Das Leben einer Unbekannten - Sigrid Lenz - E-Book

Das Leben einer Unbekannten E-Book

Sigrid Lenz

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  • Herausgeber: XOXO-Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Zwei Ermittler stoßen in einer verlassenen Wohnung auf die Aufzeichnungen einer Unbekannten. Beim Durchsehen der Papiere gewinnen sie das Bild einer Frau, deren Berichte geprägt sind von Neurosen, Unsicherheiten, Selbstzweifeln und den bitter gefärbten Schilderungen alltäglicher, aus weiblicher Sicht empfundener, Aspekte des Lebens. Ihr Verbleib ist für die Ermittler jedoch ein Rätsel.

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Seitenzahl: 266

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Das Leben einer Unbekannten
Impressum
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Sigrid Lenz

Sigrid Lenz

Das Leben einer Unbekannten

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-094-1

E-Book-ISBN: 978-3-96752-594-6

Copyright (2022) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1228035778

von www.shutterstock.com

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Vorwort

Er war schon lange kein Junge mehr. Er war ein Mann, fast vierzig Jahre alt. Und sein Erinnerungsvermögen zählte noch nie zu seinen stärksten Vorzügen. Kein Wunder, dass er sich kaum an seine Mutter erinnerte. Und wenn er ehrlich war, so fürchtete er, dass er sich auch nicht erinnern wollte. Gingen diese Erinnerungen doch immer wieder einher mit unangenehmen Aussetzern.

Nein – besser war, er vergaß das Ganze, schob es soweit von sich weg, wie er konnte und wartete ab. Wartete ab, bis ihm dies nicht mehr gelang und die Welten über ihm zusammenbrachen.

»Ein merkwürdiger Fall.«

Elena schüttelte ihren Kopf, teils aus Missmut über die ihr zugemutete Arbeit, teils aus der immer wieder neu auftretenden Verwunderung, die sie im Verlauf ihrer Ermittlungsarbeiten überfiel. Der Kollege warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. Konstantin war schon erheblich länger im Dienst. Auch wenn es sich bei Elena beileibe um kein unbeschriebenes Blatt handelte, so hatte er ihr doch an Erfahrung und bereits Gesehenem einiges voraus.

»Das sind sie immer«, brummte er und bückte sich, um mit seiner Pinzette einen Fussel vom Teppich zu sammeln und sorgsam in eine Plastiktüte zu verpacken. Vergebliche Liebesmüh, soviel war klar. Aber nichtsdestotrotz sollten sie sich wenigstens den Anschein geben, als fassten sie mehrere Spuren ins Auge.

»Was ist das?«

Elena kniff die Augen zusammen, als sie vorsichtig die Tür zu einer Abstellkammer aufschob, die sich mit einem auffallenden Quietschen gegen den Angriff zu wehren schickte.

Sie rümpfte die Nase, als ihr eine Wolke Staub entgegen stieg.

»Um Himmels Willen«, murmelte sie und schickte Konstantin einen verzweifelten Blick. Dieser verzog den Mund zu einem kurzen Lächeln, drängte sich dann an ihr vorbei und mit Hilfe des Einsatzes seines Körpergewichtes gelang es ihm, die Tür vollkommen aufzustoßen.

»Was für ein Haufen«, seufzte er, als er die Papiere erblickte, die sich entlang der Wände aufstapelten.

»Ein Zwangscharakter«, vermutete Elena. »Jemand, der nichts wegwerfen konnte.«

»Zumindest keine Papiere«, ergänzte Konstantin. »Der Rest der Wohnung wirkt sorgfältig gepflegt.«

Elena betrat den Raum, nahm ein paar Blätter auf und runzelte die Stirn. »Keine Zeitungen. Offenbar Notizen.«

Sie nieste, als das Anheben eines weiteren Stapels noch mehr Staub aufwirbelte. »Sinnloses Kauderwelsch. Ob uns das weiterhilft?«

Konstantin zuckte mit den Schultern. »Irgendjemandem wird es weiterhelfen. Zur Not dem Polizeipsychologen.«

»Hier!« Elena nahm einen Schnellhefter aus dem Regal. »Manches ist getippt.« Ihr Blick fiel auf die Schreibmaschine in der Ecke. »Das dürfte es zumindest einfacher machen.«

Sie reichte ihrem Kollegen den Hefter, der ihn kritisch beäugte und dann damit den dämmrigen Raum verließ.

»Ich schicke den Fotografen«, sagte er über die Schulter und stöhnte. »Sollte mich nicht wundern, wenn der Papierkram wieder an uns hängen bleibt. Und das meine ich in doppelter Hinsicht.«

Kopfschüttelnd betrachtete Elena die unzähligen aufeinandergestapelten und durcheinander flatternden Blätter, die jeden freien Zentimeter des Raumes bedeckten, hob wahllos eines auf und überflog es rasch. Obwohl zufällig ergriffen trug der Text doch Titel und sogar Kapitelbezeichnung. Sie begann zu lesen.

Kapitel 1

Die Schwindelei

Dass Lügen nichts bringt, musste ich schon vor langer Zeit lernen. Es bringt nichts, weil früher oder später, jedoch unweigerlich jemand aus dem Nichts auftaucht, und aufdeckt, was nicht aufgedeckt werden sollte.

