Schrecken und Liebe - Sigrid Lenz - E-Book

Schrecken und Liebe E-Book

Sigrid Lenz

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Beschreibung

Eine Übernachtung in der Schule endet für Kristen in blankem Horror! Merkwürdige Zeichnungen kündigen blutige, rätselhafte Morde an. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Schrecken, der sie umgibt und der aufkeimenden Faszination für die geheimnisvolle Schönheit Adriana. Die Morde scheinen das Werk einer wahnsinnig gewordenen Lehrerin zu sein, die sich dazu berufen fühlt Vampire zu töten. Plötzlich ist auch Kristens Onkel zur Stelle, der ebenfalls von Vampiren und Engeln spricht. Doch die Gefahren enden nicht mit der Nacht. Kristen ist in ein wahnsinniges Spiel zwischen Himmel und Hölle graten und muss einen Ausweg finden.

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Seitenzahl: 634

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Schrecken und Liebe
Impressum
Buch 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Buch 2
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Sigrid Lenz

Sigrid Lenz

Schrecken und Liebe

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-100-9

E-Book-ISBN: 978-3-96752-600-4

Copyright (2022) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung und Satz: XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

creativemarket.com

Dragon Grimoire by Digital Curio

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Buch 1

Schrecken

Kapitel 1

Es war kalt und dunkel und sie hatte keine Ahnung, wie sie an diesen Ort gekommen war. Sie lag auf dem harten Boden und das Erste, was sie hörte, war ihr eigenes Stöhnen, als sie sich aufrichtete und die schmerzenden Glieder rieb. Sie blinzelte in die Dunkelheit, runzelte ihre Stirn und zuckte zusammen, als ihr Kopf zu dröhnen begann.

»Was um alles in der Welt …« Ihre Stimme klang heiser und sie brach den Satz ab, versuchte sich trotz der mangelnden Sicht und der Schmerzen, die ihr die unbequeme Lage verursacht hatten, aufzurappeln.

Das Dröhnen in ihrem Kopf verstärkte sich, beunruhigte sie jedoch weit weniger als die Verwirrung, die sie im Griff hielt und ihr weder erlaubte einen klaren Gedanken zu fassen, noch sich zu erinnern wo oder warum sie sich in dieser Lage befand.

Sie taumelte leicht, rieb ihre Schläfen und lauschte in die Dunkelheit. Kein Laut war zu hören, also entschloss sie sich, zumindest jeden Versuch zu unternehmen, der Dunkelheit zu entfliehen.

Langsam tastete sie sich vorwärts und gelangte so an eine Tür. Sie bewegte ihre Finger links und rechts des Rahmens an der Wand hinunter, aber beim besten Willen ließ sich kein Lichtschalter entdecken. Beim ersten Versuch, die Tür aufzustoßen, klemmte diese und sie befand sich bereits nahe einer aufsteigenden Panik, als die Tür dann doch mit einem Quietschen den Weg freigab.

Heftig atmend stürzte sie aus dem Zimmer und landete in einem Gang, der, wenn auch nicht viel, dann doch ein wenig heller war, als der Raum, den sie gerade verlassen hatte. Inmitten der Decke verlief ein schmaler Streifen Leuchtstoffröhren, der ein dämmriges Licht abgab. Jedoch reichte es aus, dass sie ihre Umgebung erkennen konnte.

Aufmerksam blickte sie nach links und rechts, musterte die kahlen Wände mit den offen verlegten Leitungen. Sie wusste genau, dass ihr der Anblick bekannt vorkam, fühlte sich doch außerstande, ihn einzuordnen.

»Das ist doch verrückt«, murmelte sie in Flüsterton. Doch der Versuch sich selbst mit den Worten zu beruhigen schlug fehl, als diese ihr von den Wänden wie ein Raunen entgegen klangen.

‚Ich kenne das alles‘, sagte sie sich, aber in ihrem Kopf herrschte ein trüber Nebel, der auch nicht lichter wurde, als sie an eine Treppe gelangte, die ihr bewies, dass sie sich in einem Keller befand. In dem Keller eines größeren Gebäudes, wie ihr klar wurde, als sie die Stufen, so rasch sie konnte, hinauf stolperte. Doch welch ein Gebäude dies war und was sie zu dieser Zeit darin verloren hatte, blieb ihr ein Rätsel. Ihre Schritte wurden schneller, als sie sich mit einigem Widerstreben zu fragen begann, was sie mitten in der Nacht in einem fremden Keller wohl suchte.

Die Treppe verbreiterte sich und sie gelangte in eine ebenfalls nur notdürftig beleuchtete Halle, deren glatter Boden glänzte. Ihre Schuhe klapperte auf der Oberfläche, als sie sich an der Wand entlang bewegte, halb stolpernd, halb tastend, und voller Hoffnung, einen Ausgang zu entdecken. Als sie die Glastür bemerkte, stürzte sie buchstäblich auf diese zu, und begann wie wild an dem Knauf zu rütteln. Ohne Ergebnis. Sie zog und zerrte, presste ihre Nase gegen die Scheibe und starrte in die pechschwarze Dunkelheit vor ihr. Einladend wirkte diese nicht, aber die Situation, in der sie sich befand, erweckte auch nicht direkt Vertrauen.

Sie rüttelte wieder. Ihr Atem ging heftiger, als sie versuchte, die Wolken, die über ihren sonst klaren Gedankengängen hingen und diese verschleierten, zu vertreiben.

Da gab es etwas, an das sie sich nicht erinnern konnte, und die Leere in ihrem Kopf beunruhigte und erschütterte sie gleichermaßen.

Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, als eine Hand sie am Arm packte. Sie wirbelte herum, nur um in Augen zu blicken, die mindestens ebenso schreckensweit aussahen, wie sie sich ihre vorstellte.

»Kristen?«

Das Mädchen, das sie berührt hatte, blinzelte heftig. »Was tust du?«

Die Angesprochene schluckte:

»Ich …« Sie sah wieder hinaus in die Dunkelheit. »Wir müssen hier raus«, sagte sie dann und wandte ihr Gesicht wieder der anderen zu.

»Es ist zugeschlossen«, erwiderte das Mädchen .

In diesem Moment fiel Kirsten auch der Name ihres Gegenübers wieder Name ein. »Birgit«, stieß sie erleichtert hervor. »Was ist hier los?«

Birgit zuckte nervös mit den Schultern.

»Das weiß bis jetzt noch keiner. Aber irgendetwas stimmt hier eindeutig nicht.«

Kristen legte eine Hand auf die Brust und versuchte ihre Atmung zu verlangsamen.

»Frau Natal«, erklärte Birgit nach einem Moment der Pause. »Frau Natal und ihre komischen Ideen. Aber dass sie jetzt einfach so verschwindet und uns hier alleine und eingesperrt zurücklässt, das geht eindeutig zu weit.«

Kristen holte tief Luft. Sie sah sich erneut um und die Puzzlestückchen ordneten sich zu einem Bild.

»Die Schulhausübernachtung«, murmelte sie.

