The Story of Sun & Moon - Irina Meerling - E-Book

The Story of Sun & Moon E-Book

Irina Meerling

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Beschreibung

Seine Pflegeeltern, das Café und die Mischlingshündin Kintana – aus diesen drei Komponenten besteht Taiyos Leben. Engere Beziehungen darin sind undenkbar. Soziale Kontakte zu gefährlich. Denn Taiyo besitzt eine Gabe, die er weder verstehen noch unter Kontrolle bringen kann. Als ihm eines Tages ein gutaussehender, aber mürrischer Cafébesucher die Arbeit schwer macht, ahnt Taiyo nicht, dass ausgerechnet der sein Leben völlig auf den Kopf stellen wird. Doch wer ist der Fremde? Wieso gibt er sich für jemand anderen aus? Und welches Geheimnis verbirgt sich hinter diesen pechschwarzen Augen? "Begegneten sie einander, drohte eine Eklipse die Welt aus den Fugen zu reißen."

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Seitenzahl: 388

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Irina Meerling

The Story of Sun & Moon

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2025

http://www.deadsoft.de

Für alle Fragen rund um Verlag und Produktion

dead soft verlag

Querenbergstr. 26

D 4947 Mettingen

deadsoft-verlag@t-online.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte: Vector Tradition – stock.adobe.com

Chikovhaya – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-774-3

ISBN 978-3-96089-775-0 (ebook)

Inhalt:

Seine Pflegeeltern, das Café und die Mischlingshündin Kintana – aus diesen drei Komponenten besteht Taiyos Leben. Engere Beziehungen darin sind undenkbar. Soziale Kontakte zu gefährlich. Denn Taiyo besitzt eine Gabe, die er weder verstehen noch unter Kontrolle bringen kann.

Als ihm eines Tages ein gutaussehender, aber mürrischer Cafébesucher die Arbeit schwer macht, ahnt Taiyo nicht, dass ausgerechnet der sein Leben völlig auf den Kopf stellen wird.

Doch wer ist der Fremde? Wieso gibt er sich für jemand anderen aus? Und welches Geheimnis verbirgt sich hinter diesen pechschwarzen Augen?

Prolog

Ein wenig in Gedanken versunken, suchte ich nach dem Legostein, den ich als Nächstes für mein Piratenschiff brauchte, als die Stimme meiner Pflegemama lauter wurde.

„Ich weiß, dass er ein schlauer, aufgeweckter Junge ist, Herrgott! Er lebt schließlich seit über vier Monaten bei uns!“

Sie und mein Pflegepapa hatten mir gesagt, ich solle in meinem Zimmer bleiben und spielen, bis die nette Frau aus dem Heim wieder weg war. Rebecca, so sollte ich sie nennen, hatte sie mir bei unserem ersten Treffen gesagt. Das war schon ein bisschen her, und seitdem kam Rebecca regelmäßig vorbei. In letzter Zeit öfter als sonst. Sie und meine Pflegeeltern hatten immer viel zu reden. Es waren Gespräche unter Erwachsenen und ich wusste, dass ich nicht lauschen sollte. Aber egal, wie viel Mühe ich mir gab, es nicht zu tun: Heute erhaschten meine Ohren mehr und mehr der verzweifelt klingenden Worte.

„Dennoch, wir kommen nicht mit ihm zurecht. Er ist aufmüpfig, hört kein Stück und neigt zu Gewalt- und Tobsuchtsanfällen. Es geht schließlich auch um unsere eigenen Kinder, deren Wohl gefährdet wird.“

Meine Unterlippe begann zu zittern, als ich die Träne betrachtete, die auf dem Bug meines Piratenschiffs gelandet war. Warum sagte sie so etwas zu Rebecca? Das stimmte überhaupt nicht. Ich war nie unartig, hatte noch nie gehauen oder geschubst oder so. Ich verstand mich gut mit meinen zwei neuen Schwestern. Außerdem hörte ich immer auf meine Pflegeeltern! Nun, nur vielleicht jetzt gerade nicht, weil ich sie ja belauschte …

War ich also doch unartig? Hatte ich es kaputtgemacht? Musste ich wieder zu einer neuen Familie? Dabei hatte ich sie schon so lieb gewonnen … sie mich aber wohl nicht. Oder war das ein Spiel unter Erwachsenen? Erzählten sie sich unwahre Geschichten, um dann zu erraten, was davon geflunkert war?

Ja. So musste es sein. Rebecca und meine Pflegeeltern spielten ein Erwachsenenspiel, das ich auch irgendwann mal spielen dürfte, wenn ich groß genug dafür war.

„Sie verstehen uns nicht richtig“, hörte ich meinen Pflegepapa sagen und lauschte dem Spiel noch ein bisschen genauer. „Wir haben Sie nicht um Ratschläge gebeten. Unser Entschluss steht fest. Wir können einfach nicht mehr.“

Kapitel 1

Chand

Die überdimensionalen Möpse waberten wie zu zäh geratener Wackelpudding in ihrem tiefen Dekolleté herum. Einen Moment lang fragte ich mich, ob die Dinger gleich aus dem BH hüpfen und das Martiniglas in ihrer Hand zu Staub zerschmettern würden. Ein Jammer, dass ich mein Handy nicht zur Hand hatte – wäre bestimmt ein paar Tausend Klicks auf YouTube wert.

„Wo guckst du denn hin?“ Glucksend trat mir Nadine gegen das Schienbein. Oder war es Nicole? Natalie? „Meine Augen sind hier oben, Tom!“

Tom. So hieß ich natürlich … nicht. Doch auf noch eine verrückte Irre, die nach einer einmaligen Nummer der Meinung war, mich so lange im Netz stalken zu müssen, bis sie mir ihre Liebe gestehen konnte, hatte ich echt keinen Bock. Also hatte ich mir selbst den unkreativsten Namen gegeben, der mir auf die Schnelle eingefallen war. Sagt Hallo zu Tom.

„Sorry, du siehst einfach so umwerfend aus“, behauptete ich mit aufgesetztem Lächeln, wandte mich aber wieder ihrem Gesicht zu – was die Aussicht auch nicht besser machte. Der knallrote Lippenstift war verschmiert, und da, wo Menschen für gewöhnlich Wimpern hatten, ragten bei Nadja scheinbar betonierte Federn in die Höhe.

Warum ich mich trotzdem ausgerechnet zu ihr an den Tresen gesetzt hatte, obwohl sich um mich herum so viele Geschöpfe tummelten, die eher meinem Geschmack entsprachen? Ganz einfach: Weil ich heute Fast Food brauchte, und genau das war unsere Nadine hier; alles an ihrer Aufmachung – von den pinken Lackheels bis hin zu dem hautengen Strasskleid.

„Gott, du bist so sweet, Tom, wirklich jetzt.“ Der Versuch eines kecken Augenaufschlags brachte mich nun tatsächlich ein wenig zum Schmunzeln. „Wohnst du hier in der Nähe? Ich könnte nach dem Drink noch einen Kaffee vertragen.“ Wie durch Zufall berührte mich ihre Hand am Oberschenkel. Oh Nicole, du solltest definitiv an deinem Selbstwertgefühl arbeiten. Sogar für meine Flirtkünste ging das zu schnell.

„Leider nein“, raunte ich und erhob mich von dem Hocker, um ihr ins Ohr zu flüstern: „Aber ich könnte dir einen Kaffee to go anbieten.“ Mit diesen Worten ging ich an ihr vorbei und in Richtung der Toiletten. Ich wusste, dass sie ohne zu zögern folgen würde. Das taten sie alle.

