Alaric Zane - Wunden der Vergangenheit - Irina Meerling - E-Book

Alaric Zane - Wunden der Vergangenheit E-Book

Irina Meerling

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Beschreibung

Ein Mobber und sein Opfer. Zwei Schicksale, die unweigerlich miteinander verflochten sind. Zehn Jahre, die alles hätten verändern können. Doch manche Narben verblassen nicht. Kann man seiner eigenen Vergangenheit entkommen? Kann Vergebung Heilung bringen und das Unverzeihliche verziehen werden? Oder reißt eine Begegnung, bei der Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallen, alte Wunden nur wieder auf? Eine intensive Novelle über Schmerz, Schuld und die Suche nach einem zweiten Anfang. Diese Novelle hat im Taschenbuchformat 99 Seiten.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

Irina Meerling wurde im Sommer 1988 geboren und veröffentlicht seit dem Jahr 2011 Bücher in den Bereichen Gay Romance, Gay Low Fantasy und Gay Drama. Zu ihren Veröffentlichungen gehören u.a. „Das L(i)eben lernen“ und „The Story Of Sun And Moon“ – beide erschienen im dead soft Verlag.

Impressum

© Irina Meerling, 2025

c/o

R. Zimmermann

Eichener Straße 86

41061 Mönchengladbach

Covergestaltung: Irina Meerling

Bildrechte: Jeja - istockphoto.com

Kapitel 1 – 5:55 Uhr

Dillen

„Ich sagte sauberlecken!“, donnerte ich durchs Klassenzimmer und verstärkte meinen Griff in seinem Nacken, um ihn fester gegen die Tafel zu drücken. „Deine Tränen hinterlassen nur Schlieren!“

Wimmernd versuchte er sich zu befreien. Seine Augen flehten. Doch wie sonst auch gab es kein Entkommen.

Mit wild schlagendem Herzen schreckte ich in der Dunkelheit hoch.

Nicht schon wieder. Wieder einer dieser Träume. Wieder sein Blick. Panik lag darin. Demütigung. Hass.

Emotionen, die wir in ihm auslösten. Ich.

Ich drückte mir die Handballen in die Augen, bis ich grelle Blitze sah. Wann hörte es endlich auf? Seit Monaten immer aufs Neue sein Gesicht zu sehen … Ich konnte nicht mehr! Es waren fast zehn Jahre vergangen, seit …

Seit ich ihm jeden verdammten Tag zur Hölle gemacht hatte. Wenn ich ehrlich zu mir war, verdiente ich diese Träume. Und vermutlich noch weitaus mehr.

Die Decke zur Seite geschlagen, stieg ich aus meinem Bett und schlurfte in die Küche. Wenn ich jetzt einschlief – falls ich überhaupt einschlafen konnte –, würde der Traum wie so oft einfach weitergehen. Noch mehr Schmerz, mehr Leid. Gelächter …

Viel zu wach für fünf Uhr morgens öffnete ich den Kühlschrank und blinzelte dem Licht entgegen. Dabei hatte ich nicht einmal Hunger. Vielleicht eher Kaffee?

Ich startete die Maschine, die anhand ihrer wuchtigen Größe eher Zeitreisen ermöglichen, statt Heißgetränke zubereiten sollte, und wartete. In einer überteuerten Küche. Allein.

Es war nicht so, als hätte ich ein schlechtes Leben – abgesehen davon, dass meine Partnerin mich nach dreizehn Jahren hatte sitzen lassen. Ich hatte ein Haus, einen ziemlich entspannten Job als Grafik-Designer, drei Mal Strandurlaub im Jahr. Geld.

Aber einige Dinge konnte selbst Geld nicht regeln.

Nachdem der Automat den Kaffee zubereitet hatte, setzte ich mich mit der dampfenden Tasse an die Kücheninsel und sah mich im Halbdunkeln um. Elfi hatte nichts mitnehmen wollen, was sie an mich erinnerte. Wie gerne würde ich es ihr in diesem Moment nachmachen.

Seufzend zog ich den Laptop näher und ließ ihn mit einem Knopfdruck hochfahren. Ich musste auf andere Gedanken kommen.

Doch sobald ich die erstbeste Social Media Plattform geöffnet hatte, sprang mir sein Name entgegen.

Shit. Ich hatte nicht mehr dran gedacht, dass ich ihn gesucht hatte. Und gefunden – wenn man dieses äußerst leere, fast schon trostlose Profil als Fund betrachten konnte. Nicht ein einziges Foto. Kein Post, der nicht mindestens zwölf Jahre alt war. Nichts weiter als ein Name: Alaric Zane.

Ein Name und all die dazugehörigen Erinnerungen. Ich hätte es beenden müssen, damals. Stattdessen hatte ich immer weitergemacht. Und warum? Weil ich ein Arschloch gewesen war? Weil der Stärkere in der freien Wildbahn immer gewann? Weil meine pubertären Hormone mein Hirn hatten durchbrennen lassen?

Ein bisschen komplizierter war es schon gewesen. Aber das änderte nicht das Geringste.

Elfis beste Freundin Mia hatte vor ein paar Monaten erzählt, sie sei ihm Ende letzten Jahres begegnet. Alaric und sie hatten zu Schulzeiten nie viel miteinander zu tun gehabt, was sicher auch der Grund dafür gewesen war, weshalb er überhaupt zwei Worte mit ihr gewechselt hatte. Von ihr wusste ich, dass er nach seinem Abschluss ein gutes Stück nördlich gezogen und bloß zu Besuch bei seiner kranken Oma in der Gegend gewesen war. Abgesehen von ihr hielt ihn hier nichts. Und seit diesem Gespräch … Alaric. Überall.

Laut Mia hatte er sich kaum verändert. Er war nach wie vor dürr und bleich. Und sehr leise. Vermutlich hatte er in seinem Leben schon genug schreien müssen …

Eine Spur zu laut knallte ich den Laptop zu. Allein der geschriebene Name ließ mich sein vor Qualen verzerrtes Gesicht sehen. Seit Mias Erzählung dachte ich kaum an etwas anderes. Als würde er mich heimsuchen.

Elfi hatte schnell genug von meinen inneren Zerwürfnissen gehabt. Ich hätte mich zu sehr verändert und sei nicht mehr der, in den sie sich verliebt hatte. Nur wollte ich eben nicht mehr der sein, der ich in der Schule geworden war. Ich wollte bloß eins: Absolution. Doch ich hatte wenig Hoffnung, dass ein anderer als Alaric mich von meinem Leid erlösen konnte. Seine Vergebung war alles, was mir helfen konnte. Falls mir etwas würde helfen können. Aber wo sollte ich ihn finden? Ihn über Social Media anzuschreiben, konnte ich mir sparen: Zwar hatte er mich in all den Jahren nie blockiert – nicht einmal, nachdem ich ihm damals diese nette kleine Hassbotschaft geschickt hatte –, aber sollte Alaric entgegen meiner Vermutung regelmäßig online gehen, würde er es nachholen, sobald er meine Message erblickte.