»Ganz genau.« Birgit legte ihren Kopf schief. »Glaub mir, ich hab auch eine Weile gebraucht, bis ich mich zurechtfand.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Wie gesagt, irgendetwas stimmt hier eindeutig nicht.«

Kristen schürzte ihre Lippen, sah sich erneut um. »Aber wieso …?« Sie runzelte die Stirn, versuchte sich zu konzentrieren.

Birgit seufzte. »Frau Natal kam auf den genialen Gedanken, Schulen zu tauschen«, meinte sie dann zögernd und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich weiß auch nicht mehr warum eigentlich, aber Alexandra war sich sicher. Damit uns die Umgebung ein wenig fremdartiger vorkommt.«

»Alexandra ist auch hier?« Kristen kramte in dem Wollknäuel ihrer Erinnerungen.

»Aber sicher«, seufzte Birgit. »Der gesamte Fotographie-Kurs musste mit. Gemeinsames Ziel, gemeinsam eine Nacht … etwas in der Richtung.«

Kristen rieb sich die Stirn. »Das ist doch vollkommen bescheuert.«

Birgit nickte und zog dann an Kristens Arm. »Und jetzt reicht es. Hier kommen wir nicht heraus. Glaub mir, ich habe es auch versucht.« Kristen stöhnte. »Wo sind denn alle.«

Birgit stieß einen bellenden Laut aus, der am ehesten noch einem Lachen ähnelte. »Wo die sind? Das ist die Frage des Tages. Oder der Nacht, besser gesagt.«

Sie zog Kristen mit sich und bis zu einem breiten Treppenhaus. Natürlich eine Schule. Kristen fragte sich, warum sie nicht eher darauf gekommen war. Andererseits ergab es nach wie vor nicht viel Sinn, inmitten der Nacht dort eingesperrt aufzuwachen. Schon gar nicht, alleine im Keller.

Birgit schaffte Kristen in den ersten Stock und stieß dort die Tür zu einem Klassenzimmer auf. Vereinzelte Köpfe drehten sich nach ihr um. Große Augen starrten die Ankommenden an. Doch niemand sagte ein Wort. Auch wenn die auf dem Boden ausgebreiteten Schlafsäcke und Fitness-Matten eine stumme Erklärung ablieferten. Der Raum war kaum heller als es der Rest des Schulhauses gewesen war, und dennoch konnte Kristen mit Leichtigkeit erkennen, dass es sich nur um den kleinsten Teil der Klasse handelte. Entschlossen kehrte sie in den Gang zurück.

»Wo sind die anderen?«, fragte sie und drehte sich zu Birgit um. Diese zuckte ein weiteres Mal mit ihren Schultern. »Das weiß keiner von uns«, murmelte sie schließlich und blinzelte. »Wo warst du denn?«

Kristen räusperte sich. »Ich bin im Keller aufgewacht«, meinte sie dann beinahe entschuldigend. »Aber frag mich nicht, wie ich dorthin gekommen bin.«

Birgit nickte verständnisvoll. »Keiner von uns kann sich daran erinnern wo er aufgewacht ist, oder warum er dort war. Geschweige denn wohin sich die gute Natal verdrückt hat.«

Kristen schnalzte mit der Zunge. »Aufsichtspflicht ist nicht mehr. Wir sind schließlich beinahe volljährig.«

Birgit schnaubte. »Trotzdem. Erzähl mir nicht, dass die Versicherungen da nicht auch ein Wörtchen mitreden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich so einfach, mir nichts dir nichts, verdrücken kann.«

Zum ersten Mal lächelte Kristen. »Wahrscheinlich nicht. Aber ebenso wenig logisch erscheint es mir, dass ich in einem Keller aufwache.« Sie sah sich wieder um. »Und der Rest von uns vielleicht auch seine eigenen Schlafplätze zugeteilt bekam.«

Birgit hob ihre Augenbrauen. »Schlägst du vor, dass wir jeden Raum durchkämmen?«

Kristen rieb sich die Stirn, warf dann ihr Haar zurück. Doch bevor sie antworten konnte, breitete sich ein weiteres Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie hob die Hand um zu winken. Birgit drehte sich um und sah Viktor auf die beiden zukommen.

Der Junge bewegte sich mit dem vertraut typischen Gang, den er allem Anschein nach innerhalb der letzten Jahre perfektioniert hatte. Offensichtlich war er dazu gedacht, cool zu wirken, aber Kristen kannte ihn zu lange und zu gut, um auf sein Gehabe anzuspringen. Birgit ging es da anders und sie lächelte ebenfalls.

»Wo kommst du denn her?«, neckte Kristen Viktor, der einen Mundwinkel sichtlich widerwillig in die Höhe zog, aber sich einer Antwort enthielt.

»Im Ernst.« Kristen boxte Viktor in den Arm, worauf er nur seine Augenbrauen hob und kritisch auf sie herunter blickte. »Was hast du gemacht? Und tu nicht so wortkarg. Wir wissen alle, dass du ein finsterer, einsamer Wolf bist.«

»Ach ja?«, bequemte Viktor sich doch zu äußern und strich sich langsam das in die Stirn fallende, schwarze Haar zurück.

»Bestätige ich«, half ihm Birgit unwissentlich, indem sie gleich weiter brabbelte. »Aber es geht auch um Wichtigeres. Irgendwie sind viele von uns verschwunden, und wenn ich mich recht erinnere, sollten wir doch zusammen bleiben.«

Viktor zuckte mit den Schultern. »Als ob auch nur einer die Absicht gehabt hätte, sich daran zu halten.«

Birgit spielte mit einer der hellroten Strähnen, die ihr ins Gesicht hingen. Sie drehte und wand diese um ihren Finger, seufzte dann theatralisch.

»Darum ging es aber. Das war doch der Zweck der Übung. Eine der wenigen Dinge, an die ich mich wirklich erinnere.«

Viktor sah sie ungläubig an und Kristen nickte. »Ja, wir alle haben Gedächtnislücken. Es ist total komisch.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung mehr, wie ich hierherkam, geschweige denn, warum ich allein in einem Kellerraum aufgewacht bin.«

Birgit nickte. »Verstehe ich auch noch. Aber ich weiß, dass die Natal ein Experiment in Sachen Gemeinschaft plante. Nach dem Motto: Zusammenhalt ist alles.«

Viktor runzelte die Stirn. »Hat ja offensichtlich hervorragend funktioniert.«

Kristen boxte ihn erneut, worauf er sie leicht zurückschubste. »Jetzt ist aber mal gut. Wir sind keine drei mehr.«

Kristen kicherte. »In dem Alter hast du dich auch noch besser zu wehren gewusst.«

Viktor senkte den Kopf, aber unter dem Vorhang seiner Haare war der Anflug eines Lächelns zu erkennen. »Und ich dachte, ich wär aus dem Kindergarten heraus.«

»Nicht mit Kristen.« Birgit schüttelte tadelnd den Kopf. Ihr Gesicht wurde rasch wieder ernst. »Wir müssen uns um Wichtigeres kümmern.« Verschwörerisch neigte sie sich zu den beiden anderen. »Habt ihr gesehen? Es sind nur ein paar Hansel hier. Der größte Teil der Klasse treibt sich wer weiß wo herum.«

»Und kann sich vielleicht auch an nichts erinnern.« Kristen schnalzte mit der Zunge. »War das vielleicht ein Teil des Projekts?«

Viktor seufzte. »Wenn jemand noch wüsste, welch ein Projekt das gewesen sein sollte.«

Erst als die Toilettenspülung rauschte, und eine Sekunde später ein Wasserhahn, wurde ihnen bewusst wo sie standen. Nur einen Moment später streckte Alexandra ihren braunen Lockenkopf zur Tür heraus.

