Das L(i)eben lernen - Irina Meerling - E-Book

Das L(i)eben lernen E-Book

Irina Meerling

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Beschreibung

Seit seinem unfreiwilligen Coming-out und der Flucht in den verschlafenen Vorort ist Ricos Leben schlimmer als vorher. Während körperliche und seelische Gewalt seinen Schulalltag bestimmen, sind es zu Hause die Psychospielchen seiner Eltern. Freundschaft und Geborgenheit sind ihm fremd, die Hoffnung auf Liebe und Leidenschaft längst begraben. Als ihm dann noch Phil, der zur Clique seiner schlimmsten Mobber gehört, als Nachhilfeschüler aufs Auge gedrückt wird, bricht für ihn die Welt vollends zusammen. Wie soll er mit jemandem zusammen lernen, vor dem er sich fürchtet? Und was soll dieses unangenehm schöne Ziepen in seinem Bauch, immer wenn Phil in der Nähe ist? Plötzlich ist da ein Drang in ihm, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen. Und für Rico beginnt eine Zeit voll neuer Erfahrungen und Abenteuer. Kann er inmitten des Strudels aus Verlangen, Hass und Angst doch noch Vertrauen und Liebe finden? Eine New Adult Gay Romance

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Seitenzahl: 671

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Irina Meerling

Das L(i)eben lernen

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2023

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Milat_00 – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-587-9

ISBN 978-3-96089-588-6 (ebook)

Inhalt:

Seit seinem unfreiwilligen Coming-out und der Flucht in den verschlafenen Vorort ist Ricos Leben schlimmer als vorher. Während körperliche und seelische Gewalt seinen Schulalltag bestimmen, sind es zu Hause die Psychospielchen seiner Eltern. Freundschaft und Geborgenheit sind ihm fremd, die Hoffnung auf Liebe und Leidenschaft längst begraben.

Als ihm dann noch Phil, der zur Clique seiner schlimmsten Mobber gehört, als Nachhilfeschüler aufs Auge gedrückt wird, bricht für ihn die Welt vollends zusammen. Wie soll er mit jemandem zusammen lernen, vor dem er sich fürchtet? Und was soll dieses unangenehm schöne Ziepen in seinem Bauch, immer wenn Phil in der Nähe ist?

Plötzlich ist da ein Drang in ihm, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen. Und für Rico beginnt eine Zeit voll neuer Erfahrugnen und Abenteuer. Kann er inmitten des Strudels aus Verlangen, Hass und Angst doch noch Vertrauen und Liebe finden?

Widmung

Für Mike

Du bist die treueste Seele, die ich je kennenlernen durfte. Der Mensch, der immer da war und alles über mich wusste – wissen durfte.

Ohne dich ist mir die Welt fremd. Du fehlst.

Bis irgendwann mal.

Kapitel 1

Die letzte Stunde

Das Klassenzimmer stand vollkommen leer, als Rico es am frühen Nachmittag betrat und sich vorzeitig aus dem überfüllten Pausenhof dorthin stahl. Er brauchte ein wenig Ruhe. Bevor die letzte Schulstunde beginnen konnte, musste er unbedingt Kraft tanken, um diese zu überstehen.

Die letzte Stunde. Endlich. Gleich könnte er nach Hause gehen, in sein Zimmer, die Welt aussperren und den heutigen Tag vergessen. Ihn einfach aus dem Gedächtnis radieren und verdrängen.

Wieder einmal.

Tür zu.

Erinnerungen löschen.

Seufzend ließ Rico den mit Erde verdreckten Rucksack neben seinen Tisch in der letzten Reihe fallen, sank auf den Stuhl und legte seinen Kopf in die Hände.

Die letzte Stunde. Dann musste er bloß noch den anstehenden Heimweg hinter sich bringen. Es graute ihm jetzt schon davor. Wie viele würden heute auf ihn warten? Und wo? Direkt vor der Schule oder erst nahe seinem Haus, wenn er sich fast in Sicherheit glaubte? Würde Rico ihnen erneut so glimpflich davonkommen wie gerade eben? Oder sollte er für den heutigen Tag genug Glück gehabt haben und wieder so hart drangenommen werden wie gestern; mit mehr Tritten und Schlägen, als er zählen konnte?

Viel zu bald würde er es herausfinden, denn es läutete bereits zum Englischunterricht.

Unter lautem Stimmengewirr fluteten die restlichen Schüler der elften Jahrgangsstufe das Klassenzimmer und Rico stellte zu seinem Bedauern fest, dass unter ihnen auch die sonst üblichen Schulschwänzer waren. Meist hielten diese es nicht bis zum tatsächlichen Unterrichtsende aus und verschwanden während der Mittagspause. Aber anders heute. Heute schienen sie Ricos Laune komplett ruinieren zu wollen. Seine Laune, seinen Tag und einfach alles für den Moment. Eine Mission, bei der sie offensichtlich keine Zeit verlieren wollten.

„Hierher hat sich der Feigling also verkrochen!“, tönte einer aus der Schwänzer-Clique, sobald er ihn entdeckt hatte. Es war Marco Kornfelder, ein bulliger Typ mit kurzen blonden Krauselocken und der ausdruckslosen Miene eines viertklassigen Schauspielers. Er war sozusagen der Anführer dieses Packs und erst gestern war Rico ihm zuletzt in die Hände gefallen. Die grünblauen Flecken auf seinem Rücken mussten inzwischen sichtbar sein. „Wir haben dich schon überall gesucht! Dass du dich einfach so verdrückst, ist ziemlich unverschämt von dir, findest du nicht?“

„Die Abreibung können wir der Schwuchtel auch nachher noch verpassen“, entgegnete Chris Mai, der Rico ein vielsagendes, widerwärtiges Grinsen aus seinem kantigen und scheinbar dauerroten Gesicht schenkte. „Hab ein wenig Geduld, Marco.“

Nachher. Damit meinte der Glatzschädel zweifellos den Nachhauseweg. Dort würden sie ihr Werk zu Ende bringen – zumindest für heute. Denn auf ein tatsächliches Ende der Quälereien hoffte Rico schon lange nicht mehr. Die Torturen gehörten längst zu einem gewöhnlichen Tag in seinem Leben.

Seit dem Umzug seiner Familie hatte sich Ricos Welt in eine Hölle auf Erden verwandelt, vor der er nicht einmal zu Hause wirklich verschont blieb. Er fühlte sich gefangen. Umzingelt von Menschen, die ihn verachteten oder ihn ständig verbiegen wollten. Umgeben von dicken Mauern, die jeden Tag höher zu werden schienen. Wie oft wünschte er sich, nicht vor zwei Jahren in diesen Vorort gezogen zu sein! In dem kleinen Dorf, in dem er aufgewachsen war, hatten ihn die Leute von klein auf gekannt und die meisten hatten ihn sogar gemocht. Sie hatten ihn genommen, wie er war, denn er war einer von ihnen gewesen.

Hier hingegen hatten alle von jetzt auf gleich nur einen merkwürdigen Jungen in den Klassenraum treten sehen, der zusammengeschlagen gehörte, weil er nicht in das typische Bild eines damals Fünfzehnjährigen gepasst hatte. Er, der schweigsame Sonderling mit seinem dunkelbraunen Haar, dessen Wellen schier nicht zu bändigen waren, und den – wie er selbst fand – für einen Jungen viel zu vollen Lippen und den viel zu großen, fast schon schwarzen Augen. All diese Dinge, für die eine Menge Mädchen morden würde, hatte Rico von seinem spanischen Vater geerbt. Nur von dessen Temperament hatte er dummerweise nichts abbekommen. Hätte er dieses in die Wiege gelegt bekommen, würde Rico sich die ständigen Schikanen vermutlich nicht gefallen lassen und sich wehren. Doch dafür fehlte ihm schlichtweg der Mumm.

Also hatten die einen in seiner damals neuen Schule beschlossen, ihre eigene Männlichkeit unter Beweis zu stellen, indem sie Rico regelmäßig verprügelten – ihre Fäuste begegneten seinem Körper vermutlich öfter, als sie mit Wasser und Seife in Berührung kamen –, während die anderen ihn einfach ignorierten. Sehr intensiv ignorierten. Sie sprachen nicht nur nicht mit ihm; sie würdigten ihn keines Blickes, erkannten seine Existenz quasi nicht an und trugen somit effektiv dazu bei, dass Rico sich manchmal so fühlte, als sei sein gesamtes Dasein ein einziger Fehler.

Betrübt ließ er den Blick zur Zimmertür schweifen und hoffte inständig, die Lehrerin möge bald auftauchen. Erst dann würde er sich sicher sein können, dass ihn vorerst niemand mehr anrühren würde. Aber statt der Lehrkraft erschienen im Türrahmen bloß drei weitere Schüler, mit denen Rico nichts Gutes verband: Niels Lauder, der härter zuschlagen konnte, als sein schmales, sommersprossiges Gesicht ahnen ließ; Greg Tümper, ein recht klein geratener, dunkelhaariger Mitläufer ohne eigene Meinung; und Phil Miller.

Obwohl Letzterer ebenfalls Teil der Gewalt liebenden Schwänzer-Clique war, gehörte er zu denjenigen, die Rico für gewöhnlich nicht beachteten. Somit hatte Phil zwar das Potenzial, der Harmloseste von ihnen zu sein, nur wusste Rico manchmal nicht, was schlimmer war: die körperliche oder die seelische Gewalt, der er ausgesetzt war.

Dieser Zwiespalt allerdings verflüchtigte sich in der Sekunde, in der Rico bemerkte, wie Phil mit angespannter Miene geradewegs auf ihn zumarschiert kam.