Gähnend sah ich zur Uhranzeige der Mikrowelle. 5:55 Uhr.

*

Alaric

Niedergeschlagen sah ich der Mutter und ihrem Vierjährigen nach. Ihr war völlig egal gewesen, was meine Kollegin Andy ihr eben berichtet hatte. Ihr war egal, dass ihr Sohn die anderen Kinder bis aufs Übelste hänselte oder gar schlug. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass sie stolz gewirkt hatte. Ihr kleiner Matteo wusste sich zu behaupten. Dass er dabei jedes Mal eine Kerbe in die kleinen unschuldigen Seelen rammte, kümmerte sie keineswegs.

„Du kannst die Eltern nicht umerziehen, Alaric.“

Andy musste meinen Blick bemerkt haben. Natürlich, stand ich doch bei offener Kindergartentür da und starrte in Richtung der Parkplätze. Matteo war das letzte Kind, das abgeholt worden war.

„Ich weiß.“ Seufzend schloss ich die Tür. „Aber ich weiß auch, wie das Ganze enden kann. Wenn der Kleine jetzt schon so drauf ist, wie wird er dann später in der Schule sein?“ Er würde sich das schwächste Kind raussuchen und es leiden lassen. Vielleicht für immer. Manche Dinge vergaß man nicht.

„Die Familie ist erst zugezogen. Matteo braucht eventuell bloß etwas länger, um Freundschaften zu schließen. Womöglich will er durch sein Verhalten nur Aufmerksamkeit, weil er sich unsicher fühlt.“ Andy legte mir eine Hand auf die Schulter. „Lass uns einfach mal beobachten, ob die Welt in zwei, drei Wochen anders aussieht.“

„Hmm“, machte ich. Sie könnte recht haben. Aber genauso gut könnte sie falschliegen. Und wenn dies der Fall sein sollte, wären zwei oder gar drei Wochen Nichtstun unvertretbar. „Ich suche zu Hause mal nach ein paar Ideen zur Konfliktlösung bei Kindern. Oder nach Spielen, die sie einander besser verstehen lassen.“

„Und ich suche zu Hause nach der Fernbedienung und mache heute rein gar nichts mehr!“ Lachend nahm Andy ihre Jacke vom Garderobenhaken. „Solltest du zur Abwechslung auch versuchen!“

Wieder ein Hmm meinerseits. Ich war nicht der Typ für Widerworte.

*

Alaric

Die Märzsonne hatte überraschend viel Kraft. Doch ihre angenehme Wärme wurde mit jedem eisigen Windstoß zunichtegemacht.

Ich zippte den Reißverschluss meines grauen Sweatshirts zu und zog die Schultern an. Bis nach Hause waren es bloß 10 Minuten zu Fuß, dennoch überlegte ich ernsthaft, mir endlich ein Fahrrad zuzulegen. Für ein gebrauchtes würde das Geld schon irgendwie reichen.

Meine Ersparnisse hatte ich in den vergangenen Monaten aufgebraucht, als ich mir für längere Zeit unbezahlten Urlaub genommen hatte. Meine Oma hatte Hilfe gebraucht. Auf ihrem letzten Weg. Und ich war für sie da gewesen.

Nun war ich allein.

Ich fand das Alleinsein nicht schlimm. Allein zu sein, bedeutete Frieden. Aber die Einsamkeit bedrückte mich oft. Das waren zwei verschiedene Paar Schuhe. Niemand war gerne einsam.

Kopfschüttelnd schob ich meine Grübeleien beiseite und nahm Kurs auf den kleinen Laden, der auf dem Weg zu meiner Wohnung lag. Im windstillen Inneren angekommen, steuerte ich das Abteil mit der Tiernahrung an und schnappte mir drei Beutel Katzenfutter. Ob ich mir noch eine Dose Erdnüsse mitnehmen sollte? Bestimmt würde ich während meiner Recherche nach geeigneten Kinderspielen etwas knabbern wollen.

Meine Schritte führten mich also zu den Chips, Salzstangen und Nüssen – da hörte ich meinen Namen. Nicht laut und auch nicht aus nächster Nähe, doch ich hörte ihn. Ich war darauf trainiert, ihn selbst in der lautesten Umgebung zu hören. Gedrillt. Seit dem Teenageralter.

Ein schneller Blick nach links und rechts brachte mir keine Erkenntnis. Dann allerdings vernahm ich die Stimme erneut. Und sie stellte mir die Nackenhaare auf. „Wohnt er hier in der Gegend?“

Nein. Das durfte nicht wahr sein. Er hier? War das möglich?

Ich würde nicht warten und es herausfinden. Ich rannte.

Kapitel 2 – Braune Augen

Dillen

„Wohnt er hier in der Gegend?“ Ich hielt dem Verkäufer mein Handy hin, um ihm das abfotografierte Klassenfoto zu zeigen, in das ich auf Alaric reingezoomt hatte. Wenn Mias Aussage stimmte, müsste er irgendwo in der Nähe leben. Ich hatte diesbezüglich kürzlich bei ihr angerufen und auf ihre Hilfe gehofft – und tatsächlich: Da sie nicht nur damals schon ein besserer Mensch als ich gewesen war, hielt sie eine Entschuldigung spätestens jetzt für überfällig.

„Ja klar!“, rief der Verkäufer und nickte eifrig. „Das ist der Kindergärtner meines Sohnes Luis! Hab erst gestern mit ihm über diesen neuen kleinen Teufel Matteo gesprochen. Er müsste irgendwo die Straße runter leben. Aber …“ Eine kleine verkümmerte Kerze schien irgendwo hinter seiner Stirn gezündet zu haben. „Wieso wollen Sie das wissen? Wer sind Sie?“

„Ein ehemaliger Schulfreund“, log ich und zoomte das Foto an mich heran, um ihn zu beruhigen. „Wir haben uns mit den Jahren leider verloren.“

Erleichterung spiegelte sich in seinen Augen wider. Der Mann war vielleicht nicht der Hellste, doch er schien korrekt zu sein. Und dank ihm war ich nun einen großen Schritt weiter.