»Das ging doch wie immer nur ums Geld. Es gab so viel Aufstand, weil wir uns weder Ausflüge noch eine Studienreise oder wie auch immer man das schimpfen will leisten konnten. Also kam die Natal auf die brillante Idee uns hiermit zu beglücken.«

Kristen schüttelte den Kopf. »Ich kann mir echt nicht vorstellen, dass wir da alle begeistert von waren.«

Alexandra zuckte mit den Schultern. »Waren wir nicht. Soweit weiß ich es noch.«

»Ha!« Birgit sah die anderen triumphierend an. »Du kannst dich also auch nicht erinnern?«

Alexandra rümpfte die Nase. »Das muss mit dem komischen Räucherwerk zusammenhängen, das sie verbrannt hat. Oder dem Tee, den sie uns einflößen wollte.« Sie sah sich auf einmal suchend um. »Apropos Hexenwerk, wohin sind eigentlich unsere Paganisten verschwunden?«

Viktor blickte sie stirnrunzelnd an. »Na, unsere Wicca-Truppe«, erläuterte Alexandra augenrollend. »Du weißt schon, die merkwürdig bunten Typen.«

Kristen schüttelte den Kopf. »Lass ihnen doch ihre Religion. Außerdem haben sie noch nie etwas darüber erzählt.«

»Was es umso interessanter macht«, warf Birgit ein. »Sie könnten alles sein. Den Klamotten nach zumindest. Und wie sie sich immer schnell dünn machen.«

»In dem umfunktionierten Schlafraum waren sie auf jeden Fall nicht«, gab Kristen zu Bedenken. »Meint ihr, sie haben sich ihr eigenes Plätzchen gesucht?«

»Sobald die Natal sich umgedreht hat, darauf würde ich wetten«, murmelte Viktor nachdenklich. »Und wer wird es ihnen verdenken.«

Birgit seufzte. »Das macht natürlich Sinn. Jeder, der auch nur ein wenig genervt war, machte die Fliege, sobald unsere großartige Leiterin und Lehrerin verschwunden ist.«

»Das ist dann wohl mein Stichwort«, brummte Viktor, und war drauf und dran sich umzudrehen, als Kristen ihn gerade noch am Arm packte. »Halt, wo willst du hin?«

Viktor befreite sich mit spitzen Fingern aus ihrem Griff. »Ich gehe nach Hause.«

Kristen schüttelte den Kopf. »Oh nein, das tust du nicht.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Und warum sollte ich hierbleiben?«

»Weil wir noch lange nicht dahinter gekommen sind, was hier eigentlich vorgeht.«

»Und weil alle Eingänge verschlossen sind«, gab Birgit zu Bedenken.

»Wirklich alle?« Kristen drehte sich fragend nach ihr um. »Hast du überall nachgesehen?«

Birgit nickte und blickte dann zu Alexandra. »Wir haben uns auch die Fenster angesehen. In allen Stockwerken, von denen aus der Erdboden nur halbwegs zu erreichen ist, ohne dass man sich jeden Knochen bricht, ist jede Ritze verriegelt. Keine Maus kommt da heraus.«

Viktor presste die Lippen zusammen, senkte den Kopf und hob ihn dann wieder entschlossen. »Na, dann spring ich eben aus einem der oberen Fenster. Keiner kann mir erzählen, dass wirklich alles zu ist.«

»Und ob es das ist«, rief Birgit überzeugt. »Ich gehe jede Wette ein, dass hier etwas nicht stimmt.«

Kristen seufzte leise. Doch als Viktor sich wirklich auf den Weg machte, und eine schmollende Birgit achtlos hinter sich ließ, beeilte sie sich, ihm hinterher zu laufen.

»Mensch, Viktor. Sei doch nicht so.« Sie hängte sich bei ihm ein und blinzelte ihn von der Seite an.

Viktor sah auf sie hinunter und konnte nicht anders als amüsiert zu lächeln. Ihr Haar, das für gewöhnlich in weichen Wellen bis zu ihren Schultern reichte, stand nun ein wenig verwirrt vom Kopf am. Dort, wo sich für gewöhnlich ein sorgsam geschnitten und geföhnter Pony genau über den Augenbrauen einrollte, kräuselten sich zerzauste Wirbel.

»Was?«, fragte Kirsten argwöhnisch, als er sie weiter anstarrte.

»Nichts«, murmelte der Junge schnell und sah auf seine schwarzen, schweren Stiefel.

»Ich denke wirklich, dass wir zusammenbleiben sollten«, sagte Kirsten nach einem Moment und fuhr fort, noch bevor er aufblicken konnte. »Ich meine, wir alle, der ganze Kurs.« Sie sah schnell zur Seite. »Als ich da unten alleine aufgewacht bin, hatte ich ganz schön Schiss. Und wer weiß, wie es den anderen geht, die vielleicht hier im Finstern herum taumeln. Im Schulhaus«, fügte sie verächtlich hinzu. »Wenn das nicht von Anfang an eine unglaubliche Schnapsidee war.«

»Wem sagst du das«, stimmte Viktor ihr zu und schüttelte den Kopf. »Aber trotzdem, wenn jemand meint, er müsste sich betrinken und dann nicht mehr raus findet, ist es nicht mein Problem.«

»He.« Kristen zog an dem Ärmel seines schwarzen und beinahe bodenlangen Mantels. »Ich dachte, ihr Emos seid so unheimlich sensibel.«

Viktor legte den Kopf in den Nacken und stieß einen lauten Seufzer aus. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass diese Kategorien nichts, und zwar absolut nichts mit der Realität zu tun haben.« Er sah sie an, traf aber nur auf den verständnislosen Blick ihrer grünen Augen. »Ich bin kein Emo«, verdeutlichte er noch einmal. »Und das war ich noch nie.«

»Gothic, Punk, was auch immer«, versuchte es Kirsten weiter, aber der Schalk, der kurz in ihrem Ausdruck aufblitzte, belehrte Viktor eines Besseren, als auf die Bemerkung einzugehen.

Er setzte sich wieder in Bewegung und Kirsten folgte ihm penetrant.

»Ich dachte, du spielst den Depressiven, weil es schick ist«, murmelte sie leiser als zuvor.