Um sich dann herauszureden, ist es notwendig, ein geübter und erfahrender Lügner zu sein, möglichst jemand, der sich von Kindheit an in dieser Kunst trainiert.

Ein Anfänger wie ich hat auf diesem Gebiet nicht die geringste Chance. Nicht die geringste Chance, aus der Sache heil herauszukommen. Heil, oder zumindest mit einem lediglich angekratzten Ruf. Nicht so, wie es mir widerfährt. Da sieht das Ergebnis am ehesten aus, wie ein Berg an Peinlichkeit und Schande, der sich über mir ausschüttet, mich überschwemmt mit ekelhaft zählflüssiger Substanz, gegen die jede Lava ein Vergnügen wäre.

Nicht, dass ich mir um meinen Ruf größere Gedanken zu machen brauchte. Das ist nicht notwendig, ist es mir doch gelungen, jenen bereits vor vielen Jahren zu zerstören. Umfassend und gründlich, wie es nur jemand schafft, der kein Fettnäpfchen auslässt und in jede Peinlichkeit hineinstolpert, sei sie auch noch so weit entfernt.

Möglicherweise liegt darin auch der Grund begraben, zumindest ein Teil davon.

Der kärgliche Rest an Ansehen, den ich mir selbstverständlich hauptsächlich einbilde, der mir aber dennoch den Mut verleiht, hinauszutreten in die feindliche Welt – jenen Rest zu erhalten, ist mir manchmal dann doch wichtiger, als meinem Vorhaben der unbedingten Ehrlichkeit treu zu bleiben.

Nicht, dass ich direkt lügen würde – nein – ich schwindele höchstens… ein wenig. Ich verdrehe mir die Realität, bis so aussieht, dass ich um einen Bruchteil besser dastehe, als ich normalerweise dastände. Nur ein bisschen – ein ganz klein wenig.

Zu dumm nur, wenn man mir doch letztendlich und unwiderruflich auf die Schliche kommt. Zu dumm nur, dass ich immer wieder feststellen muss, dass Lügen nichts bringt. Zumindest mir nicht.

***

Elena legte das Blatt wieder ab und seufzte.

»Wir packen es zusammen und wühlen uns auf dem Revier durch. Ich fürchte fast, dass uns letztendlich nichts anderes übrig bleibt.«

Sie seufzte wieder, dankte jedoch im Stillen ihrem guten Stern, der sie dazu verleitet hatte, sich in der Fähigkeit des Querlesens auszubilden. Der Himmel wusste, dass die Leute dieser Tage anscheinend nichts anders konnten, als jeden noch so absonderlichen Gedanken zu Papier zu bringen.

Kapitel 2

Das Körperliche

Wie herrlich ist es doch, eine Frau zu sein. Dieses großen Glückes war ich mir schon bewusst, als ich noch zur Schule ging, selbstverständlich in eine gemischte Klasse.

Schon damals versuchte ich abzuwägen, worin der Vorteil bestand, wer das bessere Los gezogen hatte – Mädchen oder Junge. Und dummerweise existierte nie auch nur der geringste Zweifel an meiner Schlussfolgerung. Ganz im Ernst: Ist das ein Wunder?

Schon in jungen Jahren beginnt sich die Schere zu öffnen, und spätestens mit dem Eintritt in die Pubertät lassen sich die Nachteile nicht mehr bestreiten. Denn wer wählte freiwillig monatliche Übelkeit, Bauchkrämpfe, die Gedanken an ein sich im Unterleib herumdrehendes Messer nicht mehr erschrecken lassen, Stimmungstiefs und nicht zu vergessen: Die Unpässlichkeit, die einher geht mit dem immensen Kostenaufwand, den Frau betreiben muss, um nicht ihre Kleidungsstücke mit verräterischen dunkelroten Flecken zu verzieren. Zu den Ausgaben, welche die Gesellschaft einer Frau grundsätzlich abverlangt, gehören demnach in erster und unumstößlicher Linie diverse Hygieneartikel, an denen Mann mit einem spöttischen, vielleicht sogar überheblichen Lächeln im Gesicht vorbeigehen darf.

Lassen wir beiseite, dass Frau schön sein sollte, und dass Schönheit nicht billig ist. Kosmetika, Friseurrechnungen, Haarfärbeprodukte und möglichst geschmackvolle Kleidung gehören zum Pflichtprogramm. Variablen wie Diätprodukte oder seit jüngster Mode auch gerne die eine oder andere Schönheitsoperation lassen sich vielleicht umgehen, doch mit der monatlichen Hygiene ist nicht zu spaßen. Sie kommt von Kindheit an mit geradezu nerv tötender Gleichmäßigkeit immer wieder, setzt lediglich aus, wenn man sie für ein »größeres Übel« eintauscht.

Denn ob die Leiden einer Schwangerschaft, selbst wenn diese im Großen und Ganzen problemlos verläuft, sich aufwiegen lassen mit der obligatorischen Woche Ärger im Monat, ist noch nicht geklärt. Auf die Statistik wäre ich neugierig, darf man doch auch Risiko und Schmerzen einer Geburt nicht vollkommen außer Acht lassen, sowie die Verpflichtung, sich für einige Jahrzehnte um das kleine Wesen zu kümmern, das in die Welt gesetzt wurde.