Chand

Die Kabinentür quietschte bei jedem meiner Stöße. Ich war kurz davor und Natalies Wimmern zufolge ging es ihr nicht anders. Das Rouge, das eben noch ihre Wangen in Szene hatte setzen sollen, war inzwischen nicht mehr als ein rosafarbenes Durcheinander in ihrem Gesicht. Sie presste es Halt suchend gegen die dünne Spanplatte, während ich sie von hinten nahm und meinem Höhepunkt nachjagte.

„Oh Gott!“

Schon wieder dieser Gott. Was haben die Menschen ständig mit der Illusion eines vollbärtigen alten Mannes, der angeblich allmächtig sei und dennoch nichts auf die Reihe kriegt?

„Tom, ahh, ja … Ich komme!“ Ihr Körper begann zu beben und krampfte sich um meinen Schwanz. Ich beschleunigte mein Tempo, stieß noch einige Male hart in ihren nassen Spalt und entlud mich schließlich in das Gummi.

Fuck, das hatte ich echt gebraucht. Es ging doch nichts über einen schnellen Quickie nach einem stressigen Tag.

Das neckende Kribbeln in den Gliedern und Nadines hektische Atemzüge in den Ohren zog ich mich aus ihr heraus und beförderte das Kondom in die nächstbeste Ecke der winzigen Kabine. „Danke Baby“, meinte ich eher beiläufig und richtete mir die Klamotten, um einen Abflug zu machen. Mein Snack allerdings schien andere Pläne zu haben.

„Das war …“ Noch immer nach Luft ringend, streifte sie sich das Kleid zurück über den zugegebenermaßen wohlgeformten Arsch und verdrehte die Augen himmelwärts. „Goooott. Der Wahnsinn.“ Sie legte mir eine Hand in den Nacken und drückte sich mit ihren Brüsten an mich, doch ehe sie meine Lippen in Beschlag nehmen konnte, wandte ich mich von ihr ab und entriegelte die Tür.

„Es gibt keinen Gott. Und würde es ihn geben, wäre er vermutlich nicht sehr erfreut über dein heutiges Verhalten.“ Ich verließ die Kabine und trat an die Haupttür der Toilette, um zurück in die Kneipe zu gelangen, da schlang mir Nadja von hinten einen Arm um die Taille und presste sich an meinen Rücken.

„Ich habe heute nichts mehr vor“, wisperte sie mir in den Nacken und benetzte meine Haut mit ihrem feuchten Atem. „Wenn du willst, komme ich mit zu dir nach Hause und du erzählst mir mehr über Gott und mein Verhalten.“

Es schwang höchstens ein winziges bisschen Verachtung in meinen Worten mit, als ich, ohne mich ihr zuzuwenden, erklärte: „Dummerweise bin ich die Nacht über total verplant, so ein Jammer.“ Theatralisch seufzend drückte ich die Türklinke herunter und ließ mich aus ihrer Umarmung gleiten. Zum Glück hielt sie mich dieses Mal nicht vom Gehen ab.

Ich tauchte zurück in das Stimmengewirr der dunkel gehaltenen, überschaubaren Kneipe ein, inhalierte den schweren Zigarettengeruch und nahm mir vor, meinen nächsten Fick wieder ein wenig interessanter zu gestalten, da wurde mir plötzlich etwas in die Hand gedrückt.

„Ruf mich an“, flötete mir Natalie zu und ließ sich angestrengt lässig auf einem Hocker nieder, um mich danach keines Blickes mehr zu würdigen. Süß. Sie begann zu lernen. Fast schon schade, dass ich nie erfahren würde, wie sie sich in Zukunft machte. Aber wirklich nur fast.

Mit hochgezogener Augenbraue musterte ich die Nummer, die offenbar hastig auf ein zerknittertes Papierhandtuch gekritzelt worden war. Am Ende des Abends waren sie eben alle gleich: Ruf mich an … Melde dich … Lass uns das wiederholen …

‚Wiederholen‘ war allerdings nicht so mein Fall. Ich bekam, was ich wollte, von der Person, auf die ich in dem Moment Lust hatte. Alles, was darüber hinausging, wäre bloß lästig. Also zerknüllte ich die Notiz, legte einen großzügigen Betrag Geld auf den Tresen, um meinen und den Drink meiner kurzzeitigen Gesellschaft zu begleichen, und machte mich auf den Weg nach draußen. Den Fetzen mit der Nummer schob ich im Vorbeigehen einem Kerl mit schwarzen Locken in die hintere Jeanstasche. Vielleicht hatte er mehr Verwendung dafür als der vollgeaschte Mülleimer am Eingang der Kneipe.

Taiyo

„Und hier natürlich noch Ihre Extrakekse“, sagte ich an Frau Gram gewandt und legte ihr die einzeln verpackten Gebäckteilchen, die sie so gerne mochte, neben ihren Cappuccino.

Sofort zierte ein seliges Lächeln das durchfurchte Gesicht vor mir. „Du bist ein Goldjunge! Ich bete jeden Abend dafür, dass du ganz bald ein hübsches, fähiges Mädchen kennenlernst. Das gehört genauso zu meiner Routine wie der Cappuccino am Sonntag, weißt du?“ Liebevoll tätschelte die alte Dame meine Hand – was die aufkommende Traurigkeit tief in meiner Brust jedoch nur bedingt abmildern konnte. Sollte es irgendwo da draußen wirklich jemanden geben, der Gebete erhörte, dann sollte Frau Gram sich diese für jemand anderen aufheben.

„Das bedeutet mir sehr viel“, entgegnete ich trotzdem, und es war nicht gelogen. Zu wissen, dass jemand regelmäßig an mich dachte, war ein schönes Gefühl.

Ein genervter Tonfall riss mich plötzlich aus dem Gespräch: „Wird man hier eigentlich auch irgendwann bedient oder soll ich gleich selbst reingehen und mir Frühstück machen?“

„Ach je, Frühstück um vierzehn Uhr?“, murmelte meine treue Stammkundin mir zu und schüttelte mitleidig den Kopf. „Wenn der junge Mann weiterhin so unfreundlich ist, sag mir Bescheid. Dann fahre ich ihm nur allzu gerne mit meinem Rollator über die Füße.“

Ein leises Lachen entfloh meinen Lippen. Ich bedankte mich für das Angebot – selbst wenn ich es nie annehmen würde – und trat eiligen Schrittes an den Tisch mit dem besagten jungen Mann. Er hatte den Kopf in beide Hände gebettet und wirkte derartig müde und zerstört, dass er mir leidtat. Kein Wunder um seine schlechte Laune.

„Bitte entschuldigen Sie. Wir haben momentan ziemlichen Personalmangel und das ausgerechnet im August! Ich bin heute ganz all…“

„Kann mich nicht daran erinnern, nach dem Personalstand gefragt zu haben.“

Völlig perplex brach ich den Versuch einer Erklärung ab und sah auf den Gast herab, der mir lediglich einen kurzen Blick durch die dunkelbraune Haarsträhne zuwarf, die in seiner Stirn hing. Nun ja, im Grunde hatte er recht. Er hatte nicht wissen wollen, weshalb ich ihn erst jetzt bediente.

