissen, dass die Fremden einen Funkspruch absetzen konnten, ehe ihr Schiff vernichtet wurde. Um mehr über die zweibeinigen, haarlosen Fremden zu erfahren, lassen sich die Shonunin auf ein gefährliches Experiment ein …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

CUCKOO'S EGG

Aus dem Amerikanischen von Thomas Schichtel

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1985 by C. J. Cherryh

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Thomas Menne

Erstes Kapitel

Er saß in einem Zimmer, in dem der Sand synthetisch war und in Opalfärbungen glänzte und sich fein und leicht unter seinen nackten Füßen anfühlte. Die Fenster boten keinen Ausblick auf die Stadt, sondern ein fortwährend rotierendes Panorama der Khogghut-Ebene. Es war eine Lüge. Verkehrslärm drang herein.

Sein Name war Duun. Vollständig hieß er Dana Duun Shtoni no Lughn. Aber Duun reichte für den alltäglichen Gebrauch. Die Leute hatten noch weitere Bezeichnungen für ihn: Sey, was General bedeutete, und Mingi, was Lord hieß. Oder etwas sehr Ähnliches. Shonunin auf der ganzen Welt wussten das und kannten Duun; und als es an der Tür läutete und sie hereinkamen, um ihm das Alien zu bringen, wollten ihn die Träger des Behältnisses nicht anblicken, nicht nur wegen der Narben, die ein Shonun sehen konnte, der bleichen kahlen Narben, die sich auf seinem halben Gesicht durch das Fell zogen und wie die Äste eines vom Blitz getroffenen Baumes wirkten, der Narben, die sein rechtes Ohr verzerrten und seinen Mund zu permanenter Ironie verzogen hielten, die ein Auge umgaben, das aus der Verwüstung hervorstarrte.

Er war Duun von Shanoen. Er streckte die Hände aus, von denen eine so entstellt war wie sein Gesicht, und nahm das geschlossene Behältnis entgegen, das sie ihm reichten, und er stellte dabei fest, wie sie die Ohren nach hinten legten und sich voller Entsetzen von ihm abwandten – keineswegs aufgrund dessen, was sie sahen, denn sie waren Meds und hatten schon vorher Entstellungen gesehen. Es lag an der Kraft in Duun, die sie auf ihren Gesichtern spürten wie einen starken Wind, wie große Hitze.

Aber seine Hände waren ganz sanft, als sie ihnen das Behältnis abnahmen.

Die Meds gingen wieder, und vor lauter Schrecken vergaßen sie jede Höflichkeit.

Duun bedeutete der Tür mit einem Wink, sich zu schließen, und legte das Behältnis auf die Erhebung, die ihm als Tisch diente, öffnete es und nahm das kleine, eingewickelte Wesen daraus hervor.

Shonunin wurden nackt geboren, hatten jedoch einen silbrigen Flaum, der sich schnell zu dichten Flecken entwickelte und dann zu dem grauen Körperfell, das nur auf den Gliedern, der Brust und dem Kamm schwarz war. Duun hielt die Kreatur auf den Wickeln, die er von ihr entfernt hatte, auf seinen Knien. Die flaumfreie Haut des Wesens war nackt und rosig, ganz so, als wäre es kürzlich gehäutet worden. Eine Ausnahme bildete nur ein seltsamer, dichter Haarwald auf dem Schädel. Die weichen Glieder zuckten hilflos. Die Augen waren geschlossen, und sie lagen in einem flachen Gesicht, das dem eines Shonun nicht unähnlich war. Zwischen den Beinen hatte das Wesen ein ungewöhnlich großes Organ von merkwürdiger Form und (wie sie gesagt hatten) mehrfacher Funktion. Der Mund arbeitete ruhelos und verzerrte dabei das kleine Gesicht. Und Duun berührte das Wesen mit seinen empfindlichen Fingerkuppen, mit den vier Fingern seiner linken Hand und den zweien an seiner verstümmelten rechten, und so erforschte er das warme, glatte Gefühl des bandagierten Bauches, der Brust, der Glieder. Nur mit der Spitze einer Kralle zog er sanft die Unterlippe des Wesens herunter, um den Mund zu inspizieren – und fand darin nur Zahnfleisch ohne Zähne, denn es war ein Säugetier. Mit derselben Kralle hob er das Lid eines schlafenden Auges an; es war milchig weiß mit blauem Zentrum, und es war ruhelos in seinen natürlichen Bewegungen. Duun berührte die Windungen der steifen, kleinen Ohren; erforschte das sichtbare Organ und provozierte damit eine Reaktion; also war es empfindlich. Wie interessant. Er untersuchte die fetten, krallenlosen Füße, jeder ein geschlossener Ballen bis zu den Zehen. Er faltete mit vorsichtigem Griff eines einzelnen krallenbewehrten Fingers eine fünffingrige Hand auseinander, und die winzige Faust schloss sich hartnäckig wieder. Das Wesen wedelte mit den Gliedern. Flüssigkeit schoss aus dem Organ hervor und benetzte Duuns Kleider.

