Blutige Küsse und schwarze Rosen - Irina Meerling - E-Book

Blutige Küsse und schwarze Rosen E-Book

Irina Meerling

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Beschreibung

Elias' Herz schlägt für Vampire, Friedhöfe und - seinen Freund Nico. Und so kommt es nach seiner Geburtstagsparty zu einem folgenschweren Missverständnis. Nach dem ersten Schock machen sich Elias und Nico auf, um nach Antworten zu suchen. Doch bald geraten sie in einen Sog, der auch Unsterbliche das Leben kosten kann. Denn auf Nico liegt ein Fluch ...

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Blutige Küsse

und schwarze Rosen

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen, 2013

© the author

http://www.irina-meerling.de

dead soft verlag – http://www.deadsoft.de

Graphische Gestaltung : Irene Repp

Bilder:

© tankist276 – fotolia.com

© nito – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-943678-96-3 (print)

ISBN 978-3-943678-97-0 (epub)

Dieser Roman ist Fiktion. Orte und Personen wurden frei erfunden.

Diese Geschichte ist reine Fantasie

– AIDS aber nicht.

Safersex rettet Leben!

Vorwort

Vampirgeschichten sind so was von ausgelutscht. Ich werde nie auf dieser Schiene fahren und eine Story über Blutsauger schreiben. Nie.

Genau, das sind meine eigenen Worte. Worte, die ich vor nicht allzu langer Zeit in den Mund nahm. Und nun ratet mal, worum es in diesem Buch geht …? Ihr solltet es wissen, schließlich habt ihr es gekauft (oder illegal erworben, was ich aber nicht hoffe)!

Wieder richtig, es geht um Vampire. Doch ich kann nichts dafür, ehrlich! Ich bin Täter und Opfer zugleich.

Die Ideen zu diesem Buch und einer völlig neuen Vampirentstehungsgeschichte drängten sich ungefragt in meinen Kopf und spannen sich fast von selbst. Aber ich hatte sehr viel Spaß beim Schreiben und vergöttere Elias und Nico. Sie mit Abschluss des Buches loszulassen, fiel mir unheimlich schwer. Hoffentlich wird es euch genauso gehen!

Abseits vom Sonnenlicht

Verbannt bis in alle Ewigkeit

Am Tage existieren wir nicht

Wandeln im Schutze der Dunkelheit

Mit Blut erschaffen, durch Blut genährt

Unsere Körper durchströmt von Macht

Menschlichen Schwächen den Rücken zugekehrt

Im Flusse des Mondlichts zu neuem Leben erwacht

Schärfe die Sinne, um uns zu erkennen

Denn wo kein Licht, dort auch kein Schatten

Studiere die Mythen, um uns zu benennen

Auf Nimmerwiedersehen, Leben, das wir einst hatten

Prolog

Zuvor

Der weitläufige Baggersee lag glatt wie ein Spiegel vor ihm. In der nächtlichen Brise kräuselte sich kaum eine Welle auf dem dunkel schimmernden Wasser, das die Reflektionen des silbernen Vollmondes und der hohen Bäume zeigte, die den See umrahmten. Eine alles durchdringende Stille und Einsamkeit umgab das abgelegene Gebiet um das Gewässer. Keine Menschenseele war hier anzutreffen.

Er war allein an diesem so unwirklichen Ort, hatte sich hierher zurückgezogen, um die Zeit für einige Momente anzuhalten und einfach durchatmen zu können.

Ein kurzer Augenblick zum Durchatmen … Dies war eine Kostbarkeit, die ihm viel zu oft verwehrt wurde. Ein wenig mehr Zeit. Zeit für sich. Zeit zum Leben.

Heute waren die Auseinandersetzungen ein weiteres Mal eskaliert. Die Schreie zu Hause hatten nicht abbrechen wollen, waren erneut völlig außer Kontrolle geraten. Noch immer konnte er sie hören. Die Schreie. Das Splittern von Glas. Die Geräusche hatten sich längst in sein Inneres gebrannt – ebenso wie der Anblick seiner Mutter. Tränenüberströmt, eine Hand an der blutigen Wange.

Er hatte es nicht mehr mit ansehen können: das Leid, in welchem sie freiwillig ihr Leben weiterführte. Er hatte sie verteidigen wollen, hatte sich zwischen seine Mutter und ihn geschoben. Hatte sich ihm entgegengestellt, um die blauen Flecken und Schürfwunden auf sich zu nehmen. Er hatte zurückgeschlagen, sich zur Wehr gesetzt …

… und war dafür bestraft worden. Von seiner Mutter – der Frau, die wieder den Falschen in Schutz genommen hatte.

Hier draußen war es nur der sanfte Wind, der seine Haut berührte. Eine zärtliche Streicheleinheit, wie er sie schon als Kind nie erfahren hatte.

Doch auch heute würde er wieder zurückkehren. Dahin, wo ein Tag dem anderen folgte, ohne eine Veränderung mit sich zu bringen. Und das nur, weil sie zu schwach war, um diesen Mann zu verlassen.

Dennoch blieb sie seine Mutter. Er musste sie beschützen. Weil niemand sonst es tat.

Ein letztes Mal ließ er die Augen über das stille Gewässer gleiten und versuchte, diese Ruhe in sich aufzunehmen, bevor er sein Leben fortsetzen musste. Er sog jede Einzelheit, jede Winzigkeit dieses Ortes in sich auf. Das nur stellenweise wachsende Gras, welches sich in der lauen Böe wiegte. Das einsame Quaken eines Frosches irgendwo am anderen Ufer des Sees. Die ausladenden Umrisse der Trauerweiden, deren herabhängende Blätterkleider vom Mondschein umhüllt wurden.

Mit einem letzten tiefen Atemzug wandte er sich von diesem so beständig scheinenden Bild ab, als ihn ein plötzlicher Schlag in den Rücken auf die Knie zwang.

Mühsam schnappte er nach Luft, aber seine Lungen gehorchten ihm nicht. Sie waren durch den heftigen Hieb wie gelähmt. Er konnte sich nicht aufrappeln. Jeder Versuch, sich hochzustemmen, wurde mit der Kraft von hundert Händen zunichtegemacht, die seinen Körper von hinten auf die Erde drückten. Er konnte nichts sehen, spürte nur diesen Druck sowie das kalte Seewasser, das langsam seine Kleidung tränkte – und einen stechenden Schmerz nahe der Kehle.

Dann wurde alles schwarz.

Kapitel 1

Mond

Als Elias von der obersten Sprosse der Leiter hinab sah, jagte ihm die Entfernung zum Boden einen üblen Schwindel durch den Kopf. Mit angehaltener Luft balancierte er den Rest seines Gleichgewichtssinnes aus, den der Alkohol ihm gelassen hatte, und rupfte das schwarze Lametta von der Lampe, die sich inmitten der gemieteten Halle befand.