Meine Suche brachte mich Haus um Haus die Straße entlang. Ich glaubte nicht, dass Alaric zwischenzeitlich einen anderen Namen angenommen hatte. Tatsächlich erwischte ich mich bei dem Gedanken, wie seltsam ich es finden würde, wenn er nun jemanden an seiner Seite hätte. Alaric als liebender Ehemann? Als geliebter Ehemann? Womöglich sogar als Vater? Hatte er es am Ende weiter gebracht als ich? Nicht, dass er es nicht verdient hätte. Nach all dem Mist in seiner Teeniezeit.

Ich erreichte ein schlichtes Mehrfamilienhaus am Ende der Straße und stieg die Stufen hinauf, die zur Eingangstür führten. Ob ich hier fündig würde? Mit zusammengekniffenen Augen las ich die Namen auf den Klingeln. Die meisten mussten längst erneuert werden, da die Schrift mit der Zeit verblasst oder gar verwischt war. Doch ein Name fiel mir plötzlich und klar in den Blick. Ich hatte ihn in den vergangenen Monaten so oft angestarrt, dass ich ihn selbst in einem Suchbild sofort entdeckt hätte: Zane.

Alaric Zane.

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich hatte ihn gefunden. Ich stand vor seinem Haus. Zwar hatte ich nicht damit gerechnet zu scheitern – immerhin hatte ich mir extra ein paar Tage freigenommen –, aber nun, da es so weit war, wurde ich nervöser als erwartet.

„Hallo Alaric, ich bin’s“, meinte ich probehalber ins Nichts. „Hey, ich komme, um mich zu entschuldigen.“ Auch dämlich.

Kopfschüttelnd drückte ich eine der Klingeln. Alaric würde mich niemals hereinlassen, wenn ich bei ihm klingeln würde. Und was ich ihm sagen würde, wenn ich vor ihm stand, würde ich spontan entscheiden.

„Hallo?“, erklang die Stimme eines alten Mannes.

„Ja, hallo. Würden Sie mir bitte aufmachen?“

„Wer sind Sie denn? Ich lasse sicher keinen Raufbold herein!“

Genau genommen müsste ich dann wohl draußen bleiben. „Ich habe bloß meinen Schlüssel vergessen. Hier ist Alaric Zane.“

„Zane?“, kam es nachdenklich aus dem vergilbten Lautsprecher. „Der dünne Jüngling von ganz oben?“

Ganz oben, toll. Hoffentlich gab es einen Aufzug.

„Genau der“, log ich. „Würden Sie mich bitte reinlassen?“

„Na klar, kein Problem!“

Es ertönte ein Surren und erleichtert trat ich durch den Eingang in einen schmalen Hausflur mit abgetretenen Holzstufen. Einen Aufzug gab es, wie fast erwartet, nicht, aber immerhin wusste ich, wo ich nach Alarics Wohnung suchen musste.

Mit dem Besteigen der Treppen ließ ich mir Zeit. Jede weitere Stufe trieb mir den Puls höher und höher. Doch ich würde keinen Rückzieher machen. Ich würde für das, was ich ihm über Jahre hinweg angetan hatte, geradestehen.

Schließlich erreichte ich viel zu schnell den letzten Treppenabsatz. Vor mir sowie links und rechts befand sich jeweils eine Wohnungstür. Leichter hätte ich es kaum haben können. Auch wenn der schwierige Teil erst kam.

Das kleine Buch in meiner Jeanstasche wog plötzlich drei Tonnen und ohne einen Frosch im Hals zu haben, räusperte ich mich mehrmals. Als würde ich gleich an einem Vorsingen teilnehmen. Wie sollte ich bloß anfangen? Wie ihm in die Augen sehen?

*

Alaric

Noch immer schuldbewusst starrte ich das Diebesgut an. Mein Diebesgut. Wie hatte mich die Stimme eines Fremden so dermaßen aus dem Konzept bringen können? Ja, sie hatte mich an jemanden erinnert, der mich über Jahre hinweg zu viel Schmerz, Wut und vor allem Angst gekostet hatte. Unzählige Stunden hatte ich über meine Erlebnisse gesprochen, aber eine Besserung war nie eingetreten. Erst jetzt, einen Umzug und so viel Zeit später, setzte mein Herz keinen Schlag mehr aus, wenn ich jemanden meinen Namen sagen hörte.

Und nun war es eine Stimme gewesen.

„Diva!“, rief ich nach meiner Katze und öffnete das geklaute Futter. Ich füllte den Inhalt in einen flachen Teller und zerkleinerte das Glibberzeug. Unfassbar, dass das ihr Lieblingsessen war.

„Heute ein Spezialmenü“, feixte ich und stellte den Teller neben ihrem Trinknapf ab. „Menü à la gemopst!“

Sofort stampfte das graue Plüschtier, dessen Bewegungslegasthenie so gar nicht zu ihrem Namen passen wollte, in die Küche und machte sich über ihr Futter her.

„Guten.“

Ich verließ den Raum ohne meine heiß geliebten Erdnüsse, dafür aber mit dem festen Vorhaben, meine Schulden gleich morgen zu begleichen.

Am kleinen Esstisch im Wohnzimmer Platz genommen, startete ich den Laptop. Wenn Andy einfach abwarten wollte, konnte sie das tun. Ich allerdings würde nicht tatenlos dabei zusehen, wie ein kleines Kind mit großen Schritten den falschen Weg einschlug und andere unter sich leiden ließ.

Nachdem ich das Passwort eingegeben hatte, öffnete ich den Browser und überlegte mir eine konkrete Fragestellung. Da klingelte es an der Tür.

Überrascht blickte ich auf. Hatte ich etwas bestellt? Nicht dass ich wüsste. Vielleicht die Reinigungskraft fürs Treppenhaus, die mal wieder ihren Schlüssel verlegt hatte? Ich erhob mich und betätigte die Gegensprechanlage. Keine Antwort. Ich entschied gerade, dass es sich um ein Versehen gehandelt haben musste, als es an meiner Tür klopfte.

Wie erstarrt blieb ich stehen. Was, wenn …?

Ich schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen. Das vorhin hatte ich mir eingebildet! Er wusste nicht einmal, in welcher Stadt ich wohnte! Ich durfte mich von einem albernen Zwischenfall nicht so aus der Bahn werfen lassen! In meiner Wohnung – in meinem neuen Leben – war ich sicher.

Die Hand am Griff, ärgerte ich mich kurz darüber, dass ich keinen Spion im Türblatt hatte. Dennoch öffnete ich.

Und erstarrte.