Jeder Shonun wäre bei diesem Anblick zusammengezuckt. Aber Duun wickelte den Säugling wieder ein und wischte sich mit grenzenloser Geduld ab. So. Auch Shonun-Babies brachten solche Obszönitäten fertig, wenn auch weniger auffällig. Das Wesen stieß Schreie aus, weich und schwach, inhaltslos wie alle Säuglingsschreie. Es kämpfte mit weniger Kraft, als Duuns eigene Kinder gezeigt hatten.

Er wusste, wie es später aussehen würde, wenn es ausgewachsen war. Er kannte sein Gesicht. Er kannte jeden Aspekt seines Körpers. Er drückte es sich in der stinkenden Windel an die Brust und stand auf, ging hinüber zu dem Paket, dass sie ihm an diesem Morgen gebracht und auf die Erhebung neben dem Bett gestellt hatten. Er hielt das leise weinende Geschöpf in der Beuge des linken Armes, denn er konnte mit der rechten Hand immer noch besser greifen, obwohl er nur noch zwei Finger daran hatte. Er schaffte es, den Behälter zu öffnen und die Milch zu wärmen – keine Milch von Shonunin, sondern ein synthetisches Produkt, das die Meds durch ihre eigene Erfindungsgabe bereitstellten.

Vor Tagen hatte er die Unterlagen erhalten und sich eingeprägt. Das Geschöpf jammerte; genauso jammerten Shonunin-Säuglinge und übten dabei ihre Lungen. Und es atmete dieselbe Luft, die auch die Shonunin atmeten, und vielleicht akzeptierte sein Bauch eines Tages auch das Fleisch, das die Shonunin verzehrten. Die Meds glaubten es. Das Kind würde Zähne bekommen, einige davon so spitz wie die größeren Zähne der Shonunin. »Ruhig, ruhig«, sagte Duun zu ihm und schüttelte es dabei an seiner Brust. Er holte die gewärmte Flasche aus dem Behälter und schob den Sauger in den weichen Mund, der zwischen den Decken herumsuchte. Das Kind saugte geräuschvoll und beruhigte sich, und Duun ging wieder über den Sand zu der Erhebung hinüber, wo er vorher gewesen war, setzte sich mit gekreuzten Beinen darauf, wiegte das Kind und flüsterte ihm leise zu:

»Sei ruhig, sei ruhig.«

Das Kind schloss zufrieden die Augen; es schlief wieder ein, satt und geborgen. Es konnte nicht wie ein Shonun als selbstverständlich betrachtet werden. Duun war sehr zärtlich mit ihm. Er legte es schließlich in die Schale des eigenen Bettes und setzte sich daneben, betrachtete die kurzen Bewegungen, die regelmäßigen Hebungen des winzigen runden Bauches. Und als sich die Aussicht durch die Fenster änderte und in das abendliche Meer verwandelte, beobachtete Duun immer noch das Kind.

