Das kurze Leben des Ray Müller - Ralf Bönt - E-Book

Das kurze Leben des Ray Müller E-Book

Ralf Bönt

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Beschreibung

Mann sein Vater sein, Sohn sein – ein unerschrockener Roman über Grenzerfahrungen

Marko Kindler wartet auf sein Verhör, nur Stunden sind seit dem Unglück vergangen – wie konnte alles bloß so außer Kontrolle geraten? Ist er Opfer oder Täter?

Marko ist ein moderner Mann, der vielen Rollen gerecht werden will. Das Leben mit seiner Jugendliebe und den gemeinsamen beiden Kindern gerät unter den vielen Erwartungen an ihn in die Krise. Schließlich wagt er einen Neuanfang mit der ausgeglichenen Lycile. Als ihr Sohn Ray zur Welt kommt, muss Marko erkennen, dass seine Ideale von Vaterschaft wieder nicht zu erfüllen sind. Mit dem plötzlichen Tod einer befreundeten New Yorker Künstlerin brechen lang verdrängte Fragen mit unerwarteter Macht über ihn herein. Hat er das Glück und die Freiheit gefunden, nach denen er sich immer sehnte? Er entschließt sich zu einem Schritt, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Ein schonungsloser Roman über Lust und Last der Veränderung und zugleich ein streitbares Psychogramm unserer Zeit.

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Seitenzahl: 465

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RALF BÖNT

DAS KURZELEBEN DES RAYMÜLLER

ROMAN

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. 1. Auflage

Copyright © 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in derVerlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Fabiol

ISBN 978-3-641-15639-8V002www.dva.de

DER errechnete Termin war Freitag vor zwei Wochen, und weil ich bei jeder Gelegenheit über Lyciles Bauch mit dem herausgehobenen Nabel strich, habe ich vor ihr bemerkt, dass er mal hart war und mal weich. Die Phasen waren so lang, dass wir nicht wussten, wie lang genau. Stundenlang war Lycile sich gar nicht mal sicher und legte immer wieder prüfend die Hände auf, bis sie erstaunt sagte: »Stimmt!«

Am Abend mussten wir zur Kontrolle. Unsere Gynäkologin war im Urlaub, deshalb gingen wir zu einer Vertretung, einem jungen Arzt, in dessen Praxis viel alte Kunst um die neuesten Geräte herum hing. Auf seinem Bildschirm sahen wir die Einzelheiten in Lyciles Unterleib, der Muttermund war leicht geöffnet. »Ein knapper Zentimeter«, stellte der Mann so triumphierend fest, als ginge es um sein Tor im letzten Auswärtsspiel und wie weit der Ball hinter der Linie gewesen war. Dabei fuhr er mit dem Rollhocker aus Lyciles Schritt, zog die Handschuhe ab und warf sie, auf links gedreht, in einen kniehohen Eimer, der fast ganz mit gebrauchten Tüchern, Handschuhen und Überziehern des Schallstabes gefüllt war. Mit dem Anblick hatte ich wieder den säuerlichen Geruch in der Nase, den ich beim Betreten des Sprechzimmers mühsam unterdrückt hatte und jetzt umso deutlicher spürte: wie er sich auf die kleinen Finger und Augen legte, in die Haare kroch und um meine Schuhe und in die Hosenbeine strömte.

Der Arzt war aufgestanden. Mit sorglosem Gesichtsausdruck wusch er sich die Hände, desinfizierte sie, setzte sich an den ergonomisch geformten Tisch, an dessen Rundungen ein Kind sich kaum den Kopf hätte stoßen können, und tippte mit zwei steifen Fingern etwas in die Datei, die Lyciles Namen trug. Ich hätte gern den Bildschirm eingesehen, aber das ging nicht, und ein paar Minuten später hatten wir mit guten Wünschen die Praxis verlassen. In unsereVorfreude gehüllt, standen wir auf dem Gehweg, Verkehrslärm um uns herum.

»Ganz schöne Käsebude«, meinte Lycile, hielt sich die Nase zu und wedelte mit der anderen Hand durch die Luft.

»Ich wollte es ja nicht sagen.«

Sie meinte, der Mann sei jedenfalls nicht zu beneiden, aber ich fand, dass es Schlimmeres gebe, und setzte ein extra bescheuertes Grinsen auf.

»Ach, was denn?«, fragte sie gespielt, sah auf ihre lackierten Fingernägel und dann in den fließenden Straßenverkehr.

Während ein Bus neben uns bremste und vor der Ampel zum Stehen kam, fragte ich: »Kanalarbeiter?«

»Was?«

Ich wartete, bis der Dieselmotor in den Leerlauf fiel, aber irgendwo an dem Vieh von Fahrzeug schlugen Metallteile aufeinander, und es war lauter als vorher.

Ich brüllte: »Kanalarbeiter!!«

»Echt?«

Heftig nickend bestätigte ich: »Typischer Männerberuf!«

Lycile sah den Unterschied »nicht direkt«, und ich stellte ihr eine genauere Erklärung für die kommenden Tage in Aussicht. Sie nickte wohlwollend, während die Ampel auf Grün sprang. Mit dem Hochdrehen des Motors hörte das Scheppern auf, und wie ein Flusspferd setzte sich der Bus in Bewegung.

»Lass uns essen gehen«, sagte Lycile, »und zwar sofort.«

Ich schlug den Inder vor, der jahrelang unser Kellner gewesen war und sich direkt gegenüber vom Restaurant seines ehemaligen Chefs selbstständig gemacht hatte. Keine fünf Fußminuten hatten wir bis zu ihm. Mit einer Hand auf dem Bauch und der anderen auf der Handtasche fand Lycile, dass ich tatsächlich das Richtige vorgeschlagen hätte.

Ich sagte: »Wahnsinn.«

Sie freute sich und ging zielstrebig los. Sie redete viel und für ihre Verhältnisse auch schnell, ich sehe sie noch genau vor mir. Uns beide sehe ich, wie wir uns mit Fleisch in den Mündern und Gewürzen auf den Zungen ausmalten, dass Ray bald da wäre und wie irre das alles war. Mit dem Zeigefinger machte sie mich auf ein Reiskorn aufmerksam, das an meiner Lippe klebte, dann beschwerte sie sich, dass ich immer noch Bier trinken dürfe.

»Sauerei«, sagte ich mit fliegender Freude im Bauch und bestellte mir das zweite: »Ich trinke eins für dich mit.«

Beim Bezahlen meinte sie, ich sei dran. Ich wusste nicht wieso, gab aber meine Karte ab, unterschrieb den Bon und steckte die Karte wieder ein. Lycile war währenddessen auf der Toilette.

Um sie zu provozieren oder aus Übermut verfiel ich auf dem Nachhauseweg in den schiefen Gang, der seit der Operation meiner Zehengelenke zu meinem Bewegungsrepertoire gehört. Ich hatte die Gelenke über die Jahrzehnte mit zu kleinen Schuhen ruiniert, mit Schuhen, die an den Füßen meiner Schwester gut ausgesehen hätten. Jetzt hielt ich mich an Lyciles Ärmel fest, ächzte und jammerte: »Langsam, nicht so schnell!« Sie stöhnte und fragte, ob ich mir nicht mal was Neues ausdenken könne. Eine Ferse drehte ich umständlich nach außen, um sie über den Gehweg zu schleifen.

»Du machst dir nur die Schuhe kaputt.«

»Die mütterliche Tour hast du schon gut drauf«, sagte ich wieder in normalem Ton und richtete mich auf. »Das ist genetisch, oder?«

»Dein erstes Kompliment heute!«

»Och, gerne.«

»War höchste Zeit.«

Zuhause angekommen, setzten wir uns in die Küche, ich trank einen Whisky. Eine Weile alberten wir in unserer Idiotensprache rum, die im vorletzten Sommer entstanden war, als wir uns von der Hoffnung, ein Kind zu bekommen, verabschiedet hatten. Die Sprache bestand aus übertriebenem Lispeln und kollabierter Grammatik, die wir mit verdrehten Augen unterstrichen, als wären wir selbst Kinder, die sich über alles lustig machten, vor allem über Erwachsene. Ich trank noch einen Whisky, und als ich in einer Gesprächspause verloren die Flasche ansah, ruhte Lyciles Blick plötzlich auf mir.