Stahlblaue mandelförmige Augen schauten mir aus einem schmalen und gleichzeitig markanten Gesicht entgegen, das von hellbraunen Wellen gerahmt war. Es war ein Anblick, den ich gehofft hatte, nie wieder zu sehen.

Als sei ein gewaltiger Blitz durch mich hindurch gefahren, begannen meine Glieder zu kribbeln. In meinen Ohren rauschte es und mir wurde übel. Die Hände klatschnass.

„Hallo Alaric.“

Gallensäure stieg mir die Speiseröhre hinauf. Nein. Bitte nicht.

Es vergingen gefühlte Stunden, ehe mein Gegenüber abermals den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Da endlich erwachte ich aus meinem Schockzustand.

So heftig, wie es meine geschwächten Arme nur zuließen, schleuderte ich die Tür zurück ins Schloss. Meine Atmung ging stoßweise. Ich lehnte mich mit der Stirn gegen die Tür. Konzentrierte mich auf die Luft, die meine Lungen verließ. Er kam hier nicht rein. Er kam hier nicht rein.

Kraftlos sank ich zu Boden. Keine zehn Zentimeter trennten uns voneinander.

Uns. Mich und ihn.

Ihn.

Meinen wahrgewordenen Albtraum. Den Grund für meine wiederkehrenden Panikattacken.

Wie hatte er mich gefunden? Was wollte er? Warum ließ er mich nicht einfach in Frieden? Ich hatte ihm doch nie etwas getan!

„Alaric, bitte mach die Tür auf!“

Seine Stimme drang nur dumpf in meine Wohnung vor. Aber deutlich genug, um mich erzittern zu lassen.

Bitte nicht. Bitte.

„Verschwinde“, krächzte ich, war mir allerdings sicher, dass er es nicht einmal gehört hatte. Nicht, dass es ihn interessiert hätte.

Matt griff ich nach der Kommode zu meiner Linken, um mich an ihr hochzuziehen, als es in meiner Jeanstasche vibrierte.

Mein Handy! Ich könnte die Polizei rufen!

Ich zog das alte Gerät aus meiner Hose und hielt es mir mit feuchten Händen vors Gesicht. Ein Anruf über Facebook brachte es noch immer zum Vibrieren. Auf dem Display der Name, der den Großteil meiner Vergangenheit dominiert hatte: Dillen Ahler.

*

Dillen

Alaric pfefferte die Tür mit solch einer Wucht zu, dass die dünne Wand um sie herum wackelte. Doch ich zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich war viel zu erstarrt. Erstarrt von seinem Anblick.

Von seinen Augen.

In der Sekunde, in der sie mich erfasst hatten, war sie wieder da gewesen: die Panik. Genauso wie damals, wann immer er mich gesehen hatte. Als hätte sich nichts geändert. Aber anders als zu Schulzeiten fühle ich heute keine Macht. Keine Größe und Überlegenheit. Ich wollte nicht, dass diese beinahe runden braunen Augen mich so voller Angst und Kummer anschauten.

„Alaric, bitte mach die Tür auf!“, rief ich durch die billige Spanplatte, sobald ich mich wieder gesammelt hatte, und hoffte, dass er mich hörte. Eine Antwort erhielt ich nicht.

„Fuck …“ Fahrig fuhr ich mir durchs Haar und lief die fünf Schritte zwischen den gegenüberliegenden Wohnungen auf und ab. Ich konnte nicht einfach aufgeben! Ich hatte mich durch den halben Ort gefragt, um ihn zu finden! Ich hatte unzählige schlaflose Nächte in meiner Küche verbracht, ehe ich den Entschluss gefasst hatte, ihn zu suchen. Und noch wichtiger: Ich schuldete ihm eine Entschuldigung. Selbst wenn diese nicht das Geringste würde ungeschehen machen können. Ich musste mit ihm reden. Zumindest kurz.

Wie angewurzelt blieb ich stehen. Ich musste mit ihm reden. Wer sagte, dass ich ihm dafür zwangsläufig ins Gesicht blicken musste? Ich war hier, Alaric wusste das. Ich hatte es versucht. Und vielleicht – ganz vielleicht – würde er mir die Tür nach ein paar Minuten doch noch öffnen. Aber bis dahin galt es, irgendwie an ihn heranzukommen.

Eilig kramte ich das Handy aus meiner Jeansjacke. Ein Anruf von zu Hause aus wäre feige gewesen. Nun allerdings war ich hier.

Ich rief das Social Media Profil auf, dessen leere Seite sich längst in mein inneres Auge gebrannt hatte, ließ mich mit dem Rücken gegen Alarics Wohnungstür zu Boden sinken und atmete tief durch.

Kapitel 3 – Rücken an Rücken

Alaric

Ich weiß nicht, wie lange ich auf das Display gestarrt hatte. Als ob der Name darauf sich schon noch ändern würde. Als stünde er nicht vor meiner Wohnung.

Letzten Endes jedoch ging ich ran. Ohne ein Wort zu sagen. Nur darum bemüht, nicht zu hektisch zu atmen. Er sollte sich nicht wieder an meiner Furcht weiden.

„Alaric?“ Seine Stimme klang überrascht. Und erleichtert. „Alaric, bitte leg nicht auf. Ich …“ Er zögerte. Allein sein Schweigen bereitete mir eine Gänsehaut. Stand er immer noch hinter der Tür, gegen die ich mich kauerte? „Ich verstehe, warum du mir nicht öffnen willst. Würde ich an deiner Stelle auch nicht. Ich war … Ich kann gar nicht in Worte fassen, was für ein Arschloch ich war! Seit Wochen kann ich an nichts anderes denken … Ich … Es …“

Tränen rannen meine Wangen hinab. Tränen der Wut. Des Kummers. Tränen der Scham.