Es war nichts, dessen er schnell müde werden würde. Er badete nicht. Er war verwöhnt, aber er atmete den Geruch des Kindes und der verschmutzten Windel und seiner Nahrung ein, und er zuckte nicht davor zurück, denn er hatte sich gegen jede Art von Abscheu geschult.

Die Meds waren bestürzt, als sie kamen, um sich mit ihm auseinanderzusetzen, um das Kind zu untersuchen und es wieder in die Einrichtung unten am Korridor zu bringen, wo sie es wiegen und seine Verfassung kontrollieren würden. Duun schritt hinter ihnen her, als sie es in dem geschlossenen Behältnis dorthin trugen; er beleidigte ihre Nasen mit seinem Gestank.

Bei allem, was sie mit ihm zu tun hatten, vermieden es die Meds, ihm in die Augen zu blicken, zogen sogar den Anblick des Aliens dem Risiko vor, dem starren, kalten Blick zu begegnen, den er für sie und all ihr Tun übrig hatte.

Sie wogen den Säugling, hörten seine Atmung und sein Herz ab, fragten Duun leise (ohne ihn je ganz anzusehen), ob er Schwierigkeiten gehabt hatte.

»Duun-hatani, Sie könnten sich ausruhen«, sagte die Chefärztin am zweiten Tag, an dem sie wegen des Kindes kamen. »Dies ist alles Routine. Wir brauchen Sie nicht. Sie könnten die Gelegenheit nutzen …«

»Nein«, entgegnete Duun.

»Aber …«

»Nein!«

Ein unbehagliches Schweigen folgte. Seit Tagen hatte Duun sie betrachtet, ohne Antworten zu geben. Jetzt blickte ihm die Chefärztin suchend und besorgt voll in die Augen, und sie fand dann sofort etwas anderes, womit sie sich beschäftigen konnte.

Duun lächelte zum ersten Mal in diesen Tagen, und dieses Lächeln passte zu seinem Blick.

»Du bringst sie zur Verzweiflung, Duun«, meinte der Abteilungsleiter.

Duun ging von dem Schreibtisch weg, an dem Ellud saß, und starrte durch die falschen Fenster, die Schneefall zeigten. Eis bildete sich an den Ästen eines Baumes über einer heißen Quelle. Das Sonnenlicht tanzte zwischen den mit Juwelen besetzten Ästen, und Dampf stieg auf und kräuselte sich. Duun blickte wieder zurück, den Daumen der verstümmelten Hand hinter dem Rücken mit dem der gesunden verhakt, und er entdeckte einen weiteren Mann, der es vorzog, irgendetwas unmittelbar hinter Duuns Schulter zu studieren. Das falsche Sonnenlicht vielleicht. Alles wäre geeignet gewesen. »Es ist bei guter Gesundheit«, sagte Duun.

»Duun, das Personal …«

»Das Personal tut seine Arbeit.« Nicht ein einziges Mal hatte der andere ihn ganz angesehen. Duun holte tief Luft. »Ich will Sheon.«

»Duun …«

»Sheon gehört Duun, nicht wahr? Ich sage dir, dass es so ist.«

»Die Sicherheit ist auf Sheon nicht …«

»Ich rieche. Ich stinke. Merkst du es, Ellud?«

Eine lange Pause trat ein. »Der Besitz …«

»Du hast mir angeboten, irgendetwas zu nehmen. Hast du es nicht so ausgedrückt? Jede Form der Zusammenarbeit? Würde irgendein Shonun auf der Welt mir etwas verweigern … wenn ich eine Frau wollte; wenn ich einen Mann wollte; wenn ich Geld wollte oder deinen nächsten Verwandten, Ellud … wenn ich wollte, dass der Präsident nackt hinausgeworfen und mir das Schatzamt geöffnet wird …?«