Panik erfasste ihn. Was hatte er vor? Er würde doch wohl nicht …? Im Klassenzimmer? Sofort wünschte Rico sich, einfach unsichtbar zu werden.

Sein Wunsch wurde nicht erhört.

Blankes Entsetzen überkam ihn, als zwei geballte Fäuste mit voller Wucht auf die Platte seines Tisches donnerten und diese vibrieren ließen. Phils Körper bebte vor Wut, während er Rico leise zuzischte: „Ich soll dir ausrichten, dass wir nach der Stunde zum Rektor sollen.“ Seine graublauen Augen funkelten zornig und die Zähne hinter seinen zusammengepressten Lippen knirschten regelrecht.

Rico wagte nicht nachzufragen, weswegen sie zum Schulleiter bestellt worden waren. Sein Herz raste wie wild und ließ nicht mehr als ein knappes Kopfnicken zu.

Erst als Phil nach Überbringung dieser Nachricht an seinen eigenen Platz zurückging, fiel Rico auf, dass er sogar die Luft angehalten hatte. Beschämt atmete er aus. Er verabscheute sich selbst so sehr für seine Feigheit! Vielleicht hatte er den ganzen Hass, den er tagtäglich zu spüren bekam, ja auch schlichtweg verdient?

Es läutete ein weiteres Mal und bald darauf begann der Unterricht. Ricos Gedanken aber kreisten um das bevorstehende Gespräch. Was sollten sie beim Direktor? Sie hatten nicht das Geringste miteinander zu tun, waren das komplette Gegenbild des jeweils anderen. Phil war beliebt, wollte und konnte jedes Mädchen haben und fand doch niemanden so toll wie sich selbst. Wahrscheinlich kannte er nicht einmal Ricos richtigen Namen. Und Rico war nicht sonderlich scharf darauf, dies zu ändern.

~ * ~

Im Eiltempo begab sich Rico durch die überfüllten Korridore in Richtung des Direktorbüros. Die üblichen Sprüche, die von allen Seiten auf ihn herabprasselten, ignorierte er. Mit ihnen allerdings auch etwas anderes.

„Alter, hörst du schlecht?“

Jemand packte ihn am Arm und ließ Rico aufschrecken.

„Wir sollen ins Zimmer der Vertrauenslehrerin, da wartet auch der Rektor“, sagte Phil offenbar zum wiederholten Mal und funkelte ihn gereizt an, löste seinen festen Griff aber sogleich.

Ein zäher Klumpen bildete sich in Ricos Kehle. Als wäre eine Unterhaltung mit dem Direktor nicht bereits schlimm genug! Wenn sich nun auch noch die Vertrauenslehrerin einschaltete, konnte das nichts Gutes bedeuten. Die Frau war für ihre unkonventionellen Methoden bekannt. Einmal soll sie den Eltern eines ihrer Schützlinge sogar geraten haben, ihr Kind solle eine Kampfsportart erlernen, um seinem Mobber mit Muskelkraft entgegentreten zu können. Nicht, dass Rico diesen Vorschlag generell verkehrt fand, aber er zeigte eben auch, dass bei dem bevorstehenden Gespräch wirklich nichts undenkbar war.

Auf ihrem Weg durch die Korridore sprach keiner von ihnen ein Wort und das war Rico nur recht. Die unzähligen Blicke, die ihm und Phil auf den Metern zum Büro zugeworfen wurden, bereiteten ihm ohnehin ein flaues Unbehagen im Bauch. Es fühlte sich an, als hätte sich die gesamte Schülerschaft in den schmalen, mit Schließfächern gesäumten Gängen versammelt, um sie beide anzustarren. Dabei war es Ricos ständige Devise, möglichst unbemerkt durch den Tag zu kommen.

Unwillkürlich zog er die Schultern hoch und senkte seinen Kopf. Plötzlich erschienen ihm die Schutz bietenden Wände des Büros geradezu verlockend.

Im Zimmer der Vertrauenslehrerin erwartete man sie bereits. Es war ein überschaubarer Raum, der dank einer großzügigen und vorhanglosen Fensterfront gegenüber der Tür lichtdurchflutet war. Aber das machte die Anwesenheit wohl nicht nur für Rico keineswegs angenehmer. Auch Phil wirkte angespannt. Mal schob er seine Hände tief in die Taschen seiner lässig geschnittenen Jeans und dann wieder fuhr er sich mehrmals durch das kurze aschblonde Haar. Ob er wohl bereits ahnte, was sie erwartete?

Der Direktor, Herr Johannson, stand nahe dem massiven Schreibtisch aus Buchenholz und schaute gerade einen dünnen Aktenordner durch, den er aus einem der vielen deckenhohen Regale haben musste. Im Gegensatz zu Frau Weiß sah er unfreundlich, unzufrieden und beinahe schon feindselig von den Papieren auf, als Rico und Phil eintraten.

„Schön, dass ihr da seid“, begrüßte die Vertrauenslehrerin sie hingegen mit einem Lächeln auf den rot geschminkten Lippen und rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht, ohne sich jedoch die Mühe zu machen, sich vom Schreibtisch zu erheben. „Setzt euch bitte.“

Stumm nahmen die zwei auf den einzig beiden freien Stühlen gegenüber der Lehrerin Platz und Rico fragte sich, ob die harte Polsterung nur ihm das Gefühl gab, auf einer Anklagebank zu sitzen.

„Ihr wisst wahrscheinlich gar nicht, weswegen ihr hier seid?“

„Nein“, antwortete Phil für Rico wahrheitsgemäß mit. Er mochte im ersten Moment zwar gelassen und sogar ein wenig desinteressiert klingen, aber Rico hatte ihn längst durchschaut. Phils Blick huschte unruhig durch das Zimmer, als fände er keinen Ort, an dem er verweilen konnte. So viel also zu seiner Coolness!

„Nun …“ Jetzt lächelte Frau Weiß noch ein bisschen breiter und Rico fragte sich, ob ihre Wangen bei so viel Fröhlichkeit nicht manchmal krampfen mussten. „Phil, wir haben uns vor den Sommerferien schon einmal gesprochen. Du erinnerst dich, worum es damals ging?“

„Bin ja nicht dement“, entgegnete der Angesprochene und Rico verwettete seinen Hintern darauf, dass es damals um dessen Noten gegangen sein musste. Letztes Jahr schon war der blonde Schönling nur mit Ach und Krach durch das Schuljahr gestolpert, das war allseits bekannt. Ob es aber daran gelegen hatte, dass er die Hälfte des Unterrichts verpasst hatte oder ob er schlichtweg zu dämlich war, wusste Rico nicht.

„Es ist so, Phil: Deine Leistungen haben sich kaum gebessert. Du machst Fortschritte, ja, und das Schuljahr hat natürlich auch erst begonnen, aber wir alle sind der festen Überzeugung, dass du mehr für die Schule und somit auch für dich selbst tun kannst.“

Ich nicht, dachte Rico genervt und fragte sich wieder, was er hier zu suchen hatte. Seine Schulleistungen waren mehr als in Ordnung. Schließlich war sein Privatleben so erbärmlich und fad, dass er Zeit zum Lernen im Übermaß hatte.

„Herr Johannson und ich haben uns mit deinen Lehrern zusammengesetzt und gemeinsam beschlossen, es wäre das Beste, wenn du Hilfe bekommen würdest.“

Ja, zusammen mit seinen Kumpels, von einem Seelenklempner, kommentierte Rico stumm und staunte nicht schlecht, als Frau Weiß sich mit ihren nachfolgenden Worten an ihn wandte.

„An diesem Punkt kommst du ins Spiel, Rico. Ich möchte nicht ewig um den heißen Brei herumreden, also fasse ich mich kurz: Du bist ein hervorragender Schüler und wirst Phil deshalb ab sofort Nachhilfe in allen nötigen Fächern geben, dessen Kurse ihr gemeinsam belegt.“

„Was!?“, riefen beide gleichzeitig aus und Phil sprang so abrupt auf, dass der Stuhl scheppernd zu Boden krachte.

„Das ist Bullshit!“, keifte er. „Das haben Sie überhaupt nicht zu entscheiden! Ich bin kein Grundschüler, der das mit sich machen lässt! Vergessen Sie’s!“

„Mit solch einer Reaktion haben wir gerechnet“, gestand die unbeeindruckte, weiterhin lächelnde Frau. „Und natürlich hat es auch einen Grund, dass ausgerechnet ihr zwei miteinander arbeiten sollt. Uns ist bekannt, dass ihr nicht die besten Freunde seid. Es ist blanker Wahnsinn, welch Krieg hier herrscht.“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Regelmäßig gibt es Zwischenfälle. Selbst wenn diese nie gemeldet werden, sind wir darüber in Kenntnis.“

„Ich habe ihn nie angerührt!“, wehrte sich Phil. „Nie!“

Rico spürte, wie die Wut in seinem Inneren zu kochen begann. Das war so demütigend! Er saß doch direkt hier, wieso zur Hölle also redeten sie in der dritten Person von ihm?