„Ja, ähm. Tut mir leid.“ Nervös zupfte ich an der Spiralbindung meines Blocks herum. „Was, äh, darf ich Ihnen denn bringen?“

Die Stimme des Mannes klang ziemlich rau, als er mit geschlossenen Augen meinte: „Ich brauche dringend etwas zu frühstücken. Und dazu viel Kaffee. Schwarz und ohne Zucker.“

Noch bevor ich ihm eine Antwort gab, wusste ich, dass ihm diese alles andere als gefallen würde. Mir rutschte das Herz in die Hose, als ich sprach. „Wir haben … leider nur … bis zwölf Uhr Frühstück.“ Meine Sätze wurden immer leiser und ich ärgerte mich wahnsinnig über meine offensichtliche Unsicherheit – nicht so sehr allerdings. wie mein Gegenüber sich über mich ärgerte.

„Meine Güte, red bitte etwas deutlicher, ja?“

Die Nervosität in mir wuchs mit jedem meiner Atemzüge. Ich war so ungemütliche Kundschaft nicht gewohnt. Seit ich nach meinem Abitur vor fünf Jahren in dem Café angefangen hatte, hatte ich Glück mit den Besuchern gehabt. Und selbst wenn mal einer dabei war, der mit schlechter Laune zu uns kam, halfen meist ein paar nette Worte und ein kleines Lächeln meinerseits, um die Stimmung aufzuhellen. Manchmal schickte mich meine Chefin Pia sogar an Tische, die eigentlich ihr gehörten, um dort die Laune zu heben. Heute lag die Ärmste mit einem Magen-Darm-Infekt flach und hatte mich darum gebeten, die Stellung zu halten. Und genau das hatte ich vor. Stellung halten. Professionell sein. Freundlich und bestimmt. Also räusperte ich mich und wiederholte meine letzten Worte, diesmal ohne Gestammel: „Wir haben leider nur bis zwölf Uhr Frühstück.“

Ich erwartete eine Explosion an dem runden Tisch vor mir und machte mich darauf gefasst. Stattdessen aber erklang bloß ein gereiztes: „Und jetzt ist?“

„Gleich vierzehn Uhr.“

Der Gast seufzte und fuhr sich in einer genervten Geste über den Dreitagebart. Ich wollte mich gerade ein weiteres Mal entschuldigen, da kam mir eine Idee. „Wenn Sie möchten, mache ich Ihnen schnell ein Rührei und schaue, ob von dem aufgebackenen Brot noch …“

Ein undefinierbares Schnauben ließ mich erneut mitten im Satz verstummen. Der Namenlose erhob sich und unwillkürlich trat ich zwei Schritte zurück, die Hände fest um meinen Block gekrallt.

„Schon okay, vergiss es.“ Mit verquollenen Augen blickte er geradewegs über meinen Kopf hinweg ins Leere – was nicht schwer war, da ich sicher gute zwanzig Zentimeter kleiner war. „Kaffee habt ihr um die Uhrzeit noch, oder?“

Ich nickte auf diese wohl sarkastische Frage eine Spur zu übereifrig. „Schwarz und ohne Zucker?“

„Und zum Mitnehmen.“

Ich ließ keine weitere Sekunde verstreichen, machte auf dem Absatz kehrt und hastete ins Innere des Cafés zurück. Um keinen Preis der Welt wollte ich riskieren, dass der Gast noch grantiger wurde. Warum fiel es manchen Menschen so schwer, freundlich zu sein?

Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gebracht, überkam mich auch schon das schlechte Gewissen. Wer war ich, um die Laune dieses Mannes zu beurteilen? Ich hatte ja keinen blassen Schimmer, was ihm so aufs Gemüt schlug. Womöglich hatte seine Freundin ihn gestern Abend verlassen und er daraufhin die ganze Nacht durchgeweint? Oder vielleicht war sein Haustier verstorben? Es war nicht fair von mir, mich über ihn auszulassen – auch nicht im Stillen.

Kopfschüttelnd brachte ich den Kaffeeautomaten mit wenigen Knopfdrücken zum Brummen und Gluckern und überlegte, ob ich dem Gast ein paar Kekse einpacken sollte – Zucker half schließlich bei jedem Tief –, da hörte ich von draußen das Bellen eines Hundes.

Das Bellen meines Hundes.

„Oh nein!“, entfuhr es mir und schon trugen mich meine Füße in Richtung Terrasse.

„Wem gehört dieser …? Kann mal einer …? Aus! Aus!“

Obwohl mir vor Schreck beinahe die Luft wegblieb, stürzte ich in Sekundenbruchteilen auf das Szenario zu. Mit beiden Händen griff ich nach meinem rot-braun gestromten Vierbeiner und zerrte ihn von dem Gast fort, verlor ihn im nächsten Moment aber wieder, da er sich mit aller Kraft aus meinen Armen wand. Bellend und knurrend sprang meine Hündin erneut an dem nun fluchenden Kunden hinauf, schaffte es glücklicherweise jedoch nur knapp bis zu seinem Bauch.

„Es tut mir“, schnappte ich während des zweiten Versuchs, sie einzufangen, „so, so wahnsinnig leid! Kintana, pfui!“ Der Puls hämmerte mir in den Ohren. „Normalerweise ist sie … Ich weiß gar nicht … Au!“ Scheppernd fiel der Holzstuhl, gegen den ich vor lauter Hektik gestoßen war, zu Boden. Erste Cafébesucher erhoben sich von ihren Plätzen, um zu Hilfe zu eilen. Innerlich starb ich tausend Tode. „Kintana, bitte …“

Nach einem weiteren kurzen Gerangel mit meiner Hundedame schaffte ich es endlich, sie von dem Gast wegzuziehen und sicher an mich gedrückt zu halten. Ihr Herz klopfte ebenso schnell wie mein eigenes.

„Ich … weiß wirklich nicht, was … was in sie gefahren ist“, stammelte ich und realisierte erst jetzt, wer überhaupt vor mir stand, als ich in die fast schwarzen Augen sah, die den Hund in meinen Armen voller Abneigung musterten. Wenn der Mann vorhin schon übel drauf gewesen war, war er inzwischen bereit, den gesamten Laden abzufackeln.

„Der … der Kaffee geht natürlich aufs Haus und wenn Sie nächstes Mal zum, äh, Frühstück kommen …“

„Nächstes Mal?“, fragte mein Gegenüber verächtlich und sofort begann Kintana wieder, aus tiefster Seele zu knurren. „Ich denke nicht, dass es ein nächstes Mal geben wird.“

Sein Tonfall versetzte mir einen Stich in die Magengrube. Ich hatte es vermasselt. Ich hatte nicht nur meine Chefin enttäuscht und mich selbst beschämt, sondern zusätzlich noch den Tag unseres Besuchers ruiniert.

„Vielleicht solltet ihr dieses hässliche Viech lieber wegsperren, statt es auf die Kundschaft zu hetzen.“

„W-wie bitte?“, hauchte ich gekränkt und suchte in dem Blick des Gastes nach einem winzigen Funken Menschlichkeit. Wie konnte er so grausam sein? Ich hatte mich doch entschuldigt …

„Lass gut sein, Schätzchen.“ Eine warme Hand berührte mich an der Schulter und wie aus einer Trance gerissen, sah ich zu meiner Rechten. Frau Gram so wie ein paar andere Cafébesucher hatten sich um uns versammelt. Die meisten von ihnen tuschelten untereinander oder schüttelten missbilligend ihre Köpfe. Die alte Dame allerdings lächelte mir Trost spendend zu.