»Du bist Hatani. Du würdest das alles nie verlangen.«

Duun betrachtete wieder die falsche Quelle, die sprudelnd ihre winterlichen Dämpfe erzeugte. »Bei den Göttern, du vertraust mir aber sehr!«

»Du bist Hatani.«

Duun wandte den Blick wieder Ellud zu, und es war der erste Blick mit wirklich klaren Augen, den er seit Jahren für jemanden übrig hatte. Aber nicht einmal damit schaffte er es, dass Ellud seinen Blick offen erwiderte. »Ich bitte dich, Ellud. Muss ich denn bitten? Gib mir Sheon!«

»Siedler haben sich dort niedergelassen. Ihr Anspruch ist mittlerweile rechtsgültig.«

»Wirf sie hinaus! Ich will das Haus haben. Die Berge. Abgeschiedenheit. Komm schon, Ellud! Willst du vielleicht, dass ich in deinem Büro kampiere?«

Das wollte Ellud nicht. Sie waren Freunde gewesen. Früher einmal. Jetzt sah Duun, wie Ellud vorsichtig die Ohren senkte. Als schämte er sich. Als ginge er ein Risiko ein, das er unbedingt eingehen wollte. Um jeden Preis.

»Du bekommst es«, sagte Ellud. Ohne ihn richtig anzusehen. Ellud fuhr die Krallen ein Stück weit aus und schob damit Papiere zur Seite, während er abwesend auf den Schreibtisch blickte. »Ich werde etwas unternehmen. Ich kümmere mich darum.«

»Danke.«

Damit zog Duun die Augen seines Gegenübers auf sich. Ein verletzter Blick. Voller Schrecken, wie bei den anderen. Der Todeskampf der Freundschaft.

Der verletzten Treue.

»Gib es auf«, bat Ellud, gegen sein eigenes Interesse; gegen alle Interessen. Die Loyalität war aufgerüttelt, so verspätet es auch geschah.

»Nein.« Für einen Moment blickten sie sich gegenseitig in die Augen, ohne dass einer auswich. Duun erinnerte sich an Ellud unter Beschuss. Ein ruhiger, kühler Mann. Aber der Blick glitt schließlich zur Seite, und etwas zerbrach.

Das letzte.

Duun ging hinaus, fühlte sich jetzt freier, denn es war nichts übriggeblieben. Nicht einmal Ellud. Und er hüllte sich in diese Einsamkeit und fand, dass sie passte.

Er erreichte die Sheon-Berge morgens, an einem echten Morgen, während die Sonne rosarot und golden über den Höhenzug stieg; und der Wind, der auf dieser grasbedeckten Ebene an ihm zerrte, war der Wind seiner Kindheit, und er rüttelte an seinem Umhang, dem grauen Umhang der Hatani, den er um sich und den Säugling zog. Elluds Helfer zeigte sich besorgt, dort auf der staubigen Straße, die in die Berge führte, in der gegenwärtigen Stille des Hubschraubers, der sie hierhergebracht hatte und jetzt drüben auf der Wiese stand. Die Ohren des Helfers lagen flach an im Wind, der an seinem ordentlich geschnittenen Kamm zerrte und die sorgfältigen Falten seines Kilts durcheinanderbrachte. Der Wind war kalt für einen Stadtbewohner, für einen Weichling wie ihn. »Es ist in Ordnung«, sagte Duun. »Ich sagte es Ihnen schon. Dies ist der einzige Weg, der hinaufführt. Sie brauchen hier nicht zu warten.«

Der Helfer drehte das Gesicht ein wenig zu den Landbewohnern hin, die sich außer Hörweite sammelten, in kleinen Gruppen, die Familien zusammen, der Kälte nicht achtend. Der Helfer blickte wieder zurück und ging dann mit wedelnden Armen auf die Versammlung zu. »Verschwindet, verschwindet, der Mingi braucht euch nicht! – Dummköpfe«, fügte er dann hinzu, als er sich wieder umdrehte, denn sie wichen nur wenig zurück. Er bückte sich und hob das bisschen Gepäck auf, das am Straßenrand lag, hängte sich den Sack über die Schulter. Seine Ohren waren immer noch besorgt nach hinten gelegt. »Hatani, ich begleite Euch selbst hinauf.«