„Nein, du hattest nie direkt etwas damit zu tun, das stimmt. Und gerade aus diesem Grund ist das Ganze perfekt! Du hast einen großen Freundeskreis, Phil. Wenn du dich gut mit Rico zu verstehen lernst, ist das gut für euch beide. Ihr beide hättet etwas davon. Es ist brillant!“

„Das können Sie nicht von mir verlangen“, entgegnete nun auch Rico entrüstet. „Da spiel ich nicht mit. Ich habe das gar nicht nötig. Tut mir leid, aber er wird sich einen anderen Lehrer suchen müssen.“

„Schluss jetzt!“, meldete sich plötzlich der Direktor lauthals zu Wort und ließ alle drei zusammenzucken. „Es reicht mit diesem höflichen Getue! Keinem von euch muss diese Entscheidung gefallen! Sie steht längst fest und wer sich nicht daran hält, wird schon sehen, was er davon hat! Es liegt allein an euch, wie lange ihr in der Sache drinhängt: Sollten sich Millers Noten nicht bessern und bekomme ich Wind davon, dass es zwischen euch Reibereien gibt, ziehen wir das bis zu eurem Abi durch! Ich bin nicht so verständnisvoll wie Frau Weiß und will es auch gar nicht sein. Also reißt euch verdammt noch mal zusammen!“

Den Rest der Standpauke bekam Rico bloß durch einen Schleier aus Wut, Verzweiflung und wirren Gedankengängen mit. Er biss die Zähne zusammen, starrte blind auf den Schreibtisch vor sich und hoffte, dass die Belehrung bald vorbei sein würde. Warum musste ausgerechnet er dafür büßen, dass dieser Möchtegern-Adonis zu dumm für die Schule war? Rico hatte echt keine Lust darauf, mit Spinnern wie ihm verkuppelt zu werden! Lieber würde er weiterhin der ewige Außenseiter bleiben, als dass er sich während seiner Freizeit in Gefahr begab.

Es vergingen gefühlte Stunden, bis Rico – mit schmerzendem Gebiss – und Phil den Raum verlassen durften. Ohne Frage waren beide wütend auf die Lehrerschaft und aufeinander. Doch sollten sie nicht einmal die Gelegenheit dazu bekommen, ihre Wut zu zügeln, denn bevor die Bürotür hinter ihnen zufiel, brüllte der Schulleiter ihnen eine letzte Anweisung hinterher.

„Sucht euch einen leer stehenden Raum und fangt gleich mit der Nachhilfe an, damit ich ein Auge auf euch habe! Ich will nicht, dass das Ganze schon jetzt in eine Katastrophe ausartet!“

„So ein Arschloch!“, fluchte Phil und steuerte an Rico vorbei auf das nächstbeste Klassenzimmer zu. Es stand leer, so wie die meisten Räume zu dieser Uhrzeit. „Warum hast du dich nicht quergestellt? Du bist schließlich der Lehrerliebling!“

Ohne sich zu verteidigen, folgte Rico ihm ins Zimmer. Was hätte er schon sagen sollen?

Phil ließ die Klassentür unnötig laut ins Schloss und seinen Ranzen genauso lieblos zu Boden fallen, ehe er an einem der vielen Doppeltische Platz nahm.

Dann schwiegen sie.

Der Beginn einer ganz tollen Freundschaft, überlegte Rico bitter, während er den Blick über die orangefarbenen Vorhänge und die schlecht gewischte Wandtafel wandern ließ. Über ihnen flackerte das kalte Licht der Neonröhren, was auf seltsame Weise die in der Luft hängende Anspannung widerspiegelte.

Vielleicht würden zumindest Marco und dessen Leute nicht die nötige Geduld aufbringen, um auf Rico zu warten, und waren verschwunden, bevor sie mit der Nachhilfe fertig waren? Das wäre immerhin eine kleine Wiedergutmachung für diese ganze Tortur.

„Und wie genau sollst du mir etwas beibringen, wenn du nicht mal reden kannst?“, fragte Phil gereizt und nahm die Aufgabe auf sich, als Erster etwas zu sagen.

„Als ob du zuhören würdest“, entgegnete Rico und musste sich sehr darum bemühen, dem anderen nicht einfach seinen schweren Rucksack ins Gesicht zu schmettern.

„Hab gar keine andere Wahl“, meinte Phil im nächsten Moment und etwas, das fast ein bisschen Ähnlichkeit mit einem belustigten Lächeln hatte, zuckte über sein Gesicht, als er hinzufügte: „Du darfst dich übrigens ruhig hinsetzen.“

Ein Anflug von Scham überkam Rico. Er hatte nicht bemerkt, wie sein Körper offenbar unwillkürlich die Distanz zu Phil suchte.

Räuspernd ließ er sich auf den Stuhl neben seinem aufgezwungenen Schüler sinken und atmete tief durch. „Wir könnten Mathe machen. Die Hausaufgaben, damit wir zu Hause weniger zu tun haben.“ Ohne auf eine Zustimmung zu warten, holte er das entsprechende Buch aus seinem Ranzen. Dabei ließ ihn das Gefühl nicht los, als beobachtete Phil ihn missbilligend von der Seite. Rico fühlte sich in seiner Gegenwart unglaublich unwohl. Denn wo er genau wusste, was von den anderen zu erwarten war, schien ihm Phil völlig unberechenbar zu sein.

„Glotz nicht so, als würde ich deinen Kopf jeden Moment gegen den Tisch knallen“, meinte dieser plötzlich verärgert. Ganz offensichtlich war ihm Ricos Anspannung nicht entgangen. „Ich habe auch Besseres zu tun, als mich von dir unterrichten zu lassen, also lass uns das einfach schnell hinter uns bringen, ja?“

Peinlich berührt und gleichzeitig verärgert über diesen dämlichen Spruch wartete Rico auf ein Startsignal, das schließlich in Form eines genervten Seufzers ertönte. Phil legte seinen Schreibblock auf den Tisch und zog das Buch an sich heran, um einen Blick auf die aufgeschlagene Seite zu werfen. Die Falten, die sich dabei auf seiner Stirn bildeten, verrieten, dass der aktuelle Stoff ein hartes Stück Arbeit für ihn werden würde. Und somit auch für Rico.

In den darauffolgenden Minuten redeten sie nur die nötigsten Worte miteinander. Sie bearbeiteten die zu erledigenden Aufgaben und Rico musste feststellen, dass Phil gar nicht so dumm war, wie es im Unterricht immer den Anschein machte. In Wahrheit hatte er hauptsächlich ein Problem damit, die richtigen Ansätze der Rechnungen zu finden. Hatte er diese Hürde erst einmal gemeistert, ging der Rest zwar schleppend, aber nicht völlig desolat voran.

„Nein, die Frage ist, ob die zwei Vektoren linear abhängig sind“, wiederholte Rico gerade zum gefühlt hundertsten Mal und schob seinen Stuhl näher an Phil heran, um besser ins Buch sehen zu können. Doch rückte er sogleich wieder weg, als ihm einfiel, wen er da neben sich sitzen hatte.

„Stopp, ey, Halbzeit“, rief Phil in diesem Augenblick gequält aus und stand auf. „Ich hol mir ’nen Kaffee. Willst du auch einen?“

„Ähm, ja, gern“, antwortete Rico ein wenig verwirrt und sah ihn dabei absichtlich nicht an. Sicherlich war es umgekehrt nicht anders. Er war Luft für Phil. Weniger noch. Denn Luft brauchte man schließlich zum Atmen. Rico aber könnte in irgendeinem Straßengraben im Sterben liegen, ohne dass ihn je jemand vermissen würde.

Betrübt schaute er seinem Mitschüler nach, der in den Flur hinaus verschwand. Wie sollte er die kommenden Wochen und womöglich sogar Monate nur überstehen? Er mochte Phil nicht, denn er war genau wie die anderen. Dass Phil jetzt versuchte, ihn wie ein menschliches Wesen zu behandeln, lag allein daran, dass er sich weiteren Ärger mit dem Direktor ersparen wollte. Das wusste Rico und bildete sich deshalb nichts auf die plötzliche Zuvorkommenheit ein.

Wütend auf sich selbst, verpasste Rico sich eine mentale Ohrfeige. Es kümmerte ihn nicht! Weder Phils Verhalten noch die Gründe dafür! Genau genommen war er doch ganz froh darüber, unsichtbar zu sein. Das hielt ihm weitere Probleme vom Hals. Davon hatte er ohnehin genug, und das neuste kam gerade wieder vom Kaffeeautomaten zurück.

„Hier, nimm. Schmeckt aber scheußlich. Ich bin übrigens für eine kurze Pause. Mir raucht der Kopf.“

Rico nickte und nahm den Becher mit lauwarmer Brühe entgegen. Ob er das Zeug bedenkenlos trinken konnte? Nicht, dass er reingespuckt hatte … Unsicher stellte er das Getränk beiseite.

„Also“, begann Phil hörbar schwermütig und setzte sich. Er klang geradezu so, als ließe er sich dazu herab, mit Rico zu sprechen. „Wie machen wir das jetzt? Wechseln wir uns ab? Erst komme ich zu dir nach Hause und dann du zu mir? Ich hab nämlich echt null Bock, hier unter Beobachtung des Rektors zu stehen. Bin dem grad über den Weg gelaufen; der lauert da draußen auf uns.“

Rico zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“ Zwar wollte er weder sich in Phils vier Wänden vorfinden, noch umgekehrt, aber unter Beobachtung zu stehen, war vermutlich auch keine Option.

Stille. Lichtflackern.

„Fuck!“ Lautstark knallte Phil seine Handflächen auf die Tischplatte. „Ich weiß gar nicht, was der Mist bringen soll! Nachhilfe kann mir jeder geben! Und gute Freunde werden wir auch nie! Du stellst dich doch lieber tot und starrst Luftlöcher.“

„Was soll ich denn bitte machen?“, geiferte Rico. „Über das Wetter sprechen? Oder darüber, was für ein schönes Zimmer das ist? Ich bin nicht hier, um dich zu unterhalten, sondern um dir etwas beizubringen. Und das übrigens auch nicht freiwillig.“

Phil schnaubte verächtlich. „Kein Wunder, dass dich alle seltsam finden.“

„Was?!“ Musste er sich diese Frechheit wirklich gefallen lassen?