„Wir werden noch bis zu meinem nächsten Geburtstag aufräumen müssen!“, meinte er vor Erschöpfung klagend und stieg mit vollen Händen wieder hinab, wobei ihn seine wuchtigen Boots nur schwer Halt finden ließen und Elias beinahe unfreiwillig schnell nach unten beförderten. „Für heute habe ich jedenfalls genug.“

„Es war auch eine verdammt lange Nacht!“ Nico grinste ihm zu und deutete auf den mit Geschenken überhäuften Tisch. „Ich pack’ das Zeug dann schon mal ein, damit wir es nachher nicht vergessen“, sagte er und verzog im nächsten Moment neckend das Gesicht. „Andererseits wäre das kein Drama, bei dem unnützen Kram!“

Elias lachte auf, als sein bester Freund stirnrunzelnd vor den Mitbringseln stand und einen Kerzenhalter in Form eines aufwendig gearbeiteten Totenkopfs in die Hand nahm. Nico wirkte beim Anblick der vielen Goth-Utensilien ein wenig verloren. Anders als Elias hatte er so gar nichts dafür übrig. Weder trug er die szenetypischen Klamotten, ohne die Elias kaum aus dem Haus ging, noch verstand er seine Begeisterung für die Schattenwelt. Und trotzdem war es Nico, der in einem Raum voller Menschen aus der Masse stach; selbst neben jemandem wie Elias, dessen Fingernägel ebenso schwarz wie seine Kleidung waren und der sich – auch wenn er es nie zugeben würde – die Wimpern tuschte, um seine schokoladenbraunen Augen unter dem langen Ponyschnitt hervorzuheben und seinem Gesicht ein mystisch angehauchtes Äußeres zu verleihen.

Nico hingegen zog die Blicke auf sich, indem er bloß existierte. Es war sein ganzes Wesen, das ein gewisses Etwas ausstrahlte, welches nicht mit Worten zu beschreiben war. Seine Art faszinierte. Er konnte derartig direkt sein, dass er Leuten damit nicht selten vor den Kopf stieß, und gleichzeitig rätselhaft. Seine Verschlossenheit warf manchmal Fragen auf, und dennoch vertraute Elias ihm grenzenlos. Nico war so voller Gegensätze und schlichtweg außergewöhnlich. Vom ersten Moment an hatte Elias das gespürt.

Damals, vor drei Jahren, war Nico neu zugezogen, nachdem er in die nahegelegene Universität gewechselt hatte. Er hatte sich wortlos abseits der restlichen Studenten der Sozial- und Kulturwissenschaften gesetzt und sofort Elias’ Aufmerksamkeit geweckt – hatte die Aufmerksamkeit von jedem geweckt. Er und seine geschmeidigen Bewegungen, die dem anmutigen Wesen einer Raubkatze um nichts nachstanden. Seine weißblonden Haare, die in alle Himmelsrichtungen abstanden, als seien sie seit Ewigkeiten nicht mehr gekämmt worden. Sein Augenbrauenpiercing, das mit einem lila Steinchen geschmückt war, und die seltsam grünen Augen betonte, bei denen schwer zu erkennen war, ob es sich nicht vielleicht um getönte Kontaktlinsen handelte …

Nico hatte ebenso wenig in diese alltägliche, langweilige Vorstadt gepasst, wie Elias. Und dennoch hatten die anderen den damals Neuen mit offenen Armen empfangen – hatten sich mit dem „außergewöhnlichen Kerl“ brüsten wollen. Der dagegen hatte nicht das geringste Interesse an ihnen gezeigt und sich stets arrogant und unnahbar gegeben, um die Meute auf Abstand zu halten. Diese Eigenschaft hatte Nico bis heute beibehalten und damit Respekt und Ablehnung gleichermaßen auf sich gezogen. Lediglich zu Elias hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Nur ihm gegenüber legte er seine Unnahbarkeit und seine alles auf Distanz haltende Maske ab. Und wäre es heute nicht die Party seines besten Freundes gewesen, hätte Nico sich hier gar nicht erst blicken lassen. Denn Partys und Menschenansammlungen jeder Art waren ihm zuwider.

So war Nico nun einmal: cool, zurückgezogen, anders, bemerkenswert.

„Hey, hörst du mir überhaupt zu oder schläfst du schon?“

Erschrocken richtete Elias seinen auf den Leitersprossen angelehnten Körper auf. Es war schon wieder passiert. Er war erneut in Gedanken an seinen Kumpel versunken.

„Ich hab eben vorgeschlagen, aus dir auch so was zu machen, falls du heute an einer Alkoholvergiftung stirbst“, wiederholte Nico und sah sich argwöhnisch den weit geöffneten Mund des Schädels an, in dessen Höhle bereits ein Teelicht befestigt war.

„Ach, halt die Klappe!“ Elias schmunzelte. „Ich finde die Ausbeute klasse!“

„Passt jedenfalls gut in deine Grufti-Wohnung!“, scherzte Nico und zwinkerte. „Genau wie Amelie. Ist dir aufgefallen, dass sie heute ganz im Nieten-Leder-Look aufgekreuzt ist? Das war garantiert nur für dich! Sie konnte übrigens kaum die Augen von dir lassen.“

Elias schenkte seinem Freund lediglich ein müdes Lächeln und spürte, wie das Hochgefühl, das während der tollen Feier seinen Bauch erfüllt hatte, zu einem schweren Klumpen wurde.

„Fang bitte nicht ständig davon an“, murmelte er und stopfte das Metallpapier in einen großen Müllsack.

Er hasste dieses Thema. Seitdem Amelie sich vor zwei Monaten auf einer Studentenparty an ihn herangemacht und er ihre Annäherungsversuche nicht gerade unterbunden hatte, wurde ihnen eine heimliche Beziehung angedichtet. Mit dem kurzen Flirt hatte Elias zwar durchaus beabsichtigt, seinen Mitmenschen Interesse an diesem Mädchen vorzugaukeln, doch wurde ihm das Getuschel allmählich zu viel. Dass Amelie ganz offen für ihn schwärmte, trug den Rest zum Gerede bei. So etwas passierte nun mal in dem sonst so ereignislosen Vorort einer Großstadt: Selbst noch so haltlose Gerüchte wurden zerpflückt und diskutiert.

„Ich weiß, dass sie ein bisschen anhänglich sein kann“, fuhr Nico ungeachtet Elias’ Bitte fort. „Vergiss nur eines nicht: Sie ist zumindest ein weibliches Wesen und –“

„Ich kann mich übrigens genauso wenig daran erinnern, dich je mit einer Freundin gesehen zu haben“, konterte Elias, der im nächsten Moment zusammenfuhr, als ein Luftballon irgendwo in der kleinen Halle zerplatzte. Seinen Kumpel in die Arme einer Frau zu treiben, war das Letzte, das er vorhatte. Aber er wollte die leidige Unterhaltung um jeden Preis von sich weg lenken.