„Ja, lass gut sein.“ Verdutzt wandte ich mich wieder dem Mann vor mir zu. Der Groll war fast vollständig aus seiner Stimme verschwunden und er klang nur noch erschöpft. Er zog einen Zwanziger aus seiner Jeanstasche und warf ihn auf den Tisch. „Für den köstlichen Kaffee.“

Ich hatte den Mund bereits zum Protest geöffnet, da kehrte er mir auch schon den Rücken zu und ließ mich mit rot glühenden Wangen stehen.

„So ein ungehobelter Bursche!“, vernahm ich es neben mir. „Aber mach dir nichts draus: Deine Kleine hat gleich erkannt, was für ein böser Mensch das ist. Tiere spüren so etwas. Sie wollte ihn auf keinen Fall in deiner Nähe wissen.“

Unwillkürlich drückte ich Kintana ein wenig fester an mich. War er das? Ein böser Mensch?

„Du bist nicht hässlich“, wisperte ich an ihr Hängeöhrchen. „Du bist wunderschön. Und dein Charakter ist sowieso hundertmal schöner als der dieses unhöflichen Kerls.“

Kapitel 2

Chand

Wie gewohnt herrschte in der Bibliothek eine Totenstille. Lediglich das Geräusch von umgeblätterten Buchseiten drang aus dieser und jener Ecke. Wussten die Leute nicht, was Spaß bedeutete oder verkrochen sie sich freiwillig zwischen diese ganzen hohen Holzregale, um den Staub unzähliger schlecht geschriebener Wälzer einzuatmen, die wahrscheinlich zu hundertfach als Klolektüre gedient hatten?

Ich steuerte auf die breite Wendeltreppe zu, um diese einschläfernde Atmosphäre zu verlassen, da hörte ich links von mir ein kurzes Rumpeln, dicht gefolgt von einem gemurmelten Oh nee.

Nur beiläufig warf ich einen Blick in den schmalen Gang, aus dem die Stimme ertönt war. Aber als ich ihn sah, rührten sich meine Füße nicht einen einzigen Meter weiter.

Er war schön. Nicht bloß heiß oder süß – das waren viele Typen –, sondern wirklich schön. Seine pechschwarzen Haare waren etwas unordentlich in einen kurzen Pferdeschwanz gefasst, der eine Art stummelige Palme in der Mitte seines Kopfes bildete. Trotzdem schaffte es ein Großteil der Strähnen, Reißaus zu nehmen und dem jungen Mann in die dunklen Augen zu fallen. Sie waren beinahe mandelförmig, wenn auch recht schmal – er hatte eindeutig asiatische Wurzeln –, und verengten sich zu niedlichen Schlitzen, als er über sein eigenes Ungeschick schmunzelte.

Wie von einem Magneten angezogen, nahm ich Kurs auf den hübschen Kerl. In meinem ganzen Leben hatte ich bislang nur ein einziges Mal etwas mit einem Mann gehabt, und offenbar war nun der Moment gekommen, das zu wiederholen. Zum Glück hatte ich für den Abend keine anderen Pläne.

„Lass mich dir helfen.“ Ich kam vor dem Schwarzschopf zum Stehen, als er grad in die Hocke ging, um die heruntergefallenen Bücher aufzuheben. Überrascht schaute er zu mir auf. Sein Blick wanderte meinen Körper entlang aufwärts, bis er schließlich meinem Gesicht begegnete.

„Oh“, machte er und etwas an seiner weichen Miene veränderte sich. „Ähm …“

Ich kniete mich vor ihm hin und endlich fand er seine Worte wieder.

„Nicht nötig, danke. Das krieg ich schon hin.“

Es war nicht schwer zu erkennen, dass das hübsche Kerlchen versuchte, gelassen zu wirkten, doch seine Stimme klang verräterisch steif. Bingo! Bereits heute Nacht gehörte er mir!

„Das mag ja sein, aber zusammen macht alles so viel mehr Spaß.“ Ich zwinkerte ihm zu und stapelte die fetten Schinken aufeinander. ‚Glaube und Götter‘, ‚Zwischen Mythen und Religionen‘, ‚Unbekannte Religionen‘ … Wow, da suchte eindeutig jemand nach einem tieferen Sinn in seinem Leben.

„Also, wenn du über Gott und die Welt plaudern willst“, meinte ich und bemühte mich vergebens, seinen Augen erneut zu begegnen, „dann stelle ich mich hier und gleich zur Verfügung.“

Die Antwort, die mir zuteilwurde, fiel regelrecht schnippisch aus. „Eine Bücherei ist eher nicht so der Platz, an dem man plaudern sollte, nicht wahr?“, fragte der Namenlose, griff nach den von mir gestapelten Büchern und erhob sich.

Wie süß. Hatte ich ihn tatsächlich verärgert oder machte ich ihn schlichtweg nervös? „Wir können ja flüstern“, entgegnete ich ein wenig anzüglicher, um seine weitere Reaktion auszutesten. „Oder wir gehen woanders hin.“ Ich erhob mich ebenfalls wieder, stand nun direkt vor ihm. Er war ein ganzes Stück kleiner als ich. „Lust auf einen Kaffee?“

Endlich sah er mich an. Eine Augenbraue in die Höhe gezogen, legte er den Kopf schief. Die Palme auf seinem Kopf baumelte zur Seite. „Sie erinnern sich wirklich nicht an mich?“

Jetzt war wohl ich derjenige, der überrascht guckte. Mich an ihn erinnern?

Nachdenklich musterte ich das Gesicht vor mir. Die so zart wirkende blassgoldene Haut … die dichten schwarzen Wimpern … und, fuck, diese Wahnsinnslippen! So voll und geradezu rosafarben! Niemals würde ich die vergessen. Diese Lippen an meinem Schwanz – daran würde ich mich definitiv erinnern.

„Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dich vergessen haben zu können, aber … Tut mir leid, nein. Ich fürchte, ich erinnere mich nicht an dich.“ Ich ignorierte sein abfälliges Schnauben und fragte: „Würdest du mir auf die Sprünge helfen?“

So wie mein Gegenüber die dicken Bücher mit seinen Armen umschlang und an sich drückte, hätte er die Hauptrolle in einer asiatischen Neuverfilmung von Harry Potter spielen können. Bloß dass der schlanke Körper in keinem kackbraunen Pullunder, sondern Bluejeans und einem einfachen weißen T-Shirt steckte.

„Sie haben meinen Hund ein hässliches Viech genannt“, erklärte er ohne Umschweife; den Blick fast schon herausfordernd an meinen geheftet.

Hund? Welcher Hu…?

Oh.

„Du bist der Rührei-Boy!“, rief ich grinsend aus und kassierte dafür prompt ein genervtes Psst aus dem Nebengang sowie ein Augenrollen von meinem Leckerbissen.

„Taiyo“, korrigierte mich dieser und schien sich für die Preisgabe seines Namens im selben Moment ohrfeigen zu wollen. Der Kleine gefiel mir immer besser. Tollpatschig, ein bisschen aufmüpfig, leicht zu verunsichern … Ich würde meinen Arsch darauf verwetten, dass er im Bett genauso viele Facetten hatte – wenn man es erst schaffte, ihn zu bändigen.

Seufzend fuhr ich mir durchs Haar. Hätte ich ihm doch nur schon im Café etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt!