„Der halbe Vorort sagt, dass etwas nicht mit dir stimmt. Und sie sagen, du lässt dich absichtlich verprügeln, um zumindest ein bisschen Körperkontakt mit Kerlen zu haben. Was ich übrigens für Blödsinn halte“, fügte Phil hastig hinzu. „Du bist zwar nicht ganz knusper und bestimmt auch …“

„Du spinnst doch!“, fuhr Rico ihn entsetzt an. Sein Herz schlug mit jedem Wort schneller. „Muss ich mir das von jemandem wie dir anhören? Wenn hier einer nicht ganz knusper ist, dann ja wohl du!“

„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Phil sofort und stellte seinen noch fast vollen Becher etwas zu energisch auf dem Tisch ab, wobei das beschriebene Arbeitsblatt überschwemmt wurde.

„Ach, komm! Du und deine Kumpels seid ein Witz! Loser, die nichts mit sich anzufangen wissen und nie etwas erreichen werden, sich aber für die größten Macker aller Zeiten halten! Und die ganzen Idioten um euch herum kaufen euch die Masche auch noch ab!“

„Neidisch?“

„Oh, natürlich!“, höhnte Rico. „Was bitte bist du denn noch und was bleibt dir, wenn man dir deine Angeber-Klamotten wegnimmt? Und die Mädels und die dämlichen Sprüche?“

„Mein riesengroßer Schwanz“, scherzte Phil, der von dieser aufbrausenden Gefühlsregung offenbar nur belustigt war.

„Ho, ja, aber klar! Dann kannst du sicherlich beweisen, was du da angeblich zu bieten hast?“, spottete Rico, ohne erst über seine Worte nachzudenken, und kassierte dafür eine ebenso hämische Antwort:

„War ja klar, dass du den gleich sehen willst. Aber keine Sorge: Sobald ich es nötig habe, ausgerechnet dir etwas zu beweisen, erfährst du es als Erster. Versprochen.“

Das hatte gesessen.

Rico spürte, wie seine Ohren rot anliefen, und verfluchte sie für diesen Verrat. Hätte er doch einfach wie üblich die Klappe gehalten, statt sich dermaßen zu blamieren! Wie hatte dieser Kerl ihn überhaupt so dermaßen aus seiner Haut fahren lassen können? Das sah Rico gar nicht ähnlich!

Mit zusammengebissenen Zähnen sah er schweigend ins Nichts, und auch Phil gab keinen Ton von sich. Anders als Rico jedoch schien er weder wütend noch peinlich berührt. Schmunzelnd kritzelte er auf dem Arbeitsblatt herum und schien darauf zu warten, dass Rico sich beruhigte.

„Können wir dann jetzt langsam weitermachen oder willst du noch ein bisschen Spannung in dein Leben bringen und dich noch etwas länger aufregen?“, fragte Phil schließlich, als Rico auch nach Minuten nicht aus seiner Starre erwachte. „Ich habe heute schließlich noch was vor.“

„Ganz genau, du wirst das hier nämlich abschreiben, wenn ich weg bin“, entgegnete Rico und deutete auf das befleckte Blatt.

„Glaubst du wirklich, du könntest mir Hausaufgaben erteilen?“ Ungehalten lachte Phil auf. „Vergiss es!“

„Du hast deinen Kaffee darauf verschüttet!“

„Spiel dich jetzt bloß nicht so auf, nur weil du in Verlegenheit gebracht wurdest!“

„Schwachsinn“, wehrte Rico sich und wusste, dass er log. „Als ob mich interessieren würde, was du von mir hältst.“

„Natürlich tut es das“, meinte Phil beißend und legte einen seiner arroganten Blicke auf, die so typisch für ihn waren. „Bist bestimmt sogar scharf auf mich.“

„Was?!“ Rico schrie inzwischen fast schon. Die brennende Röte seiner Ohren hatte sich über sein ganzes Gesicht ausgebreitet. „Hast du sie noch alle?“

„Sorry, aber dein Verhalten spricht Bände. Du stehst auf mich und fühlst dich jetzt ertappt und rastest deshalb so aus.“

Rico erhob sich so ruckartig von seinem Stuhl, dass er auch noch seinen eigenen Kaffee auf dem Tisch verschüttete. „Auf wen ich stehe, geht dich einen feuchten Dreck an! Aber lass mich dir eins sagen: Du bist es sicher nicht!“ Er schnappte sich seinen Rucksack und stürmte zur Tür hinaus. Irgendwo hinter sich hörte er noch den aufgebrachten Direktor rufen, aber Scham und Wut trieben ihn weiter den Korridor entlang.

Kapitel 2

Der perfekte Sohn

Die unterschiedlichsten Gefühle waren in ihm am Brodeln, als Rico über den Schulhof eilte. Was bildete dieser Sohn eines Lackaffen sich eigentlich ein? Der hielt sich ja für so unwiderstehlich! Aber nicht jeder schmolz bei seinem Anblick dahin! Er war überhaupt nicht Ricos Typ!

„Da ist er ja endlich!“

„Na, das wurde aber auch höchste Zeit!“

„Wo hast du gesteckt, Schwuchtel?“

Rico wurde aus seinen Gedanken gerissen und erstarrte.

Bitte nicht. Nicht auch das noch. Bitte nicht heute. Bitte nicht jetzt.

„Hast uns aber ganz schön lange warten lassen“, beschwerte sich Marco, der ihn zusammen mit seinen Kumpels nahe dem Schultor abpasste. „Hat man dich wieder im Mädchenklo eingesperrt? Wir wollten grad nach Hause, aber jetzt bist du ja da.“ Unter dem hyänenartigen Gelächter von Niels und Chris trat er vor. „Wir haben uns Folgendes überlegt: Um der Sache neuen Schwung einzuhauchen, werden wir dir zehn Sekunden Vorsprung geben. Du kannst versuchen wegzurennen oder dich wie ein Mann verhalten und die Prügel gleich kassieren.“

Übelkeit stieg in Rico hoch. Eine neue Art der Demütigung. Es hörte nie auf. Rico hatte nicht einmal die Chance, sich an die Quälereien zu gewöhnen, um sie mit abgestumpften Gefühlen über sich ergehen zu lassen. Denn immer wieder kamen neue Erniedrigungen hinzu, die ihn noch mehr Leid lehrten und seiner Seele noch mehr Schmerz zufügten.

„Also?“ Chris ballte die Fäuste und ließ seine Finger laut knacken.

Regungslos blieb Rico stehen. Er war vielleicht weder ein Muskelpaket noch ein Ass im Sport, aber rennen konnte er durchaus schnell. Mit einer gehörigen Portion Glück könnte er die Truppe abhängen, zumal diese unpraktischen Baggy Hosen ihnen das Laufen gar nicht so einfach machen dürften. Aber sollte er wirklich wie ein Feigling wegrennen? Selbst wenn ihm das die heutigen Schläge ersparen würde, so wären die Konsequenzen doch bloß zusätzliche Häme.

Schwer schluckend sah Rico ihnen entgegen.

„Unfassbar, der bleibt!“ Niels brach in schallendes Gelächter aus und schüttelte ungläubig seinen roten Lockenkopf, wobei die Steinchen seines Tunnels im Ohr ebenso blitzten wie die Bosheit in seinen schmalen Augen. „Bravo, Schwuchtel!“

„Er ist nur vor Angst gelähmt“, meinte Chris und fügte grinsend hinzu: „Nicht ohne Grund.“

„Genug geplaudert!“

Vollkommen gelassen kam Marco immer näher. Jeder seiner Schritte trieb Rico den Puls in die Höhe. Gleich war es so weit. Gleich würden sie sich alle auf ihn stürzen. Hoffentlich beeilten sie sich.

Bereit, den ersten Faustschlag, den ersten Tritt über sich ergehen zu lassen, atmete Rico tief durch. Er wollte gerade seinen Rucksack zu Boden sinken lassen, als Marco ihn auch schon am Kragen packte und irgendwohin zerrte. Vermutlich wollten sie ihn nicht mitten auf dem Schulgelände fertigmachen, wo ein zufällig vorbeikommender Lehrer sie entdecken könnte.

„Hier lang, Missgeburt!“

Rico wurde in Richtung der Gebüsche gezerrt, die den kleinen Tischtennisplatz vom restlichen Hof abgrenzten. Dort würde sie zu dieser Tageszeit garantiert niemand stören, das wusste er nur zu gut. Er stolperte Marcos schnellen Schritten hinterher und verfluchte seine eigene Entscheidung gegen die ihm zuvor angebotene Flucht, als plötzlich ein schwarzer BMW von der Straße abbog und direkt neben ihm und den anderen zum Stehen kam.

Die Scheibe glitt hinunter und der Fahrer lehnte sich heraus. Das mehr als selbstbewusste Lächeln kannte Rico nur zu gut, und trotz der verspiegelten Sonnenbrille wusste er auch, wie die Augen des Mannes in diesen Sekunden vor Verachtung funkelten.

„Möchtest du mich deinen Freunden vorstellen, Ricardo?“, fragte er und tat so, als würde er sich eine Haarsträhne zurechtlegen. Dabei war sein volles schwarzes Haar wie immer nicht nur mit höchster Präzision frisiert, sondern auch mit Tonnen von Stylingprodukten unwettersicher gemacht worden.