»Komm jetzt«, sagte sie ruhig, »ich verführe dich noch mal.« Sie war vom Tisch aufgestanden. »Wer weiß, wann ich dazu wieder Zeit habe.«

Sie sah mich an, als meinte sie, mich aufmuntern zu müssen, streckte eine Hand aus, von der ich mich hochziehen ließ. Ich umarmte sie. Um keinen Druck auf Ray auszuüben beugte ich meinen Oberkörper vor, fuhr mit den Händen über ihren Rücken, dann mit einer über den Bauch. Sie wand sich, weil ich sie kitzelte, und Ray antwortete mit einem Tritt. Wir lachten.

»Im Moment ganz hart«, sagte ich mit der Hand unter ihrem Pullover.

Lycile zuckte nur mit den Schultern und zog mich am Daumen hinter sich her ins Schlafzimmer. Sie hatte seit Tagen einen breiten, watschelnden Gang, als hätte sie etwas zwischen den Beinen. Ich strengte mich an, nicht immer zu grinsen oder vorzuschlagen, dass sie sich hinsetzte. Die ganze Zeit stellte ich mir vor, wie jeder Schritt an Rays kopfüber auf die Öffnung drückendem Schädel rieb, eine idiotische Vorstellung, gegen die ich nicht ankam. Und als Lycile sich langsam vor mir auszog, zögerte ich.

»Das bisschen Prostaglandin wirst du für den Muttermund wohl übrig haben«, meinte sie, »oder willst du gar nichts beitragen?«

Ohne mich aus den Augen zu verlieren legte sie sich auf das Bett und führte die Hand in ihren Schritt, begann sich zu massieren und durch den Mund zu atmen. Das machte mich an, ich zog mich aus, und der liebe Gott hat Zungen nicht nur zum Sprechen erfunden. Wir nahmen den Kreuzstich. Lycile konnte den Bauch dabei gut hinlegen, ich stützte mit einer Hand ihr Sacrum, mit den Fingern der anderen konnte ich durch ihre Falten fahren und erst ihr Tempo, später mit dem Druck von außen auf die Prostata auch meines regulieren. Als ihre Wasser über die Dämme stiegen und ihr Atem sich mit den tiefen Lauten löste, die ich so mochte, konnte auch ich noch fast gleichzeitig kommen und vor allem schön langsam.

»Du Genießer«, sagte sie, als ich neben ihr lag.

Sie gab mir einen Klapps auf den Hinterkopf und strich dann über ihn. Wir zogen unsere Hemden über. Wie immer schliefen wir ohne Hosen.

AMMorgen war der Himmel über Berlin hellblau, fast weiß und fern. Es fror. Ich lag am Fenster, Lyciles Bauch berührte mich an den Lendenwirbeln, ihre Hand bemerkte ich auf meiner Hüfte, als sie sie wegzog. Mit einem Stöhnen drehte sie sich auf die andere Seite, stemmte sich hoch und hinterließ im Bett eine leere Stelle. Aus der Küche hörte ich, wie sie einen Thermostat am Heizkörper aufdrehte, sich mit Mühe wieder aufrichtete und das Radio anstellte. Ich stand auch auf.

Lycile hielt mit dem Wasserkocher in der Hand inne, als sie mich sah. Sie lächelte mich an. Ich nahm ihr den Kocher ab. Nachdem ich ihn gefüllt und angeschaltet hatte, betrachteten wir uns wortlos. Durch die großen Scheiben fiel schräg und fahl das Sonnenlicht. Auf dem Dach des Hauses gegenüber lag eine dünne, raue Eisschicht, die weiß strahlte. Um eine Haarsträhne zur Seite zu streichen nahm Lycile ihre Hand vom Bauch, und vielleicht lächelte ich auch. Sie setzte sich an den Tisch, ich begann zu decken. Das Radio informierte uns über die rasante Abnahme des Erdmagnetfeldes, am stärksten in Brasilien. Es werde von den Magmaströmen im Erdinneren bestimmt, die vor allem aus Eisen bestünden und manchmal die Richtung änderten. Wahrscheinlich pole sich das Erdmagnetfeld im Moment um, meinte die Stimme im Radio, ein Vorgang, der nur alle dreihunderttausend Jahre vorkomme. Gefährlich sei das aber nicht. Über Tischplatte, Fußboden und Wände warfen sich lange Schatten. Auf dem Dach gegenüber hüpften drei oder vier Krähen herum.

Beim Frühstück redeten wir nicht viel, ich lud die Zeitung herunter und blätterte sie durch. Lycile stand auf, machte das Radio aus und wechselte, die Hand wieder am Bauch, zum Sofa, wo sie ein Bein anwinkelte, um sich daraufzusetzen. Das ist die typischste ihrer Bewegungen. Sie sah belustigt zu den Krähen hinüber, die auf dem vereisten Dach lärmten.

»Was die schon wieder haben?«

Ich antwortete nicht, weil wir alle paar Wochen in immer gleichen Worten feststellten, dass man nicht wissen kann, ob sie schimpfen oder lachen oder sich nur etwas erzählen.

»Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist ja, dass Tiere den Tod nicht kennen«, sagte ich dann, und weil sie nicht antwortete: »Hat gestern wieder jemand im Radio gemeint.«

»Und?«

»Finde ich witzig.«

»Wieso?«

»Wo doch die Verteidigung des nackten Lebens ihre einzige Beschäftigung ist.«

»Glaubst du?«

Die Krähen flogen vom Dach, und Lycile sog Luft durch die Zähne, rückte sich auf dem Sofa zurecht, fasste sich an die Leiste, sah mich an und sagte langsam: »Hm, jetzt drückt es zum Beispiel hier.«

»Drückt es mal und ist dann weg und drückt wieder?«

Sie fühlte weiter mit der Hand und zuckte mit den Schultern: »Es zieht eher.« Dann nahm sie die Finger von der Leiste und zuckte wieder mit den Schultern.

Ich stand auf, räumte den Tisch ab und belud die Spülmaschine. Über die Akribie, mit der ich für jede Tasse und jede Schale den richtigen Platz suchte, machte Lycile sich schon lange nicht mehr lustig, aber sie beobachtete mich amüsiert und vielleicht sogar liebevoll. Dabei spülten wir oft Sachen zweimal, wenn ich nicht darauf geachtet hatte, dass die Düsen mit ihren Strahlen auch überall hinkamen.

Als sie in meinem Rücken meinte, jetzt ziehe es wieder, drehte ich mich um. Sie hatte die Hand auch wieder an der Leiste. Seit der letzten Wehe waren nur ein paar Minuten vergangen. Lycile hatte jetzt einen veränderten, in die Ferne gestellten Blick, den ich an ihr nicht kannte.

Ob ich ein Entspannungsbad besorgen könne.

»Klar. Ein Besonderes?«

Sie verneinte mit einer Kopfbewegung. »Die Wehen verschwinden mit einem Entspannungsbad, oder sie ziehen an. Wenn es nach den Hebammen geht.«

Auf ihrem Gesicht sah ich leichte Schmerzen, die sie selbst gar nicht wahrnahm, und ich wollte sagen: Bis gleich. Aber stattdessen beteuerte ich, mich zu beeilen. Ein paarmal kontrollierte ich meine Jackentaschen, ob ich Geld, Schlüssel und vor allem das Telefon hatte.

Draußen und allein zu sein war schön. Mit Atem vor dem Mund, Händen in den Jackentaschen und nach vorne geneigtem Oberkörper lief ich in konstanter mittlerer Geschwindigkeit um den Block. Nur wenige Autos fuhren, ein Mann kratzte Eis von der Windschutzscheibe seines Oldtimers, dessen Motor im Stand lief und blau qualmte. Im Supermarkt war kaum jemand. Ich beobachtete eine aufwendig gekleidete Frau, die mit dem langen roten Nagel ihres rechten Daumens eine Paprika aufschnitt und den Strunk herausriss, bevor die grüne Hülle in die farblose Plastiktüte glitt. Den Strunk ließ sie zurück in die Auslage fallen, ihr Schmuck klimperte am Handgelenk, und als sie fertig war, starrte sie mich so selbstvergessen an wie ich sie. Ich glaube nicht, dass sie sich an der Kasse, als die Paprika gewogen wurde und ich mit dem Entspannungsbad in der Hand hinter ihr stand, noch an mich erinnerte. Mit vorgeneigtem Oberkörper wie auf dem Hinweg lief ich zurück, nur schneller.

Zuhause fand ich Lycile unaufgeregt auf dem Sofa, ihr Blick abwesend, auf den Wangen ein unbestimmtes Glück oder der Wille dazu.