„Also Taiyo, das mit deinem Hund tut mir leid. Ich hatte an dem Tag einen verdammt miesen Morgen hinter mir und war deswegen nicht grad bester Laune.“ Abgesehen davon, dass mir mein Verhalten bloß deswegen leidtat, weil ich mich dafür entschuldigen musste, entsprach der Rest tatsächlich der Wahrheit: nicht nur, dass ich mit Kopfschmerzen des Todes und entgegen meiner Art in einem fremden Bett aufgewacht war, weil ich in meinem Vollsuff nicht rechtzeitig gegangen und schließlich weggepennt war – nein. Die Tussi besaß nicht mal eine Kaffeemaschine! Also hatte ich mich auf den Weg zum erstbesten Café gemacht. Aber kurz vor dem Ziel war ich von so einem Spast dumm angemacht worden, weil ich seine Frau angegraben haben sollte. Dass sie diejenige gewesen war, die mich auf der Stelle hatte anspringen wollen, weil ihr eigener Typ nicht nur grottenhässlich, sondern vermutlich auch impotent war, wollte der Fettwanst natürlich nicht einsehen. Und dann dieses Viech! „Aber du musst zugeben, dass dein Hund genauso überreagiert hat.“ Schließlich hatte ich dem Köter nichts getan, dass sein Gekläffe hätte rechtfertigen können.

Unerwarteterweise schien der Rührei-Boy wegen meiner letzten Worte nicht gleich in die Luft gehen zu wollen. Schade eigentlich. Ich hätte ihn gerne aus der Haut fahren sehen. Stattdessen rieb er sich verlegen den Nacken und nickte kaum merklich.

„Normalerweise ist sie der liebste Hund der Welt. Deswegen darf sie auch mit mir auf die Arbeit kommen. Sie bleibt in ihrem Körbchen liegen und erfreut sich an den Gästen, die ihr ihre Aufmerksamkeit schenken.“ Er zuckte die Schultern und zeigte mir ein winziges entschuldigendes Lächeln. „Ich habe sie aus dem Tierschutz und sie kommt aus ziemlich schlechter Haltung, wissen Sie? Irgendetwas an Ihnen muss sie getriggert haben, anders kann ich es mir nicht erklären.“

Mich triggerte grad auch etwas ganz gewaltig. Wenn das Häschen vor mir nicht auf der Stelle aufhörte, so unschuldig und süß vor sich hin zu lächeln, würde gleich zwischen all den Religionsbüchern etwas äußerst Unanständiges passieren. Von mir aus dürfte er sogar nach Gott schreien, während ich ihn dermaßen hart gegen die Regale nahm, dass die ach so Heiligen Schriften eine nach der anderen herausfielen.

„Danke jedenfalls für Ihre Entschuldigung. Das ist wirklich nett.“

Völlig aus meiner Fantasie gerissen, starrte ich ihn an. Er bedankte sich? Wie konnte jemand nur so abartig gutmütig sein? Das war ja richtig lästig. Aber hey, wenn das alles war, was ich ertragen musste, um ihn heute Nacht unter mir liegen zu haben … oder besser gesagt: vor mir kniend.

„Wenn du …“ Langsam kam ich einen Schritt auf ihn zu. „… mich auf einen Kaffee mit zu dir nimmst …“ Ich konnte regelrecht dabei zusehen, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Er blickte zu mir auf. Seine dunklen Augen wurden größer. Die Fingerknöchel heller, da er die Bücher so fest an sich presste, als seien sie ein Schutzschild. „Dann könnte ich mich auch bei deinem Hund entschuldigen.“

Seine Augen flackerten nervös zwischen meinem Gesicht und dem schmalen Gang, in dem wir uns befanden, hin und her. Er wollte nicht vor mir zurückweichen, suchte aber offensichtlich dennoch nach einer Möglichkeit, sich meiner plötzlichen Nähe zu entziehen. „Was genau, ähm, soll das werden?“

Zu meiner Verwunderung kostete es mich unheimlich viel Selbstbeherrschung, nicht einfach den Arm auszustrecken und diesen scheuen Jungen zu berühren. Ihm die Haare wegzustreichen, die sich zwischen seine Wimpern stahlen; die Konturen seiner Lippen nachzufahren, die einen Spalt weit offen standen … Seine Nervosität bereitete mir wahnsinniges Vergnügen. Doch ich war mir dessen bewusst, dass ein zu eiliges Vorpreschen ihn endgültig verschrecken könnte. Also zügelte ich meine Instinkte vorerst.

„Das ist ein klassischer Flirtversuch“, meinte ich stattdessen und musste grinsen, als die Augen vor mir ein weiteres Mal größer wurden. „Klassisch und eigentlich ziemlich eindeutig.“

„Ich … Also …“ Der Rührei-Boy war sichtlich überfordert von meiner Direktheit. Er öffnete und schloss seinen Mund mehrmals, ehe er schließlich verkündete: „Ich bin nicht zum Flirten hier.“

„Ich auch nicht. Aber dann sah ich dich und …“

„Und da haben Sie natürlich gleich erkannt, dass ich einen total tollen Charakter habe und sich entschlossen, dass Sie mich unbedingt kennenlernen wollen?“ Der plötzliche Trotz in seiner Stimme machte es mir verdammt schwer, ihn nicht auf der Stelle übers Knie zu legen und seinen Hintern zu versohlen. „Vielleicht stehe ich ja nicht einmal auf Männer? Schon mal darüber nachgedacht?“

„Tust du nicht?“ Amüsiert beobachtete ich, wie die Wangen dieses Taiyo Jungen sich rosa färbten, und wartete ab – obwohl eine Antwort ohnehin völlig unnötig war.

Nicht dass er vorhatte, mir eine zu geben. Er senkte lediglich seinen Blick und starrte schweigend zu Boden. Glaubte er, dass ich meine Frage irgendwann vergaß?

Ich entschied, ihn seiner Illusion nicht zu berauben, und wollte grad etwas sagen, um zurück in die Spur zu kommen, da kam er mir zuvor.

„Moment mal.“ Mit gerunzelter Stirn blickte mein hübsches Gegenüber auf, wobei er mir kurzzeitig und vermutlich versehentlich ins Gesicht schaute. „Haben Sie sich nur bei mir entschuldigt, weil Sie mich anmachen wollten?“

Tja, fuck. Wäre er doch nur genauso dumm, wie er hübsch war. Ich begann, mir eine glaubhafte Lüge in meinem Kopf zusammenzulegen, als eine Stimme hinter mir plötzlich meinen Arsch rettete:

„Entschuldigung? Ich wurde eben gerufen, weil es hier wohl leider zu laut geworden ist. Dürfte ich Sie bitten, Ihre Stimmen etwas zu senken?“

Noch während ich meine Augen himmelwärts verdrehte, verbeugte sich Herr KPop-Sternchen kaum merklich, bat die Nervensäge hinter mir flüsternd um Verzeihung und fügte mit einem giftigen Blick in meine Richtung hinzu: „Ich wollte eh gehen. Und die Entschuldigung nehme ich übrigens auch nicht an.“ Damit schob er sich an mir vorbei und verschwand – die gruseligen Märchenbücher im Schlepptau.

„Kannst du nicht irgendwelche Bücher in die Datenbank einpflegen oder so, statt mir den Flirt zu versauen?“ Genervt wandte ich mich dem bebrillten Idioten zu und begegnete seinem mir nur allzu bekannten Grinsen, das ich ihm am liebsten aus dem sommersprossigen Gesicht gewischt hätte.