„Es tut mir leid. Darum bin ich hier. Es tut mir leid und ich will, dass du das weißt.“ Seine Stimme glich einem Flüstern. Und mehr war es auch nicht, was meinen Mund verließ:

„Du kannst an nichts anderes denken?“ All die körperliche Gewalt? Der psychische Terror? Meine seelischen Verletzungen? Und er konnte an nichts anderes denken? „Dann bist du also gekommen, damit ich dir sagen kann, es sei okay? Ich sei okay? Du tauchst hier nach all den Jahren auf, um dein Gewissen zu erleichtern? Damit es dir wieder besser geht, ja? Was das mit mir macht, ist einem wie dir natürlich egal, hab ich recht? Allein deine Stimme zu hören … Hast du eine Ahnung, wie lange mich diese Stimme verfolgt hat? Nicht nur in der Schule, nein. Nicht nur tagsüber. Sie hat mich verfolgt, überallhin. Noch Jahre später. Sie hat mir Dinge zugeflüstert, wann immer ich mich im Spiegel gesehen habe. Unzählige Male hat sie mich zum Fenster im obersten Stock der Schule dirigiert. Wie oft hatte ich da gestanden und überlegt, wie schnell es vorbei sein könnte. Nur ein Schritt. So viel einfacher, als dieses erbärmliche Leben weiterzuführen. Ein Leben, in dem jeder Tag die reinste Folter war. Ohne Ausnahme. Erinnerst du dich an meinen Geburtstag in der achten Klasse, hm? Ich tue es. Wieder und wieder. Wieder und wieder, Dillen!“

Stockend hielt ich die Luft an. Ich hatte ihn gesagt. Seinen Namen. Nach all der Zeit, in der mir beim bloßen Gedanken an diesen übel geworden war. Nachdem ich es gewagt hatte, ihn ein einziges Mal auszusprechen …

Nimm meinen Namen noch ein Mal in deinen dreckigen Mund und du wirst sehen, was du davon hast.

Mein Monolog war beendet. Ich versuchte zu atmen. Wieso hatte ich nicht die Klappe gehalten? Ich wusste doch genau, was es brauchte, um ihn zu überleben.

Mein Daumen war bereits auf dem Weg zum Display, um das Gespräch zu beenden. Aber ehe ich den roten Knopf gedrückt hatte, kam ein Räuspern vom anderen Ende der Leitung.

„Es tut mir leid, Alaric. Es tut mir so unendlich leid. Bitte sag mir, was ich tun kann. Kann ich irgendetwas davon wieder gutmachen? Egal wie.“

Seine Stimme klang seltsam belegt. Beinahe gebrochen. Und ich gönnte ihm jedes der Schuldgefühle, die er angeblich empfand. Falls er überhaupt dazu in der Lage war: etwas zu empfinden.

„Geh“, antwortete ich. „Verschwinde einfach. Ich will nie mehr von dir hören, geschweige denn vor dir stehen. Leb mit dem Scheiß, genauso wie ich es tue. Du hast dir das ausgesucht. Ich nicht.“

Mit diesen Worten legte ich auf. Stolz und schockiert zugleich.

*

Dillen

Alarics Worte schnitten wie ein Schwert durch meine Innereien. Hätte ich nicht längst mit dem Rücken gegen seine Wohnungstür am Boden gekauert, täte ich dies spätestens jetzt. Sein Geburtstag in der achten Klasse … Natürlich erinnerte ich mich. Es war vielleicht das Grausamste, das wir ihm angetan hatten – das ich ihm angetan hatte.

Geräuschvoll atmete ich aus und drückte mir die Handballen in die Augen. Sie waren feucht. Ich hatte die Tränen nicht einmal bemerkt.

Leb mit dem Scheiß, genauso wie ich es tue.

Damit leben? Das ging nicht. Ich konnte nicht. Selbst wenn es das Einzige war, das Alaric von mir wollte: Ich konnte ihn nicht einfach in Ruhe lassen. Nicht, ohne ihn aufrichtig um Verzeihung gebeten zu haben. Und nicht ohne seine Vergebung.

*

Dillen

Erneut sah ich zum Eingang des Klassenzimmers. Die Stunde begann in weniger als zwei Minuten und er war noch nicht aufgetaucht. Der Feigling wusste, dass wir ihn in Frieden lassen würden, sobald der Lehrer eintraf. Dummerweise war der Alte prädestiniert dafür, selbst regelmäßig zu spät zu seinem eigenen Unterricht zu erscheinen. Und zu spät kommen ließ die Omi dieses Zane-Nichtsnutzes nun einmal nicht zu, was bedeutete, er würde jeden Moment eintrudeln. Vielleicht sogar wieder mit Lippenstiftresten an seiner Wange. Ob die Alte ihn wohl noch an anderen Stellen zum Abschied ableckte? Immerhin hatte unser aller Liebling heute seinen ganz besonderen Tag. Wie besonders, würde er gleich noch erfahren.

Der Hieb eines Ellenbogens in meiner Seite ließ mich ein weiteres Mal aufschauen.

„Da ist er endlich“, zischte Josh mir das Offensichtliche zu.

Ja, da war er. Unser Geburtstagskind.

„Bereit?“, fragte ich ihn und drückte ein Paar Wackelaugen sowie Sekundenkleber in seine Hand.

„Sowas von!“

Hämisch grinsend erhoben wir uns von unseren Plätzen. Mir entging dabei nicht, wie Alaric zusammenzuckte. Doch es gab keinen Ausweg. Wo sollte er schon hin?

Noch bevor er wieder rückwärts aus dem Raum stolpern konnte, hatte ich ihn am Oberarm gepackt. „Alles Gute zum Geburtstag!“, keifte ich in sein Ohr und zerrte ihn nach vorne an die Tafel. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Josh bereits die Vorbereitungen traf.

„Hört mal her!“, rief ich in die Klasse herein, sobald wir drei vorne angekommen waren. „Unser liebster Alaric hier hat heute Geburtstag!“

Ohne überhaupt zu wissen, welch schöne Überraschung wir für ihn vorbereitet hatten, begann der Jammerlappen, sich in meinem Griff zu wehren. „Bitte“, schnappte er alarmiert. „Lass mich los.“

Unsere Mitschüler klatschten.

„Ich rate euch, eure Handys rauszuholen, um diesen besonderen Moment für die Ewigkeit festzuhalten!“ Mein Griff wurde fester. Ich hielt Alarics Arme hinter seinem Rücken verschränkt und fixierte ihn so, dass er sich kaum einen Zentimeter vor- oder zurückbewegen konnte.

„Leute, bitte … Hört auf!“ Sein Wimmern war Musik in meinen Ohren! Die feuchten Augen, mit denen er gequält zu mir rüberschielte, das reinste Vergnügen!

„Jetzt?“, fragte Josh an mich gewandt.

„Leg los!“

Meine Finger gruben sich so stählern in die angespannten Arme, dass diese morgen in den buntesten Farben dekoriert sein würden. Dann kam auch schon der beste Part:

Mit einem Ruck riss Josh Alarics Hose und Unterhose bis in die Kniekehlen und klebte ihm die mit Kleber präparierten Wackelaugen links und rechts über den Schwanz. Alaric flennte. Die Klasse johlte. Überall wurden die Handys gezückt, um unser sadistisches Theaterstück zu filmen.