„Ein andermal vielleicht“, meinte Chris und Marco tätschelte spottend Ricos Kopf. „Unser Rico hier und wir haben noch etwas vor!“

„Daraus wird nichts, fürchte ich“, entgegnete der Fahrer und stieg aus dem Wagen. „Lasst ihn los.“ Breitbeinig baute er sich vor Rico und den anderen auf – eine Haltung, die Marco und seine Jungs offenbar ins Grübeln brachte.

„Dein Glück, dass du jetzt auch noch einen Babysitter hast“, zischte er in Ricos Ohr und schubste ihn von sich.

Unter den Blicken seiner Peiniger marschierte Rico wortlos zu dem BMW und nahm als Beifahrer Platz, während auch sein Fahrer sich wieder hinters Steuer setzte.

„Wie es aussieht, kam ich gerade rechtzeitig, hm, kleiner Bruder?“

„Ich wäre auch allein klargekommen, Nevio“, behauptete Rico und richtete seinen Blick starr auf das Echtholzarmaturenbrett. Nicht auszumalen, was für ein Nachspiel diese Rettung haben würde.

„Ja sicher!“ Nevio lenkte das Auto zurück auf die Straße. „Wie ein kleines Mädchen dazustehen und dich nicht einmal zu wehren, nennst du also klarkommen? Ehrlich, Rico, reiß dich zusammen und sei ein Mann! Wenn du nur wüsstest, was für ein Kopfzerbrechen du unseren Eltern bereitest. Sie machen sich schreckliche Sorgen um dich. Was soll nur aus dir werden? Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Willst du dich immer so erniedrigen lassen?“

Rico schnaubte verächtlich. Na klar, als ob es seine Eltern kümmerte, wie es ihm ging! Sie sind es schließlich erst gewesen, die ihn in diese Hölle gebracht hatten. Damals hatten sie ganz gewiss nicht in seinem Interesse gehandelt, sondern allein in ihrem eigenen. Hauptsache raus aus dem Dorf.

„Du hast doch gar keine Ahnung“, murmelte er und verschränkte seine Arme vor der Brust. Nevio wusste nichts über ihn. Nichts. Er lebte sein perfektes Leben und war im Gegensatz zu Rico schon immer der perfekte Sohn gewesen.

„Ich habe mehr Ahnung, als du denkst. Mutter heult sich jedes Wochenende am Telefon bei mir aus und erzählt mir, wie schwer du dich damit tust, ein anständiges Leben zu führen.“

Dazu sagte Rico nichts mehr. Er hatte es leid, dasselbe Gespräch wieder und wieder über sich ergehen zu lassen. Es hörte ihm ohnehin keiner zu. Dass er einst ein mehr als anständiges Leben geführt hatte und glücklich gewesen war, wollten weder seine Eltern noch sein Bruder wahrhaben.

Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis der Wagen endlich in die von akkuraten Blumenbeeten gesäumte Einfahrt einbog und vor der Garage hielt.

„Warum bist du eigentlich hier?“

Sie betraten das schmucke Einfamilienhaus und begaben sich gleich in die großzügige Küche. Ihre Eltern waren noch auf der Arbeit, also war es auch heute Ricos Aufgabe, das Essen vorzubereiten.

„Ich besuche euch. Oder ist das etwa verboten? Außerdem habe ich große Neuigkeiten! Aber damit warten wir lieber, bis unsere Eltern da sind.“

Kann es kaum erwarten, dachte Rico ironisch. Bestimmt würden die großen Neuigkeiten seines Bruders wiederum Stress und Streitigkeiten für ihn bedeuten. Das war schon immer so gewesen. Machte Nevio etwas nach Geschmack ihrer Eltern, durfte sich Rico stets vorwerfen lassen, dass er auch so toll und erfolgreich und beliebt sein könnte.

~ * ~

Für einen Freitag kamen Ricos Eltern ungewohnt spät von der Arbeit. Vermutlich war in der Kanzlei die Hölle los gewesen und dementsprechend wortkarg fiel die Begrüßung aus, als Rico ihnen die Eingangstür öffnete. Mit erschöpften Gesichtern gingen sie an ihm vorbei und geradewegs weiter ins Esszimmer, wo Nevio bereits ungeduldig am Tisch saß.

Schlagartig schwenkte die Stimmung um.

Mit heller Freude begrüßten und umarmten sie Ricos älteren Bruder. Seine Mutter drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange und trocknete sogar ihre tränenbenetzten Augen. Kein Außenstehender würde je glauben, dass sie einander vor gerade einmal zwei Wochen zuletzt gesehen hatten.

„Das ist ja mal eine wundervolle Überraschung“, meinte Ricos Vater, während alle am Tisch Platz nahmen, um mit dem Abendessen zu beginnen. „So kann das Wochenende starten! Wann bist du angekommen?“

„Gerade rechtzeitig, würde ich behaupten.“ Nevio warf einen kurzen Blick in Ricos Richtung, der sofort den Kopf schüttelte, doch wie üblich ignorierte Nevio sein Bitten und fuhr fort: „Ich habe Rico von der Schule abgeholt und, nun ja, offenbar platzte ich dabei mitten in einen heftigen Streit oder so. Das Übliche, ihr wisst schon. Jedenfalls kam ich im richtigen Augenblick.“

„Nicht schon wieder!“ Fassungslos schüttelte sein Vater den Kopf und schob sich ein Stückchen Steak in den Mund, was ihn keineswegs am Weiterreden hinderte. „Verdammt, Sohn, wie lange soll das so weitergehen? Sollen wir dich wieder auf eine andere Schule schicken? Oder am besten gleich auf ein Internat? Ist es das, was du willst?“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je die Schule wechseln wollte“, konterte Rico mit zusammengebissenen Zähnen. Er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht die Stimme zu heben. „Auf der alten ging es mir durchaus gut.“

„Du weißt, dass es sein musste“, sagte seine Mutter hektisch, vermutlich um Ricos Vater zuvorzukommen, der zweifellos zu brüllen beginnen und die von ihr geliebte Tischidylle vollends zerstören würde. „Schließlich hast du dir dort alles verbaut mit deinem … deinem Verhalten. Du hättest dort keine Zukunft haben können.“

Über diesen Blödsinn konnte er nur verächtlich schnauben, worauf Nevio entrüstet einging. „Du solltest dankbar dafür sein, dass unsere Eltern alles für uns tun. Stattdessen führst du dich wie ein trotziger Bengel auf. Wenn du dich nur ein bisschen zusammenreißen würdest, könntest du vom Prügelknaben zum beliebtesten Typen der Jahrgangsstufe werden! Schau dich an, die Mädchen würden auf dich fliegen, wenn du endlich diese Pennerklamotten gegen anständige Kleidung eintauschen würdest. Warum machst du nichts aus dir?“

„So wie du?“ Freudlos lachte Rico auf. „Wenn ich so aufgetakelt daherkomme wie du, dann ist ohnehin die ganze Tarnung hinüber. Die würden Schlange stehen, um mich zu vermöbeln. Und übrigens gefallen mir meine – wie du sie nennst – Pennerklamotten.“ Außerdem halfen die zerrissenen Jeans und schlichten Shirts dabei, in der Menge unsichtbar zu sein.

„Also, ich hatte jedenfalls noch nie die Probleme, die du hast“, erwiderte Nevio und straffte sein schwarzes Hemd, das ihm zugegebenermaßen sehr gut stand. „Vielleicht brauchst du ja einfach wieder ein Mädchen. Dann hören auch diese Gerüchte auf.“

Es sind keine Gerüchte!, schrie Rico innerlich. Zum Teufel, wann würde seine Familie endlich das verstehen, was jeder im Vorort längst begriffen hatte!?

„Bist du nicht hier, um uns irgendwelche tollen Neuigkeiten zu erzählen?“, murmelte er erinnernd, um die Aufmerksamkeit zurück auf Nevio zu lenken. Ein Plan, der wie so oft fruchtete.

„Neuigkeiten?“ Ihre Mutter bekam sofort große Augen. Schließlich waren Neuigkeiten von ihrem älteren Sohn immer gute Neuigkeiten.

„Ja, und zwar richtig große!“ Nevio räusperte sich und konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. „Dass der alte Franklin in den Ruhestand geht, habe ich euch ja schon vor Längerem gesagt. Und jetzt steht auch fest, wer sein Nachfolger wird!“

„Du lieber Himmel!“ Seine Mutter schlug sich die Hände vor den Mund. „Heißt das …?“

„Ganz genau: Ich übernehme die Firma!“

Voller Stolz schlug sein Vater ein Mal kräftig auf die Tischplatte. „Das ist mein Junge!“

Und auch Rico empfand Stolz für ihn, die ständigen Konflikte hin oder her. „Glückwunsch, Bruder. Du hast es dir wirklich verdient.“ Nevio arbeitete mit viel Herz und Verstand für ein kleines IT-Unternehmen. Wann immer es die Zeit erlaubte, tüftelte er an innovativen Ideen, um das Unternehmen weiter voranzutreiben. Sicher verdiente diese Chance niemand mehr als Ricos Bruder.

„Schon bald wird eine große Feier für Franklin und mich steigen und ihr seid natürlich alle eingeladen! Bringt ruhig noch jemanden mit; je mehr kommen, desto besser.“

Wieder weinte Ricos Mutter Freudentränen und für den Rest des Abends gab es kein anderes Thema mehr als Nevio.