„Flirt? Sehen deine Flirts immer so erleichtert aus, wenn sie das Weite suchen können?“

„Er ist nur ein bisschen zickig“, meinte ich schulterzuckend und versuchte, einen letzten Blick auf die Kehrseite des Rührei-Boys zu erhaschen, während er die Treppe ins Erdgeschoss nahm. Dieser Hintern war wahrlich nicht von schlechten Eltern! Klein, rund … sichtlich trainiert. Vielleicht tanzte das Häschen neben seinem super aufregenden Job im Café ja? „Das bekomm ich schon hin.“

„Zickig? Ich habe ihn noch nie zickig erlebt. Der Junge ist immer freundlich, hilfsbereit und gut gelaunt. Was hast du angestellt?“

Ich überging Bens Frage und wollte stattdessen wissen: „Er kommt also öfter her?“

„Mehr oder weniger regelmäßig, ja.“

„Dann ist er bestimmt in eurem System gespeichert?“ In meinem Kopf ratterte es. Könnte es wirklich so einfach sein? „Hast du eine Nummer für mich?“ Wenn ich diesen Taiyo richtig einschätzte und Bens Aussage stimmte, würde er nicht auflegen, sondern mir die Gelegenheit geben, mich zu erklären. Und ein paar gut zurechtgelegte Floskeln später würde ich auch schon meinen abendlichen Kaffee bei ihm auf der Couch genießen können.

Das Seufzen mir gegenüber machte meinen Plan allerdings zunichte, bevor ich die Antwort hörte. „Könntest du ihn bitte in Ruhe lassen? Er ist so ein netter Kerl.“

„Und nette Kerle stehen nicht auf Sex?“ Ich vergaß immer wieder, wie ätzend Ben sein konnte. „Ist ja nicht so, als würde ich nicht auch für sein Vergnügen sorgen.“

„Seit wann fallen überhaupt Männer in dein Beuteschema? Das ist mir neu.“

„Eifersüchtig?“ Zwinkernd rammte ich ihm meinen Ellenbogen in die Seite.

„Nicht, solange du die Finger von meinem Freund lässt.“ Bens grüne Augen musterten mich eindringlich.

„Dein Ernst?“ Zog er tatsächlich in Erwägung, ich könnte mir seinen Typen krallen? Wir waren so was wie beste Freunde, verdammt! Nur dass ich das nie im Leben zugeben würde. Auch nicht danach. „Du machst Witze, oder?“

Es dauerte einen Moment, ehe die Gesichtszüge vor mir an Ernsthaftigkeit verloren. Grinsend boxte mir Ben in die Schulter und sagte: „Ich verarsch dich nur.“ Doch trotz seiner Worte blieb das flaue Gefühl in meinem Magen. Würde er mir so einen Scheiß zutrauen? Oder was vielleicht noch viel wichtiger war: Traute ich selbst mir so einen Scheiß zu?

Räuspernd verdrängte ich diesen Gedanken aus meinem Kopf. „Also was jetzt? Krieg ich die Nummer?“

„Auf gar keinen Fall.“ Sein Kopfschütteln war völlig übertrieben. „Ich kann nicht irgendwelche Daten von unseren Büchereimitgliedern weitergeben. Selbst wenn ich es könnte: Der Kleine hat es nicht verdient, erst gefickt und dann fallengelassen zu werden. No way.“

Ich brauchte neue Freunde. Eindeutig.

„Prima, danke für deine Hilfe“, keifte ich und hörte schon wieder das genervte Psst aus dem Nebengang. Ich hasste die Menschheit so sehr. „Auf dich kann man sich echt verlassen.“ Ein kurzer Blick auf die Wanduhr gegenüber dem Gang erinnerte mich daran, dass ich längst hatte gehen wollen. „Ich mach mich mal auf den Weg. Wollte noch bei Jonas vorbeischauen.“

„Wie geht’s ihm denn? Irgendwelche Neuigkeiten?“

Ich zuckte die Schultern. „Redet nicht viel, egal wie oft ich frage.“

Ein tadelndes Lächeln wurde mir zuteil, dann meinte Ben: „Also gut, ich sollte mich auch wieder an die Arbeit machen. Irgendwelche Bücher in die Datenbank einpflegen oder so, du weißt schon. Und du denkst bitte an das Abendessen bei mir, ja?“

„Nur wenn du den Spast im Nebengang zusammenstauchst. Der geht mir gewaltig auf den Sack.“

Bens empörten Blick konnte ich nicht mehr sehen, da ich mich der Treppe nach unten zuwandte. Ein feiner Kumpel war der mir. Arschgesicht.

Dann musste ich mich wohl noch ein wenig gedulden, ehe ich den ach so netten Rührei-Boy mein Eigen nennen konnte.

Taiyo

‚Im Jahr 2002 wurde die Heilung einer Inderin als Wunder anerkannt. So soll der Frau ein von Mutter Teresa gesegnetes Amulett aufgelegt worden sein, wodurch ihr Tumor im Bauch gänzlich verschwand.‘

Ich hätte nicht so mir nichts, dir nichts verschwinden dürfen. Das war wirklich unhöflich gewesen. Was war nur in mich gefahren?

‚… Heilung eines Brasilianers von mehreren Hirntumoren als Wunder eingestuft und von Papst Franziskus angenommen.‘

Ich hätte nicht sagen dürfen, dass ich seine Entschuldigung nicht annehme. Vielleicht war sie ja aufrichtig gewesen? Wer war ich, dass ich ihm falsche Absichten unterstellte? Bestimmt tat ihm sein Verhalten leid.

Oh Himmel, konzentrier dich, Taiyo!

Dies hier war wichtiger. Womöglich stand auf genau diesen Seiten geschrieben, warum ich war, wie ich eben war. Und was machte ich? Meine Gedanken an jemanden verschwenden, der mich nur rumkriegen wollte. Jemanden, der wahrscheinlich nicht einmal mehr wusste, wie ich aussah oder gar hieß.

Ich nahm einen großen Schluck Kakao und schüttelte den Kopf über mich. Ich tat es schon wieder; maßte mir an, zu wissen, was er dachte oder wollte. So war ich doch überhaupt nicht. Was war bloß los?

Seufzend blickte ich auf meine Notizen. Längst hatte ich ganze Hefte damit gefüllt. Aber zum ersten Mal fühlte es sich an, als könnte ich tatsächlich eine richtige Spur haben. Das alles hier könnte endlich einen Sinn ergeben.

Ein Grund mehr, sich zusammenzureißen und zu konzentrieren.

‚Obwohl inzwischen zahlreiche Stimmen laut geworden sind, denen zufolge es medizinische Erklärungen für die sogenannten Wunderheilungen gibt, …‘

Ob sein Interesse an mir wohl echt gewesen war? An mir? Ich war immerhin eher unscheinbar. Klein und schüchtern – zumindest im Privaten. Er hingegen… Er strahlte pure Selbstsicherheit aus. Offensichtlich war er sich im Klaren darüber, wie er auf andere wirkte. Auf mich. Natürlich war er das! Schließlich sah er sich jeden Morgen im Spiegel. Seine breiten Schultern, sein markantes Gesicht… Seine Augen waren herrlich tief und verschmitzt; von dem verquollenen Kerl am Wochenende war vorhin nichts mehr zu erkennen gewesen.

Wie gerne würde auch ich ihn mal am Morgen sehen. Das dunkle Haar zerzaust, der Blick noch verschlafen…

„Maaaaaann!“ Völlig entnervt schmiss ich mich rücklings in die Sofakissen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen – bereute es allerdings im selben Moment, als Kintana neben mir vor Schreck aufsprang. Derartige Ausbrüche kannte sie von mir nicht.