„Stimmt alle mit ein!“, befahl ich über den Lärm hinweg und begann, ein Geburtstagsständchen zu trällern. Dabei ließ ich den Körper vor mir im Takt hin und her schaukeln, um die Plastikaugen, vor allem aber Alarics kleinen Freund passend zum Lied herumzappeln zu lassen.

„Bitte“, schluchzte das Weichei währenddessen unentwegt vor sich hin. „Nicht …“

Kerzengerade saß ich im Hotelbett. Mein Atem ging stoßweise und mein Magen rumorte lautstark. Angewidert schluckte ich den Speichel herunter, der sich plötzlich in meinem Mund gesammelt hatte. Dann erst verstand ich: Unkoordiniert stürzte ich ins Bad und auf die Kloschüssel zu. Mein Mageninhalt ergoss sich fontänenartig hinein. Schub um Schub entleerte ich mich.

Wie hatte ich so etwas tun können? Wie hatte mir so etwas Freude bereiten können? Was stimmte nicht mit mir?

Ich konnte von Glück reden, dass Alaric mir bloß die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Keine Ahnung, was ich an seiner Stelle tun würde.

Dennoch irrte er sich. Mir war nicht egal, was mein Aufkreuzen mit ihm machte. Mir war längst nicht mehr egal, was meine Handlungen mit ihm machten – oder gemacht hatten. Und deswegen musste ich bleiben. Ich würde es wieder in Ordnung bringen. Ganz gleich wie.

Seufzend lehnte ich mich gegen die weiß gekachelte Wand in meinem Rücken. Wie sollte ich bloß an ihn rankommen?

Kapitel 4 – Liebe in sich

Alaric

Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Das Zittern hatte auch Stunden nach seinem Aufkreuzen nicht aufhören wollen. Ich war wütend gewesen. Und verängstigt. Nun allerdings dominierte die Scham. Nichts hatte sich geändert. Ich war nach wie vor nicht stark genug, ihm gegenüberzutreten und mich zu behaupten. Selbst die Aussprache seines Namens hatte mir eine halbe Panikattacke eingebrockt. Und das trotz der Tür zwischen uns.

Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder den ersten Kindern zu, die von ihren Eltern im Kindergarten abgeliefert worden waren.

„Leonie, brauchst du Hilfe mit der Jacke?“ Das Mädchen mit den roten Haaren nestelte wie jeden Morgen etwas länger an ihrem Reißverschluss herum.

„Nein.“ Mit vor Konzentration gerunzelter Stirn kämpfte sie tapfer weiter, ohne aufzusehen. „Ich kann das.“

„Natürlich kannst du das!“ Liebevoll tätschelte ich ihren Schopf. „Wenn ich aber doch helfen darf, sag Bescheid, ja?“

Eine Antwort erhielt ich nicht, dafür ertönte ein Räuspern hinter mir. Es kam von Nicole, einer meiner Kolleginnen.

„Andy hat sich für heute krankgemeldet. Ich habe bereits herumtelefoniert und den Eltern mitgeteilt, dass wir heute nur die Kinder kommen lassen können, deren Eltern arbeitsbedingt auf die Betreuung angewiesen sind. Wie du dir vorstellen kannst mit mäßigem Erfolg.“

Nicole konnte mich nicht leiden und das hörte man jeder einzelnen Silbe an, die sie zu mir sprach. Als sei ich lästiges Ungeziefer. Der Tag ohne Andy – dem Puffer zwischen uns beiden – dürfte somit lang werden.

„Alles klar, kein Problem.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Das wuppen wir schon! Wir sind immer noch größer als die!“

Natürlich ging mein Scherz nach hinten los. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte mich Nicole und meinte schließlich: „Nicht wirklich der richtige Ansatz als Pädagoge, oder?“ Wenn sie die Entscheidung treffen könnte, würde ich das Ende meiner sechsmonatigen Probezeit sicherlich nicht mehr hier erleben.

Die Türklingel beendete die unangenehme Situation. Das nächste Kind war eingetroffen.

Erleichtert über diese Unterbrechung entfernte ich mich von meiner Kollegin, deren glatten Haare ebenso schwarz waren, wie ihre Aura es sein musste, und machte auf. Hereingestampft kam Matteo, der kleine Teufel höchstpersönlich.

Ohne auf meine Begrüßung zu reagieren, warf er seine Jacke auf den Boden, anstatt sie an einen der Wandhaken zu hängen, und lief mit Straßenschuhen an den Füßen in den Gruppenraum. Sofort eilte Nicole ihm mit seinen Hausschuhen hinterher. Immerhin diese Diskussion konnte ich mir heute sparen.

Da Matteo für gewöhnlich auf dem Parkplatz abgesetzt und nicht mehr zum Eingang begleitet wurde, spähte ich nicht nach draußen, ehe ich die Tür zudrückte. Doch kurz bevor sie ins Schloss fiel, stoppte sie jemand mit dem Fuß.

„Oh, tut mir leid!“, rief ich aus und öffnete wieder. „Ich habe nicht gesehen, dass …“ Die Worte blieben mir in der Kehle stecken.

*

Dillen

Mit offenem Mund sah er mich an. Kein Ton verließ seine Lippen. Seine aufgerissenen Augen hielten meinem Blick vermutlich nur dank der Schockstarre stand. Sie katapultierte mich in die vergangene Nacht zurück, in meinen Traum. Ich konnte die Angst darin nicht mehr ertragen.

„Hallo Alaric. Ich …“

„Du kannst nicht einfach hier auftauchen!“ Sein plötzliches Zischen klang weniger wütend, als er es vielleicht geplant hatte. Viel mehr spiegelte es die Panik in seinem Inneren wider. „Das ist ein Kindergarten.“

Mehr als er mir gestern ins Gesicht hatte sagen können. Womöglich war das der Schlüssel: Hier, inmitten des Beiseins anderer Menschen, fühlte er sich sicherer. Nicht, dass es ihm früher etwas gebracht hätte. Aber tatsächlich war genau das der Grund, weshalb ich heute gekommen war.

„Ich weiß. Mein Kind wird von euch betreut.“

„D-dein Kind?“

Ich schickte ihn mit dieser Lüge wahrscheinlich durch die Hölle. Wenn mein Kind hier betreut würde, bedeutete das, dass ich in der Gegend lebte.