Viktor rollte mit den Augen. »Was bitte soll daran schick sein, und ich bin nicht depressiv.«

»Nein«, beeilte sich Kirsten anzumerken. »Du läufst nur in schwarzen Sachen rum, trägst so viel Eyeliner, wie ich in meinem Leben nicht anrühren würde, und lässt dir die Haare übers Gesicht wachsen.«

»Na und?« Viktor blieb stehen und warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »Ich glaube nicht, dass meine Kleidung dich jemals interessiert hat.«

Kirsten sah auf ihre Schuhe. »Naja«, meinte sie verlegen, »ich dachte nur, weil du immer so … normal herumgelaufen bist. Erst als ich dir gesagt habe, also als …« Sie schwieg und eine verlegene Röte breitete sich über ihre Wangen auf.

Viktor stöhnte. »Als du mir gesagt hast, dass du nicht mit mir gehen willst. Ist schon klar. Du kannst es sagen.«

Kirsten neigte ihren Kopf noch tiefer. »Ich dachte immer, dass es damit zu tun hat.«

Viktor seufzte betont. »Es hat mit dem erwachsen werden zu tun, nicht mehr und nicht weniger.« Er strich sich sein Haar zurück, befestigte es hinter dem Ohr und sah Kristen eindringlich an. »Wir sind praktisch seit dem Kindergarten zusammen. Es wäre regelrecht fatal, wenn aus uns auch noch ein Paar geworden wäre.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte es mir nur damals … praktisch.« Er zwinkerte und Kristen lachte befreit auf und knuffte ihn übermütig in die Seite. »Das ist ein Kompliment, nach dem sich jede Frau verzehrt.«

Viktor schüttelte den Kopf. »Und hier ist der Beweis, dass einer von uns definitiv noch weit vom Erwachsenenalter entfernt sein dürfte.«

»Wer?«, fragte Kristen unschuldig.

»Also«, Viktor schüttelte den Kopf, »lässt du mich jetzt einen Ausgang suchen?«

Kristen rieb sich nachdenklich ihren Ellbogen. »Ich denke immer noch, dass wir zusammen bleiben sollten. Entschlossen sah sie auf. »Allein lasse ich dich auf keinen Fall gehen. Ich komme mit und vielleicht finden wir ja noch andere.«

Viktor seufzte ergeben. »Aber sicher.«

Mit raschen Schritten ging er den Gang entlang, so dass Kristen ihm kaum folgen konnte, probierte jeden Fenstergriff, jede Tür, an der sie vorbeiliefen. »Das muss eine Generalverriegelung sein«, murmelte er zwischendurch.

»Und die Türen sind aus Vergnügen abgeschlossen«, stimmte Kirsten spöttisch zu. »Ich will ja nicht schon wieder Birgit zitieren, aber …«

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, unterbrach sie Viktor genervt. »Was am wenigsten stimmt ist Frau Natal. Oder besser gesagt, mit ihr stimmt etwas nicht.«

»Kannst du dich denn noch erinnern, was passiert ist?«, erkundigte Kirsten sich einen Moment später, nachdem sie die Treppe in das nächste Stockwerk hinter sich gelassen hatten und damit begannen, die Klassenzimmer, die offen standen, durchzusehen. »Rauchwolken, Zaubersprüche, irgendetwas?«

Viktor runzelte die Stirn. »Nicht wirklich.« Er schob die Hände in die Taschen. »Ehrlich gesagt, hab ich mich ziemlich ausgeklinkt, schon als sie mit der Planung begann. Und dann … hab ich mir vorher was gegönnt. Ich wollte gar nicht wissen, was das soll.«

»Und ich dachte, das Esoterische wäre mehr dein Ding, als meins«, bemerkte Kirsten nachdenklich.

Viktor schnaubte. »Wie kommst du denn auf den krummen Gedanken. Ich habe keine Porzellanengel und Einhörner auf meinem Fensterbrett.«

»Die hab ich geschenkt bekommen«, verteidigte Kristen sich. »Und außerdem sind sie hübsch.«

»Aber sicher«, stöhnte Viktor. »Regelrecht hinreißend.«

»Quatschkopf.« Kirsten stemmte ihre Hände in die Seiten, schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall kommen wir hier nicht weiter«, meinte sie dann. »Hier ist doch niemand.«

»Das denkst du«, murmelte Viktor. »Und was ist das?«

Im letzten Klassenzimmer, direkt unter dem Dachboden, fiel ein silberner Mondstrahl durch die schmierige Fensterscheibe und warf sein schimmerndes Licht auf ein Mädchen, das auf dem Rücken über zwei Bänke ausgebreitet da lag und offenbar schlief. Ihre Augen waren fest geschlossen. Ihr schwarzes, glattes Haar breitete sich wie ein Fächer um ihren Kopf aus. Sie hatte die langen und schmalen Finger über der Brust verschränkt. Ihre schlanken Beine hingen über die Kante und der erste Gedanke, der Kristen durch den Kopf schoss, beinhaltete das Ausmaß der Rückenschmerzen, mit denen das Mädchen nach dem Erwachen wohl zu rechnen hatte.

»Adriana«, flüsterte sie leise und lächelte leicht. »Hätte ich mir denken können, dass sie auch alleine ist.«

Viktor sah sie skeptisch an. »Die treibt das mit dem alleine sein so weit, dass ich manchmal daran zweifle, ob sie überhaupt existiert. Sie könnte auch ein Geist sein.«

Kristen schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Auch Mädchen müssen nicht immer in Gruppen auftreten.« Sie legte den Kopf schief und betrachtete Adriana beinahe atemlos. Ob es am Mond lag oder an der Dunkelheit, die Adrianas Haut hervorhob, konnte sie nicht entscheiden, aber das Mädchen wirkte beinahe ätherisch. Wenn ihre Lippen nicht ähnlich farblos wie ihr Gesicht aussähen, fühlte Kristen sich fast an Schneewittchen erinnert. Das dunkle Haar schimmerte und die Blässe der Finger wurde nur von dem Weiß ihres Pullovers übertroffen, der sich angenehm eng an Adrianas Rundungen schmiegte. Auch ihre Jeans war hell, von einem verwaschenen Blau und an den richtigen Stellen ausgefranst. Obwohl Adriana nie den Eindruck machte, als kümmere sie sich um Mode oder aktuelle Trends, so wirkte sie immer perfekt. Wenigstens in Kristens Augen. Wenn überhaupt ein Begriff zutraf, dann war es der einer zeitlosen Schönheit, so hatte sie sich manches Mal gedacht, wenn sie sich dabei ertappte, ein wenig zu lang und zu auffällig in die Richtung des Mädchens zu starren.

Aber wer konnte ihr das Interesse verdenken? Niemand wusste Genaueres über Adriana. Nur dass sie noch nicht lange im Ort lebte, und dass ihre Schwester es ihr auf eine Art, die jedem, den Kristen fragte, fragwürdig erschien, ermöglicht hatte, mitten im Jahr in die Schule einzutreten, war allgemein bekannt.