Inwieweit Mann eine Hilfe ist, liegt doch in weiten Teilen bei den Herren der Schöpfung, und trotz aller Bemühungen um Gleichberechtigung zieht er es doch zumeist vor, sich in den Kampf ums Dasein zu stürzen, als sich dem Kampf mit dem eigenen Kind auszusetzen.

Einzige Alternative zur Schwangerschaft ist jene gesegnete Zeit, in welcher der natürliche Lauf der Zeit die Menstruation beendet. Nur habe ich mir sagen lassen, und vermutlich werden mir sehr viele erfahrene Damen zustimmen, dass auch diese Phase in keinster Weise ein Zuckerschlecken ist. Denn der langsame Auslauf der Gebärfähigkeit des Körpers ist genau dieses… ein langsamer Auslauf. Neben Hormonumstellungen, Hitze- und Kältewallungen, sowie Unzulänglichkeitsgefühlen, gewürzt mit einer guten Dosis Depression, bleiben uns also die Ausgaben, die uns ein gewisser Hygieneanspruch auferlegt, erhalten.

Halten wir fest, dass Frau mehr bezahlt, aber immer noch weniger verdient. Weil unter Umstanden dann doch das Risiko besteht, dass sie in gemütlichen Mutterschaftsurlaub geht, eine Zeit, in der Freude, Frieden und Mutterglück das Leben bestimmen und die somit alle Opfer, wie künftige Gehaltskürzungen oder auf immer verlorene Arbeitsplätze, wert sind.

Heißt es.

Nun gut, in der Jugend steckt die Frau oder besser gesagt das Mädchen noch voller Hoffnungen und Träume. Es wünscht sich nichts mehr, als in den Rahmen zu passen, ein Leben zu führen, wie ihr Umwelt und Medien als ideal vorgaukeln. Und vielleicht ist es sogar zeitweise ziemlich lustig, sich mit glitzerndem Modeschmuck zu behängen, die eigene Weiblichkeit zu Markte zu tragen und ein ausgewähltes Exemplar der Spezies Mann anzuhimmeln. Je nachdem auch auszutricksen, mit ihm zu spielen, die wenigen Vorteile ausnutzen, die sich bieten.

Ist es das wert? Vielleicht, wenn diese Leidenschaft der Frau mit in die Wiege gelegt wurde. Eher nicht, wenn man zufällig einen Charakter besitzt, dem Spielereien wie die oben erwähnte nach einem gewissen Maß an Zeit und Aufmerksamkeit zu langweilig – ich will nicht sagen zu oberflächlich erscheinen.

Wo trägt also der Mann seinen Part an den vom Schicksal so großzügig verteilten Nachteilen?

Als Mädchen konnte man mir noch weismachen, dass die Notwendigkeit der täglichen Rasur ein ausgleichendes Gegengewicht darstellt. Was muss Mann sich auch quälen. Man stelle sich vor, einen Rasierapparat kaufen, vielleicht sogar die Zutaten zur Nassrasur. Was für ein Ärger!

Wenigstens verursacht die Rasur keine Schmerzen.

Allerdings tut sie das, wenn Frau mit ihren masochistischen Tendenzen sich der Sache annimmt. Denn, dass Frau sich nicht rasieren muss, ändert sich früher oder später so sicher wie das Amen in der Kirche. Und heutzutage eher früher, wenn bereits 13-jährige Mädchen sich die Bikini-Zone wachsen lassen.

Genau – Frau rasiert nicht, sich foltert sich mit Heißwachs. Sie zupft Augenbrauen und bekämpft jeden Haarwuchs intensiver als Mann es jemals täte. Denn Mann ist zielstrebig. Er weiß, wo er hin will und hält sich nicht damit auf, sich selbst auf eine Blüte zu dekorieren und mehr oder wenig geduldig abzuwarten, bis diese gepflückt wird.

Das ist so, und es wird auch so bleiben, solange es nirgendwo ein graues Haar gibt, außer im Seniorenheim, solange unvorstellbare Summen für unnötige Schönheitsprodukte ausgegeben werden und solange Mädchen aufwachsen mit Filmen über rosa Barbie-Prinzessinnen. Es sollte nicht unterschätzt werden, wie sehr diese Machwerke eine empfindliche Psyche prägen.

Wofür bestraft sich Frau mit all dieser Quälerei, und dabei lasse ich absichtlich die Seelenqualen aus? Vielleicht dafür, dass sie es selbst zulässt, sich von Unsinnigkeiten und vergänglichem Tand abzulenken. Und das sollte auch bestraft werden.

Denn trotz aller Unkenrufe und panikschürenden Meldungen, inwieweit Mädchen sich leichter tun, gescheiter sind, frühentwickelt vor allem in den ach, so wichtigen Jahren der Schulzeit, kann mir keiner erzählen, dass diese eventuell vorhandenen Vorteile nicht überaus gründlich zunichte gemacht werden, indem man den Jungmädchenkopf mit albernen Vorstellungen füllt. Dieser Tage auch noch mit der Vorstellung, dass Karrierefrau das mindeste Ziel sei, dem Frau sich verschreiben dürfe. Und dass neben Schönheit, ewiger Jugend, dem notwendigen Erfolg beim anderen Geschlecht und gleichzeitig natürlich der Familiengründung, die stets wie ein drohendes Schwert über der armen Frau hängt.