»Welche Abstände hast du jetzt?«

»Weiß nicht.«

Ich ließ ein Bad ein, und wir fühlten abwechselnd mit den Händen nach der Temperatur. Auf dem Rand der Wanne sitzend, sah ich ihr zu, wie sie sich den Bauch hielt, schwere Augenlider bekam und durch den Mund atmete. Wenn sie sich bewegte, floss das Wasser langsam um ihre vergrößerten Brüste, deren Höfe dunkel geworden waren. Ich ärgerte sie, indem ich ihr Schaum ins Gesicht schnippte. Mit offenem Mund atmete sie aus und bedeutete mir mit einem Kopfschütteln, ich solle sofort damit aufhören. Als sie aus der Wanne stieg, hatte das Wasser ihr Schamhaar zu zwei Zöpfen geflochten und lief daran ab. Ich wickelte sie in ein großes Handtuch und drückte es an ihren Leib. Mit einem kleineren trocknete ich ihre Arme und Füße ab. Auf dem Weg zum Schlafzimmer machte sie zwei Pausen, bei denen sie sich mit den Händen an der Wand abstützte, laut stöhnte und nicht ansprechbar war. Ich rief die Hebamme an und sagte, dass wir in einer Dreiviertelstunde da seien. Sie fragte nach den Abständen.

»So drei Minuten, vielleicht vier.«

Ob wir nicht schneller kommen könnten.

»Das glaube ich nicht.«

»Kein Grund, nervös zu werden«, sagte sie hastig.

Während Lycile sich nicht davon abbringen ließ, schon mal alleine nach unten zu gehen, und ich wie immer nicht streiten wollte, lief ich mit dem Schlüssel in der Hand das zweite Mal durch die Kälte. Unser Wagen stand auf dem Parkplatz des Supermarktes, ein hübscher Fehler, wie mir jetzt klar wurde, denn sie schleppten zwar keine Autos weg, nachts war die Schranke aber zu. Ich kratzte den Rückspiegel an der Fahrertür frei und machte dann schnell Löcher in die Eisschicht auf der Seiten- und Windschutzscheibe, jeweils drei oder vier handtellergroß. Den Rest musste das Gebläse schaffen. Der Motor startete gleich, und ein sachter Rückenwind trieb seine weiße Dunstwolke langsam am Wagen vorbei, als ich zurücksetzte und im ersten Gang vom Parkplatz rollte. Um sehen zu können, hatte ich die Brust nah am Lenkrad, als ich in unsere Straße bog und die Reifen auf dem Kopfsteinpflaster das Geräusch machten, das mich immer an Platzregen denken ließ.

Lycile stand gebeugt vor dem Haus, eine Hand an der Hauswand, darauf die Stirn. Ich führte sie zum Wagen. Langsam kletterte sie auf die Rückbank und legte sich halb hin.

Auf der Fahrt ließen die Wehen nicht nach, wie das Lehrbuch der Hebammen es kennt und ich es auch bei den Geburten von Jakob und Merle erlebt hatte. Am Alexanderplatz war der Motor warm, und das Eis hatte sich so weit gelöst, dass ich das meiste mit dem Scheibenwischer in weichen Scherben zur Seite schieben konnte. Ich lehnte mich zurück, und weil meine Rückenmuskulatur nun losließ, bemerkte ich, wie verkrampft sie gewesen war. Ich glaubte, dass wir den Tunnel unter der Kreuzung nehmen mussten, und ordnete mich dafür ein, aber der Navigator wollte mich rechts an ihm vorbei an die Ampel lotsen. Vor ein paar Monaten war ich an dieser Stelle schon mal falsch gefahren, ganz sicher war ich aber nicht. Unschlüssig ging ich vom Gas und entschied mich, der Ansage zu folgen: Hauptsache, ich war an nichts schuld. Fast zehn Minuten hingen wir deshalb fest. Die Ampelphasen habe ich nicht gezählt, während drei Wehen kamen und gingen und unter uns der Verkehr durch den Tunnel floss.

»Fluchen«, meinte Lycile, »hilft jetzt nicht.«

Zwischen den Sitzen hindurch konnte ich an ihre Wade fassen, Körperkontakt schien mir natürlich. Ich fragte aber, ob ihr das angenehm sei, und sie bejahte gleich. Die weiteren roten Ampeln bis Tempelhof habe ich auch nicht gezählt, ich wunderte mich nur, dass Ray es bei der Ankunft immer noch genauso eilig hatte. Oder es war Lyciles Körper, der drängte. Es ist egal, wie herum man das betrachtet.

Zum Glück war kein anderes Paar vor uns. Die Hebamme öffnete uns die Tür zum großen Raum, den wir von der Besichtigung kannten. Sie legte Lycile einen Gurt mit einem Sensor um den Bauch, Rays Herztätigkeit wurde auf eine Papierrolle geschrieben, und mit der Chipkarte in der Hand ging die Schwester in ihr Büro. Ich witzelte, dass Lyciles Muschel endlich mit dem Andreasgraben auf einer Stufe stünde, aber sie lachte nicht und stellte sich breitbeinig an eine Anrichte, auf die sie sich mit den Ellbogen stützte. Ihre Unterarme lagen flach auf, die Hände waren ineinander verkrallt. Wie sie es gelernt hatte, atmete sie die Wehen weg.

Dann platzte die Fruchtblase. Während ich das am Bein herablaufende Wasser mit einem Papiertuch auffing und den Rest vom Boden wischte, sah ich auf dem Schreiber, dass Rays Puls unter einer Wehe abfiel und sich danach erholte. Bei der nächsten Wehe passierte das wieder. Die Hebamme kam zurück, ich berichtete ihr. Wortlos wartete sie auf die nächste Kontraktion und beobachtete den Herzschlag, bevor sie entschied, dass der Gürtel an Lyciles Bauch blieb. Sie telefonierte mit dem Arzt, der keine fünfzehn Minuten später da war. Das Wort vom Kaiserschnitt fiel, Arzt und Hebamme wechselten dabei Blicke. Ich schlug aber erst mal eine Lageänderung vor, und sie half sofort. Wieder wechselten Arzt und Hebamme stumm Blicke.

Nach einer halben Stunde wiederholte sich das Ganze: Sie wollten schneiden, ich wollte, dass Lycile sich bewegte. Sie war jetzt im Vierfüßlerstand auf dem großen Bett und bestand darauf, unter den Wehen das Kreuzbein massiert zu bekommen. Dafür hatte ich ein Öl mitgebracht, das ich in der Handfläche erwärmte, auf ihre Haut fließen ließ und im Uhrzeigersinn erst mit aufgeschmolzenen Händen verteilte, dann mit fester reibendem Handballen. In den Pausen strich ich über ihren Po an den Beinen außen hinunter und atmete dabei laut aus. Arzt und Hebamme beobachteten wortlos, wie Lycile das genoss.

Irgendwann spürte ich einen Druck im Hals: meine Schilddrüse. Ich musste ans Fenster, und weil im Geburtsraum kein Zug entstehen durfte, schickte mich die Hebamme auf den Flur. Mit offenem Mund stand ich in der Winterluft und hyperventilierte, die Kälte war an Stirn und Brust angenehm, und der Sauerstoffmangel baute sich schnell ab. Lycile rief, sie brauche mich. Aber ich rief vom Fenster aus, dass ich nur schnell eine rauchte, nach den Halbzeitständen sehen wollte und gleich käme.

»Sorry«, sagte ich nach der verpassten Wehe, »Samstagnachmittag.«

»Er ist ein bisschen krank«, erklärte Lycile, aber die Schwester überging das. Sie zeigte mir, wie ich unter der Kontraktion mit gegenläufigen Händen auf dem Kreuzbein das Austreiben unterstützen konnte. Auch das war Lycile angenehm. Rays Puls blieb lange akzeptabel. Dann fiel er unter siebzig, und der Arzt musste ihm eine Blutprobe entnehmen. Dazu führte er ein Rohr ein, durch das er Ray mit einer übergroßen Pinzette, die aus einem alten, klamaukigen Horrorfilm hätte stammen können, die Haut an der Fontanelle aufkniff. Das Blut lief in ein Röhrchen aus Glas, und das Erste, was ich von Ray zu sehen bekam, war diese rote Flüssigkeit.