Wenigstens versuchte Kristen sich gerne davon zu überzeugen, dass ihre Faszination neutraler Natur war und sicher nichts damit zu tun hatte, dass Adriana das schönste Wesen war, das sie jemals gesehen hatte. Jedes Mal, wenn Kristen sie zu Gesicht bekam, dann hatte sie Mühe ihren Mund zu schließen, ihr plötzlich hämmerndes Herz zu beruhigen und ihre Atmung zu regeln oder am endgültigen Stillstand zu hindern. Kein gar so schlechter Tod, dachte sie manchmal, wenn sie sich besonders albern fühlte und allein in ihrem Zimmer saß, eine CD romantischer Lieder aufgelegt. Aber das war lächerlich. Viel wahrscheinlicher, dass Kristen einfach nur neidisch war. Simpel und peinlich eifersüchtig. Denn während Adriana wie eine Elfe über die Flure schwebte, kam sich Kristen meistens vor wie ein Bauerntrampel, der sich in regelmäßigen Abständen Knie, Knöchel oder Ellbogen anschlug.

In Kristens Augen besaß ihr Haar eine undefinierbare Nicht-Farbe und der Ton ihrer Haut, wenn sie nicht gerade knallrot war, weil sie entweder zu schnell gelaufen oder sich einen unangenehmen Zwischenfall geleistet hatte, näherte sich am ehesten einem kräftigen, leicht samtigen Beige. Und als Kristen Adriana so liegen sah, kam sie nicht zum ersten Mal auf die Idee, dass das Mädchen beinahe wirkte, als stamme es aus einer anderen Welt.

Viktor räusperte sich und warf Kristen einen merkwürdigen Blick zu. »Sollen wir sie nicht wecken?«, fragte er, nachdem Kristen sich immer noch nicht rührte.

»Ähm, ja. Ich denke schon, oder?« Kristen sah hilfesuchend zu dem Jungen, der sich eine Strähne aus dem Gesicht pustete und dann die Hände in seine Manteltaschen schob.

»Was weiß ich«, brummte er. »Wir können sie auch schlafen lassen. Wenn sie Glück hat, kriegt wenigstens sie so etwas wie Nachtruhe. Da sind nicht alle so glücklich.« Er sah Kristen an, als sei sie Schuld an seinem Dilemma und Kristen seufzte nur. Doch bevor sie noch einen Schritt auf Adriana zu gehen konnte, regte die sich kurz, und schnellte dann hoch in eine sitzende Position. Sie blinzelte zweimal, runzelte dann die Stirn und sah die beiden Besucher fragend an. Ihre langen Wimpern warfen Schatten auf ihre weißen Wangen und Kristen glaubte zu spüren, wie ihr Herz zitterte.

»Ähm … wir …«, versuchte sie, aber ihre Stimme klang so heiser, dass sie abbrach und Adriana nur mit großen Augen anstarrte. Diese schwang ihre Beine nun auf den Boden und erhob sich mit beneidenswerter Eleganz. Zumindest in Vergleich mit den Anstalten, die sie selbst unternommen hatte, um in Gang zu kommen, dachte Kristen traurig.

»Ist schon gut«, sagte Adriana und die zart in ihrer Stimme mitschwingende Melodie sandte leichte Schauer Kristens Rücken hinab.

Ohne sich nach den beiden umzusehen, ging Adriana an ihnen vorbei und verschwand aus dem Raum.

»Mach den Mund zu«, murmelte Viktor und blickte Kristen kritisch an. »Was denn?«, fauchte sie zurück, und setzte sich ebenfalls in Bewegung, lief an Viktor vorbei.

»Halt«, murrte der. »Was ist mit den Fenstern?«

»Sind ohnehin verrammelt«, knurrte Kristen. »Und außerdem zu hoch«, fügte sie ein wenig milder gestimmt hinzu, als sie auf dem Gang stand und jede Spur von Adriana verflogen war. Trotzdem wartete sie, während Viktor die Fensterschlösser eins nach dem anderen kontrollierte.

»Und was jetzt?« Bevor sie es merkte, stand Viktor neben ihr und stemmte die Hände in die Hüften. Er blinzelte an die Decke. »Der Dachboden?«

Kristen überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. »Ich hätte eigentlich gleich dran denken sollen«, meinte sie langsam und seufzte. »Aber es ist wohl logischer, wenn wir die anderen im Keller suchen. Da war ich schließlich auch.« Sie biss die Zähne zusammen und stieß die Luft aus den Nasenlöchern aus.

Wenn sie ehrlich zu sich war, behagte ihr der Gedanke nicht, sich wieder in die Unterwelt des Gebäudes zu begeben. Mit Kellern und überhaupt unterirdischen Räumen hatte sie sich noch nie anfreunden können.

»Das war sicher nicht der Zweck dieser Veranstaltung«, dachte sie laut.

»Hm.« Viktor kratzte sich am Kinn. »Der Zweck liegt immer noch im Dunkeln.« Er überlegte einen Augenblick. »Eigentlich ist es jetzt an der Zeit, sich nach einem Telefon umzusehen.«

Kristen schlug sich gegen die Stirn. »Das ich daran nicht gedacht habe. Sicherlich hat doch jemand ein Mobiltelefon dabei, oder nicht?«

Viktor zuckte mit den Schultern. »Wenn die nicht abgegeben werden mussten.«

Kristen fuhr herum. »Denkst du, das wäre möglich?«

Viktor zuckte mit den Schultern und lächelte müde. »Scheint fast, als ist heute alles möglich.« Er schüttelte den Kopf und stöhnte. »Ganz im Ernst, ich fühl mich nicht so besonders.«

»Wem sagst du das.« Kristen seufzte und rieb sich die Stirn. »Wenn wir mit irgendwelchen Giftgasen, Rauchwolken oder komischem Gebräu betäubt wurden, dann existieren jedenfalls Nebenwirkungen.« Sie hob abwehrend die Hand, als Viktor sie kritisch musterte. »Es dürfte dir doch nicht neu sein, dass ich ein Anhänger von Verschwörungstheorien bin.«

»Natürlich nicht«, seufzte der Junge. »Also gut, wir fragen erst mal rum, ob jemand ein Telefon in der Hosentasche versteckt.«

Die Rückkehr in den Raum, der als Übernachtungsquartier auserkoren worden war, und in dem müde Gesichter sich ihnen gelangweilt entgegenstreckten, verlief zwar ohne Probleme, aber auch ergebnislos. Die wenigen Schüler, die ein Mobiltelefon mit sich trugen, bekamen keinen Empfang oder beschwerten sich darüber, dass sie ihre Akkus leer waren, egal wie gründlich sie diese noch aufgeladen zu haben glaubten.

Mit betretenen Gesichtern verließen Kristen und Viktor das Zimmer und beschlossen, sich auf die Suche nach einem altmodischen Telefonanschluss zu machen. Die Türen zu den Büros und dem Sekretariat waren selbstverständlich ebenfalls versperrt und Viktor fühlte sich nicht dazu berufen, Gewalt anzuwenden.