So oder so fällt das Schwert und begräbt die Betroffene unter sich. Sei es, dass sie sich zwischen Familie und Beruf aufreibt, oder dass sie auf eines von beidem verzichtet. Den schwarzen Peter schreibt man ihr zu, und nur ihr allein.

Aber bei all diesem handelt es sich noch um gesellschaftskritische Töne und Aspekte, die eine ausreichend selbstsichere Frau dorthin schieben kann, wohin sie gehören.

Leider lassen sich die monatlichen Beschwerden nicht so leicht wegschieben, da muss Frau durch, ob sie will oder nicht. Und das nach dem Motto: Wie ist es doch schön, wenn der Schmerz nachlässt.

Ein Fallbeispiel, denn wir wollen hier ja nicht zu theoretisch werden: Der Bauchkrampf in seiner vollen Schönheit, sich zugetragen heute Morgen im Hause Gottes.

Schließlich leidet Frau nicht nur unter der Notwendigkeit, attraktiv, fleißig und erfolgreich zu sein. Nein, spätestens seit den Märchen der Gebrüder Grimm wissen wir auch, dass sie an Gutherzigkeit und großzügigem Verschenken ihrer liebevollen Fürsorge nicht zu überbieten ist. Die Frau als Hüterin, als Bewahrerin des Lebens – welch ein Bild! Im Grunde bleibt uns aber auch nichts anderes übrig. Schließlich betätigt sich Mann allgemein als Zerstörer – von Natur, Menschenleben, Gesundheit, Vertrauen, um nur einige Punkte zu nennen. Ergo kann Frau nur dagegen anstinken, wenn sie hütet und bewahrt, auf Teufel komm raus.

Und dazu schuf der liebe Gott unter anderem das Ehrenamt: Die Möglichkeit, Kraft und Energie für einen guten Zweck zu verschenken.

Mein Ehrenamt besteht darin, fair gehandelte Produkte im Anschluss an den Gottesdienst zu verkaufen. Zum Wohle der unter normalen – neoliberal-wirtschaftlichen Bedingungen – verhungernden Kakao und Kaffeeanbauer, bemühe ich mich also regelmäßig, unschuldigen Gottesdienstbesuchern etwas fairen Kaffee anzudrehen. Zwar bin ich denkbar ungeeignet, da komplizierte Rechnungen mein Fassungsvermögen bei weitem übersteigen. Also bin ich dazu übergegangen, die Kunden selbst rechnen zu lassen, nur dummerweise tun das nicht alle.

Nun, ich vermute sogar, dass gerade am heutigen Sonntag, ich einer netten Dame einen Euro bei der Rückgabe unterschlug. Nicht mit Absicht, oh nein, sondern allein aus mathematischem Unvermögen. Das Geld kommt zwar der Kirche zu Gute, aber die Dame habe ich wohl zum letzten Mal gesehen.

Als Entschuldigung vor mir selbst kann ich lediglich diese lästigen, weiblichen Unpässlichkeiten anführen, die mich vielleicht nicht unerwartet, doch mit überwältigender Intensität befielen. Und dies, nachdem ich den Stand brav aufgebaut, mir den Rücken verrenkt beim Hinaufschaffen der Produkte und das Angebot möglichst verlockend dekoriert hatte.

Ich setzte mich also mit dem Gesangbuch auf dem Schoß und lauschte den ersten Tönen der Orgel, ein Moment, in dem ich gerne meine Gedanken wandern lasse, als das bereits zuvor erwähnte metaphorische Messer sich durch meinen Unterleib bohrte und genüsslich begann, darin herumzuwühlen.

Gut, mit bald dreißig Jahren Erfahrung auf diesem Gebiet kenne ich die Kniffe und Tricks. Ich atmete also in den Schmerz hinein, was im Grunde nichts bewirkte, außer dass mir noch merkwürdig blümerant zumute wurde.

Natürlich, der Kreislauf sackte ab – kein Wunder mit einem Messer im Bauch. Ich beendete also die Atemtechnik und begann, mich darauf zu konzentrieren, aufrecht zu bleiben.

Die Puste, um mit dem Chor das erste Lied zu jubilieren, fehlte mir gänzlich. Und um der Peinlichkeit noch einen drauf zu setzen, entfernte sich die Welt von mir und wurde an ihren Rändern ersetzt von blinkenden Sternen. Ein gutes Zeichen dafür, dass ich bald auf dem kalten Kirchenboden landen werde.

Nun – ich landete nicht. Stattdessen nahm ich den Kopf zwischen die Knie, soweit das Messer im Bauch es zuließ und versuchte, den kalten Schweiß zu ignorieren, der mir überall ausbrach. Die steigende Übelkeit will ich gar nicht erwähnen, denn hätte diese sich verstärkt, so wäre zumindest mein Leiden beendet gewesen und ich bestenfalls irgendwie auf allen vieren aus der Kirche gekrabbelt.

Zum Glück war mir so übel nicht. Ich blieb also den halben Gottesdienst versteckt hinter den anderen möglicherweise irritierten Kirchenbesuchern versteckt, in demütiger Haltung mit gesenktem Kopf und andächtigem Schweigen.

Glücklicherweise besitze ich die Konstitution eines Ackergauls. Nach einer Dreiviertelstunde langweilte sich das Messer und ließ in seinen Bemühungen nach. Den Rest der verbleibenden Zeit fror ich nach dem stattgefundenen Schweißausbruch auf eine Art, die geradezu nach Erkältung schrie. Aber zumindest fand ich mich nicht auf dem Boden wieder.