»Gleich wissen wir«, meinte der Arzt, »wie viel Stress er jetzt hat.«

Er verschwand mit dem Röhrchen im Nebenzimmer und kam nach ein paar Minuten sichtbar entspannt zurück: »Wir haben eine Stunde, bevor wir die Geburt entweder beschleunigen müssen oder anhalten, damit er sich erholen kann.«

Erst gegen Ende dieser Stunde fiel der Puls einmal auf sechzig. Wir befanden uns jetzt mitten in der Austreibung, für einen Kaiserschnitt war es zu spät. Der Arzt entschied sich deshalb für die Saugglocke. Ich beobachtete, wie er sie in den Geburtskanal fummelte, zum Glück konnte Lycile das nicht sehen. An der Glocke war ein aufgeschweißter Haken, daran eine Eisenkette, an deren Ende ein Griff. Als die Vakuumpumpe lief und die nächste Wehe kam, stemmte der Arzt seine Füße in den Boden und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an die Kette, aber das half nicht.

Nachdem die Wehe verebbt war, schüttelte er den Kopf: Lycile presse nicht richtig. Sie lag auf dem Rücken, ich saß hinter ihr und hielt ihre Hände. Sie wollte das so. Der Arzt forderte mich auf, ihre Hände in die Kniekehlen zu legen, er sah mir dabei ernst und vielleicht etwas unruhig in die Augen, denn sie hörte ihn nicht mehr. Sie hörte nur noch mich. Ich sagte ihr, dass sie nicht atmen solle, nur nach unten pressen mit aller Kraft und mit den Händen die Knie hochreißen.

»Okay«, sagte sie erschöpft, »mach ich.«

Der Schweiß hatte ihr die Haare an die Stirn geklebt.

»Wenn die Wehe kommt.«

Sie nickte, aber es kam keine Wehe mehr. Im konstanten kräftigen Tuckern der Vakuumpumpe warteten wir. Die Kette war gespannt, wir sahen abwechselnd auf den Pulsschreiber und auf Lycile. Ewige Minuten vergingen. Ich tauschte Blicke erst mit der Hebamme und dann mit dem Arzt, in seinem Gesicht regte sich nichts. Ich misstraute dem Mann, aber dann kam die Wehe, die Hebamme drückte mit beiden, flach auf Lyciles Bauch aufgelegten Händen von oben, der Arzt hatte seine am Eisengriff und stemmte sich mit einem Fuß vom Boden, mit dem anderen vom Bettrahmen ab. Er wirkte nicht unsicher dabei. Ich hielt Lyciles Hände in ihren Kniekehlen fest und zog mit ihr zusammen die Beine nach oben. Als leitete ich irgendeinen Lehrling durch die Handgriffe, die die Bedienung einer Maschine erforderte, sagte ich: »Luft anhalten, Luft ganz anhalten und nur nach unten drücken, nur nach unten rausdrücken.«

»Ja.«

»Nur pressen«, sagte ich mechanisch, während der Arzt aufgeregt rief: »Ja, so, genau so!«

Und dann war die Wehe weg, und ich sah Rays kleinen, runden Kopf, seine geschlossenen Augen, seine Nase, den Mund, der gerade oberhalb der zum Zerreißen um ihn gespannten Schamlippen lag. Lycile wimmerte. Der Arzt nahm den Fuß vom Bettrahmen, stellte die Pumpe ab und fing mit der linken Hand die von Rays Kopf fallende Glocke. Die Hebamme war um Lycile herum und saugte mit einem grünen Schlauch Flüssigkeit aus Rays Nase und Mund. Er wirkte komisch auf mich, bis mir klar wurde, dass er nicht atmete. Ich hatte noch nie einen lebenden Menschen gesehen, der nicht atmet. Dass er lebte, dass er das Absaugen als störend empfand, sah ich dann am Zucken eines Augenlides oder weil er seinen Kopf aus dem Klammergriff befreien wollte, genau kann ich das jetzt nicht mehr sagen. Dann fiel mir ein, dass Lycile nichts sehen konnte.

»Der Kopf ist draußen«, sagte ich also ruhig. »Du hast es gleich geschafft.«

Sie hörte sofort auf zu wimmern. »Ach so, echt?«

Mit der nächsten Wehe kam er ganz raus. Die Nabelschnur war zweimal fest um seinen Hals gewickelt, es sah aus wie eine Strangulation, aber das Gesicht hatte eine gesunde Farbe. Der Arzt war ganz entspannt und stellte fest: »Ah, deshalb!« Wie ein trainierter Artist im Zirkus wirbelte er das neue Leben zweimal herum und legte es in derselben Bewegung auf Lyciles Bauch, was mir trotz aller Vorbereitung einen Stich versetzte, einen Schmerz, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Die Hebamme deckte ihn mit einem Tuch zu, und er hustete, atmete, öffnete die Augen und gab einen schwachen Laut von sich. Außer mir lachten alle.

»Och Gott«, sagte Lycile überfordert, »da bist du ja, mein Kleiner.«

Sie sah Ray an, und Ray sah Lycile auch an, zumindest wirkte es so. Ich habe ja ein Foto davon gemacht, von Lycile und Ray. Später merkte ich, dass es die beiden in dem Moment zeigt, den auch das Bild meiner Mutter festgehalten hatte, das meine Kindheit über in einem roten Rahmen auf dem Fenstersims unserer Küche stand: meine Mutter mit schwarzem Mädchen auf dem Arm, meine Mutter als glückliche Frau. Sie hatte eigene Kinder angeblich nicht bekommen können, und die Adoption war ein langer Weg gewesen. Den Fotoapparat noch in der Hand, beobachtete ich Ray, dann Lycile und wieder Ray und wurde zum ersten Mal von dem feurigen Willen ergriffen, so mit meinem Sohn allein zu sein, wie ich immer mit meiner Mutter hatte allein sein wollen, ohne meine Schwester. Ich wollte Ray jetzt von Lyciles Bauch nehmen, ihn an mich drücken, mich umdrehen und mit kräftigen Schritten den langen Gang vor dem Geburtsraum hinuntergehen. Ich hatte vor Augen, wie ich das erstaunte, ungläubige und paralysierte Rufen der anderen ignorierte oder, sollte die Hebamme hinter mir herlaufen, sie fröhlich wissen ließ, dass ich gleich wieder zurück sei und Lycile Bescheid wisse. Dass ich nur eine Minute mit ihm allein sein wolle! Ich hörte, wie sie unsicher »ach so« sagte, sah mich in Maximaltempo weitergehen, als sie stehen blieb, den Gang hinuntergehen, ich drückte die Schwingtüren auf, die hinter mir die Luft umrührten, stieg mit ihm ins Auto und fuhr davon, unter einem Himmel, der uns gehörte.

»Der Rand geht schnell weg«, sagte die Hebamme.

Mit Hitze im Nacken blickte ich zu ihr auf, in dieses fremde Gesicht, das mich ansah, das unverschämt freundlich war, als ob alles seine Ordnung hätte. Auf meiner Kopfhaut trat Schweiß aus, ich glaubte, dass man die Perlen an den Haarwurzeln sehen müsste, denn ich spürte jede einzelne. Aber sie wies mit dem Kinn auf Rays Hinterkopf, den ich offenbar gemustert hatte: Auf dem Schädel war ein runder Absatz von vielleicht einem Zentimeter Höhe, den die Glocke hinterlassen hatte. In der Mitte war die mit Blut verklebte Wunde.

»Wenn Sie nach Hause gehen«, sagte sie so einfühlsam, dass es auf mich herablassend wirkte, »ist der weg!«

Ich glaube nicht, dass ich darauf geantwortet habe, bin sogar sicher. Sie hielt mir eine Schere hin, und ich kniff die Lider zusammen, als wir kurz Auge in Auge standen. Ich sollte die Nabelschnur durchtrennen. Sie sagte das etwas strenger, und der Anweisung folgte ich, aber ich drückte nicht kräftig genug. Ich habe ihr Lachen noch im Ohr: »Sie müssen sie schon durchschneiden wollen!« Das Gewebe sträubte sich, wie man sich das von einer dicken Sehne vorstellt, einer Achillessehne zum Beispiel. Ich hatte ziemlich niedrigen Blutdruck und kam mir wie ein Eindringling vor, der diese Verbindung für immer zerstört. In meiner Hand blieben der Widerstand der Fasern und ihr widerwilliges Nachgeben unter dem Schnitt gespeichert. Die Hebamme setzte eine blassgelbe Klemme aus Kunststoff auf das lose, blutende Ende der Schnur, nachdem eine hellblaue sich als kaputt erwiesen hatte. Es ist in meiner Hand jetzt noch präsent, als hätte ich eben gerade erst die Schere weggelegt: der Widerstand der Fasern und wie eine nach der anderen nachgab.