„Das würde bei mir nicht gut gehen.“

Da war sie: Nicos Standardantwort. Wann immer das Thema zur Sprache kam, schien er der Auffassung zu sein, dass er beziehungsunfähig war. Dabei war das schlichtweg unvorstellbar. Alle Mitstudentinnen himmelten ihn an – vielleicht mit Ausnahme von Amelie. Sie alle lagen ihm zu Füßen und ließen sich auch nicht von Nicos distanzierter Art abschrecken. Das Gegenteil war der Fall. Je mehr Elias’ Kumpel ihnen die kalte Schulter zeigte, desto schneller schmolzen sie dahin. Es schien bloß eine Frage der Zeit zu sein, bis eine von ihnen zu Nico vordrang und den Platz an seiner Seite einnahm. Schließlich hatte er wie jeder Mann Bedürfnisse und irgendwann würde der Moment kommen: Nico stellte ihm eine so umwerfende Frau vor, dass Elias seine gelegentlichen Überlegungen, Nico könne womöglich nichts für das andere Geschlecht übrig haben, beschämt und endgültig verwarf. Ohnehin waren diese Überlegungen völlig abwegig. Nie hatte Nico einem Mann auch nur nachgesehen oder sonst irgendwelche Anzeichen dafür gezeigt, schwul zu sein. Er würde niemals einen Mann begehren können.

Missgestimmt schob Elias diese schmerzlichen Gedanken von sich, die seine Laune seit Jahren regelmäßig zu kippen drohten. Allein die Tatsache, dass Nico, wie von ihm angedacht, die Lust an diesem Gespräch – jetzt, da es ihn betraf – verloren hatte, stimmte Elias erleichtert.

„Du hast gar nicht gefragt, wo mein Geschenk für dich ist“, meinte er stattdessen, sah Elias gespielt vorwurfsvoll an und brachte ihn damit zum Grinsen.

Er hatte nicht danach gefragt, da er Nico kannte. Es war nicht seine Art, zu einem Geburtstag zu kommen und das Geschenk zu überreichen, wie jeder andere es tat. Das wäre viel zu gewöhnlich gewesen. Und das war nun wirklich das Letzte, was man von Nico behaupten konnte: dass er gewöhnlich war.

„Halt dich fest. Hier kommt es!“

Elias beobachtete seinen Freund dabei, wie der sich stocksteif vor ihm aufstellte und salutierte.

„Eine förmliche Begrüßung, klasse“, kommentierte Elias amüsiert, während Nico etwas aus seiner Jeanstasche fummelte.

„Das ist natürlich noch nicht alles!“, sagte der feixend und drückte ihm ein kleines, zusammengefaltetes Foto in die Finger. „Da haben wir’s. Das ist nun alles!“

Verunsichert entfaltete Elias das dicke Papier und schwieg vor Rührung, als er sich und seinen Freund darauf erkannte. Es handelte sich um eine Aufnahme, die vor fast drei Jahren bei den Vorbereitungen für eine Semesterfeier entstanden war, welche die beiden im Nachhinein nicht einmal besucht hatten, da dies Nico wie so oft gegen den Strich gegangen war. Alle Kommilitonen hatten mit anpacken müssen, aber die Fotografie zeigte nur Nico und Elias. Sie hatten sich im Laufe des Nachmittags immer mehr zurückgezogen und in endlose Gespräche vertieft. Für Elias war es, als sei es gestern gewesen.

„Das war der Tag, an dem wir das erste Mal so richtig miteinander geredet haben. Wir haben uns auf Anhieb verstanden.“

„Und du hast mir stundenlang von deiner Leidenschaft für Vampire erzählt!“

Bei Nicos Einwurf lachte Elias laut auf, verteidigte sich aber prompt: „Du hattest mir gar keine andere Wahl gelassen, hast mich mit Fragen zu meinem Aussehen und Verhalten gelöchert!“

Nicos Interesse hatte Elias überrascht und damals unsagbar gut getan. Zwar hatte sein Freund kein Geheimnis daraus gemacht, dass er diese Begeisterung für Vampire nicht teilte, doch er war der Erste gewesen, der sich nicht darüber lustig gemacht hatte.

Gedankenversunken strich Elias das Foto entlang. „Ich wusste gar nicht, dass damals Bilder geschossen wurden. Warum hast du es nicht eingerahmt?“

Nico schüttelte den Kopf. „Weil das nicht das eigentliche Geschenk ist. Es ist nur eine Momentaufnahme, die es dir erleichtern soll, einen bestimmten Wunsch auszusprechen.“ Er musste Elias’ Verwirrung bemerkt haben, denn er fuhr gleich fort: „Lass es mich erklären: Jeder Mensch hat einen Traum. Einen Wunsch, den er sein Leben lang mit sich herumträgt und ihn nicht auszusprechen wagt. Hab ich recht?“ Er musterte Elias eindringlich und sprach weiter, ohne seine Bestätigung abzuwarten: „Ich möchte, dass du mir diesen einen Wunsch – den vielleicht verrücktesten von allen – verrätst. Denn ich werde ihn dir erfüllen.“

Bei diesen Worten und dem intensiven Blick, der ihn traf, kitzelte ein kühler Schauer Elias’ Rücken. Kannte Nico sein Geheimnis? Seinen innigsten Wunsch? Elias hatte sich tatsächlich nie getraut, ihn auszusprechen – nicht einmal gewagt, ihn anzudeuten. War es möglich, dass Nico dennoch längst Bescheid wusste? Was aber sollten dann die Sticheleien mit Amelie? War das der Versuch gewesen, ihn aus der Reserve zu locken?

„Egal, was für ein Wunsch es ist?“

„Nein, nicht ganz“, erwiderte Nico zögernd. „Er muss dir am Herzen liegen wie kein anderer. Der eine Wunsch, dessen Erfüllung gewissermaßen undenkbar erscheint. Aber wenn du dir das Bild hier anschaust, wirst du erkennen, dass ich ihn dir erfüllen werde. Ich denke, wir beide wissen, wovon ich rede … Du solltest dir natürlich in jedem Fall über die Konsequenzen bewusst sein. An die musst du unbedingt denken.“

Die Konsequenzen.

Derer war er sich sehr wohl bewusst. Die Konsequenzen waren überhaupt der einzige Grund, weshalb Elias seinen Wunsch schon so lange für sich behielt und vor niemandem äußerte. Würde ihm Verständnis zuteilwerden oder würde er auf Zurückweisung stoßen? Welche Veränderungen würde sein Wunsch mit sich ziehen?