Zumindest hatten meine weiblichen Anteile den Spaß nicht zu weit getrieben. Nur gerade weit genug, dass meine Rechenkünste noch extremer versagten als gewohnt und ich der freundlichen Pfarrerin, die mich leutselig begrüßte, mit einer Art abweisendem Schnauben begegnete. Nun, ich fror wie ein Schneider und konnte an nichts anderes denken, als die erstbeste Gelegenheit, den Stand wieder loszuwerden, die Produkte in den Vorratskeller zu schaffen und irgendwie nach Hause zu gelangen, um mich mit einer oder zehn Wärmeflaschen auf dem Bauch ins Bett zu legen.

Wie gesagt, nur ein Fallbeispiel. Eines von vielen.

Natürlich soll es Frauen geben, deren Zyklus problemlos, schmerzlos und regelmäßig verläuft. Ich kenne allerdings keine.

Selbstverständlich kann Frau der Sache nachhelfen, indem sie sich die Pille verschreibt und nebst Aufpreis auch mit diversen Herz-Kreislauf-Schlaganfall-Risiken bezahlt.

Aber wer nimmt noch die Pille in Zeiten von Aids? Wozu sich vergiften, wenn der ungeschützte Akt alleine tödlich enden kann?

Allein – es soll noch Exemplare geben. Ebenso, wie die wunderschöne, erfolgreiche Karrierefrau mit einem Stall von Kindern und einem bezaubernden Ehemann, der nur ein wenig erfolgreicher im Beruf ist, als sie selbst. Denn wir wollen dem armen Kerl doch nicht den letzten Rest seiner Selbstachtung stehlen, oder?

Dass dazu ein reiches Elternhaus mit freiwillig zur Verfügung gestellten Kinderschwestern, Erzieherinnen, Hausmädchen und Köchinnen gehört, vergessen wir lieber schnell. Ebenso die Frage, wie sich eigentlich Kinderschwestern, Erzieherinnen, Hausmädchen und Köchinnen ihr Leben organisieren, wenn sie das Bedürfnis verspüren, ebenfalls einen Stall von Kindern, eine 200 Euro Frisur, Maniküre und selbstverständlich auch die angemessene Kleidung, die eine Karrierefrau nun mal trägt, noch bevor sie einen Cent verdient hat, ihr eigen zu nennen.

Ist es also ein Wunder, wenn ich mit dem mir gegebenen Weitblick bereits in jungen Jahren erkannte, dass – sollte ich je vor die Wahl gestellt werden – ich definitiv als Mann wiedergeboren werden wollte.

Lassen wir alles andere weg, die Verantwortung, die Ansprüche, den Stress – die dank Gleichberechtigung Frau ebenso genießen darf wie Mann – und bleiben beim Physischen! Nichts und niemand kann mir erklären, warum ich das durchmachen muss und die andere Hälfte der Menschheit sich einen Ast lacht.

Wir wissen nun, dass der Stressfaktor nicht mehr zieht. Der hormonelle Schutz der Frau vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird durch Pille oder andere selbstzerstörerische Tendenzen ohne weiteres aufgewogen.

Bleibt vielleicht noch die Prostata. Ich gebe zu, ein Problem, das wir nicht haben.

Auf der anderen Seite und mit dem ganzen Gerede vom Aufkommen des Analverkehrs, verdreht sich Vorteil schon wieder in Nachteil. Denn sollte Frau, aus welchen Gründen auch immer, das Bedürfnis fühlen, gewisse Teile ihres Körpers erforschen zu lassen, so bringt ihr das eigentlich nicht viel.

Wohingegen Mann immer noch auf die Prostatastimulation zurückgreifen kann, die angeblich – und in diesem Fall kann ich nun mal nicht aus Erfahrung sprechen – eine feine Sache ist.

Kurz und gut. Es bleibt dabei.

Schon im Kindergarten bekommen Jungen die besseren Sachen, in der Schule wird gepuscht anstatt gelitten. Und über die Arbeitswelt brauchen wir wirklich nicht mehr zu diskutieren.

Also, wo ist die Frau, die nicht lieber ein Mann wäre?

Mein Fehler, denn beinahe vergaß ich das Argument des großen Glücks des Kinderkriegens. Nicht nur, dass Mann uns um Kurzatmigkeit, schwere Füße und geschwollene Glieder beneidet – er ist auch noch ernsthaft der Ansicht, dass Frau, sollte ihr Kinderwunsch zu drängend werden, doch einfach in die nächstgelegene Bar spazieren, sich einen netten Trucker schnappen könne und den Traum verwirklichen.

Den Traum, als alleinerziehender HIV-Patient am Rande des Existenzminimums zu leben?

Aber ich bin nun mal kein Mann. Und demnach werde ich auch männlicher Logik niemals folgen können. Vielleicht möchte ich das auch gar nicht.

Vielleicht nicht.

***

»Und? Was hältst Du davon?«, fragte Konstantin seine Kollegin. Elena, die eine Haarsträhne um ihre Hand wickelte, während sie mit der anderen Hand umblätterte, sah zu ihm auf.