»Jetzt sind sie unabhängig voneinander«, meinte die Hebamme bizarr lächelnd und verstaute die Schere irgendwo in der Ordnung der Klinik. Die Reihenfolge der Handgriffe kann ich jetzt nicht mehr genau rekonstruieren, aber man wird mir das wohl nicht glauben. Wahrscheinlich glaubt man mir überhaupt nichts. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist jedenfalls die Aufforderung, mit Ray ins Nachbarzimmer zu gehen. Das Adrenalin musste stark nachgelassen haben, die Stimmen kamen wie durch ein Medium zu mir, als sähe ich nur Mundbewegungen und Körpergesten durch Panzerglas.

»Weil die Plazenta nicht kommt«, sagte die Hebamme und wechselte einen Blick mit dem Arzt. »Da müssen wir jetzt noch mal ran!«

Offenbar reagierte ich nicht gleich. Die Hebamme nahm jedenfalls die aus Lyciles Scheide hängende Nabelschnur und zog daran, als wollte sie mir das Problem demonstrieren. Wie sich zuvor der Arzt mit seinem Körpergewicht an die Eisenkette gehängt hatte, ließ sich nun die Hebamme am losen Ende der Nabelschnur nach hinten fallen, riss ruckartig und erfolglos an der Schnur und sah dabei zu mir. Lycile beobachtete uns ohne Regung.

»Es wird jetzt doch ziemlich blutig«, meinte der Arzt gewollt brüderlich und fasste mich am Oberarm, was mir schmierig vorkam. Sicher stand auch er nur unter dem Einfluss irgendwelcher Stresshormone oder deren jähem Ausbleiben. Auf welche Art er mir zunickte, konnte Lycile so wenig sehen wie die Bettkante zwischen ihren Beinen und den Eimer darunter, der mich an die Hasenschlachtungen meiner Großmutter erinnerte. Man denkt ja selten daran, dass ein Körper vor allem aus Flüssigkeiten besteht. Ich warf Lycile einen möglichst vertrauensvollen Blick zu, der mir zu gelingen schien. Sie erwiderte ihn, und ich überlegte nur kurz und ohne Ergebnis, ob ich ihr Mut machte oder sie mir.

Dann bekam ich Ray in Tücher gehüllt auf den Arm. Er wog weniger als eine Vogelfeder und gab keinen Laut von sich, rollte die Augen hin und her. Man führte mich über sachte schwankenden Boden in den Nebenraum, ein Zimmer mit Bad, wie man es in jedem Hotel findet und in dem die Hebamme uns sofort allein ließ. Ray blieb ganz ruhig. Wir waren im Parterre, und ich hätte einfach aus dem Fenster steigen und zum Wagen gehen können: noch mit ihm auf dem Arm sah ich nach. Das werden sie mir vielleicht als positiv anrechnen, dass nichts geplant war, das muss ich im Verhör unbedingt sagen. Obwohl eine Flucht in dem Moment viel besser gewesen wäre, sie hätte gut geplant sein können, es hätte wohl kaum einen Unfall gegeben, und ich säße nicht in diesem Zimmer, ohne zu wissen, ob ich wenigstens Lycile noch einmal sehe. Ich dachte aber nicht ans Abhauen, ich konnte mir nicht vorstellen, das zu tun, konnte mir nicht wirklich vorstellen, mit der rechten Hand einen Gang einzulegen, die Kupplung kommen zu lassen und leise mit Ray vom Parkplatz zu rollen. Ich legte ihn auf das Doppelbett und betrachtete sein Gesicht. Er blickte erst mich an, dann interessiert um sich und machte langsame Bewegungen mit dem Mund, die aussahen, als schnappte er in Zeitlupe nach etwas. Das war der Saugimpuls, wie mir erst Tage später aufging, als ich ihn und Lycile beobachtete. Ich sprach ihn an, strich mit den Mittelgliedern meiner Finger über seine Wangen und mit meiner Fingerkuppe über seine Handrücken, bis die Schwestern kamen und ihn holten. Er sollte trinken.

Zwei Stunden schlief ich wie tot.

IRGENDWANNhörte ich Lycile reden. Sie stand mit einer mir unbekannten Hebamme drei oder vier Schritte vom Bett weg und trug ein langes weißes Hemd, das hinten offen war. Draußen war es dunkel, und unter meinem verzögerten Wachwerden, einem Auftauchen aus großer Meerestiefe, bemerkte ich erst nach einigen Momenten, dass sie Schmerzen hatte, die sie kaum aushielt. Gebeugt ging sie ins Badezimmer. Man habe ihr eine Spinalanästhesie gegeben, erklärte mir die Schwester, die zur Nachtschicht gekommen war und mit ihrer Ausgeruhtheit, der gesunden Gesichtsfarbe und dem schweißlosen Körpergeruch fremd und beinahe unnatürlich auf mich wirkte.

Vielleicht sei das Steißbein gebrochen, sagte sie zu mir. Aber Lycile konnte laufen. Weil es nicht die Schritte waren, die wehtaten, sagte ich, dass das Steißbein in Ordnung sei. Sie sah mich erstaunt an, und ich erwähnte, dass ich mir mal das Steißbein gebrochen hatte. Sie zog die Brauen hoch, ich winkte ab: »Beim Sport, ist lange her ...«

»Ach so.«

Ich sah wieder zur Badezimmertür, hinter der Lycile auf der Kloschüssel saß. Die Hebamme nickte sich selbst dabei zu, als sie vorschlug: »Am besten mal die Blase entleeren.«

»Du kannst jetzt nicht helfen«, meinte Lycile kurzatmig durch die offene Tür.

Eine zweite neue Hebamme kam dazu, älter als die erste, sie blieb bei uns stehen. Sie seien jetzt erst mal mit Schmerzmitteln, dem Stillen der Blutung, mit Anlegen, Baden und der Erstuntersuchung und so weiter beschäftigt. Dass Ray sofort trank, sei wegen der Immunglobuline wichtig, sagte die jüngere: »Damit er gleich guten Schutz hat.«

Ich nickte, legte mich wieder hin, und obwohl alle noch im Zimmer standen, fiel ich sofort in das Schwarz zurück.

SIE weckten mich in der Dämmerung. Das hellblaue, ins Weiß spielende Licht stand wieder am weit entfernten Himmel, den ich durch die hohen Fenster des alten Backsteinbaus sehen konnte. Ich solle aufstehen, wir könnten nun nach Hause.

Sie habe noch keine Minute Ruhe bekommen, sagte Lycile, die ich im Flur traf, aber man sah es ihr nicht an. »Die ganzen Schmerzmittel«, meinte sie, »wirken jetzt endlich.« Wir umarmten uns, und es fühlte sich täuschend echt an. Dann packte ich unsere Taschen und trug sie in den Wagen.

Draußen war es angenehm frisch, die Luft etwas feucht, es fror nicht mehr. Ich ging noch mal zurück ins Haus, Lycile kam, von der Hebamme gestützt, den Flur entlang. Ich nahm von der zweiten Schwester die Schale, in der Ray schlief, installierte sie auf dem Rücksitz, und Lycile stieg auch hinten ein, wo sie sich vorsichtig hinsetzte.

Ich fragte: »Geht das?«

Sie nickte.

Die Hebamme überprüfte alles, kontrollierte Rays Gurt, und als sie fertig war, hätte ich ihr fast den Streifen gelben Lichts auf dem roten Backstein des Klinikgebäudes gegenüber gezeigt. Die Wolkendecke musste dünn geworden und schließlich aufgegangen sein. Sie achtete aber nur auf Lycile und Ray. Dabei kondensierte ihr Atem vor dem Mund, langsam stieg der Dampf auf und schwebte davon. Sie hatte Ray gebadet und angezogen und löste jetzt ihre Verbindung zu ihm. Ich schlug die Autotür zu.