„Muss ich mich sofort entscheiden?“

Er brauchte Zeit. Zeit zum Nachdenken und Abwägen. Zeit, um sich darüber klar zu werden, was es für seinen Freund bedeutete, würde er sein Anliegen wirklich werden lassen – und für ihre Freundschaft.

„Du hast einen Monat, um es dir gründlich zu überlegen.“

Ein Monat.

Dreißig Tage zum Nachdenken.

Und dreißig Tage des Wartens.

Würde Elias so lange durchstehen können? Dabei sehnte er sich bereits eine gefühlte Ewigkeit nach diesem Moment; machten dreißig Tage da noch einen Unterschied? Andererseits war Elias selbst nach dieser Ewigkeit zu keinem Entschluss gekommen. Warum also sollten weitere dreißig Tage daran etwas ändern?

Er sah auf den Schnappschuss in seiner Hand nieder. Es waren unvergessliche Stunden gewesen. In jener Nacht hatte Elias einen Freund fürs Leben gefunden. Einen Freund, wie es keinen zweiten geben konnte. Und dieser hatte recht: Wenn Elias sich das Bild anschaute, wurde ihm klar, dass Nico ihm jeden Wunsch erfüllen würde. Umgekehrt wäre es genauso.

„Und wenn ich nicht noch länger überlegen will?“

Nico fuhr sich durch das zerzauste Haar und schaute aus dem großen Fenster der Festhalle, aus dem man nichts weiter als Felder sehen konnte. Es dauerte eine Weile, bis er endlich antwortete, und Elias fragte sich, was ihn zögern ließ.

„Wenn du dir absolut – wirklich einhundertprozentig – sicher bist, wäre es schon morgen denkbar.“

Elias nickte ganz spontan. Denn ihm war klar, dass alles Grübeln der Welt ihm die Entscheidung nicht leichter machen und ihn nicht weiterbringen würde.

***

Der Alkoholkonsum und die vorangeschrittene Uhrzeit hatten ihre Spuren bei Elias hinterlassen. Er trottete leicht taumelnd neben Nico her. Der hingegen sah aus, als hätte er eben erst einen langen, wohltuenden Schlaf hinter sich. Und so war Nico kurzerhand dazu verdammt worden, den provisorisch mit Geschenken befüllten Müllbeutel zu tragen.

Im gemütlichen Tempo schlenderten sie beide die dunklen Straßen entlang. Der angenehme Sommerwind fuhr lau unter Elias’ pechschwarze Kleidung und strich ihm sanft wie eine Liebkosung über Haut und Haare. Es war kein sehr langer Weg bis zu seiner Wohnung, weshalb er zu Fuß gekommen war. Die Müdigkeit in seinen Knochen aber zog jede Minute unerbittlich in die Länge.

„Kipp mir ja nicht um“, mahnte Nico belustigt und warf den Beutel lässig über seine Schulter. „Sonst muss ich dich Sack auch noch tragen!“

Ein freundschaftlicher Hieb in die Seite ließ Elias über seine eigenen Füße stolpern. Doch ungeachtet des kleinen Kraftaktes, der darin bestand, zurück ins Gleichgewicht zu kommen, gähnte er im nächsten Moment herzhaft.

„Heute werde ich trotz Vollmond schlafen wie ein Baby“, meinte er mit Blick in Richtung Himmel, wo die große, leuchtende Scheibe nur von einer Schleierwolke bedeckt wurde. Es war eine fast sternenklare Nacht.

„Vollmond ist erst morgen“, korrigierte Nico leise und klang dabei heiser.

Elias schmunzelte, schadenfroh darüber, dass der Alkohol nun endlich bei seinem Kumpel Wirkung zu zeigen begann.

„Jetzt sieht es bloß so aus.“

Elias betrachtete den Mond genauer. Er war bereits riesig und spendete ihnen kaum weniger Licht als die Straßenlaternen. Diese waren hier nur spartanisch aufgestellt, da die kleine neue Festhalle abseits des altmodischen Vorortes lag, in deren Mitte noch Fachwerkhäuser aus dem 18. Jahrhundert die Straßen säumten. Das älteste Gebäude war aber die verlassene Kirche aus dem Jahre 1701. Sie lag ebenfalls am Rande der eigentlichen Wohnsiedlung und versperrte den Einwohnern die Aussicht auf ihren alten, verfallenen Friedhof.

Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf Elias’ Armen und seine Nackenhärchen stellten sich auf, als die gewaltigen Turmwände des Gotteshauses in diesem Moment hinter den Bäumen zum Vorschein kamen, welche die Begräbnisstätte umgaben. Es war keine unangenehme Gänsehaut. Seit jeher hatte sich Elias von Orten wie diesem angezogen gefühlt. Oft war er abends durch die Stadt geirrt, immer mit der Kirche als anvisiertes Ziel. Doch etwas Unerklärliches hatte ihn stets davon abgehalten, Friedhöfe wirklich zu betreten. Sie strahlten so viel Autorität aus, dass es ihm unverschämt erschien, die Ruhe dort mit seiner Anwesenheit zu stören.

„Das ist genau deine Welt, hm?“

Elias blickte auf. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass seine Schritte langsamer geworden waren.

„Ja“, gab er zu. „Irgendetwas hieran begeistert und fesselt mich und …“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken. „Siehst du das?“ Seine Beine trugen Elias ungefragt zu dem großen, mit Statuen geschmückten und verwitterten Bogentor der Kirche. „Das Licht?“

Ein gedämpfter Strahl fiel aus den hohen Buntglasfenstern auf die Kieselsteinchen des schmalen Pfades, auf dem die beiden stehen geblieben waren. Es war ein flackerndes, warmes Licht. Ein anziehendes Licht.

„Sag mal, spinnst du?“ Blitzschnell ergriff Nico Elias’ Arm und hinderte ihn daran, näher heranzugehen. „Du hast keine Ahnung, wer zur Hölle da drin ist, und willst mir nichts, dir nichts da reinspazieren? Lass uns verschwinden, ja?“

Mühsam wandte Elias den Blick von dem Schein ab und sah seinen Freund verwundert an. Dieses Verhalten passte nicht zu Nico. Er war stets derjenige, der vor nichts zurückschreckte. Hatte er etwa Angst? Wovor? Sollte Elias vielleicht auch Angst haben?

„Wir werden ein anderes Mal hierher kommen, versprochen. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Komm, lass uns gehen.“

Nico, der seine körperliche Überlegenheit sonst nie ausnutzte, zog Elias mit der freien Hand wie ein kleines Kind hinter sich her. Er jedoch starrte noch auf das Licht zurück, als es bereits weit hinter ihnen lag.

Und eine leise Stimme in seinem Inneren flüsterte, dass Nico ganz genau wusste, was sich in diesem Augenblick hinter den Kirchenmauern abspielte.