»Tja«, meinte sie nach einem Moment des Überlegens. »Es ist seltsam. Offenbar haben wir es zusätzlich mit einem Vermissten-Fall zu tun. Oder wie erklärst Du Dir das?«

Konstantin nickte, biss sich gleichzeitig auf die Unterlippe. »Nirgends eine Spur von ihr. Auch die Nachbarn wussten nichts.«

Er schüttelte den Kopf.

»Sicher. Aber auch den Mann bekamen sie kaum zu Gesicht. In der Großstadt ist es allgemein nicht schwer ein zurückgezogenes Leben zu führen, aber das hier scheint mir schon extrem.«

Elena tippte auf den vor ihr liegenden Text und sah aus dem Fenster des Büros.

»Was sie geschrieben hat, gibt bis zu einem gewissen Grad Aufschluss über ihr Verhalten.«

Konstantin nickte zustimmend. »Schon. Aber wir wissen nicht von wann die Papiere sind. Und ich bezweifle, dass der Fall genug Bedeutung besitzt, um das Labor zu Rate zu ziehen.«

»Um Himmels Willen«, winkte Elena ab. »Der Chef will doch nur eine halbwegs runde Erklärung, um die Sache abzuschließen.«

Ihr Blick fiel wieder auf den Text, und sie zog einen mit Gummibändern zusammengehefteten Stapel hervor.

Kapitel 3

Der Flirt

Reden wir vom Flirten oder von dem, was ich dafür halte.

Erster Punkt: Ich flirte nicht, denn das würde ja bedeuten, ich zeigte auch nur ein minimales Interesse am männlichen Geschlecht. Was ich nicht tue, nie und nimmer.

Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Filmschauspieler zum Beispiel. Gutaussehende Filmschauspieler, das ist klar. Musiker sind auch eine Alternative: hübsche, junge Kerle mit Schmelz in der Stimme, die in lässiger Haltung eine Gitarre vor sich her balancieren. Nicht schlecht kommt auch, wenn diese sich in der einen oder anderen Weise wohltätig engagieren, denn schließlich bin ich ein intelligenter, aufgeschlossener Mensch, dessen Welt nicht mit den Grenzen des Fernsehzimmers endet. Auch wenn es einem vielleicht manchmal so vorkommen mag.

Fassen wir zusammen: Kombinieren sich ein hübsches Äußeres, eine gewisse positive Ausstrahlung mit einem halbwegs interessanten Persönlichkeitskern, so befinde ich mich durchaus in der Lage, eine gewisse Faszination zu verspüren.

Welche dann manchmal, so wie ich es gerne zugebe, auch ausartet. In harmloser Art und Weise, sofern man den Beitritt in Fanclubs, die Plakatierung der eigenen vier Wände mit dem Konterfei eines und desselben Menschen und die rückhaltlose Anschaffung von DVD-Material, geeignet zur Anbetung, als ungefährlich erachtet.

Durchaus, von Zeit zu Zeit erfasst mich eine Besessenheit, die – auch wenn ihr jeglicher Sinn und Zweck abgeht – sich dennoch als ausgesprochen angenehm und erhebend in Hinblick auf mein Allgemeinbefinden auswirkt. Die Leichtigkeit, das Gefühl der ultimativen Begeisterung gleicht einem Höhenflug, den zu unternehmen die Seele von Zeit zu Zeit gezwungen ist, will sie denn nicht absterben.

Ich scheue auch nicht, den Vergleich mit der Liebe anzuführen, scheinen mir doch die körperlichen Reaktionen dergestalt zu sein, wie sie seit Jahrhunderten Dichter und Denker schildern. Von den Schmetterlingen im Bauch bis zum grundlosen Lächeln, dem wild pochenden Herzen und den schweißnassen Händen steht die Begegnung mit dem Geliebten bevor.

Auch wenn in diesem Fall die Begegnung sich auf die Ausstrahlung einer Fernsehsendung beschränkt, im besten Fall auf das Beiwohnen eines Konzertes. Der Wirbelsturm der Gefühle lässt sich nicht bestreiten. Ebenso wenig, wie sich der empfindliche Sturz in die graue Alltagswelt leugnen lässt, sind die Schleier der Verklärung, die Vorstellung der Perfektion erst einmal gefallen, verrutscht oder einem nüchternen Blick der Realität gewichen. Einer Realität, in welcher der geliebte Fernsehstar kein tragischer Held mehr ist, sondern ein vergnügungssüchtiger Schürzenjäger, ein verlogener Betrüger oder einfach nur ein miserabler Künstler.

Ja, der Fall ist tief und wird nur aufgefangen, findet sich am Horizont eine neue Lichtgestalt, ein bislang unentdecktes, übermenschliches Wesen, welches die Phantasie ankurbelt, das Blut in Wallung und ein Frauenherz dazu bringt, höher zu schlagen.

Soweit die Zusammenfassung meines persönlichen Liebeslebens. Demzufolge ist es wohl nur allzu verständlich, dass ich in den Techniken des Flirts weniger bewandert bin, als ich es vielleicht, betrachtet man mein Alter, seien sollte.

Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass diese Anbetung irrealer Charaktere durchaus eine zeitraubende und anstrengende Angelegenheit sein kann. Da bleibt nicht viel übrig für ein normales Leben, für die Entwicklung und Vervollkommnung gerade der Fertigkeiten, die für den Ausbau zwischenmenschlicher Kontakte notwendig sind.