Für gewöhnlich hatte Rico nichts dagegen, wenn er nicht im Mittelpunkt stand und auf ihn eingeredet wurde. Im Laufe der folgenden Stunden jedoch sank seine Stimmung von Minute zu Minute ins Bodenlose. Es war keineswegs so, als freue er sich nicht für seinen Bruder, denn das tat er. Aber sobald das Gespräch auf dessen Partnerin Eslem kam, von der die gesamte Familie vollends begeistert war, spürte Rico eine beinahe unerträgliche Last auf seinem Herzen. Denn niemals würden Ricos Eltern seine Partnerwahl gutheißen. Sie würden sich niemals so für ihn mitfreuen, wie sie es bei Nevio taten. Im Gegenteil; vermutlich würde jeder Einzelne von ihnen alles dafür geben, dass Rico und sein zukünftiger Freund schnellstmöglich wieder getrennte Wege gingen – dem Ruf der Familie wegen. Vielleicht würden sie ihn sogar vor ein Ultimatum stellen: sie oder Ricos Partner. Aber nie, niemals, würden sie wie jetzt beisammen sitzen und ihm sagen, wie glücklich er sie machte und wie unheimlich stolz sie auf ihn waren.

Niemals.

~ * ~

Nachdem sich Nevio zur späten Stunde auf den Heimweg begeben hatte – natürlich nicht, ohne vorher gefühlt hundert Mal versprechen zu müssen, bei seinem nächsten Besuch Eslem mitzubringen –, verschwand Rico in seinem Zimmer.

Die Tür versperrt, schmiss er sich auf das Bett und starrte ins Nichts. Längst war die Sonne untergegangen. Der große Raum lag in angenehmer Dunkelheit. Bloß die Umrisse der Möbel waren zu erkennen. Die des Schreibtisches unter dem Fenster und die der Schrankkombination diesem gegenüber. Von den beschrifteten und bemalten Zimmerwänden war bei Nacht nichts zu sehen. Aber allein schon zu wissen, dass sie ihn umgaben, tröstete Rico. Sein Zimmer war ihm heilig. Wo er sich in der Welt da draußen unwohl fühlte und sich nirgends einordnen konnte, war dies hier sein Reich. Der Platz, an dem er sich auslebte und frei war. Sich entfaltete. Sich nicht in eine Schablone zwängen lassen musste.

Nur konnte auch sein Zufluchtsort ihm nicht dabei helfen, alles zu vergessen. Die harten Wochen oder gar Monate, die er irgendwie an Phils Seite überstehen musste. Die stets neuen Demütigungen, die sich Marco und dessen Clique einfallen ließen und sehr bald an Rico ausprobieren würden. Die nicht enden wollenden Streitereien mit seiner Familie und die meist erfolgreichen Versuche, ihn zu verbiegen.

Schwer seufzend zerrte sich Rico Shirt und Jeans vom Leib, wobei ihm schmerzlich bewusst wurde, dass die blauen Flecken auf seinem Rücken wohl flächendeckender waren, als er bislang vermutet hatte.

Er legte sich unter seine weiche Bettdecke und schloss die Augen, versuchte an nichts zu denken. Nicht an seine Probleme. Nicht an den Wunsch, getröstet zu werden.

Fast automatisch begann Rico, seinen Bauch zu streicheln. Eine sanfte Berührung, die schon so lange nur er selbst sich schenkte. Er glitt über seine Haut. Ein schönes Gefühl. Ein seltenes und schmerzfreies.

Langsam wanderten seine Finger weiter hinunter, erreichten den Bund seiner Boxershorts und schoben sich darunter. Sofort beschleunigte sich Ricos Atem, als er seine intime Zone erreichte. Wie immer war sie glattrasiert und für jede noch so unscheinbare Berührung empfänglich. Bereits jetzt strömte sein Blut Richtung Süden und er wurde hart.

Die Finger zu einem Ring geformt, fuhr Rico einige Male an seiner Erektion auf und ab und ließ sie wachsen. Schon bald drückte sie gegen den Stoff der Shorts, die Rico daraufhin ein wenig hinabstreifte. Mit einem wohligen Seufzer umfasste er seine Hoden und massierte sie zärtlich. Der vorsichtige Druck fühlte sich unglaublich gut an. Winzige Funken prickelten in seinem Lendenbereich und unwillkürlich stellte er sich vor, es wäre nicht seine eigene Hand, die ihn verwöhnte. In seiner Fantasie war es eine fremde Hand, die ihn liebkoste. Die eines anderen Mannes, stark und so sanft zugleich. Der alleinige Gedanke daran ließ Rico den eben noch verhaltenen Funkenregen zu Kopf steigen. Sein Puls schoss in die Höhe. Die Vorstellung, auf diese Art von einem Mann berührt zu werden, brachte ihn leise zum Stöhnen. Er stelle sich vor, wie eine tiefe Stimme seinen Namen hauchte … Wie ein Mund ihn fordernd küsste … Wie seine Härte aufreizend gerieben wurde …

Immer lauter rauschte das Blut in Ricos Ohren, bis seine Finger und seine Fantasie ihn in den Orgasmus trieben.

Kapitel 3

Ein schlechter Eindruck

Die morgendliche Dusche am darauffolgenden Montag fiel für Ricos Geschmack eindeutig zu kurz aus. Er war fast zwanzig Minuten zu spät aus den Federn gekommen und so war im Badezimmer nur Zeit für das Schnellprogramm. Das Frühstück würde sogar ganz ausfallen müssen, ganz egal, wie laut sein Magen auch protestieren mochte.

Eilig stieg Rico aus der gläsernen Kabine und rubbelte seinen Körper mit einem Handtuch trocken. Dann griff er zum Föhn und stellte das Gebläse auf die höchste Stufe.

Während die heiße Luft ihm das Haar zerzauste und Ricos Kopfhaut allmählich zu brennen begann, starrte er unablässig auf die Badezimmeruhr in Form eines Bullauges, die an einem Haken neben der Tür hing. Sekunden- und Minutenzeiger lieferten sich ein Rennen ab. Und auf Ricos stummes Flehen hin schienen sie ihren Takt sogar noch zu beschleunigen.

„Verdammt!“, knurrte er und warf den Föhn achtlos in die Schublade unter dem Waschbecken zurück. Der Bus kam in weniger als zehn Minuten und zur Haltestelle brauchte er mindestens sieben!

Dieser dämliche Phil! Das war alles seine Schuld! Hätte er Rico am Freitag nicht so durcheinandergebracht, wäre er nicht ohne sein Fahrrad davongestürmt! Er wäre dann auch nicht Marco und seinen debilen, verhaltensgestörten Kumpels in die Arme gelaufen und ebenso wenig von Nevio bloßgestellt worden. Und natürlich wäre er jetzt auch nicht auf den Bus angewiesen, sondern könnte sich wie gewohnt auf sein Rad schwingen und in aller Ruhe losradeln.

Erneut fluchend zog Rico sich an und sprintete in den Flur, wo er in seine Schuhe schlüpfte, seinen Rucksack über die Schultern warf und die Haustür aufriss.

„Kannst es wohl kaum erwarten, mich wiederzusehen.“

Rico blieb perplex im Türrahmen stehen und sah direkt in Phils graublaue Augen. Sie funkelten belustigt.

„Was willst du hier? Woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?“

„Von Marco.“

Schnaubend drängte sich Rico an ihm vorbei nach draußen. Klar, der wusste es selbstverständlich. Oft genug hatten er und die Clique ihn bis hierher verfolgt oder ihm in der Straße aufgelauert. Bloß Phil war nie dabei gewesen.

„Und was willst du hier?“, fragte Rico erneut, schloss die Tür hinter sich und überquerte schnellen Schrittes die Einfahrt, in der Phil sein Fahrrad abgestellt hatte.

„Wegen dieser dämlichen Nachhilfe … Ich dachte, wir klären das lieber vor dem Unterricht.“

Ja klar, damit dich niemand zusammen mit mir sieht, dachte Rico und beschleunigte seinen Gang. Er würde noch zu spät kommen!

„Alter, jetzt bleib endlich mal stehen!“, rief Phil ihm hinterher, während er sich einige Meter hinter Rico sein Fahrrad schnappte und ihm hinterherfuhr. „Jage ich dir Angst ein oder warum flüchtest du ständig vor mir?“ Er hatte Rico eingeholt und radelte gemächlich neben ihm her.

„Bilde dir bloß nichts ein! Ich bin spät dran, mehr nicht.“

„Na, wenn du meinst.“

Rico hörte den Spott in Phils Worten und wäre am liebsten stehen geblieben, um ihm irgendetwas zwischen die Speichen zu schleudern und ihm beim Fallen und Schlittern über die Pflastersteine zuzuschauen. Stattdessen fragte er: „Was ist nun mit der Nachhilfe?“

„Wir beide wissen, dass du am Freitag total überreagiert hast und dich nur aufspielen wolltest, richtig?“, meinte Phil und es klang, als sei er tatsächlich davon überzeugt. Er wartete nicht mal eine Antwort ab. „Und wir wissen auch beide, dass uns die Hölle heißgemacht wird, wenn wir nicht so tun, als würde alles super laufen. Das kann ich mir dieses Schuljahr echt nicht leisten. Darum habe ich diesen Dreck, genau wie du wolltest, noch mal abgeschrieben. Obwohl ich das nach wie vor absolut lächerlich finde.“

Rico verdrehte die Augen himmelwärts. „Soll ich dich jetzt dafür loben? Möchtest du einen Keks oder ein Sternchen in dein Heft?“ Er bog an einer Kreuzung nach rechts ab und hastete die Hauptstraße entlang, als Phil ihm mit einem plötzlichen Herumreißen seines Lenkrads den Weg abschnitt und vor ihm stehen blieb.