Kapitel 2

KUSS

Gähnend ließ Elias die Eingangstür ins Schloss fallen. Seine Wohnung lag ruhig vor ihm, denn er lebte seit einigen Jahren alleine. Aufgrund seines Studiums hatte er von Zuhause ausziehen müssen, da die Fahrt bis zur Uni andernfalls zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Zu Beginn war Elias chronisch knapp bei Kasse gewesen, was sich glücklicherweise änderte, sobald er gelernt hatte, mit seinem schmal bemessenen Budget umzugehen. Der größte Nachteil am Auszug bestand eher darin, seine geliebten Eltern und vor allem seine fünfjährige Schwester Ines nur noch unregelmäßig sehen zu können. Er vergötterte das kleine Mädchen, das, wenn es erwachsen war, unbedingt Prinzessin oder Meerjungfrau werden wollte. Sie bedeutete ihm alles und die Entfernung zu ihr war nur dank beinahe täglicher Telefonate einigermaßen erträglich.

Mit schwachen Beinen trat Elias in sein Schlafzimmer. Die Lampe schaltete er nicht ein, da es sein einziges Ziel war, ins Bett zu fallen. Doch wegen seiner Müdigkeit dauerte es schrecklich lange, bis er sich Shirt und Jeans vom Körper gestrichen hatte. Seine Bewegungen waren unkoordiniert und schleppend. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Elias es endlich geschafft. Bevor er sich aber unter der Bettdecke verkriechen konnte, fiel ihm etwas ins Auge, das aus seiner Hosentasche auf den schwarzen Teppich gerutscht war: das Foto, das er von Nico bekommen hatte.

Elias hob es auf und sofort breitete sich ein inniges Lächeln auf seinem Gesicht aus.

Das unscheinbarste und zugleich wertvollste Geschenk, das er heute bekommen hatte. Ein Wunsch. Ein freier Wunsch, den Nico ihm erfüllen wollte. Und den nur Nico ihm erfüllen konnte.

Endlich sank Elias auf seine Matratze und hielt das Blatt Papier gegen das schwache Licht, welches durchs Fenster fiel. Es war eine Angewohnheit von ihm, die Jalousien oben zu lassen, denn von seiner Wohnung im ersten Obergeschoss aus blickte man genau auf die Kirchtürme. In manch einer Nacht sahen sie so irreal aus, wie das Cover eines Fantasybuches. Ebenso wie heute.

Der Mond stand über dem alten Gebäude und erleuchtete es, tauchte es in kalten Glanz. Elias fiel es nicht leicht, die Augen zu schließen und dieses Bild auszusperren, das ihm jedes Mal einen Schauder bereitete. Wären seine Lider nur nicht so tonnenschwer … und sein Kopf nicht so überfüllt …

Ob Nico mit diesem Präsent tatsächlich ein bestimmtes Ziel verfolgte? Er hatte von einem Wunsch geredet, den Elias nicht auszusprechen wagte. Einem Wunsch, der Konsequenzen nach sich ziehen würde. Einem Wunsch, dessen Äußerung ihm das gemeinsame Foto erleichtern sollte.

Also wusste Nico über Elias’ Gefühle Bescheid, die er schon so lange ausgerechnet für seinen besten Freund hegte? Bereits vom ersten Moment an hatte Elias ihn beeindruckend gefunden. Damals hatte er es sich selbst gegenüber als Bewunderung für Nicos außergewöhnliche Art abgetan. Doch immer öfter waren Empfindungen in ihm aufgekommen, die weit über bloße Bewunderung hinausgingen. Und spätestens mit Ende jenes Tages, an dem die Aufnahme in Elias’ Hand entstanden war, war es um ihn geschehen gewesen. Elias hatte sich verliebt, hatte kaum den Blick von seinem Kumpel abwenden können – sich aber dazu gezwungen, um keinen Verdacht in diesem zu wecken. Dennoch brauchte Elias, wie auch in diesen Sekunden, nur die Augen zu schließen, um erneut Nicos Gesicht vor sich zu sehen. Er sah es mit allen Details, die er in nunmehr drei Jahren in sich aufgesogen hatte. Sah diese unfassbar grünen Augen, von denen man glauben könnte, sie würden im Dunkeln leuchten. Sah die wundervoll geschwungenen Lippen … Die Lippen, die Elias küssen wollte. Mehr als alles andere auf der Welt.

Das war sein Wunsch. Der, der so viele Konsequenzen mit sich ziehen würde. Der, der einfach verrückt war. Der, den nur Nico ihm erfüllen konnte.

Und es war der Wunsch, den Elias morgen versuchen würde auszusprechen. Ein Wunsch, der kaum in Worte zu fassen war, ohne dass er zwangsläufig an Bedeutung verlor. Denn Worte könnten nie zum Ausdruck bringen, was Elias empfand.

Etwas, das Nico nicht empfand. Da bildete er sich nichts ein. Allein deshalb hatte Elias noch nie über seine Gefühle geredet. Und selbst morgen, so überlegte er jetzt, würde er die Bitte notfalls in einen Scherz verwandeln. Falls Nico zu Lachen beginnen oder ihn verstört anstarren sollte, würde Elias ihm grinsend vorgaukeln, er habe nur einen Witz gemacht. So oder so, er würde sich seinem Freund öffnen. Irgendwie.

Das Geschenk auf die Nachtkonsole gelegt, fiel Elias langsam in den lang ersehnten Schlaf. Keinen tiefen Schlaf, sondern vielmehr einen, der knapp an der Dämmergrenze kratzte und jeden Moment an die Oberfläche, die Realität, zu schwappen drohte.

Unzählige Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf, an die er sich am nächsten Morgen nur noch schwach erinnern würde: rote Lippen, ein greller Mond, Kirchtürme in kaltem Licht.

Immer wieder rote Lippen, ein greller Mond, Kirchtürme in kaltem Licht …

***

Nicht der grelle Mond, sondern eine wahrhaftig unhöflich grelle Taschenlampe blendete Elias, als er am nächsten Abend auf ein spätes Klingeln hin die Wohnungstür öffnete. Vor ihm stand Nico.

„Hey!“ Er kam über die Türschwelle und drängte Elias aus dem Weg. „Ich hab mir überlegt, bevor du mir endgültig deinen Wunsch verrätst, sollten wir noch … ein wenig spazieren gehen. Einfach etwas Zeit miteinander verbringen.“

„Ich … Klar.“

Elias nickte unschlüssig. Er hatte den gesamten Tag seine Konzentration darauf verschwendet, nicht an diesen Augenblick zu denken. Denn der Schlaf hatte nicht nur den Promillewert in seinem Blut auf ein Minimum gesenkt: Der Schlaf hatte ihm ebenso den vor wenigen Stunden noch vorhandenen Mut genommen. Mehr noch; als Nico weder angerufen hatte noch herübergekommen war, war Elias der Gedanke gekommen, dass die ganze Sache nicht so viel bedeuten konnte, wie er zunächst geglaubt hatte. Womöglich hatte er den Sinn des Geschenkes komplett überbewertet? Oder Nico hatte es sich plötzlich anders überlegt?