Geflirtet habe ich also nie, ausgenommen mit dem Fernsehmonitor. Genau so wenig bin ich in der Lage zu erkennen, ob jemand anderes auf die Idee kommt, mit mir etwas Entsprechendes zu versuchen.

Zugegeben, es kommt wohl kaum vor, aber manchmal besteht, zumindest rückblickend in eine Zeit, in der ich noch lange, rote Haare und kurze Röcke trug, die Möglichkeit.

Und dann denke ich darüber nach. Studiere ich doch hin und wieder menschliches Verhalten, auch wenn es mir auf freier Wildbahn begegnet und nicht nur in einer virtuellen Scheinwelt.

Was sollte ich also anfangen, mit freundlichem Lächeln, mit dem Anflug einer Unterhaltung, wo eigentlich keine nötig wäre. Bin ich doch ein Mensch, der die Notwendigkeiten seines Alltags konsequent, rasch und schmerzlos erledigt. Das bedeutet, ich halte mich nicht mit unnötigen Unterhaltungen auf, während ich mein täglich Brot verdiene. Ich bleibe nicht stehen und betrachte die Umgebung oder verschwende kostbare Zeit mit Gesprächen, die zu keinem Ergebnis führen.

Darin besteht auch mit ein Grund, weshalb mir hin und wieder wichtige Einzelheiten entgehen, ich an Entwicklungen oder Ereignissen vorbeilaufe, ohne diese zu registrieren. Die Geschichte meines Lebens.

Nichtsdestotrotz müssen Prioritäten gesetzt werden, und ich setze diese.

Flirten, Bekanntschaften machen, sich verlieben – im wahren Leben – gehören definitiv nicht dazu. Wäre ja noch schöner.

Dennoch und vollkommen ohne meine Schuld oder Zutun existieren diese Erinnerungen, holen mich hin und wieder ein und verfolgen mich dann mit einer geradezu nervtötenden Penetranz.

Selbstverständlich gibt es auch diese unerfreulichen Gedankenstützen, die immer dann auftauchen, wenn frau sie gerade am wenigsten gebrauchen kann. Da wäre zum Beispiel der schmucke Italiener aus der ortsansässigen Gastronomie-Familie. Denn wie es sich für eine gepflegte, bayrische Kleinstadt gehört, besitzt die unsrige diverse italienische Restaurants und Eisdielen, deren Besitzer zumeist miteinander verwandt, verschwägert oder auf andere Weise verknüpft sind. Und da ich unglücklicherweise nie den Mut oder die Energie aufbrachte, den Ort meines Aufwachsens zu verlassen, so begegnen mir Vertreter derselben in regelmäßigen Abständen. Was eigentlich egal wäre, kümmere ich mich doch kaum um andere Menschen, ja, bin kaum in der Lage, diese im Falle des Falles wiederzuerkennen, beziehungsweise überhaupt voneinander zu unterscheiden.

Nur in diesem einen Fall verlässt mich die Erinnerung nicht. Ein gewisses dunkles Augenpaar bleibt meinem Gedächtnis erhalten, auf eine geradezu unangenehme Art und Weise.

Dabei begann alles mit einem durchaus angenehmen Erlebnis, das ohne zu übertreiben, eine Aufwertung meines Selbstbewusstseins zur Folge hatte.

Damals verspürte ich keinen anderen Wunsch, als den nach einer Kugel Eis, einfach und unschuldig. Doch als ich in die Eisdiele trat, war er da. Und er war alleine. Besser gesagt, wir waren alleine. Kein Wunder, verspüren doch die wenigsten Menschen bei Dauerregen das Bedürfnis nach Eiscreme. Aber ich war schon immer eigen. Offensichtlich langweilte er sich, denn Tatsache ist, er ließ mich nicht mehr gehen. Er lud mich auf einen Likör ein und dann noch ein Eis und eine Leckerei folgte der anderen.

Traurig wie es ist, hielt mich hauptsächlich meine Unfähigkeit, ‚nein‘ zu sagen. Vielleicht auch der Mangel einer guten Ausrede, hervorgerufen durch die Verwirrung, die ich verständlicherweise in so einer vollkommen ungewohnten Situation empfinden musste.

Lange Rede, kurzer Sinn – das zunächst angenehme Erlebnis verwandelte sich rasch in einen Albtraum, denn jedes Mal, wenn mir der betreffende Welche wiederbegegnete, wollte ich im Erdboden versinken. Und ich traf ihn wieder. Im Restaurant – natürlich. Auf der Straße – er grüßte zuckersüß. Am See – ich versteckte mich im Gebüsch.

Nun, es handelt sich hier um nur ein einziges Beispiel der Menschen, die ich vergeblich versuche zu meiden.

Das andere Beispiel wäre der Postbeamte.

Ein spontaner, freundlicher, kontaktfreudiger Mensch, jemand, der auch bereit war, neben den notwendigen noch einige andere, weniger notwendige Worte zu wechseln. Zusammengenommen mit einem netten Lächeln, reicht dieses Verhalten aus, um für meine ungeübten Augen als Flirtversuch durchzugehen. Zumindest als mögliche Annäherung an einen solchen. Und dieser Umstand alleine genügt gewöhnlich, um mich zu verwirren. Beziehungsweise, um mich noch mehr zu verwirren, als ich es ohnehin schon bin.