„Tut mir leid, Mäuschen.“ Entschuldigend zog ich mir meine Hündin auf den Schoß und kraulte sie hinter den Hängeöhrchen. Fast augenblicklich entspannte sie sich und rollte sich wie ein überdimensionaler Bagel auf mir zusammen. „Ich weiß gar nicht, wieso ich mir diesen fiesen Kerl nicht aus dem Sinn schlagen kann. Erst beleidigt er dich und tut dann noch so, als täte es ihm leid.“ … Was ja trotzdem stimmen könnte … „Und was mache ich?“ Kintana schielte kritisch zu mir hoch. „Ganz genau. Ich stelle mir vor, wie er morgens nach dem Aufwachen aussieht.“ Niemals würde ich ihn so erleben dürfen. Weder ihn noch sonst jemanden. Denn wie sollte ich schon erklären können, was mit mir nicht stimmte? Ich wusste es ja selbst nicht wirklich. Zumindest noch nicht.

Die warme Zunge meines Hundes schleckte mir über den Unterarm und holte mich in die Gegenwart zurück. Das tat Kintana immer, wenn ich mich zu sehr in meinen Sehnsüchten oder Tagträumen verlor und nicht mehr herausfand.

„Du hast ja recht“, flüsterte ich und blinzelte einige Male, um die aufkommenden Tränen, vor allem aber die erdrückende Traurigkeit, die mich erfasst hatte, zu verbannen. „Ich darf mich nicht nur auf das konzentrieren, was mir fehlt, sondern muss mich an das erinnern, was ich habe. Dich zum Beispiel und meine Pflegeeltern. Und …“ Nachdenklich schaute ich mich in meiner winzigen Einzimmerwohnung um. Der Couchtisch, der mir auch als Esstisch diente, war überladen mit Büchern, Blöcken und Heften, die mir bei der Suche nach Antworten helfen sollten. Neben der Spüle tropften die einzigen drei Teller und Gläser ab, die ich besaß, da ich nie mehr benötige. Das schulterhohe Regal, das die Küche vom Wohn- und Schlafbereich trennte, war bespickt mit DVDs und Büchern – Bilderrahmen standen genau zwei darin: Aus dem einen strahlte mich meine Hundedame an, der andere zeigte meine Pflegeeltern und mich. „Und …“ Eine stumme Träne nahm Reißaus. Sie rann mir die Wange hinab, stahl sich meinen Hals entlang und verschwand schließlich unter den Saum meines T-Shirts.

Viel mehr hatte ich eigentlich nicht. Nicht wirklich.

Natürlich liebte ich den Job im Café. Ich mochte die Menschen, die dorthin kamen, und auch die kurzen Gespräche mit ihnen. Doch sobald sie gezahlt hatten – sobald der letzte Gast gegangen und das Café sauber gemacht war –, gab es da niemanden mehr. Und das würde so bleiben. Es würde sich nichts ändern. Ich würde immer nur die Randfigur im Leben anderer bleiben, würde nie erfahren, wie es war, Teil eines Ganzen zu sein. Ich würde mich jeden einzelnen Tag meines Daseins nach der Arbeit in diese überschaubare Wohnung begeben und unsichtbar bleiben. Unter keinen Umständen durfte ich Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Nicht solange ich den Sinn all dessen nicht kannte, und vermutlich auch dann nicht, wenn ich es irgendwann mal verstand.

Erneut spürte ich Kintanas feuchte Liebkosung und kam zu mir. Das konnte doch nicht wahr sein! Wie konnte mich eine solch kurze Begegnung derartig aus der Bahn werfen? Zudem war es keine nette Begegnung gewesen.

„Was meinst du?“ Interessiert drehte mein Vierbeiner sein Köpfchen hin und her. „Sollen wir noch eine Runde durch den Park laufen?“

Diese Frage hätte ich mir so was von sparen können: Wie der Blitz schoss Kintana vom Sofa runter und an die Wohnungstür, wo sie Schwänzchen wedelnd auf mich wartete.

„Darf ich bitte noch meine Schuhe anziehen?“, fragte ich scherzend um Erlaubnis, während ich ihre Leine vom Wandhaken nahm.

Hoffentlich würde mir ein bisschen frische Luft dabei helfen, auf andere Gedanken zu kommen.

Kapitel 3

Taiyo

„Ich denke, wir können für heute schließen. Bei dem Wetter wird sich niemand hierher verirren.“ Stirnrunzelnd schaute Pia aus dem knietiefen Fenster in Richtung Himmel. Von dem satten Blau, das noch zehn Minuten zuvor in allen Richtungen vorgeherrscht hatte, würde bald nichts mehr zu sehen sein. Stattdessen bahnten sich graue, schwere Gewitterwolken an, die schon von Weitem den Klang grollender Donner herantrugen. „Wisch noch mal über die Tische und kette mit Sophie draußen die Sonnenschirme und Stühle fest. Dann könnt ihr auch Feierabend machen.“

Ich nickte meiner Chefin zu, erwiderte ihr kurzes ‚Bye bye‘ und machte mich daran, die ersten Tische im inneren Teil des Cafés zu reinigen. Wenn ich mich beeilte, würde ich vielleicht noch eine schnelle Gassirunde mit Kintana schaffen, ehe es so richtig unangenehm wurde. Auf Gewitter reagierte sie immer recht empfindlich.

„Komm, lass mich das machen. An Tisch drei wartet jemand auf dich.“

Verwirrt blickte ich Sophie an, die wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war. „Tisch drei gehört doch dir?“ Dass bei dem Wetter überhaupt jemand ein Café aufsuchte?

„Und Gott weiß, gerade jetzt würde ich diesen Tisch wahnsinnig gerne bedienen.“ Sie fächerte sich gespielt theatralisch Luft zu, wodurch ihr die dichten roten Haare filmreif um das immerzu fröhliche Gesicht tanzten. Dabei ging Sophies Grinsen bis über beide Ohren. „Aber der Gast verlangt ausdrücklich nach dir.“

Nun war ich noch verwirrter.

„Jetzt guck nicht so! Schwing deinen süßen Hintern raus. Der Kerl sieht nicht so aus, als wäre er es gewohnt zu warten.“

Kerl? Süßer Hintern?

„Kerl?“

Sophie verdrehte ihre strahlend blauen Augen. „Ja, Kerl. Groß, gut gebaut, dunkles Haar und eine super sexy Stimme.“ Sie sprach nun ein paar Oktaven tiefer: „Ist der hübsche Asiate heute im Dienst? Taiyo?“

Hübsch?

„Hat er das gesagt?“ Ich ohrfeigte mich gedanklich sowohl für die Frage als auch für das plötzliche Ziepen in meinem Bauch. Denn mir war mit einem Mal nur allzu klar, wer dort an Tisch Nummer drei sitzen musste und nach mir schickte. „Ich meine … Könntest du ihn bitte bedienen? Pia hat gesagt …“

„Keine Chance. Der Hottie bringt mich wahrscheinlich um, wenn ich ohne seinen Taiyo zurückkomme. Ist das dein Ex oder so?“

„Sein Ex? Nein.“ – Ich zuckte zusammen. – „Taiyo steht schließlich nicht auf Männer. Richtig?“ Mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme sah der Gast mich an, während er langsam hereinkam und die Theke ansteuerte, an der Sophie und ich gerade standen und ausgerechnet über ihn redeten.