Es war ein Wunder. Der Helfer erwiderte Duuns Blick mit standhafter Offenheit. Ellud suchte junge Leute dieser Art aus, verstand sich immer noch darauf, die besten zu wählen, die ehrlichsten. Duun hatte für einen Moment das Gefühl, als schiene die Sonne voll auf ihn; oder vielleicht war es der Duft des echten Windes, der Duft von Gras und Sauberkeit. Er empfand eine Regung des Herzens für diesen jungen Mann, und es tat weh.

Aber er grinste, der alte Soldat, der er war, und blickte die Straße hinauf, die in die Berge führte, denn diesmal war er es, der zurückschreckte, der vor der Unschuld und Verehrung des jungen Mannes zurückzuckte. »Geben Sie mir den Sack!«, sagte er, und er nahm den Tragriemen von der Schulter des jungen Mannes und nahm ihn auf die eigene, die rechte Schulter. Den Säugling hielt er auf dem linken Arm, wo er seine Bewegungen spürte, seine Wärme, denn das Kind wand sich wie ein Wurm zwischen den Windeln und schmiegte sich unter dem Umhang an Duun.

»Aber, Hatani …«

»Sie kommen nicht mit. Ich brauche Sie nicht.«

Er ging los.

»Hatani!«

Er blickte nicht zurück. Auch nicht zu den Bergbewohnern, die beim Hubschrauber die Straße säumten. Einige von ihnen waren sicher die Vertriebenen, Leute, denen Sheon gehört hatte, die es übernommen hatten, nachdem Duun sich zurückgezogen hatte. Jetzt waren sie von einem Tag zum anderen enteignet worden. Duun spürte ihre Blicke, hörte undeutlich ihr Flüstern.

»Hatani«, verstand er. Und: »Ein Alien.« Sie brauchten gar nicht zu flüstern. Er spürte, wie ihre Blicke seinen Umhang zu durchdringen versuchten. Sie waren hergekommen, um sich zu fragen, wer er war, ebenso, wie sich über das zu wundern, was er brachte. »Hatani.« Respekt schwang darin mit. »Was ist mit seinem Gesicht passiert?«, fragte ein Kind.

»Still!«, antwortete ein Erwachsener. Und plötzlich herrschte verlegenes Schweigen. Es war nur ein Kind. Es wusste noch nicht, was Narben waren. Es war nur arglos.

Duun sah sie nicht an. Kümmerte sich nicht um sie. Er war Hatani, hatte entsagt. Seine Waffen trug er unter dem Umhang an der Seite. Eines forderte er von der Welt: diese Berge, diese Gegend.

Ein wenig Frieden.

Dass ein Hatani sie enteignet hatte … Die Bewohner Sheons hatten ihren Rechtsanspruch gewiss für sicher gehalten. Das Land lag brach; das Haus stand leer; zehn Jahre nach Duuns Verzicht gehörte es rechtmäßig ihnen.

Aber es stimmte, was er zu Ellud gesagt hatte: Es gab nichts, was er nicht fordern und erhalten konnte, nichts auf der ganzen Welt.

Er spürte ihre Blicke. Vielleicht erwarteten sie, dass er etwas sagte. Vielleicht erwarteten sie, dass er sich um sie kümmerte, dass er tröstende Worte für sie fand.

Aber er ging nur an ihnen vorbei die Straße hinauf, die staubige Straße zu den Höhen und dem Haus, das tief zwischen den Bergen aus örtlichem Gestein errichtet war.

Er hörte den Hubschrauber starten und sich mit klopfenden Geräuschen entfernen, wie Herzschläge, die Echos an der Gebirgsflanke erzeugten. Der Hubschrauber war am vergangenen Abend und an den drei Tagen vorher oft hier gelandet und wieder gestartet, zusammen mit anderen Hubschraubern, hatte Vorräte gebracht, Spezialausrüstung, lauter solche Dinge, wie sie Ellud und seinesgleichen zufriedenstellten.