Kaum ein Mensch war auf den Straßen. Im Wagen sprachen wir nicht, und während die stille Stadt an mir vorbeiglitt, fiel mir der Traum der Nacht wieder ein: Ich hatte geglaubt, dringend aufs Klo zu müssen, und war halb schlafend ins Badezimmer gewankt, wo ich benommen das Wasser laufen ließ und einen unmenschlichen Druck im Darm verspürte. Er wurde immer stärker, wuchs und wuchs, über jedes vorstellbare Maß hinaus. Ich drückte, aber nichts half. Offenbar sollte ich eine Kanonenkugel scheißen, nichts Kleineres, und zu ihrer tödlichen Größe kam, dass jedes Gleitmittel fehlte. Ich verhielt den Druck dann, aus Angst vor Verletzungen, glaubte aber überhaupt nicht, mich so wieder hinlegen zu können. Ich drückte erneut und fürchtete, zerrissen zu werden, bei vollem Bewusstsein. Nach verzweifelten, von Angst gefluteten Versuchen, das Ding herauszupressen, sagte ich mir, dass ich nicht panisch werden dürfe, auf keinen Fall. Dass ich besser wieder schlafen ginge. Dass mein Körper mich schon wecken würde, bevor ich stürbe. Dass er wohl bis morgen die Kugel erweichen würde, dass er Körperflüssigkeiten sammeln und in den Darm senden würde, um mich zu retten, beziehungsweise um sich selbst zu retten. Dass es nur um meinen Körper ging und nicht um mich als Person, nicht um meine Persönlichkeit, war ein riesiger Vorteil, hatte ich im Traum gedacht, denn was sollte gegen meinen Körper sprechen, der noch gebraucht wurde, jetzt mehr denn je? Ich hatte deshalb eine Chance, weiter in ihm sein zu können, und dass mein Geist mal wieder so diszipliniert seine Arbeit tat, selbstständig, hatte mich beruhigt. Ich musste lachen und den Kopf schütteln.

Von hinten fragte Lycile: »Was denn?«

Lieber hätte ich die idiotische Geschichte für mich behalten, sagte aber: »Ich habe geträumt, eine Kanonenkugel scheißen zu müssen.«

Im Rückspiegel sah ich Lycile nicht etwa verdutzt oder entsetzt, sondern grinsend. Sie fragte nicht, ob möglicherweise eine Gesprächstherapie helfen würde gegen diese Verwirrung oder Medikamente. Ich hätte sagen können: Wie wären Elektroschocks, dann eine kleine Geschlechtsumwandlung, dann die Gespräche, alles ein paar Jahre lang bequatschen und zerreden, schließlich die Heirat? Unser Lachen wäre schnell an sein Ende gekommen, wenn wir uns eine Sekunde lang auf meinen Albtraum eingelassen hätten oder ich ihn ganz erzählt hätte, statt nur die Geburtsfantasie zu nennen. Aber so schüttelte Lycile gutmütig den Kopf. Es sei genau wie im Vorbereitungskurs besprochen, sagte sie fröhlich: »Bis zur Angst, zerrissen zu werden und sterben zu müssen.«

»Alles, wie ich’s gesehen habe«, sagte ich ganz verständig.

»Man sieht nur«, sagte sie beim Einbiegen in unsere Straße, »was man weiß.«

Sie sah und wusste aber nichts. Jedenfalls nicht, dass ich wieder schwitzte. Der Schweiß rann mir den Nacken herunter vor Aufregung, und ich wartete auf einen Kommentar von ihr, aber Lycile badete in dem Mitgefühl, das sie in meinem Traum zu erkennen glaubte. Es schmeichelte ihr. Um das Thema zu beenden, konterte ich, ein Parkplatz fast direkt vor dem Haus sei jedenfalls, was ich sähe.

»Wusst’ ich’s doch«, sagte sie, und im Rückspiegel konnte ich beobachten, wie ihr verliebter Blick Ray galt.

Mit dem Geräusch der ratschenden Handbremse in den Ohren, dem Klicken der Gurte, dem Knarren des zu trockenen, weil nie benutzten Scharniers hinten, den beiden nacheinander zuschlagenden Türen und dem Geklimper meiner Schlüssel trug ich ihn eine Minute später neben seiner Mutter her ins Haus und die Treppen hoch. Kein Versuch, noch mal zum Wagen zurückzugehen, Ray wieder auf der Rückbank festzugurten, obwohl das einfach gewesen wäre: Ich hätte etwas vergessen haben oder nicht sicher sein können, ob ich abgeschlossen hatte. Auf der Treppe spielte ich vielleicht mit dem Gedanken, nur um wieder zu einem Nein zu kommen, dann wurde ich abgelenkt, weil Lycile meinte, ich sei wohl außer Form. Ich atmete hörbar. Irgendwann würde es anstrengend sein, hier mit einem Kleinkind zu leben, ohne Fahrstuhl. Darüber hatten wir schon gesprochen.

Im dritten Stock lachte Lycile, sie habe noch nie an einem Tag so viel abgenommen.

»Respekt«, sagte ich, »sieht man dir gar nicht an.«

Sie schlug mir auf den Oberarm.

»Wusstest du, dass immer mehr Frauen ihre Männer schlagen?«

»Wo hast du das denn wieder her?«

»Stand in der Zeitung.«

Sie antwortete nicht, bis wir fast oben waren.

»Wann denn?«

»War’s gestern?«

»Bin ich leider nicht zu gekommen. Aber ich glaube, dass Frauen ihre Männer immer schon geschlagen haben.«

»Ja?«

»Nur hat niemand drüber geredet.«

»Ist ja auch egal.«

Sie seufzte, fand das gar nicht egal und schloss auf. Im Sonnenlicht hinter der Tür tanzte der vertraute Staub, die Dielen knarrten beim Betreten, ich roch die Dämmung oder was immer diesen Geruch ausmachte, der mir auffiel, als kämen wir von einer Weltreise. Ich setzte die Schale mit Ray ab und glaubte noch einmal, in diesem eingerichteten Leben zur Ruhe kommen und die Vergangenheit sich selbst überlassen zu können. Wieso nicht? Und was sollte ich sonst tun? Es würde nur etwas dauern, sagte ich mir, als ich Jacke und Schuhe ausgezogen hatte, die Schale wieder hochnahm und ins Schlafzimmer trug. Lycile legte sich, wie von Arzt und Hebamme befohlen, sofort hin. Ich brachte Frühstück, und später telefonierten wir mit ihren Eltern. Mehrmals wechselte der Apparat zwischen uns hin und her, und einmal hörte ich Lycile zu ihrer Mutter sagen: »Das war schon heftig mit der Plazenta, die holt der Arzt mit der Hand raus.«

AM Mittag kam die Hebamme für das Wochenbett. Wir mussten jetzt Normalität herstellen, und die junge, von Lycile ausgesuchte Frau fand uns »schon mal in bester Ordnung und sehr aufgeräumt«. Das zu sagen fiel ihr nicht schwer, ich hatte sie dabei genau beobachtet. Rays geringes Gewicht war ihre einzige Sorge. Er würde in den ersten zwei Tagen noch abnehmen, dann aber, da war sie sich sicher, zulegen. Ihre Worte unterstützte sie mit jener schaufelnden Kopfbewegung, die ich in der Geburtsnacht schon bei einer der anderen Hebammen beobachtet hatte. Nur war sie dieses Mal stärker und setzte sich als Welle in den Rumpf, ins Becken und die Beine fort.

Im Bad zogen wir ihn unter dem Rotlicht aus. Der Nabel sei gut, fand sie und entfernte die Kompresse, weil er an der Luft abheilen sollte. Sie legte Ray auf den Bauch, was ihm nicht unangenehm war, im Gegenteil: Er mochte das. Mit der flachen Hand strich sie langsam über den Flaum auf dem Rücken, der bald verschwinden würde, und ich machte es ihr nach. Dann drehte sie ihn wieder um. Um mir zu zeigen, wie klein der Magen noch war, stellte sie ihren Daumennagel auf die Kuppe ihres kleinen Fingers: »Wie ein Stecknadelkopf!« Der Bauch wölbe sich dann in ein paar Tagen. Ray beobachtete uns mit seinen großen Augen, manchmal verfolgten seine Pupillen die Bewegung einer Hand. Es könne übrigens sein, dass er mal schiele, sagte sie liebevoll, das sei normal: »Nicht erschrecken!«

Als sie weg war, stand Lycile auf. Jakob kam und hatte seinen Bruder so lange auf dem Arm, bis der protestierte und an die Brust gelegt wurde. Dann begann ich die ersten Fotos zu verschicken. Unter ihnen war auch das Bild von Lycile und Ray direkt nach der Geburt. Ich zeigte es Lycile.

»Sieht so aus, als sähe er dich direkt an.«

»Tut er auch.«

»Kann er gar nicht.«

»Wieso?«

»Neugeborene sehen nur hell und dunkel.«

»Meinst du?«

»Die sehen keine Konturen.«

Sie zuckte mit den Schultern, und ich erklärte, dass das Gehirn erst lernen müsse, einen Bildpunkt der Netzhaut des einen Auges mit dem des anderen in Verbindung zu bringen. Sie wisse das nicht, meinte sie, weshalb ich ausführte, dass anfangs alle Punkte der beiden Netzhäute miteinander kommunizierten und dabei das unschärfste Bild entstünde, das man sich denken könne.