Diese und andere Fragen waren ihm durch den Kopf geirrt. Nun aber war Nico hier und wirkte bei Weitem nicht so gelassen, wie man es sonst von ihm kannte. Er fuhr sich mehrmals durchs Haar, trat von einem Fuß auf den anderen und ließ Elias dadurch vermuten, dass sein Kumpel sehr wohl ahnte, was für einen Wunsch er gleich hören würde. Vorausgesetzt, Elias bekäme trotz seiner unbarmherzig aufkommenden Nervosität überhaupt den Mund auf.

„Gehen wir dann?“ Nico kehrte zurück ins Treppenhaus und drehte sich kurz darauf wieder nach Elias um. „Kommst du?“

Mit vor Aufregung trockenem Hals nickte er. „Ja, ja. Natürlich.“ Doch seine Beine dachten nicht einmal daran, ihn in Richtung Wohnungstür zu tragen. „Ich muss nur mal eben … Warte bitte kurz!“

Das Herz hämmerte laut in Elias’ Ohren, als er in sein Schlafzimmer eilte und mit zittrigen Fingern die Fotografie von der Nachtkonsole nahm.

Während er das Abbild seines Freundes betrachtete und sich sofort eine wohlige Wärme im Bauch bemerkbar machte, kramte er mit der freien Hand einen Kugelschreiber aus der Schublade. Elias war klar geworden, dass es ihm unmöglich sein würde, seinen Wunsch ohne Weiteres auszusprechen und so schrieb er ihn auf der Rückseite des Bildes nieder:

„Küss mich.“

Waren das die richtigen Worte? So kurz und knapp? Elias wusste es nicht. Und es war auch vollkommen gleichgültig. Denn er hatte nicht vor, Nico diese Aufforderung herüberzureichen. Die Notiz war allein für ihn selbst bestimmt. Sie sollte ihm Mut machen. Sie sollte ihn zusammen mit dem Foto daran erinnern, dass er seinem Freund alles sagen, ihn um alles bitten konnte. Und vielleicht, wenn diese zwei Silben tatsächlich nicht freiwillig über seine Lippen kämen, würde Elias sie ablesen können. So wie es große Redner taten; nur dass Elias anstatt eines großen Redners bloß ein unsäglicher Feigling war.

Letztlich war es egal, wie er es anstellte: Wenn Nico bereit war, ihm einen so wertvollen Wunsch zu erfüllen, dann würde Elias es auch schaffen müssen, diesen laut zu äußern.

„Bist du soweit?“ Nico wartete mit hochgezogenen Augenbrauen in der geöffneten Wohnungstür und musterte Elias, als er in den Flur zurückkehrte.

„Jetzt schon“, antwortete Elias und umklammerte dabei das zusammengefaltete Bild in seiner Hand. Er folgte Nico die Stufen des Treppenhauses hinab und nach draußen.

Es war eine angenehm laue Sonntagnacht. Selbst der Windhauch, der durch ihre Kleidung blies, fühlte sich warm auf der Haut an. Dennoch kribbelte eine leichte Gänsehaut über Elias’ Rücken, als er an der Seite seines Freundes die spärlich beleuchtete Straße entlangging.

Keiner sprach, und anders als sonst war es kein unbeschwertes Schweigen. Es war vielmehr wie das Schweigen im Wartezimmer eines Arztes, wenn man auf eine wichtige Diagnose wartete. Elias’ Griff um das Foto wurde mit jedem Schritt fester und er spürte, wie das dicke Papier allmählich feucht wurde. Feucht vor Angstschweiß.

„Also.“ Nach scheinbar mehreren Stunden durchbrach Nico die Stille. „Du fragst dich vielleicht, warum ich daraus so eine große Sache mache, anstatt es einfach … zu tun.“ Er sprach ruhig, trotzdem war das Zögern in seiner Stimme herauszuhören. „Ich will, dass du dich dabei wohlfühlst. Wenn wir das auf die Schnelle machen, wird es zu … mechanisch. Verstehst du?“ Er warf Elias einen flüchtigen Seitenblick zu. „Dabei sollte man es in jedem Fall richtig machen. Es ist ein besonderer Moment.“

Elias leckte sich nervös über die Lippen und richtete das Augenmerk auf die akkurat gepflasterte Straße, auf der der Lichtkegel der Taschenlampe hin und her tänzelte. Dass Nico von Begriffen wie „küssen“ keinen Gebrauch machte, stimmte ihn wahnsinnig dankbar.

„Du bist so still. Sehr nervös, hm?“

„Ich …“ Elias schielte zu Nico herüber. Seit fast drei Jahren hatten sie nicht mehr derartig vorsichtig nach Worten gesucht. „Du musst das nicht tun“, sagte er endlich. „Ehrlich, wenn sich dadurch zu viel ändert, dann …“

„Dadurch wird sich natürlich alles ändern“, entgegnete Nico und ließ Elias’ Herz einen Moment lang aussetzen. „Aber nicht zwischen uns. Niemals. Du musst dir dennoch im Klaren darüber sein, dass sich dein Leben von da an ändern wird. Es gibt kein Zurück. Danach kannst du keine der Veränderungen kontrollieren. Sie werden einfach geschehen.“

Das stimmte wohl. Wenn Elias erst einmal in den Genuss gekommen war, den Mund eines Mannes zu küssen … Das würde mit Sicherheit alles verändern und er würde die Gefühle – einmal entfesselt – nicht mehr unter Kontrolle bringen können. Konnte er damit leben? Nach all der Zeit des Verdrängens?

„Solange zwischen uns alles beim Alten bleibt …?“ Wenn das gegeben war, stand seine Entscheidung fest. Wenn Nicos Freundschaft ihm sicher war, überstand Elias alles.

„Nun. Wir werden uns danach natürlich in gewisser Weise näherstehen. Das ist dir ja bestimmt klar? Ich mache das immerhin nicht täglich. Und du auch nicht.“

Eine tiefe Erleichterung durchzog Elias’ Körper. Er hatte bestenfalls damit gerechnet, dass Nico ihm versprach, alles bliebe gleich. Doch nun sollten sie einander nach dem Kuss sogar näherstehen als sie es ohnehin schon taten? Mehr musste Elias nicht hören.

Erfüllt von freudiger Anspannung, ging er stumm neben Nico her, bis ihm auffiel, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wohin.

„Hast du ein bestimmtes Ziel?“, fragte er, als sie den Weg ansteuerten, der aus der Wohnsiedlung hinausführte und auf dem kaum eine Laterne mehr die Straßen säumte.