„Was ist eigentlich dein Problem? Ich versuche hier gerade, ganz normal mit dir zu reden! Aber schön, dann lass es mich eben so sagen, dass selbst du mich verstehst: Es wird nie wieder passieren, dass ich mich von dir herumkommandieren lasse, nur weil du es nötig hast, dich respektiert zu fühlen.“ Seine Stimme bebte vor Zorn. „Ich habe keine Lust, deine Psychosen auszubaden. Also, kurz gesagt, wir beide sollten uns zusammenreißen und versuchen, diesen Mist irgendwie zu überstehen. Ich werde die Aufgaben, die du mit mir machen willst, erledigen, so gut ich kann. Dafür hörst du auf, einen auf dicke Hose zu machen. Verstanden? Je früher unser kleiner Privatunterricht Früchte trägt, desto früher können wir damit aufhören.“

Rico öffnete bereits den Mund, um seinem Gegenüber einen giftigen Spruch entgegenzuschmettern, als er hinter sich das vertraut schwerfällige Geräusch des veralteten Linienbusses hörte.

„Scheiße! Nein!“ So schnell er konnte, rannte er los. Doch der Bus hatte ihn einen Wimpernschlag später überholt und bog auf die Haltestelle ein, die noch gut einen Kilometer vor Rico lag. Das Fahrzeug hielt nur wenige Augenblicke, da nicht viele Fahrgäste ein- und ausstiegen. Dann fuhr es auch schon wieder los.

Keuchend blieb Rico stehen und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Seitenstiche jagten ihm durch den geschundenen Körper. In seinem Kopf drehte sich alles.

„Wenn du mich nicht so angemacht hättest, hättest du es vielleicht rechtzeitig geschafft.“ Ein breites Grinsen auf den Lippen näherte sich Phil ihm.

„Verzieh dich einfach“, stieß Rico zwischen zwei schweren Atemzügen hervor. Auf diese Selbstgefälligkeit konnte er jetzt getrost verzichten.

„Okay, schön.“ Phil zuckte die Schultern. „Eigentlich wollte ich dir ja anbieten, dich mitzunehmen. Aber wenn du mir wieder so dumm kommen musst …“ Er trat in die Pedale und ließ Rico allein zurück.

„Ich wäre eh nicht mit dir mitgefahren“, murmelte der ihm hinterher, obwohl Phil sich längst außer Hörweite befand.

~ * ~

Fast dreißig Minuten und unzählige Kraftausdrücke später drückte Rico endlich die Tür des Klassenzimmers auf und trat herein.

„Gerade einmal eine Nachhilfestunde und schon hat Phil einen schlechten Einfluss auf dich, hm?“, meinte die Kunstlehrerin Frau Sommers zur Begrüßung. „Das fängt ja super an.“

Ohne etwas zu entgegnen, durchquerte Rico den Raum, um zu seinem Tisch zu kommen. Dabei fiel sein Augenmerk auf Phil, der ihn konsequent keines Blickes würdigte. Arroganter Arsch!

Rico nahm Platz und versuchte, sich nicht weiter über ihn aufzuregen. Er würde seine emotionalen Kräfte heute ganz bestimmt noch anderweitig benötigen. Sicher hatte Phil seinen Kumpels schon von dem Theater ihrer ersten gemeinsamen Paukerei erzählt und dabei keine Möglichkeit ausgelassen, mächtig zu übertreiben und alles auszuschmücken. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis sie den Vorfall irgendwie mit in ihr Folterrepertoire aufnahmen.

Die bereits angebrochene Doppelstunde zog sich ungewohnt zäh in die Länge. Eigentlich liebte Rico den Kunstunterricht, doch heute schaffte er es nur mit Mühe, sich auf die Ausführungen der Lehrerin zum Thema Surrealismus zu konzentrieren. Sie schien ganz begeistert von dieser künstlerischen Bewegung, die auch Rico sehr mochte. Nur hatte er momentan leider mehr mit dem Realismus zu kämpfen.

Wie üblich landete der ein oder andere Papierflieger auf seinem Tisch. Er entfaltete diese Botschaften schon lange nicht mehr; wusste Rico ohnehin, was darin geschrieben stand. Sie alle glaubten ihn zu kennen. Ihn und sein Anderssein. Dabei müssten sie lediglich einen offenen Blick in seine Welt werfen, um zu sehen, dass diese gar nicht so anders war als die ihre. Im Grunde hatte er dieselben Wünsche und Ängste, dieselben Gefühle und Gedanken. Nur dass sie ihm abgesprochen wurden.

Das grässlich kratzende Geräusch von Fingernägeln an der Schultafel riss Rico aus seinen Gedanken.

„Klappe!“, rief Frau Sommers zur Ruhe, als erste Schüler sich bereits vor dem Erklingen der Stundenglocke von ihren Plätzen erhoben. „Solange ich meinen Unterricht nicht selbst beende, bleibt ihr gefälligst auf euren Hintern sitzen und seid still!“ Sie warf einen wütenden Blick in die Runde, der aber kaum jemanden zum Schweigen brachte. Trotzdem schien sie zufrieden, da nun immerhin wieder alle auf den Stühlen saßen. Wahrscheinlich kommt jeder Lehrer irgendwann an den Punkt, an dem sogar dies als kleiner Erfolg durchgeht.

„Also“, fuhr sie schließlich fort. „Auch wenn ich inzwischen sehr daran zweifle, dass sich einer von euch die Mühe macht, werde ich heute dennoch einen weiteren Versuch starten und euch Hausaufgaben aufgeben.“ Die halbe Klasse stöhnte auf. Die andere Hälfte lachte bloß. Aber Frau Sommers ließ sich nicht beirren. „Ganz nebenbei wird die Aufgabe übrigens als vollwertige Klassenarbeit benotet.“ Sofort brach das Gelächter seitens der Schüler ab. Dafür aber grinste die Kunstlehrerin nun breit und zufrieden. „Wusste ich doch, dass das eure Einstellung ändert.“ Sie begann durch das Zimmer zu schreiten, wobei ihre halbhohen Absätze dumpf auf dem Linoleumboden klackerten. „Wir haben inzwischen groß und breit über den Surrealismus gesprochen; über seine Entstehung und einige seiner bekanntesten Künstler. Jetzt wird es Zeit für ein bisschen Kreativität! Ich will, dass ihr euch ein bekanntes oder weniger bekanntes Werk zu eigen macht. Malt es, modelliert es, fotografiert es oder tut, was immer euch dazu in den Sinn kommt. Euch sind keine Grenzen gesetzt, aber eine Frist: Abgabe ist in drei Wochen.“ Sie legte sich beide Hände an die Brust. „Ich will, dass ihr euer Herzblut hineinlegt. Ich will wissen, was in euch steckt, und vor allem will ich, dass ihr selbst es wisst.“

„Und wenn hier jemandem zu diesem komischen Surrealismus nichts in den Sinn kommt, wie Sie es so schön gesagt haben?“, fragte Chris und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ist man dann entschuldigt?“ Nicht nur Rico wusste, dass er und der Rest dieses beschränkten Packs den Kurs bloß in dem Glauben gewählt hatten, es wäre ein Leichtes, hier gute Noten zu schreiben.

Frau Sommers blieb vor Chris stehen und schaute verächtlich auf ihn herab. „Es bedarf einer ausgesprochenen Talentfreiheit, um ein Thema wie dieses komplett in den Sand zu setzen. Dennoch bin ich mir sicher, dass du, lieber Chris, dies tatsächlich schaffen könntest.“ Seelenruhig schulterte sie ihre Tasche. „Sollte der Fall eintreffen, werde ich dir mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht die null Punkte geben, die du dir in allen Kursen so hart erarbeitet hast.“ Mit diesen Worten verließ die Lehrerin das Klassenzimmer und ließ einen verdutzt guckenden Chris sowie einen heimlich grinsenden Rico zurück.

Sofort erfüllte unruhiges Stimmengewirr den Raum. Einige regten sich über die direkte Wortwahl ihrer Kunstlehrerin auf, andere über die ihnen erteilte Aufgabe. Allein Rico freute sich auf die bevorstehende Arbeit. Endlich würde er kreativ sein können! Ihm schwebte ein Selbstbildnis von Frida Kahlo vor. Mit Schmerz und Mut hatte sie umzugehen gewusst. Vielleicht könnte er eins ihrer Werke in eine Skulptur verwandeln? Es würde sehr aufwendig werden, aber Zeit hatte Rico mehr als genug, ebenso wie Geschick.

„Hey Schwuchtel!“ Ein fester Fausthieb traf Rico an der Schulter und ließ ihn beinahe seitwärts vom Stuhl kippen. Neben ihm stand Marco. „Ich hätte da schon eine Idee für dich. Pass auf: Romeo und Schwulian – zwei Tunten verlassen die Welt. Geil, oder? Ich erlaube dir sogar, den Titel zu verwenden.“ Marcos immertrüben Augen wanderten zu seiner Clique und wie auf Kommando gackerten Niels, Greg und Chris los. Keiner von ihnen schien auch nur ansatzweise zu bemerken, wie wenig Shakespeares Tragödie mit dem Thema des Surrealismus zu tun hatte. „Lass uns rausgehen, dann liefere ich dir noch mehr Ideen!“ Er wollte Rico gerade am Kragen packen, als jemand neben ihnen auflachte.