Schließlich fanden sie sich in dem Teil des Gebäudes wieder, in dem die Schüler ihre Schränke mieten konnten, und begannen damit, an einer Tür nach der anderen zu rütteln. Die meisten waren versperrt und in den offenstehenden befanden sich keinerlei erwähnenswerte Gegenstände.

Viktor zog die Augenbrauen hoch, als sie mit der nächsten Reihe dichtgedrängter Schränkchen begannen. »Was soll das denn sein?«

Kristen trat neben ihn, beugte sich vor. »Diese Idioten«, knurrte sie. »Irgendwelche Volldeppen finden es wohl witzig, Schuleigentum zu beschmieren. Man sollte meinen, wir wären aus diesem Alter heraus.«

Viktor legte den Kopf schief. »Was soll das überhaupt sein?«

Kristen schüttelte den Kopf. »Ein Galgenmännchen. Du weißt doch, diese Strichmännchen, die man zeichnet um ein Wort zu erraten. Total dusselig. Und das auch noch auf Alexandras Schrank.«

Viktor ging weiter. »Mal sehen, ob noch anderswo etwas verschandelt ist.«

Kristen rieb mit dem Zeigefinger über die Zeichnung und stöhnte dann auf. »Das ist auch noch ein Permanent-Marker. Der geht nicht weg. Alex wird sich freuen.«

Viktor zuckte mit den Schultern. »Ist doch nur ein Schrank. Und gehört nicht mal ihr.« Er blieb stehen, drehte sich um. »Vielleicht war sie es ja selbst. Fand es zu langweilig, wollte sich mit Birgit die Zeit vertreiben.

»Bestimmt«, meinte Kristen spöttisch. »Weil es nichts Hübscheres gibt, als einen gezeichneten Mord.«

Viktor schnalzte mit der Zunge. »Ich dachte, es wäre nur ein Kinderspiel.«

»Ein Morbides.«

Kristen schüttelte den Kopf. »Also ich geh nicht weiter. Das bringt doch nichts. Besser wir warten bis es hell wird.«

»Ist Wochenende«, gab Viktor zu bedenken. »Mit viel Glück sitzen wir hier noch eine Weile fest.«

Kristen weigerte sich, dies zu glauben. »Früher oder später taucht Frau Natal schon auf. Der Himmel weiß, wer oder was sie aufhält.«

Viktor grinste schief. »Oder die Hölle kennt den Grund.«

Kristen fuhr herum. »Was soll der Quatsch?«

Viktor zog seine Augenbrauen hoch. »Sag bloß, du findest das nicht ein wenig unheimlich.« Er schüttelte den Kopf. »Und wo sind Birgit und Alexandra abgeblieben? Im Übernachtungsraum waren sie jedenfalls nicht.«

»Erzähl keine Geschichten!« Trotz ihres zur Schau gestellten Ärgers konnte Kristen nicht anders, als sich ein gewisses Unbehagen einzugestehen, sobald Viktor und sie die Aula betraten.

Sie sah auf ihre Schuhe und lauschte auf das Echo ihrer beider Schritte, die unangenehm laut durch die Leere schallten. Beide schwiegen. Die Dunkelheit wirkte bedrückend. Das schummrige Licht, das aus vereinzelt in der Decke integrierten Lampen schien, half nicht, die Düsternis der Szenerie zu vertreiben.

Mit jedem Schritt in ungewisses Terrain fühlte Kristen sich miserabler. Eine unangenehme Vorahnung schwebte wie eine dunkle Wolke über ihr, und sie war außerstande, diese zu verjagen. Nicht einmal Viktor, den sie von Kindesbeinen an kannte und dem sie bedingungslos vertraute, konnte die Schatten verjagen.

Und plötzlich hörten sie es beide. Schritte klangen aus der Tiefe. Kristen stockte der Atem. »Wer ist das?«, flüsterte sie unsinnig und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

Viktor blieb stehen und hielt Kristen an der Schulter, als nach und nach Gestalten auf der Treppe, die aus dem Keller führte, auftauchten. Mit einem erleichterten Seufzer atmete Kristen aus. Dennoch zitterte ihre Stimme, als sie rief: »Du meine Güte. Wo kommt ihr jetzt her?« Ebenso eine unsinnige Frage, wie es ihr zu spät einfiel. Selbstverständlich kamen die Mitschüler aus einer ähnlichen Lage wie der, in der sich selbst vorgefunden hatte. Die erschrockenen Gesichter sagten mehr, als jedes Wort es tun konnte. Manche von ihnen liefen Arm in Arm, doch jeder wirkte gleichermaßen erschöpft. Erst als sie die Aula erreicht hatten, und ihre Augen sich auf die Lichtverhältnisse einrichten konnten, begann ein aufgeregtes Geschnatter.

»Das war vielleicht verrückt«, meinte ein Mädchen, das sich rascher als die anderen gefangen hatte. Und nach einer Weile wilden Gedankenaustauschs, hörten sie, wie sich auch von der Treppe, die aus dem ersten Stock führte, Schritte näherten. Ein Teil, der zuvor im Übernachtungsraum zurückgebliebenen Schüler und Schülerinnen, kam zögernd die Stufen hinunter.

Birgit war bei ihnen. Sie stieß Kristen kurz an und lächelte aufmunternd, um sich dann suchend umzusehen. »Da fehlen aber noch einige«, verkündete sie dann entschieden.

»Vor allem unsere Lehrerin«, wurden andere Stimmen laut. Und schnell wurde klar, dass kaum jemand sich an mehr erinnern konnte, als an die zuvor bereits diskutierten Vorgänge.

Schweigen dehnte sich aus. »Wir sollten herausfinden, wer von uns noch fehlt«, meinte Birgit schließlich.

»Adriana«, meinte Kristen schnell, rascher noch als sie sich bewusst wurde, das Wort ergriffen zu haben. »Ich meine.« Sie sah Viktor hilfesuchend an, der jedoch nicht reagierte. »Wir haben sie oben gefunden, im zweiten Stock.« Kristen schluckte verlegen. »Sonst war niemand dort.«

Alexandra tauchte oben auf den Stufen auf und überblickte die Anwesenden. »Hier ist sie nicht«, meldete sie und bewies damit, dem Gespräch zugehört zu haben. »Und sonst war niemand in den oberen Stockwerken?«

Kristen sah verlegen zu Boden. »Auf den Dachboden haben wir nicht gesehen, aber sonst war niemand da.«

Einer der aus dem Keller gestiegenen Neuankömmlinge meldete sich zu Wort: »Wenn sich nicht jemand noch besonders gut versteckt hat, dann sind aus dem Verließ da unten wohl auch alle hier oben heil angekommen.«

»So sieht es zumindest aus«, verbesserte ihn ein anderes Mädchen und sah sich kurz über die Schulter um. »Nicht dass ich Wert darauf gelegt hätte, noch länger im Finstern herum zu stiefeln.«

Birgit zählte durch und Alexandra kam die Stufen herunter. »Fehlen noch Adriana und unser Hexenclub, wenn ich das richtig sehe«, verkündete sie.