„Ich hätte gedacht, du weißt es längst“, meinte Nico und sah zum Himmel. „Die perfekte Zeit, der perfekte Ort.“

Elias folgte dem Blick. Ein kreisrunder Mond thronte über ihren Köpfen. Sofort schossen ihm Bilder seines letzten Traumes ins Gedächtnis. Rote Lippen, ein greller Mond …

„Wir gehen zur Kirche?“

Nico lachte auf. „Zu den schnellen Denkern gehörst du nicht, was?“

Jetzt, wo keine zweihundert Meter vor ihnen das alte, prachtvolle Gebäude im Licht der Taschenlampe auftauchte, schien es wirklich lachhaft, dass die Idee Elias nicht früher gekommen war. Aber es war ja keinesfalls so, als hätte er in den vergangenen Minuten keine anderen Gedanken gehabt.

***

Aufwendig mit biblischen Gestalten verziert, ragte das gewaltige Tor der Kirche vor ihnen auf, als sie direkt an der steinernen Treppe standen. Die Mauern strömten eine spürbare Kälte aus und Elias fragte sich, welche Temperaturen im Inneren herrschen mochten.

„Meinst du, sie ist verschlossen?“, wandte er sich an Nico, der seinen blonden Schopf schüttelte.

„Nein. Die Kirche steht seit Jahren offen. Nur …“ Er tat einen Schritt rückwärts. „… da hinein können wir später, wenn du unbedingt willst. Lass uns erst mal nach hinten verschwinden.“

„Auf den Friedhof?“

Noch bevor Elias eine Antwort erhielt, schloss er sich Nico an.

„Ja“, entgegnete der und gemeinsam gingen sie um das imposante Gebäude herum. „Solange der Mond unbedeckt scheint.“

Es war kein Geheimnis, dass Elias sich von der dunklen Welt angezogen fühlte. Trotzdem verwunderte es ihn, dass Nico sich für einen Kuss zwischen Gräbern entschieden hatte.

Diese Verwunderung hielt jedoch nicht lange. Sobald die beiden um die mit Statuen geschmückten Mauern herum in den Hinterhof gelangt waren, bot sich ihnen ein Bild, das die ideale Kulisse für ein Musikvideo der Gothic-Szene geboten hätte.

Während Nico Elias führte, erhellte die kleine Lampe verwitterte Grabsteine, deren Gravuren kaum noch zu entziffern waren, Sitzbänke und Gitter, an denen sich Rosenranken emporschlängelten, die in Unkraut zu ersticken drohten. Überall ragten Engelsstatuen auf, deren Schwingen von der Zeit stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

„Lass uns hier bleiben“, sagte Nico und machte so abrupt Halt, dass Elias, der sich von der Atmosphäre hatte fesseln lassen, beinahe in ihn gerannt war.

Sie gingen auf einem unbewachsenen Stückchen Erde zwischen zwei Grabsteinen auf die Knie. Der Boden war steinhart und trotz der angenehmen Temperatur eiskalt. Ein Frösteln kroch Elias, angefangen bei den Beinen, über den gesamten Körper.

„Bist du okay?“

Elias nickte und schloss die Finger weiter um die kleine Aufnahme. Bestimmt traten seine Knöchel durch den festen Griff bereits weiß hervor.

Da er keine Ahnung hatte, ob er Nico seinen Wunsch nun einfach mitteilen oder noch warten sollte, heftete Elias sein Augenmerk auf den Boden zwischen ihnen. Die Erde war vollkommen ausgetrocknet, offenbarte an einigen Stellen sogar feine Risse. Sie wirkte ebenso tot wie der verlassene Friedhof und seine verkümmerten Gräber selbst.

„Hast du es dir anders überlegt?“, hakte sein Gegenüber vorsichtig nach und holte Elias aus seinen Gedanken. „Oder willst du vielleicht doch noch längere Bedenkzeit?“

„Nein, nein.“ Elias strich sich mit der freien Hand den Pony aus der Stirn und atmete tief durch. „Ich bin mir sicher. Jedenfalls, wenn du dir sicher bist, dass du es tun willst?“

Nico lächelte im fahlen Licht der Taschenlampe. „Natürlich. Mir war schon immer klar, dass du, hmm, sagen wir, anders bist. Wird langsam Zeit, dass du es ausleben kannst. Dabei kann und will ich dir helfen.“

Elias stockte der Atem. Nico wusste längst, dass er schwul war? Er hatte es Elias gegenüber nie erwähnt. Wusste er etwa auch, dass er in ihn verliebt war?

Aber obwohl sein Freund nun offensichtlich über all das im Bilde war und darauf wartete, dass Elias etwas sagte, wusste der nicht, wie er es anstellen sollte. Wie sollte er um einen Kuss bitten?

Als er endlich den Mund öffnete, um einen ersten Versuch zu starten, entfloh Elias ein beinahe hysterisches Lachen. Fast wäre er vor Scham in der ausgedorrten Erde versunken, wäre da nicht Nicos gutmütiges Schmunzeln gewesen.

„Ich werde dich nicht für verrückt erklären“, meinte er bestärkend. „Ich habe dich auch damals nicht für verrückt gehalten, als du mit deinem Gerede über Vampire angefangen hast.“

Das Foto!, schoss es Elias durch den Kopf. Die Notiz auf der Rückseite sollte ihm doch Mut spenden! Er war drauf und dran, diese herauszukramen und wie geplant von ihr abzulesen. Aber mit einem Mal schien ihm die bloße Idee daran lächerlich und so rührte er sich nicht.

„Ich werde auch nicht zu fest zubeißen!“, versprach Nico, plötzlich grinsend, und jagte Elias damit eine Hitzewoge in Richtung Magengrube. Tausend Bilder von Nicos mit zärtlichen Bissen gespickten Küssen machten sich vor seinem geistigen Auge breit. Küsse, die seit der gefühlten Ewigkeit hier auf dem Friedhof längst ihm hätten gehören können.

„Wenn du ohnehin weißt, was ich mir wünsche …“ Elias war sich nicht einmal sicher, ob seine gewisperten Worte zu vernehmen waren. Nur reichte ihm für mehr der stockende Atem nicht. „Kannst du es dann nicht einfach machen? Bitte.“

Elias hatte keine Gelegenheit mehr dazu, in Nicos Gesicht nach einer Reaktion auf diese Bitte hin zu suchen. Die einzige Lichtquelle weit und breit war bereits erloschen und er konnte lediglich noch Nicos Umrisse erkennen. Es herrschte Stille und Elias wagte nicht, diese zu stören. Er verharrte lautlos auf seinem Platz und beobachtete die Gestalt vor sich, die ebenfalls keinen Anschein machte, sich zu regen.

Nur ein leises Flügelschlagen, nicht weit von ihnen, war zu hören und Elias fragte sich unwillkürlich, ob es sich dabei um eine Fledermaus handelte, die diesen Moment noch perfekter werden ließ.