»Aha«, sagte sie abwesend.

»Sehen lernen bedeutet, die eine richtige Verbindung zu trainieren und alle anderen zu kappen«, sagte ich.

Sie sah auf das Foto.

»Lernen«, erklärte ich, »ist von Anfang an vor allem verlernen.«

Sie blickte weiter auf das Foto, und ich fragte mich, ob sie mir überhaupt zuhörte.

»Er sieht dich aber wirklich direkt an«, sagte ich dann, »als würde er dich erkennen. Er möchte dich gern sehen.«

Lycile lächelte, und ich widmete mich wieder dem Versand der Bilder. Eines zeigte Ray groß und in die Decke gewickelt, es war sehr friedlich. Manche Freunde meldeten sich sofort zurück, und fast alle meinten, Ray sähe mir wahnsinnig ähnlich. Niemand präzisierte das.

»Warum sagt niemand, dass er dir ähnlich sieht?«, fragte ich Lycile. Sie zuckte mit den Schultern.

Am Abend schlief sie mit Ray an der Brust ein. Ich saß in der Küche am Tisch und las einen Roman: Sara tanzt von Erwin Koch. Jakob war wieder bei seiner Mutter, Nadja wohnt nur vier Straßen weg, so war die Pendelei für ihn weniger nervig. Das hofften wir zumindest. Für den nächsten Tag war geplant, dass alle drei zu uns kämen, natürlich wollte auch Merle Ray sehen. Ich hatte mit ihr telefoniert und ihr erklärt, dass sie nun einen Halbbruder habe, dass das aber kein halber Bruder sei, sondern ein ganzer und nicht wirklich anders als ihr Bruder. Nur eben kleiner. »Wie klein denn«, hatte sie gefragt, »wie eine Ameise so klein?«, und ich hatte gesagt, nein, so klein auch wieder nicht, sie würde ihn ja morgen auf den Arm nehmen können. Mit Nadja einigte ich mich darauf, das Wort Halbbruder nicht mehr zu benutzen.

ALS Vivian aus New York anrief, blätterte ich gerade um. Ich lief in den Flur, wo der Apparat auf der Station lag. Zuerst hörte ich nur das Rauschen und Knacken des Ferngesprächs, das es trotz aller Technik jetzt wieder gibt. Dann meldete Vivian sich, und ihre Stimme war eindeutig. Sie rief nicht wegen der Fotos von Ray an. Ich wusste gleich, dass Nelly tot war.

»Vor zwei Wochen schon.«

Vivian war gerade aus Paris zurückgekommen, sie hatte ihre Mutter besucht und zuhause nur die Nachricht von Zero, Nellys Freund, vorgefunden: Herzinfarkt, tagelanges Koma, Tod am 23. Dezember. Viel mehr wusste sie nicht. Wo Nellys Leichnam jetzt war, musste sie erst noch herausfinden. Ich bedankte mich für ihren Anruf und wollte auflegen, da schlug sie einen helleren Ton an: »Hey, Glückwunsch zum kleinen Mann!« Sie konnte kaum glauben, dass Ray direkt nach der Geburt die Augen schon so weit aufgehabt haben sollte. Das sei wirklich ganz außergewöhnlich. Ich stimmte zu, bedankte mich wieder. Sie mochte den Namen sehr: Ray, und ich erzählte, dass wir ihn schon ausgesucht hatten, bevor es geklappt hatte. Dass wir keine Minute darüber debattieren mussten und dass manche hier einen englischen Namen komisch fänden.

»Ach was.«

»Seine Mutter hat aber schon eine französischen Vornamen, weil ihre Mutter so frankophil ist: Lycile.«

Sie lachte kurz, weil ihre Mutter ebenfalls Lycile hieß, wir verabschiedeten uns, und ich legte den Hörer wieder auf die Station. Wir würden in den kommenden Tagen öfter telefonieren und mussten uns jetzt nicht zu trösten versuchen. Was soll man sagen, wenn jemand gestorben ist?

Ich setzte mich wieder an den Küchentisch, wo mein Buch noch aufgeschlagen im Lichtkegel der Lampe lag, las aber nicht. Ob Nelly froh war, fragte ich mich. Ich dachte an die weiße Haut ihrer Arme, ihres Bauches und ihrer Schenkel und an ihren Bären, den sie jetzt nicht mehr durch die Lower East Side schaukelte oder im Spiegel ansah. Mit dem sie nicht mehr drohte, den sie nicht mehr anbieten und hüten würde. Dann fiel mir die Mail ein. Ich stand auf und rief Vivian zurück, um zu fragen, an welchem Tag der Herzinfarkt gewesen sei.

Sie rechnete kurz: »Am 17., wenn ich es richtig verstehe. Wieso?«

Ob Nelly ihre Emails regelmäßig gelesen habe.

Das glaubte Vivian schon.

»Das wäre ja normal, oder?«

Vivian fand das auch. »Obwohl Normalität eigentlich keine auf Nelly anwendbare Kategorie ist. Jedenfalls ist mir nicht aufgefallen, dass sie irgendwann keine mehr gelesen hat.«

»Okay.«

Sie fragte: »Wieso?«

»Wollte ich nur wissen.«

»Ach so.«

Ich bedankte mich ein weiteres Mal und sagte, es spiele jetzt eh keine Rolle mehr.

Vivian sagte: »Nein.«

Nachdem ich wieder aufgelegt hatte, ging ich ins Arbeitszimmer und entsperrte den Rechner, um in meinem Ausgangsordner nachzusehen. Meine letzte Zeile an Nelly hatte ich am 17. geschrieben, in Berlin war es Mittag gewesen, in New York also noch dunkel. Ich musste sie nicht lesen, ich kannte die Zeile.

Als ich durch den Flur zur Küche ging, sah ich Lycile im Nachthemd dastehen, ein Glas Wasser in der Hand. Der Lichtkegel der Lampe fiel seitlich über sie. Ihr Bauch und die Innenfläche eines Oberschenkels waren beleuchtet, die Falten ihres Hemdes warfen Schatten und betonten damit den Schritt. Ihre Brüste, ihr Hals, ihr Gesicht, die rechte Hand waren im Halbdunkel. Sie rieb sich die Augen und fragte nach der Uhrzeit. Es war zehn.

»Wer war das?«

»Vivian.«

»Was mit Nelly?«

Ich nickte, sagte: »tot«, setzte mich. Meine Hände legte ich auf den Küchentisch, in den Lichtkreis der Lampe. Lycile stellte sich neben mich und kraulte mir den Nacken, wie sie es an unserem ersten gemeinsam verbrachten Tag getan hatte, im Auto zwischen Mojave und California City. Sechs Jahre ist das her. Ich hielt damals die Augen auf der verstaubten Straße und die Hände am Lenkrad, und sie spürte, wie sehr ich das mochte, ihre Hand an meinem Nacken. Ich spürte einzelne Fingerkuppen auf der Haut fahren, sie nahm ein Ohrläppchen zwischen zwei Finger, rieb es und seufzte. Das erregte mich.

»Ich muss wieder ins Bett«, sagte Lycile. »Stehen geht gar nicht.«

Wir gingen ins Schlafzimmer. Ray hatten wir aus der Schale genommen und aufs Bett gelegt. Lange schauten wir uns seinen kleinen Kopf an. Ich neben ihm mit dem Oberkörper auf dem Bett, die Knie auf dem Boden, Lycile auf der anderen Seite. Gegenseitig zeigten wir uns, wie klein seine Hände waren, die Finger dünn wie Streichhölzer. Dass die Arme nur bis oben zum Kopf reichten, wenn er sie strecken würde. Er hatte ein rundes, gut proportioniertes Gesicht, und der Rand von der Saugglocke war tatsächlich nicht mehr zu sehen. Zu dem geschwungenen Nacken hätte meine Großmutter gesagt: Der wird ein Tänzer, bei dem Hinterkopf! Mit einer Fingerkuppe fuhr ich an dem Schwung entlang, und es sah so aus, als atmete er dabei einmal stärker ein.