Eine Last, das ganze Zeug.

Er wappnete sich innerlich. Er wusste, dass sich Sheon verändert haben musste. Er stählte seine Entschlusskraft, in dieser wie in anderen Fragen. Er brauchte Kraft, suchte sie im Verzicht. Er suchte sie, indem er sich bemühte, sich nichts aus dem Anblick zu machen, der sich ihm bot, als er zur Mittagszeit die Berghöhen erreichte; er sah nun die Veränderungen, die die Landleute an Sheon vorgenommen hatten, und mit denen er schon vorher gerechnet hatte: einen hingestreckten Neubau aus Trümmersteinen, der die frühere Schönheit Sheons zerstörte, eine Schönheit, die ein gepflegtes Kunstwerk gewesen war, nicht unterscheidbar vom gewachsenen Fels, der es flankierte. Das Haus war jetzt ausgebaut, kunstlos und nützlichkeitsorientiert, der Hof, der es umgab, freigeräumt und staubig. Duun war jedoch nicht bestürzt.

Erst, als er das Haus betrat und entdeckte, was Ellud und seine Leute damit gemacht hatten – da war er wirklich betroffen. Anstelle der ländlichen Unordnung, mit der er gerechnet hatte (anders als in seiner Kindheit, als die Steine sorgfältig poliert gewesen waren, als er geräumige Dielen und einen Sandgarten gekannt hatte, in dem der Wind Muster zeichnete), hatte die Regierung für Sterilität gesorgt, die Steinwände lackiert, die Böden mit weißem Sand bestreut, nicht rotem, eine neue Küche installiert, die Räume neu möbliert, alles mit großen Kosten. Und alles roch neu und stechend nach Fixativen und Farbe und frisch gebranntem Sand.

Da stand Duun an diesem sauberen, sterilen Ort ohne Erinnerungen, in diesem Haus mit seinen reichlichen Vorräten, dem neuen Mobiliar aus der Stadt …

Für das Kind. Natürlich für das Kind. Die Meds sorgten sich um seine Gesundheit. Sie wollten für Hygiene sorgen.

Und hatten dabei Verwüstungen angerichtet …

Er stand dort lange, sehr lange, und es schmerzte ihn, was er sah. Das Kind wand sich und fing an zu weinen. Und trotz seines Zorns ging er sehr behutsam mit ihm um, so behutsam, wie er nur je mit ihm umgegangen war. Er suchte in den Schränken nach neuen Kleidern, fand die bereitstehende Wiege …

Das Kind machte sich wieder schmutzig. Duun kannte dieses Weinen schon, kannte den Gestank, der ihn nun schon längere Zeit umgab und der jetzt stärker war als der Lack und der Geruch von trockenem Staub, den der Sand erzeugte.

Er legte das Kind in den Sand, zog sich den Umhang aus und legte seine Waffen auf die Erhebung neben dem Kamin. Er hörte dem Geschrei des Kindes zu. Es war größer geworden. Die Stimme war lauter und heiserer als zuvor, und das Gesicht war vor Wut verzerrt.

Duun holte Tücher, machte sie nass, kniete sich neben das Kind und säuberte es mit eiserner Geduld von seinem Kot; dann machte er die Rezeptur warm und fütterte es, bis es einschlief. Danach ging er ziellos durch das Haus, roch den Gestank, den das Kind an ihm hinterlassen hatte, und den Gestank des neuen Putzes, des neuen Lacks, der neuen Möbel.

Früher war er barfuß durch die Korridore gelaufen, hatte gelacht, mit einem Dutzend Geschwister und Cousins Streiche gespielt, sich im Bodensand gewälzt, bis aufgebrachte Ältere sie hinaus auf den gut im Schatten alter Bäume liegenden Hof trieben.