Dann räusperte Nico sich und flüsterte: „Ich tu das hier zum ersten Mal. Aber du ja genauso, also … Das beruhigt doch irgendwie, oder?“

Er lachte fast geräuschlos auf und Elias konnte die dahinter verborgene Nervosität ausmachen. Nervosität, die auch ihn selbst erfüllte und ihm einen Schwindelanfall durch den Kopf peitschte, als sich der schwarze Umriss vor ihm schließlich bewegte.

Nico kam näher und trieb damit Elias’ Herz zu Akkordleistungen an; es hämmerte so laut, dass Nico das Schlagen vermutlich hören konnte – so nah, wie sie einander jetzt waren. Ihre Lippen würden sich gleich berühren. Sie würden sich gleich küssen. Elias konnte schon Nicos warmen Atem auf seiner Wange spüren. Er schloss die Augen und genoss das unbeschreiblich schöne Prickeln in seiner Magengrube, als Nico ihm eine Hand in den Nacken legte und ihn zu sich zog. Seine Gegenwart war berauschend. Elias neigte den Kopf zur Seite, bereit Nico zu schmecken. Bereit für den Kuss …

… und zuckte vor Schmerz zusammen, als sich messerscharfe Zähne in seinen Hals bohrten.

Kapitel 3

BISS

Schwer keuchend riss er sich los. Sein Rücken prallte hart gegen den Grabstein hinter ihm und ein betäubender Schmerz flutete Elias bis in die Zehenspitzen. Sein gesamter Körper war wie paralysiert. Er schnappte nach Luft, seine Lungen aber verweigerten ihm den Dienst. Lediglich sein Herz arbeitete auf Hochtouren. War es eben noch die Aufregung, die es hatte schneller schlagen lassen, peitschte nun eine Mischung aus Panik und Schock das Blut durch seine Adern. Durch einen Hustenanfall hindurch hörte er Nicos Stimme. Sie klang anders, verfremdet, nur war Elias nicht in der Lage, zu bestimmen, weshalb.

„War das zzzu dolle?“

Elias starrte entgeistert auf den Umriss vor sich.

„Keine Ahnung!“, stieß er giftig hervor. „Wie tief wolltest du mir denn die Kehle aufreißen?“ Er fasste sich an die Wunde. Sie brannte, war feucht und klebrig. „Verdammt, ich blute!“

„Natürlich blutessst du.“ Nico schaltete die Taschenlampe ein, deren heller Schein Elias blendete. „War ja deine Halsssschlagader … Du solltessst das jetzzzt nicht anfassen …“ Er streckte den Arm nach Elias’ Hand aus, doch dieser entzog sich brüsk dem Griff, wobei die abrupte Bewegung ihm erneut höllische Pein durch seinen Körper jagte.

„Fass mich nicht an!“, zischte er und verfluchte seine Beine, die ihn nicht tragen wollten. Leblos wie Watte lagen sie auf dem kalten Grund.

„Du musssst dich beruhigen.“ Nico sprach so leise, als hätte er Angst, Elias ein weiteres Mal zu verschrecken. „Wenn du dich ssso sehr aufregssst, schlägt dein Herzzz zzzu schnell und du verlierssst unnötig viel Blut. Dann bissst du nachher völlig erschöpft.“

„Erschöpft?“ Elias lachte hysterisch auf. „Sobald ich ausblute, bin ich mehr als nur erschöpft! Was zum Teufel sollte das?“ Er blinzelte gegen die bunten Pünktchen an, die durch das beißende Licht der Taschenlampe seine Sicht behinderten, suchte nach Blickkontakt. Als sich das Bild jedoch endlich klärte und das Gesicht vor Elias Gestalt annahm, traute er seinen Augen nicht.

„Schau mich nicht ssso an …“, bat Nico schwach. Tiefe Traurigkeit zeichnete nicht nur seine Stimme, sondern ebenso sein Antlitz. Der Anblick passte so gar nicht zu den unnatürlich langen, gefährlich spitzen Zähnen, die unter den blutverschmierten Lippen hervorragten. „Normalerweissse bekleckere ich mich nicht ssso, aber …“ Nico hielt inne, wandte das Gesicht ab, als könne er es jetzt noch verbergen, und wischte mit dem Handrücken über seinen Mund. Als er sich Elias wieder zeigte, waren neben dem Großteil des Bluts auch die langen Eckzähne verschwunden, die ihn am Reden gehindert hatten. „Aber du bist zurückgezuckt und …“

„Normalerweise?“

Elias’ Hand legte sich erneut an die Verletzung, deren Brennen langsam nachließ. Seine Finger ertasteten die zwei Einstichlöcher, aus denen das Blut weiterhin in einem dünnen Rinnsal floss.

„Was bist du?“, fragte er fast tonlos und betrachtete das Gesicht vor sich, das ihm sonst so vertraut gewesen war. Sogleich bereute er seine Frage. Es war schließlich nach wie vor Nico, sein bester Freund, mit dem er sprach.

Stille trat ein. Lediglich der pfeifende Wind, der um die Gemäuer der alten Kirche wehte, war zu hören. Es war ein eiskaltes Geräusch, das Elias die Nackenhärchen aufstellte.

„Das kann nicht sein“, fuhr er schließlich fort, als hätte er eine Antwort erhalten. „So etwas gibt es gar nicht.“ Elias schüttelte seinen Kopf, woraufhin sich alles in ihm drehte.

„Ich verstehe nicht …“ Nicos Worte drangen durch den Schwindelanfall nur verschwommen zu ihm vor. „Du hast dir doch gewünscht … Deswegen sind wir ja heute …“ Seine Stimme brach. Nicos Brustkorb zuckte unter den heftigen Atemzügen.

Unfähig weiterzusprechen, fixierten seine weit aufgerissenen Augen erst Elias’ Hals, bevor sie nachdenklich abschweiften und an etwas hängen blieben, das am Boden lag.

Mit vor Anspannung bebenden Händen hob Nico das kleine Foto von der Erde auf, welches Elias hatte fallen lassen. Ohne das in der Nacht fast unsichtbare Stück Papier mit der Taschenlampe zu erhellen, starrte Nico auf die zwei darauf stehenden Worte. Er las sie offenbar mehrmals, als hoffte er, sie würden sich noch ändern. Als er schließlich zu Elias aufsah, wirkte Nico noch konfuser als zuvor.

„Ich war mir sicher, du würdest dir … Deine ganze Art, dein Interesse an der Schattenwelt … Ich hab dir extra dieses Bild gegeben, damit … Es tut mir so leid! Ich …“ Er schluckte schwer. Die Silben schienen ihm in der Kehle festzustecken, als seine Augen die Bisswunde fanden. „Ich kann es nicht aufhalten.“