„Ja, ich …“ Mir blieb nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen und zu hoffen, dass ich nicht auffliegen würde. Es war riskant, aber eine andere Idee hatte ich nicht. „Ich wurde gestern angerufen, weil es immer wieder Probleme mit meinem Kleinen zu geben scheint.“ Abwägend linste ich in den angrenzenden Spielraum und betete, dass das heranwachsende Arschloch schon eingetroffen war. Wirklich viele Kinder waren offensichtlich noch nicht da. „Ich soll Matteo ein wenig beobachten.“

„Du bist Matteos Vater?“ Zu sagen, Alaric wäre überrumpelt gewesen, wäre die Untertreibung des Jahres. Er schielte zu den Kindern und sein Blick blieb an einem blonden Lockenkopf hängen, der sich gerade überaus lautstark mit einer Erzieherin stritt und sogar einen Schuh nach ihr pfefferte. Keine Ahnung, weshalb Alaric an meiner Aussage zweifelte – produzierten Arschlocheltern nicht automatisch Arschlochnachwuchs? Oder existierte bereits ein offizieller Vater des Kindes? Den versehentlich gegebenen Informationen des Verkäufers nach war die Familie erst zugezogen. Ich dürfte somit zumindest eine kleine Chance haben.

„Und Andy hat dich gestern angerufen?“

Ich nickte, ohne zu wissen, wer dieser Andy überhaupt war. Sicher ein Kollege oder Vorgesetzter. Jemand musste Alaric unbedingt sagen, dass er seine Karten nicht so preisgeben durfte.

„Ich …“ Mit gesenktem Kopf atmete Alaric mehrmals tief ein und aus, während er sich an der Eingangstür festklammerte, als sei sie ein Rettungsanker. Er kämpfte gegen die Panik an, die ich in ihm auslöste, und ließ mich damit beinahe einen Rückzieher machen. Ich hatte ihm genug Qualen bereitet. Ich konnte es beenden. Doch noch ehe ich den womöglich richtigen Entschluss endlich fassen konnte, räusperte sich Alaric und erklärte mir leise: „Andy ist für heute krankgemeldet. Ich muss das erst telefonisch abklären und vielleicht einen anderen Termin dafür …“

Ein schmerzerfüllter Schrei schnitt ihm das Wort ab und rettete mir die Nummer: Alarmiert eilte Alaric zu einem Mädchen mit roten Haaren. Sie hatte sich offenbar ein Holzspielzeug aus dem Regal ziehen wollen und sich das Ding auf den Fuß fallen lassen.

Ich schloss die Tür hinter mir und folgte ihm unauffällig.

„Leonie, du kannst doch um Hilfe bitten“, meinte Alaric liebevoll und ging vor dem Mädchen in die Knie, um es in den Arm zu nehmen.

„Ich kann das allein!“, schluchzte die Kleine tapfer und warf sich ihm dennoch um den Hals. Schade, dass ich nicht behaupten konnte, sie sei mein Kind. Alaric schien den Sprössling zu mögen und selbst ich empfand bereits eine gewisse Sympathie für sie.

„Natürlich kannst du das.“ Tröstend strich ihr Alaric über den Rücken. „Du bist ja schon supergroß! Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich bin auch supergroß und brauche manchmal Hilfe. Das ist überhaupt nicht schlimm, weißt du?“

Leonie ließ von ihm ab und wischte sich über die Augen. „Ehrlich?“

Alaric nickte eifrig. Und ich ertappte mich beim Lächeln. Allerdings wurde dieses von Wehmut begleitet: Wie konnte jemand noch so viel Gutmütigkeit und Liebe in sich tragen, der über Jahre hinweg unfassbaren Schmerz hatte leiden müssen?

„Ist der Mann heute da, um dir zu helfen?“

Die Kleine schaute zu mir hoch und ich versuchte mich an einem kinderfreundlichen Blick, als ich entgegnete: „Ganz genau deswegen bin ich hier.“

Alaric mied es, mich anzusehen. „Das ist der Papa von Matteo“, erklärte er mit belegter Stimme. „Er besucht uns heute.“

„Du bist Matteos Papa?“ Fast glaubte ich, die kleine Prinzessin würde mich nun auffliegen lassen, doch nach einer gründlichen Musterung verkündete sie bloß: „Du siehst viel netter aus als Matteo. Dich mag ich.“

Mein erster Impuls war es, dem Mädchen ein High Five zu geben. Doch Alaric kam mir zuvor.

„Matteo ist ganz tief in seinem Inneren auch nett“, behauptete er – vermutlich entgegen seiner eigenen Meinung. „Er weiß nur nicht so recht, wie er das zeigen kann.“

„Nicht, indem er schubst und haut.“

Das Mädchen war klasse. Nur brachte sie Alarics dünnes Ausredenkostüm ins Wanken. Da half nur eins:

„Wolltest du nicht mit diesem wahnsinnig coolen Bausatz spielen?“, fragte ich Leonie und deutete auf das Holzspielzeug am Boden.

Wie erwartet wurden ihre Augen größer, als sie sich wieder an ihr ursprüngliches Vorhaben erinnerte, und kurz darauf stiefelte sie mit der Beute zu einem der niedrigen Tische.

„Süß, die Kleine“, meinte ich und ging neben Alaric in die Hocke. Der allerdings erhob sich daraufhin blitzschnell und verbarg die Augen vor mir.

„Du kannst …“ Er biss sich auf die Unterlippe und ein seltsames Gefühl von Wärme breitete sich in meiner Brust aus. „Sie können mit Nicole mitlaufen und sich erklären lassen, welche Verhaltensweisen uns bei Matteo etwas Sorgen bereiten.“

Die professionelle Schiene also. Womöglich war das der einzige Weg, wie Alaric meine Anwesenheit zu ertragen wusste.

Ich nickte, obwohl er nach wie vor nicht in meine Richtung blickte. Es würde die Sache komplizierter machen, wenn ich am Rockzipfel seiner Kollegin hing, statt an seiner Seite zu bleiben. Aber es könnte Alaric auch die Möglichkeit geben, seine Angst mit der Zeit zu bewältigen. Ich musste ihm beweisen, dass ich nicht mehr der war, den er von früher kannte. Dann hätte ich hoffentlich bald die Gelegenheit, in Ruhe mit ihm reden zu können.

„Alaric, wer ist das?“

Die Frau, mit der mein Fakesohn eben noch gestritten hatte, tauchte neben uns auf. Sie war zehn bis zwanzig Jahre älter als Alaric und ich und wirkte nicht gerade sympathisch. Ihre dunklen Augen funkelten beinahe zornig, als sie Alaric ansah und auf seine Antwort wartete.