Blondie, der nette, junge Postbeamte bequatschte mich also. Pflichtschuldig quatschte ich zurück und fühlte bereits beim Verlassen des Gebäudes das Bedürfnis, niemals wieder einen Fuß dort hineinzusetzen. Was sich als ein wenig schwierig herausstellte. Nicht nur, weil es sich um das einzige Post -Büro des Ortes handelt, sondern auch, weil ich als eifriger Briefeschreiber und Karten-Verschicker in alle Welt, die Dienste dieser Institution gezwungen bin, regelmäßig und des Öfteren in Anspruch zu nehmen.

Was bleibt mir anderes übrig, als dem Schrecken ins Auge zu sehen und hin und wieder Blondie einen Besuch abzustatten.

Mag sein, dass er nach wenigen Jahren bemerkte, wie ich mich wand, mein Unwohlsein sich auf seinem Radar zeigte, denn das breite Lächeln wich einer höflichen Grimasse.

Nicht umsonst bin ich hart im Nehmen, nahm also auch diese Entwicklung nicht einmal allzu unglücklich hin. Sie wissen ja, ich beschränke mich gerne auf das Wesentliche.

Allerdings – und aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann – zieht das Erlebnis des heutigen Tages einen Rattenschwanz unangenehmer Emotionen mit sich, so wie jedes Erlebnis es zu tun pflegt, dass das Level meiner gewohnt verspürten Scham anhebt.

In diesem Fall lag es an der Handcreme. Und dass ich diese nutze, liegt wiederum an dem Fluch meines Daseins, besser gesagt an einem der vielen Flüche. In diesem Fall ist die Zwangserkrankung Wurzel des Übels. Diese zwingt mich zum Händewaschen, welches zur Austrocknung der Haut führt und mich damit zur exzessiven Benutzung von fetthaltigen Cremeprodukten zwingt.

Natürlich verbietet ein weiterer Aspekt besagter Zwangserkrankung – und davon existieren einige – die Verwendung von Handcreme innerhalb des eigenen Hauses. Also bin ich gezwungen, mir das Cremen für die Wege aufzuheben, die ich täglich zurücklegen muss, meistens ohne weitere Folgen.

Unglücklicherweise ergaben sich an diesem Tage sichtbare Folgen. Ich war ausgezogen, einen bräunlichen, überdimensionalen Umschlag fragwürdigen Inhaltes, auf den ich nicht näher eingehen möchte, am Schalter abzugeben, und meine Gedanken klebten an der schwachen Hoffnung, dass Blondie seinen freien Tag hatte.

Natürlich hatte er diesen nicht. Aber da er mit einer fleißigen Kollegin sich die Schlange an Kundschaft teilte, blieb mir immerhin noch eine Chance von Fünfzig zu Fünfzig.

Glücksspiel war noch nie mein Ding, und als ich vor ihm stand, meine Maske geschäftiger Freundlichkeit im Gesicht, einige Schreibwaren, die ich beschlossen hatte, zur Ablenkung, vor allem meiner eigenen Aufmerksamkeit, auf dem Tisch verteilte und endlich nach meinem Brief griff, sah ich es.

Der Umschlag war übersät von fettigen Fingertapsen. Auf der Vorderseite, denn beim Aufnehmen desselben hatte ich darauf geachtet, mich eben aus diesem Grund auf die Rückseite zu konzentrieren. Zu dumm, dass ich nicht gemerkt hatte, wie alles direkt neben der Adresse landete. Und zwar genau dort, wo Blondie seine Briefmarke hin klebte.

Nicht, dass es das erste Mal gewesen wäre, dass ich im Erdboden versank oder mir selbiges zumindest von Herzen gewünscht hätte, doch die Qualität dieses Erlebnisses übertraf noch zuvor dagewesene Peinlichkeiten.

Und ich weiß nicht einmal warum. War es der Blick, den er mir zuwarf? Dieser Blick, bar jeglichen Restes an professioneller Freundlichkeit?

Dieser Blick, der schiere Verachtung ausdrückte, um es milde zu sagen?

Nun, eigentlich stehe ich auch über dieser Art von Gefühlen, zumindest dachte ich so. Und dennoch schmerzt es vielleicht, den letzten Rest von jugendlicher Illusion über Bord werfen zu müssen, einer Realität ins Auge zu sehen, die mich als das wahrnimmt, was ich bin.

Eine komische Erscheinung, die Spuren hinterlässt, wo immer sie auftaucht, obwohl sie sich nichts anderes wünscht, als in unauffälliger Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Dieser Wunsch wird mir wohl nie erfüllt werden. Solange ich lebe, und solange ich nicht weiß, wie ein Mensch sich benimmt, bleibe ich die Merkwürdigkeit des Ortes. Es kommt nur darauf an, auch aus dieser Tatsache das Beste zu machen und eine schlüssige Konsequenz zu ziehen.

Ich flirte einfach nicht. Punktum. Zeitverschwendung. Was soll’s.

***

Elena setzte einen weiteren Stapel in einen bereitstehenden Karton und klappte den Deckel zu.

»Denken wir einfach logisch. Sie scheint all das – wenigstens die halbwegs zusammenhängenden Stücke – innerhalb eines Jahres verfasst zu haben. Eines Jahres, als ihr Sohn ungefähr zwölf Jahre zählte.«