Die Bäume waren nicht mehr. Der neue Flügel erhob sich dort, wo der älteste Baum gestanden hatte. Soviel zur Heimkehr.

Er machte ein Feuer. Dies wenigstens war unberührt geblieben: die alten Mauern des Kamins, neben denen er als Kind gesessen hatte. Von einem hochragenden Haufen bei den Felsen holte er Stücke eingerissener Nebengebäude und die Überreste der Zäune und machte damit das Feuer, verbrannte damit andere Erinnerungen an sein Heim.

Dann nahm er das Kind mit nach draußen, gut eingewickelt gegen die Kälte; er trug es auch durch das Haus und in die Küche und brachte es schließlich zum Feuer, setzte sich vor den Kaminsteinen in den sauberen tiefen Sand und hielt das Kind auf dem Schoß.

Er hatte sich daran gewöhnt. Das flache, runde Gesicht beunruhigte ihn nicht mehr. Der Geruch des Kindes war auch sein eigener, zusammengesetzt aus dem Schweiß von ihnen beiden. Dämonenaugen blickten zu ihm herauf. Das kleine Gesicht schnitt Grimassen, die für sie beide bedeutungslos waren, beleuchtet vom flackernden Feuerschein, von den tanzenden Flammen.

Duun umfasste den Schädel des Kindes mit den Händen, der gesunden und der verstümmelten, und er war dabei so behutsam, als wäre der Schädel eine Eier-, und keine Knochenschale. Er lächelte und zog dabei die Lippen von den Zähnen zurück, und er blickte in Augen, die ihn vielleicht sahen, vielleicht aber auch nicht.

»Wei-na-ya«, sang er dem Kind vor, »wei-na-mei.« Seine heisere Männerstimme eignete sich nicht für Wiegenlieder. Kleiner Vogel, kleiner Fisch. Das Lied war schon früher in diesem Haus erklungen. »Hei sa si-lan-nei …« Geh nicht. Der Wind ist kalt, das Wasser dunkel, aber hier ist es warm. »Wei-na-ya, wei-na-mei.«

Und er sang das »Sha-khe'a«. Leise, wie das Wiegenlied, sang er auch dieses Hatani-Lied.

Es war das Todeslied. Er sang es wie das Wiegenlied. Er lächelte, grinste dem Kind ins Gesicht.

»Du bist Haras«, sagte er zu dem schrecklichen Dämonengesicht, zu den geschlitzten Augen mit ihren runden Zentren, die den Wolken eines Wirbelsturms glichen. Er sprach jetzt Sadoth, die Sprache seiner Vorfahren, die Bergbewohner gewesen waren. »Du bist Haras. Dorn lautet sein Name.«

Das Kind sah ihn ernst an.

Ohne Furcht.

Es wedelte mit den Armen. Er, sagte sich Duun. Er. Haras. Dorn. Der Wind fuhr heulend ums Haus, pfiff im Schornstein und brachte die Flammen im Kamin zum Flackern.

Duun grinste und wiegte das Kind und tat etwas, was das Blut aller Landleute zum Gefrieren gebracht hätte, jener Enteigneten, die sich zweifellos jetzt aneinanderdrängten; oder das Blut der Meds; oder das Elluds in seiner schönen Stadtwohnung.

Zweites Kapitel

Sie kamen aus der Hauptstadt. Hubschrauber landeten, und Meds machten sich auf den langen, anstrengenden Weg in die Berge, trugen dabei ihre Instrumente, wie sie sie auch auf dem Rückweg bergab wieder mitnahmen. Sie waren nicht erfreut. Vielleicht machten die Bewohner der Gegend ihnen Angst, wenn sie sich in ihrer mürrischen Wachsamkeit am Fuß der Straße versammelten, dort, wo die Flugmaschinen landeten.

Die Meds kamen und gingen wieder.

Duun hielt das Kind und redete mit ihm, während er zusah, wie sie gingen geistloses Gerede, wie man es bei Kindern verwendete.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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