»Obwohl man es miterlebt, kann man es nicht glauben, oder?«

Sie wischte sich eine Träne weg. Ich verkniff mir eine Bemerkung darüber, wie irrational der Mensch ist und wie rational die Versicherungen Ray eine Lebenserwartung von hundertdrei Jahren zuschrieben. Ich rechnete: 2110! Mit dem faltigen Gesicht und dem ringförmigen Haaransatz sah er alt aus, etwa wie man sich zurzeit einen Fünfundsechzigjährigen vorstellte. Wie die Welt sein würde, was die Medizin in fünfundsechzig Jahren könnte und was die Ernährungswissenschaft, wusste ich nicht.

»Ich muss jetzt wirklich schlafen«, sagte Lycile.

Über Ray hinweg küsste ich sie und richtete mich dann auf. Die ersten Nächte wollte ich im Arbeitszimmer verbringen, um am Tag möglichst ausgeruht und ausgleichend zu sein: Mein Schlaf ist noch immer sehr leicht. Bevor ich nach hinten ging, machte ich in der Küche die Lichter aus.

Im Büro nahm ich den Katalog von Nellys erster Ausstellung aus dem Regal: New York Times. Ich blätterte von hinten hinein und las im begleitenden Text einer Kunsthistorikerin: »In dieser Werkgruppe entwirft Nele Black mit ihren Figuren eine Welt voller Komik und moralischer Komplexität. Sie überschüttet uns mit Gutmütigkeit und Brutalität und badet uns in unserem Mitgefühl. Blacks Fähigkeit, ihrer Personage mit höchster Ökonomie Leben einzuhauchen, macht jedes Bild unvergleichlich klar und zwingend, wobei sie immer unprätentiös und stark bleibt. Das Feld ihrer Zitate reicht vom Holocaust über ausgestorbene Sprachen bis zur Kulturgeschichte des Bagels.«

»Bei Nele Black«, stand da schließlich, »ist jedes Bild eine eindringliche und nach allen Seiten offene Erzählung, jeder Quadratmillimeter ist hoch spannend.«

In der Mitte faltete ich das Blatt mit dem Hauptwerk auf und sah mir seit Jahren zum ersten Mal die fünf jungen Menschen an, die um einen Tisch sitzen, darüber eine nackte Glühbirne, deren Licht sich in den Wimpern der Figuren fängt. Wie sie die lateinischen, kyrillischen und hebräischen Buchstaben in Händen halten und mit ihnen hantieren wie Kartenspieler. Einige der Zeichen sind auf dem Tisch verstreut. Die drei Männer und zwei Frauen rauchen und trinken, einer schiebt eine Linie Koks zurecht. In der Halsschlagader eines Mannes steckt eine Spritze, auf dem Fußboden liegt ein eisernes Hakenkreuz, auf einem Stuhl Geldscheine. Die Gesichter sind gerötet. Alles birst vor freudiger körperlicher Präsenz und Vergeudung. Unten rechts stand der Titel: Wetten, ich weiß, wie du stirbst? Mit mal nach links, mal nach rechts gelegtem Kopf formte ich aus den diversen Buchstaben die Worte: Kälte, Unfall, Mikrobe, Überdosis. Nelly hatte es mir einmal gezeigt.

Ich faltete den Bogen zusammen und blätterte im Katalog weiter nach vorne. Da waren die schönen Umarmungen zweier Frauen, Ilka eins bis sieben. Und das Bild mit dem muskulösen, nackten, erschrockenen Mann. Sein Schwanz ist halb erigiert, und er steckt eine Pistole in die Muschi einer Frau, die auf dem Sofa liegt, Nelly etwas ähnlich sieht und einen verzückten Ausdruck hat. Titel: Warum schießt du nicht?

Im Einband fand ich ihre Handschrift, deren Krakeligkeit mich erschreckte: »Für Marko, der die dunklen Kräfte versteht und doch ein heller Punkt in schwarzen Zeiten ist. Mit Dank für alles und Liebe für dich, Nelly.« Ich musste lächeln, was mir falsch vorkam, stellte den Katalog zurück und tat dann zum ersten Mal seit Vivians Anruf etwas, das ich nicht hätte tun sollen: Ich nahm das Schneeglas, das Nelly mir damals nach Berlin mitgebracht hatte, aus dem Schrank. Anstelle eines Märchenschlosses oder einer Seejungfrau in weißen Styroporkügelchen steht ein Foto von ihr in der Mitte, aufrecht wie ein Gefahrenschild. Ich schüttelte das Glas, Nelly wurde von bunten Metallplättchen umstürmt. Das Bild, das mir so vertraut war, blieb dabei sichtbar: Sie lächelt. Sie neigt den Kopf leicht nach links, die langen roten Haare fallen wie eine Nonnenhaube um ihre Schultern und lassen die Haut noch weißer wirken. Ihre sehnigen Arme hat sie locker vor der Brust verschränkt. Sie trägt einen dunklen Pullover. Man sieht nicht, wie klein ihre Brust tatsächlich war. Ich drehte das Glas um. Auf der Rückseite des Fotos war ein Ausschnitt des New Yorker Stadtplans mit den Linien der Subway abgebildet, durch den Sturm im Glas las ich: Bleecker Street, Broadway, Lafayette Street, Lower East Side, Second Avenue, Delancey Street. Nellys Revier. Nach Jahren, die das Glas im Schrank verbracht hatte, stellte ich es auf meinen Schreibtisch, neben den Bildschirm. Die bunten Plättchen setzten sich langsam auf dem Boden ab, und ich hatte keine Angst mehr vor ihr. Sie würde mir jetzt bei der Arbeit zusehen, in den kommenden Tagen oder Wochen auch beim Schlafen. Wo habe ich das gelesen, dass man einen Fehler immer machen darf, aber keinen zweiten?

IN der Nacht habe ich nicht geträumt. Um acht wachte ich auf, nichts denkend, dann war es eine Minute nach acht. Wie erwartet hatte Lycile mich nicht geweckt, die erste Nacht schlafen die meisten Neugeborenen durch. Wegen des dämmernden Lichts zog ich die Bettdecke vor die Augen, und mein Körpergeruch erinnerte mich daran, dass ich mich im Halbschlaf befriedigt hatte. Den Geruch des getrockneten Samens mochte ich, diese Vergewisserung, noch da zu sein. Ich mischte nur wenig frische Luft zu. In vier Minuten würde der Wecker zum zweiten Mal klingeln, man stellt ja immer gerade wirkende Zahlen ein. Ruhig liegend, hatte ich zuerst Vivians herbe, angenehm sachliche Stimme mit der Nachricht im Ohr, dann die weibliche von Nelly. Aus ihr sprach immer der ganze Körper, und sie konnte jederzeit ins Zittrige kippen. Ihre unruhigen Hände hatte ich vor Augen und ihre Freude, als ich einmal festgestellt hatte, dass Freundschaft wachsen muss, während man den Krieg nur zu erklären braucht. Sie war mir für das Bonmot quasi um den Hals gefallen, am Telefon.

Vom Bett aus kam ich an den Fenstergriff, wenn ich mich reckte. Ich öffnete es weit. Mit der frischen Luft in meiner Lunge hatte ich auch Streulicht in den Augen, die ich zukniff, bis die Decke wieder halb über dem Kopf lag. Ich überlegte, wann ich den Kontakt zu Nelly verloren hatte. Als sie sich das letzte Mal bei mir gemeldet hatte, im Winter 2005, brauchte sie Geld. Ich hatte ihr geschrieben, dass ich in der Villa meines Verlegers in Bellegra wohnte, eine Autostunde von Rom. Hottinger wählte sehr penibel aus, wen er dort in den Luxus schickte, damit er ein Buch mit nach Hause brachte. Das wusste Nelly. Eng war unser Kontakt aber schon da nicht mehr gewesen, denn ich erzählte ihr nicht mehr alles, ließ das Wichtige weg, und wenn man das Wichtige weglässt, erzählt man sich gar nichts mehr.

Von meinem Besuch bei dem Neuropsychologen wusste sie zum Beispiel nichts. Sie wusste nichts von den Hirntests, nicht, dass er mich einen zwölfseitigen Fragebogen hatte ausfüllen lassen, und nicht, wie er mir mitgeteilt hatte, dass ich einen Roman natürlich nicht mehr schreiben könne. Auch Hottinger wusste davon nichts, und sogar Lycile gegenüber hatte ich nur Andeutungen gemacht. Nelly hatte jedenfalls gedacht: Marko ist wieder gesund, er arbeitet, er hat Aufträge der Kanzlei, sein Verleger hat ihm sein Haus in Italien zur Verfügung gestellt und wartet auf das Manuskript. Weil ich wollte, dass mein Leben strahlte, hatte ich ihr von allem so berichtet, als ob es das bereits täte.