„Ich bin Matteos Vater“, stellte ich mich also ungefragt vor und erkannte, wie die Erzieherin urplötzlich ein freundliches Gesicht aufsetzte, das ebenso echt war wie mein Sohn und so überhaupt nicht in ihr kantiges Gesicht passen wollte. „Ich wurde gebeten, mir sein Verhalten mal anzusehen.“

„Er sollte wohl mit Andy mitlaufen, aber vielleicht kannst ja du …?“

„Ich?“, fiel ihm seine Kollegin ins Wort. „Wie soll ich das noch zusätzlich machen? Der Tisch fürs Frühstück muss gerichtet werden, die nächsten Kinder dürften gleich eintreffen und überhaupt habe ich keine Kapazitäten für zusätzliche Arbeit.“

„Den Tisch könnte ich vorbereiten“, schlug Alaric verzweifelt vor.

„Sehr gut. Vielleicht möchte Matteos Daddy dir ja helfen?“ Sie lächelte mir erneut zu, ehe sie sich wieder todernst Alaric zuwandte: „Dann könnt ihr gleich bereden, welche Schritte für Matteo nun sinnvoll wären.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sich die Frau ab und marschierte zu einem Jungen, der gerade einen Popel ans Fenster zu schmieren versuchte.

„Ich helfe dir gern“, verkündete ich vorsichtig optimistisch. „Was soll ich tun?“

Alaric schloss die Augen und ich glaubte, ein sanftes Zittern seiner Hände zu sehen.

Langsam trat ich an ihn heran und sofort schnellten seine Lider auf. Hektisch schaute er sich um. Als würde er nach einem Fluchtweg suchen. „Alaric.“ Er schreckte leicht zusammen, mied weiterhin den Augenkontakt. „Bitte gib mir eine Chance.“

„Ich habe sie nie bekommen“, wisperte er und traf damit etwas in mir, das mich beinahe zu atmen vergessen ließ. Dann, als hätte er die letzten Worte nie laut ausgesprochen, meinte er: „Sie können sich nun irgendwo hinsetzen und Ihren Sohn beobachten. Ich gehe den Frühstückstisch vorbereiten.“

So ließ Alaric mich stehen und wandte sich ab. Um mich herum sprangen, liefen und tobten immer mehr Kinder umher, doch alles, was ich wieder und wieder hörte, war er: Ich habe sie nie bekommen.

Kapitel 5 – Hand in Hand

Dillen

Er war wirklich süß mit den Kindern. Und ganz offensichtlich liebten sie ihn. Kaum eine Minute verging, in der keins der Jungs und Mädels zu Alaric rannte, um ihm ein selbstgemaltes Bild zu präsentieren oder ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Er nahm sich Zeit für jeden von ihnen und bewies selbst dann noch eine Engelsgeduld, als mein Nicht-Sohn die Teller des gedeckten Tisches zu Frisbee Scheiben umfunktionieren wollte. Kurz überlegte ich einzuschreiten, um meine Nummer als Vater unter Beweis zu stellen, aber die Sorge darüber, dass der Kleine meine Tarnung auffliegen lassen könnte, hinderte mich daran.

Nachdem scheinbar alle Kinder eingetroffen waren und ihre ersten Runden Spielen, Puzzeln, Basteln und Klettern beendet hatten, trommelten Alaric und Nicole die Bande zum gemeinsamen Frühstück zusammen. Es wurden mitgebrachte Brotdosen und Obst ausgepackt und nach und nach nahmen Kinder und Erzieher am Tisch Platz.

„Wieso sitzen Sie noch da hinten rum?“, erklang auf einmal die Stimme von Alarics Kollegin und breit lächelnd winkte sie mich heran. „Wenn Sie kein Essen dabeihaben, trinken Sie zumindest etwas mit uns. Bestimmt teilt der ein oder andere auch etwas mit Ihnen!“

Ich erkannte, wie Alarics Rücken sich versteifte. „Wäre es nicht sinnvoll, die Beobachtung …“

„Ach Quatsch!“, fiel Nicole ihm genervt ins Wort. „Das geht auch von hier! Außerdem haben wir heute sowieso mehr als genug Platz am Tisch!“

Das war zu Alarics Enttäuschung richtig. Der recht niedrige runde Tisch war nicht voll belegt. Ich würde mich problemlos mit einem der Zwergenstühle dazusetzen können. Was ich schließlich auch tat.

„Darf ich?“, fragte ich einen blonden Burschen, der einige Plätze entfernt zu Alarics Linken saß. Ich wollte ihm nicht zu sehr auf die Pelle rücken und ihn damit noch mehr stressen. Doch noch während der Kleine auf den grünen Stuhl in meinen Händen stierte, rief Leonie dazwischen.

„Sie müssen hierher!“ Das Mädchen sprang von ihrem Stuhl, der ausgerechnet neben Alarics stand, und hüpfte ihm stattdessen auf den Schoß. „Wenn Sie hier sind, um Alaric zu helfen, sollten Sie neben ihm sitzen!“

Ich zögerte, denn im Grunde wusste ich, dass ich ihr Angebot ablehnen sollte. Aber nachdem Alaric mich in den vergangenen zwei Stunden ignoriert hatte, so gut er konnte, witterte ich hier meine vielleicht letzte Gelegenheit, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, dem er sich nicht entziehen konnte. Also nahm ich Platz.

„Sehr schön!“, flötete Nicole, die mir nun schräg gegenübersaß. „Dann wird es jetzt Zeit wofür?“

„Unseren Tischspruch!“, riefen alle Kinder fröhlich durcheinander. Alle bis auf Matteo. Der fummelte an seiner metallfarbenen Brotdose herum und sah nicht einmal auf.

„Ihr müsst euch die Hände geben!“, meinte Leonie drängelnd an Alaric und mich gewandt und erst da erinnerte ich mich an meine eigene Kindergartenzeit zurück. Die Sache mit den Händen. Verdammt. Daran hatte ich nicht gedacht.

„Lass es uns so machen“, meinte Alaric an sie gewandt und trotz des Trubels hörte ich seine Stimme beben, „du nimmst mit der einen Hand die von Matteos Papa und mit der anderen meine. Dann nehme ich die Hand von Hannah. So haben wir alle jemanden zum Halten!“

Leonies roten Haare flogen ihr wild um den Kopf, als sie diesen energisch schüttelte. „Wir können uns alle drei zusammen die Hand geben!“

Ohne dass ein weiterer Widerspruch möglich gewesen wäre, schnappte sie sich meine und Alarics Hände und führte sie zusammen, ehe sie ihre eigenen kleinen Finger obenauf legte. Das Gleiche tat sie auf der anderen Seite mit einem dunkelhaarigen Mädchen. Hannah, wie ich vermutete.

Und mit einem Mal herrschte in meinen Gedanken das Chaos vor. Erinnerungen schossen hoch.

---ENDE DER LESEPROBE---