„Wollt ihr echt eure Zeit damit verplempern?“ Es war Phil, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Obwohl er nun lässig an Ricos Tisch lehnte, würdigte er Rico weiterhin keines Blickes. „Ich hab gedacht, wir könnten uns heute früher freinehmen und irgendwo ins Zentrum gehen. Was meint ihr?“

Hitze stieg Rico in den Kopf. Sein Herz pumpte unregelmäßig. Versuchte Phil da etwa, ihn aus der Schussbahn zu nehmen? Wollte er ihn retten? Rico schämte sich zutiefst für diese Hilfe. Er kam sich vor wie ein Kind, dessen Mutter versuchte, es vor dem gewalttätigen Vater zu beschützen. Und gleichzeitig hoffte er doch, dass Phil erfolgreich sein würde.

„Ins Zentrum gehen und die Schwuchtel in Ruhe lassen? Niemals.“ Marco verzog das Gesicht, zögerte dann aber. „Auf Deutsch hab ich jetzt aber auch echt keinen Bock.“ Er überlegte, nickte dann aber. „Ach, was soll’s. Ich brauch eh neue Kippen.“

„Und ich den neuen Playboy“, fügte Niels fast schon sabbernd hinzu. „Soll eine besonders heiße Ausgabe sein!“

Greg rieb sich die zu klein geratenen Hände. „Hört sich gut an. Ich bin dabei.“

„Na, dann los.“ Marco winkte seine Mitläufer in Richtung Tür, blieb jedoch stehen, als Phil keine Anstalten machte, ihnen zu folgen. „Kommst du oder was?“

„Ja, gleich. Ich muss hier nur noch was klären. Wegen der Nachhilfe und so.“ Phil verdrehte genervt die Augen.

„Arme Sau. Jetzt musst du den Homo auch noch privat ertragen.“ Mitleidig schüttelte Marco den Kopf und schnalzte mit der Zunge. „Wir gehen schon mal vor.“

Rico sah den vieren nach. Würde er heute wirklich verschont bleiben? Und um welchen Preis?

„Was willst du denn klären?“, fragte er und schluckte seine Paranoia herunter. Phil würde schon nicht so plötzlich zum Schläger mutieren.

„Gar nichts. Ich hatte nur für einen kurzen Moment das dumme Gefühl, mich wegen heute Morgen entschuldigen zu müssen. Hab es mir aber schon wieder anders überlegt. Du hast es dir mit deinen Sprüchen schließlich verdient, stehen gelassen zu werden.“ Phil begann zu grinsen und auch Rico konnte ein Zucken seines Mundwinkels nicht verhindern.

„Danke übrigens“, murmelte er. „Dass du die Kerle hast verschwinden lassen.“ Es fiel ihm unheimlich schwer, sich zu bedanken. Alles in ihm sträubte sich dagegen, und er war froh, dass Phil nicht weiter darauf einging. Stattdessen ließ er sich auf Ricos Nachbarstuhl fallen.

„Ich finde Marcos Idee übrigens gar nicht so schlecht“, meinte er dann. „Was die Hausarbeit betrifft.“

Sofort schlug Ricos Stimmung um. Er ballte verärgert die Fäuste. „Na klasse. Fängst du jetzt auch an, ja?“

„Ja. Ich meine, nein.“ Phil seufzte. „Ach, keine Ahnung, ich denke einfach, dass es dir guttun würde, deiner, hmm, Situation irgendwie … Ausdruck zu verleihen. Selbst wenn es nur in Form einer Schulaufgabe ist. Es wird nur die Sommers zu Gesicht bekommen und du kannst – wie meinte sie? – dein Herzblut reinstecken. Oder reinfließen lassen …? Ach, du weißt, wie ich meine.“

Rico spürte Phils Blick auf sich ruhen. Er selbst schaute nur auf die Tischplatte vor sich und versuchte sich nicht ansehen zu lassen, wie nervös ihn dieses Gespräch machte. „Nein, weiß ich nicht. Ist auch egal. Bestimmt warten deine Leute schon auf dich.“

„Ach, stell dich nicht blöd! Die ganze Schule weiß, dass du schwul bist. Meinste nicht, es wird Zeit …“

„Halt den Mund!“, fiel Rico ihm ins Wort und spähte um sich, obwohl er genau wusste, dass niemand außer ihnen mehr im Zimmer war. „Das alles geht dich nichts an.“

„Dann gibst du es zu?“

„Nein!“, entgegnete Rico bestürzter als gewollt. „Ich … Halt dich da gefälligst raus!“

„Hör mal …“

„Nein, du hörst jetzt mal. Ich habe keine Lust, mir das anzuhören. Vielleicht meinst du es nicht einmal böse, aber lass es einfach!“

Aufgebracht fuhr sich Rico durchs Haar und wandte den Kopf zur Seite, da seine Augen sicher Bände sprachen. Er schaffte es einfach nicht, ruhig zu bleiben. Schaffte es kaum noch, seine dämlichen Tränen zurückzuhalten.

„Sorry, ich … Ich denke einfach, es wäre perfekt. Du bist ein fantastischer Zeichner, das hab ich gesehen. Und du könntest all das in dein Bild stecken, was du sonst immer so verkrampft versuchst zu vertuschen. Wenn du so weiter machst, ändert sich nie was. Und sind wir ehrlich: Schlimmer kann’s nicht werden.“

„Machst du jetzt einen auf Therapeut?“, fragte Rico leise, um nicht schweigend dazusitzen. Phils Aussage stimmte ihn traurig, denn er hatte recht. So vollkommen recht.

„Also schön.“ Phil gab sich geschlagen und stand auf. „Ich geh wohl lieber. Morgen dann bei dir, so um zwei.“

Rico hörte gar nicht mehr hin. Seine Lungen schmerzten. Er bekam nur schwer Luft. Seine Augen brannten und schließlich verlor er den Kampf. Tränen strömten ihm über die Wangen. Tränen der Hilflosigkeit und der Panik. Phil hatte zu tief gegraben und war auf etwas gestoßen, was Rico so verzweifelt hatte geheim halten wollen.

~ * ~

„Was tust du hier?“, wollte Rico perplex wissen, nachdem er die Haustür auf ein Klingeln hin geöffnet hatte und Phil vor sich erblickte. Eben noch war er für das Läuten der Türklingel dankbar gewesen, nun aber wünschte er den unerwarteten Besucher schnellstmöglich weit weg.

„Du sollst mich schlauer machen, schon vergessen? Ich hab dir gesagt, dass ich heute komme.“

„Heute?“ Rico hielt inne. Jeder andere Tag wäre günstiger gewesen. Phil sollte ihn nicht in diesem Zustand sehen. Niemand sollte das. Sicher war er knallrot. Wegen seiner Wut. Wegen der Verzweiflung.

„Ich kann auch gehen, wenn du keine Zeit …“

„Wir waren gerade fertig.“

Es war nicht Rico, der dies gesagt hatte, sondern sein Vater, der eben in den Flur marschiert kam. Er war noch immer sehr zornig und seine Schultern bebten vor Anspannung, wenn auch der perfekt geschnittene Anzug diese Tatsache ein wenig kaschierte. Der Mann, dem Rico so ähnlich sah, würdigte ihn keines Blickes. Stattdessen hefteten sich die braunen, mit ersten Falten umrahmten Augen an Phil.

„Und du bist …?“

Rico erstarrte. Bitte nicht. Würde der Aufstand nun etwa fortgesetzt werden? „Vater“, zischte er bittend und wandte sich dann wieder an Phil. „Geh jetzt lieber.“

Doch der zeigte sich unbeeindruckt von dem harschen Tonfall des Mannes. „Phil. Hi, freut mich. Ich bin in Ricos Klasse. Er soll mir Nachhilfe geben, wissen Sie?“

„Nachhilfe, so? Worin denn? In der Kunst der selbstzerstörerischen Lebensführung?“

Phil war sichtlich verwirrt über diese Aussage. Trotzdem versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. „Wenn dafür noch Zeit bleibt, klar, warum nicht!“, entgegnete er scherzend und trat unaufgefordert ein.

„Du kommst noch zu spät“, meinte Rico leicht panisch und drängte seinen Vater unmissverständlich zum Gehen. Er wusste, dass jedes weitere Wort zu einer Eskalation der Situation führen konnte. „Das macht einen schlechten Eindruck.“ Eine schwere, wenn auch für Außenstehende undeutbare Betonung lag auf den letzten beiden Worten. Wie Rico sie doch hasste.

Die Ader auf der Schläfe seines Vaters pulsierte vor Zorn, als der nach seinem Aktenkoffer griff und sich ohne jegliche Art der Verabschiedung an Phil vorbei zur Tür hinausschob. Sofort warf Rico diese mit einem Stoß zu.

„Dein alter Herr?“

„Japp.“ Rico schluckte einen gewaltigen Brocken an Gefühlsregungen hinunter. Er wollte das Thema nicht vertiefen. „Gehen wir hoch?“

Dankbar dafür, dass Phil nicht weiter nachhakte, führte er ihn die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Rico ließ nicht oft jemanden in sein Heiligtum eintreten, aber dies war der einzige Ort im gesamten Haus, an dem er sich wohlfühlte.

„Mehr als erfüllt.“

„Erfüllt? Was?“ Rico verstand nicht.

„Meine Erwartungen an dein Zimmer“, erklärte Phil grinsend und sah sich um. „Was genau ich erwartet habe, weiß ich nicht mal. Auf jeden Fall etwas Verrücktes. Etwas krass anderes.“ Er fuhr mit dem Zeigefinger einen schwarzen Schriftzug im Graffiti-Stil nach, der an der weißen Wand neben der Tür aufgebracht war. „Aber ich muss gestehen, irgendwie find ich’s cool. Was bedeutet das hier?“