Die Anderen sahen sich an. »Meint ihr, dass unsere Wicca-Leute damit zu tun haben?«

»Ach kommt!« Kristen schüttelte ihren Kopf. »Die halten sich doch aus allem raus. Kann mir nicht vorstellen, dass sie auf so eine Idee kommen.«

»Ich glaube, die hatten auch mit am allerwenigsten Bock auf diesen Kram«, meinte Alexandra. »Ist doch auch kein Wunder, wenn sie sich vorzeitig verzogen haben.«

»Wie denn?«, fuhr Birgit auf. »Oder hat irgendjemand von euch einen Ausgang gefunden?«

Viktor zuckte mit den Schultern. »Dann schlagen wir eben ein Fenster ein. Untragbare Situationen erfordern tatkräftige Mittel.«

»Bist du verrückt?« Ein blondes Mädchen mit kurz geschnittenem Schopf mischte sich vehement ein. »Hast du eine Ahnung, was so etwas kostet? Also ich beteilige mich nicht daran.« Sie schüttelte heftig ihren kleinen Kopf. »Und wenn Frau Natal nur wieder eines ihrer Experimente ausprobiert? Eine psychologische Studie?«

Kristen schnaubte.

»Genau, eine Handvoll Schüler eingesperrt in einem Schulhaus. Mal sehen wie viele überleben?«

»Darüber macht man keine Scherze«, sagte die Blonde und rieb sich ihre Arme als ob sie fröre. »Ich hab genug Horrorfilme gesehen, die so anfingen.«

»Also bitte.« Ein anderer Schüler lachte auf und legte seinen Arm um die Schulter seiner Freundin, die neben ihm stand. »Ich denke nicht, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen.«

Kristen sah Viktor an und er erwiderte den Blick. Beiden fiel die Zeichnung an Alexandras Spind ein und beide taten sie als unbedeutend ab. Die Dunkelheit und die merkwürdige Situation spielte ihnen bereits genügend Streiche. Umso mehr als ihren die zunehmend beunruhigten Blicke der anderen auffielen.

»Frau Natal muss ja auch irgendwo sein«, gab das blonde Mädchen zu bedenken. Sie kann nicht vom Erdboden verschluckt werden.«

»Vielleicht ist ihr etwas passiert?«, schlug ein anderes vor und erntete postwendend strafende Mienen.

»Na, wär doch möglich«, verteidigte sie sich.

»Sie ist vielleicht eingeschlafen, so wie wir alle, oder?«, meinte Kristen und sah sich um, erhoffte Bestätigung, dass sie nicht die Einzige war, deren Erfahrungen in diese Richtung gingen. Beipflichtendes Nicken bestätigte sie in ihrer Annahme.

»Oder irgendwo in Ohnmacht gefallen«, merkte die Schwarzseherin von zuvor an.

»Aber wobei denn?«, fragte Birgit. »Warum sollte sie alleine durch die Gegend irren, um dann umzufallen?«

»Warum passiert hier überhaupt irgendwas?«, meinte Alexandra und räusperte sich, sah danach jedem, der ihren Blick erwiderte ins Gesicht. »Ich gehe doch mal davon aus, dass sich keiner so richtig daran erinnern kann, was passiert ist. Und wenn doch, dann bitte ich um Wortmeldung.«

Betretenes Schweigen stellte die einzige Antwort dar und Alexandra seufzte bestätigend.

»Wo haben wir denn noch nicht nachgesehen«, schlug sie dann vor. »Vielleicht sollten wir doch das ganze Gebäude durchsuchen. So groß ist es nun auch wieder nicht.«

»Groß genug vielleicht schon«, meinte Kristen leise. »Wenn sich jemand wirklich verstecken will, dann ist das sicher möglich.«

»Aber warum sollte das jemand wollen?«, fragte Birgit. »Ist ja nicht so, als wären wir noch in einem Alter, in dem man Verstecken lustig findet.«

»Das ist alles total bescheuert«, sagte die Blonde und sah die Treppe hoch. »Wer ist alles oben?«, fragte sie Alexandra, die flink ein paar Namen herunterrasselte. »Dann trennen wir uns«, schlug eine andere vor. »Ein Teil von uns kann oben suchen, ein anderer Teil sieht in den Nebenräumen nach. Ich denke, wenn wir alle zusammen bleiben, kann das nur von Vorteil sein.«

»Kommt das auch aus den Horrorfilmen?«, fragte einer der Jungs skeptisch. »Ihr solltet mal ein bisschen lockerer werden.« Er sah sich nach seinen Freunden um. »Ich für meinen Teil sehe nach, ob der Schnaps noch da ist, den ich mir eingepackt habe, und dann penne ich eine Runde. Es sei denn, eins von den Mädels will mir Gesellschaft leisten.«

Birgit verdrehte die Augen und würdigte ihn keiner Antwort. Dafür hakte sie Kristen ein und winkte Alexandra zu. »Komm mit. Wir übernehmen die Werkräume. Viktor kann sich die Turnhallen ansehen.« Sie blinzelte ihm schüchtern zu.

»Aber sicher«, schüttelte dieser den Kopf. »Was immer ihr wollt.«

Alexandra rümpfte die Nase. »Kannst auf dem Weg ruhig eine rauchen. Selbst wenn die Natal auftaucht, kann sie sich eigentlich nicht groß beschweren, nach der Nummer, die sie hier bringt.«

Viktor schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Zwei andere Jungs folgten ihm, zückten noch während des Gehens Zigaretten und Feuerzeuge.

Die anderen stiegen zum Teil wieder die Treppe hinauf, oder folgten den beiden Gruppen.

»Meinst du das mit Zusammenbleiben?«, fragte Kristen lächelnd. »Dass wir uns erst einmal trennen müssen?«

Birgit zuckte mit den Schultern und linste über die Schulter zu Viktor. »Hauptsache, das Ergebnis stimmt.« Sie hakte sich enger ein. »Wir werden schon wieder alle zusammen finden. Ganz im Ernst. Was soll passieren?«

Nachdem Viktor und die mit ihm gingen in den Umkleideräumen verschwunden waren, betraten Kristen und Birgit den ersten Werkraum. Wie bereits zuvor testete Kristen die Schlösser an den Fenstern, doch keines von ihnen ließ sich öffnen. Es riecht komisch«, meinte Birgit, als sie den zweiten Raum betraten. »Hier riecht es doch immer komisch«, entgegnete Kristen. »Wer weiß, was hier zusammengebraut wird.«

»Ist doch kein Chemiesaal«, lachte eines der Mädchen, die mit ihnen gingen und Birgit drehte sich nach ihr um. »Alexandra?«, fragte sie und sah dann wieder Kristen an. »Wo ist sie hin?«