Sofort begann Kintana aus ihrem Körbchen heraus zu knurren, und fast wäre ich zu ihr hin, um sie dafür zu loben. Ich hatte entschieden, dass der Namenlose diese Reaktion ja eigentlich verdient hatte. Da besann ich mich wieder.

„Ist okay, Mäuschen. Sei bitte lieb zu unserem Besucher.“

„Du meinst zu deinem Besucher“, stichelte nun auch noch Sophie und zwinkerte mir zu, ehe sie mit dem Putzlappen nach draußen verschwand und Kintana zu sich rief. „Komm mit, Schnecki, lassen wir die Jungs allein und machen hier alles niet- und nagelfest.“

Dafür, dass mein Hund ihr einfach folgte und mich zurückließ, sollte ich ihr auf Lebzeiten die Leckerlis streichen, überlegte ich – vermutlich bloß, um irgendetwas mit meinen Gedanken anzufangen. Denn sie überschlugen sich in alle Richtungen.

„Wir, äh, wir wollten eigentlich gleich schließen“, erklärte ich, wobei ich prompt wieder in das Gemurmel von unserer ersten Begegnung verfiel, und deutete unnötigerweise mit dem Finger nach draußen. „Wegen des aufziehenden Gewitters.“

Der Gast folgte meinem Fingerzeig zwar, nahm dann jedoch an einem der wenigen Tische Platz und meinte: „Sag bitte nicht, dass ich zum zweiten Mal hierher komme und nicht bedient werde.“ Seine Augen funkelten belustigt auf. Er sah meine Unsicherheit; sah mir den inneren Konflikt an.

Und selbstverständlich hatte er recht. Ich konnte ihn nicht wegschicken. Nicht nur, weil er zu unseren regulären Öffnungszeiten gekommen war, sondern auch, weil er das Café schon einmal unbefriedigt hatte verlassen müssen.

Mit mir hadernd, biss ich auf meiner Unterlippe herum, unterließ das allerdings in dem Moment, in dem mir der Blick auffiel, der mir zuteilwurde. Viel zu intensiv. Viel zu dunkel.

Stattdessen entgegnete ich kleinlaut: „Nein, natürlich nicht. Wir schließen erst, wenn der letzte Gast gegangen ist.“ Bei keinem anderen Besucher würde ich auch nur zögern. Ich sollte mich schämen. „Was darf ich Ihnen denn bringen?“

„Ich nehme einen Kaffee.“

„Schwarz und ohne Zucker?“

„Richtig.“ Er schenkte mir ein Lächeln. Ein wirklich schönes Lächeln, das seine Augen erreichte, obwohl es tatsächlich eher winzig war – fast ungewollt schien. Es hypnotisierte mich. Er hypnotisierte mich. Seine Aufmerksamkeit … seine Aura … sein Räuspern.

Sein Räuspern! Oh mein Gott!

Mit plötzlich glühenden Ohren machte ich auf dem Absatz kehrt und marschierte zu der Kaffeemaschine, die mich glücklicherweise von den Blicken des Gastes abschirmte.

Was um Himmels willen war das gewesen? Wo war ich nur mit meinen Gedanken gewesen? So ging das nicht. So ging das einfach nicht! Ich war die Bedienung, er ein Kunde. Für Schwärmereien gab es in meinem Leben ohnehin keinen Platz – geschweige denn für mehr. Ich musste mich ganz schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen, musste ihm aus dem Kopf schlagen, was auch immer er da versuchte. Und mir selbst gleich mit dazu.

Nachdem die übergroße Maschine vor mir ihre lautstarke Arbeit hinter sich gebracht hatte, atmete ich tief durch, straffte die Schultern und schnappte mir sowohl den Kaffee als auch zwei Kekse, um den Mann mit den faszinierenden Augen zu bedienen. Also … Augen eben. Normale Augen. Zwei davon. Gewöhnliche Pupillen mit ein bisschen hübschem Schnickschnack rund herum. Habe ich schließlich auch. Augen, meinte ich. Zwei.

„Hier, bitte schön.“ Die Tasse klapperte unelegant, als ich sie mit leicht zittrigen Händen auf dem Tischchen abstellte. Bitte lass es ihn nicht bemerkt haben! „Wenn Sie noch etwas benötigen sollten, ich bin draußen und gehe meiner Kollegin zur Hand. Die Schirme und Stühle müssen windfest gemacht werden.“ Ich dankte dem Universum für den plötzlichen Windstoß, der vor dem Fenster die Kronen der Bäume durchschüttelte, und wollte gerade gehen, da hielt mich der Mann mit den normalen Augen zurück.

„Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest mir ein bisschen Gesellschaft leisten. Ich habe sogar einen Keks für dich.“ Grinsend deutete er auf die beiden verpackten Gebäckstücke und zwinkerte mir zu. „Deine Kollegin scheint allein zurechtzukommen, und wir könnten unser Gespräch aus der Bibliothek fortsetzen.“

Hilfesuchend schaute ich ins Freie. Erste Regentropfen fielen bereits vom Himmel und trommelten gegen den Asphalt und die Fensterfront. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich kleine Pfützen bildeten.

„Das geht nicht“, flüsterte ich und schüttelte kaum merklich den Kopf. Wieso fiel es mir nur so schwer?

„Hast du einen Freund, pardon: eine Freundin?“

Tatsächlich musste ich nun leicht schmunzeln. Ich hätte ihm für seine freche Art nur einen Keks geben sollen. „Nein, da ist niemand.“ Da war nie jemand gewesen.

„Warum sträubst du dich dann so davor? Ich merke doch, dass du in meiner Nähe nervös wirst.“

Seufzend fuhr ich mir durchs Haar. Ich spürte seinen Blick, versuchte aber, ihn zu meiden, weil er alles in mir zum Kribbeln brachte. Wie würde es dann erst sein, wenn …? Völlig panisch stoppte ich meinen eigenen Gedankengang. Das ging zu weit. Nicht nur, dass ich diesen Mann überhaupt nicht kannte; ich erkannte mich selbst nicht wieder. Diese Schwärmereien, die fehlende Selbstbeherrschung. So war ich nicht und durfte es auch nicht sein!

„Dann habe ich also recht?“ Mein ausgedehntes Schweigen veranlasste den Fremden dazu, sich seiner noch sicherer zu werden. „Mach ich dich nervös, weil du merkst, wie aussichtslos der Kampf gegen dein eigenes Verlangen ist?“

Ich schnappte eine Spur zu laut nach Luft. Dabei lag es auf der Hand. Es zu leugnen wäre albern gewesen. Doch aussprechen konnte ich die Wahrheit auch nicht: dass die unerklärliche Sehnsucht mich von innen heraus auffraß. Die Sehnsucht nach jemandem, den ich überhaupt nicht kannte. Nach seiner Aufmerksamkeit und nach Berührungen, in dessen Geschmack ich noch nie gekommen war. Die Sehnsucht nach seinen unverhohlenen, ja fast schon arroganten Worten. War ja nicht so, als hätten wir in den wenigen Minuten, die wir uns je miteinander unterhalten hatten, nette Gespräche geführt.

Also räusperte ich den Kloß, der sich in meinem Hals bildete, weg und sagte: „Es kommt gleich ganz schön was runter. Ich muss ihr jetzt wirklich zur Hand …“

„Nein, warte.“



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