Kristen schüttelte den Kopf. »Alex war doch eben noch bei uns.« Sie zuckte mit den Schultern. »Weit kann sie keinesfalls sein«, murmelte sie dann. »Vielleicht schon vorgelaufen, bis zum Kunstraum?«

Ein Mädchen kam aus dem Zimmer, in dessen Richtung Kristen eben noch gezeigt hatte, zurück zu ihnen. »Ist jemand darin?«, fragte Birgit, doch die Angesprochene zuckte nur mit den Schultern. In diesem Augenblick fuhren sie zusammen, als ein lautes Geräusch ertönte. Es hallte nach, als rühre es aus einer größeren Halle. »Das kommt aus dem Turnsaal«, vermutete Birgit und drehte sich noch einmal um: »Alex, mach keine Geschichten. Komm jetzt, wir sind auf dem Weg zur Turnhalle. Da gibt’s zumindest Matten zum Ausschlafen.«

Kristen drehte sich ebenfalls um und versuchte außerhalb der Umrisse ihrer Begleiter noch weitere Bewegungen auszumachen. Doch schneller als erwartet hatten sie die beiden Umkleideräume durchquert in denen noch der Qualm der vor nicht allzu langer Zeit gerauchten Zigaretten in der Luft hing. Mit klappernden Schritten und ungeachtet ihres unpassenden Schuhwerks betraten sie die Turnhalle.

Obwohl nicht besonders groß, war diese doch geräumig genug, dass sie Viktor gegen die Kletterwand gelehnt in einigem Abstand der anderen Schüler stehen sehen konnten. Er legte den Kopf in den Nacken und sah genervt zur hohen Decke, während sich in der entferntesten Ecke eine Diskussion entsponnen hatte.

»Hallo, da seid ihr ja«, stellte Birgit halb lachend, halb besorgt fest, als sie die kleine Gruppe bemerkte, die sich in die Gerätekammer zurückgezogen und dort offenbar auf ein paar alten Matratzen gemütlich eingerichtet hatten. Den Eingang versperrten nun die Klassenkameraden, die mit verschränkten Armen auf sie heruntersahen und alles andere als einen freundlichen Ton anschlugen.

»Ihr wisst doch etwas. Oder warum habt ihr euch verzogen?«, fragte Stefan wütend.

»Wieso sollten wir uns verzogen haben?« Maria saß mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken auf dem Boden und sah herausfordernd zu Stefan hinauf. Ihr mit Henna rot gefärbtes Haar entsprach dem Farbton, dem die meisten ihrer Gruppe den Vorzug gaben, ebenso wie dem kurzen Schnitt und dem wilden Look abstehender Strähnen. Beinahe wie ein Kontrast wirkten die auffallend bunten und weiten Klamotten, die sie trugen, vorzugsweise im Batik-Stil und unterstützt mit zahlreichen, naturfarbenen Ketten und Gürteln. Insgesamt sahen sie aus, als entstammten die Mädchen dem vorigen Jahrhundert, einer Ära, die am ehesten noch mit Hippies, Love und Peace assoziiert wurde.

Ein männliches Wesen duldeten die Mädchen: Patrick färbte sein Haar ebenfalls, wenn auch etwas dunkler. Er lenkte die Aufmerksamkeit unbeabsichtigt auf sich, indem er sich von ihrem Stil abhob und stets einen glattgebügelten Anzug trug. Lediglich die Farbe seines Hemdes variierte. Meistens hielt er sich zurück, beobachtete im Hintergrund, aber nicht nur Kristen war bislang aufgefallen, dass er in der Gruppe mehr zu sagen hatte, als auf den ersten Blick erkennbar war.

»Wir hatten das Gefühl, die Party sei zu Ende«, bekam Maria von Gudrun Hilfe, die gegen einen Stapel Matten lehnte, und eine Hand auf Patricks Knie legte. »Niemand erhob Einwände, als wir unsere eigene Ecke suchten.«

Kristen trat einen Schritt vor. »Habt ihr Adriana gesehen?« Eigentlich hatte sie etwas anderes sagen wollen, aber die Frage nach Adrianas Verbleib schwelte in ihrem Unterbewusstsein und brach sich nun Bahn.«

Maria sah Kristen an und legte ihren Kopf schief. Sie spitzte die Lippen, bevor sie antwortete. »Adriana kommt zurecht«, sagte sie dann einfach und richtete ihre leicht schräg liegenden Augen wieder auf Stefan. »Hab ihr sonst noch irgendwelche Bedenken, die ihr mit uns teilen wollt?«

Birgit schluckte und trat dann neben Kristen. »Ich denke, wir sollten alle zusammen bleiben. Es ist sicherer.«

Die Gruppe lächelte geschlossen. »Glaub uns, wir sind sicher.«

»Unsere Lehrerin ist verschwunden, und die Türen sind verriegelt«, gab Kristen zu bedenken. »Ich glaube, wir alle fühlen uns erst besser, wenn die Sonne wieder aufgeht.«

»Das kommt darauf an.« Maria blinzelte Gudrun zu und diese entblößte eine Reihe weißer Zähne.

Unerwartet lehnte sich Patrick vorwärts, legte seine Hand auf die Finger Gudruns. »Wir kommen, wenn etwas geschieht«, versprach er. »Wenn ihr uns braucht, dann bleiben wir bei euch.«

»Wir sind eine Gemeinschaft«, sagte Birgit zaghaft. »Ich dachte, es geht darum, dass wir hier zusammen helfen. Wenn schon sonst nichts aus diesem Ausflug wird.«

Patrick schüttelte seinen Kopf. »Aber wieso sollte denn nichts daraus werden«, sagte er betont sanft. »Alles läuft genau nach ihrem Wunsch. Was auch immer Frau Natal sich dabei gedacht hat, sie wird schon ihre Gründe haben. Sie ist schließlich die Leiterin.«

Kristin sah ihn groß. So viel sprach der Junge selten und sie zuckte unmerklich zurück, als er ihr plötzlich zuzwinkerte.

»Wir kriegen das schon hin«, versprach er leise und wie sie glaubte, nur für ihre Ohren bestimmt.

»Also habt ihr nicht vergessen, was passiert ist?«, fragte Kristen ungläubig. »Ihr könnt euch erinnern?«

»Dann sagt es uns«, fiel Birgit ein. »Was war das mit diesen Dämpfen und diesem Gebräu? War das echt, oder hab ich das nur geträumt?«

Patrick zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Das hast du geträumt, würde ich mal sagen.« Er wechselte einen Blick mit Maria.

»Unsere Frau Natal mag sich in vielen Dingen versuchen, aber mit den magischen Künsten steht sie auf Kriegsfuß.« Die Gruppe lächelte einträchtig, als teile sie einen Insider-Joke.

»Ich wusste doch, dass ihr Wicca-Anhänger seid, Wiccaner oder Paganisten oder wie man das nennt«, stieß Stefan triumphierend hervor. »Ich verstehe nur nicht, warum ihr dann nicht in schwarz herumlauft.«

Patrick atmete aus und schüttelte den Kopf. »Du verstehst vieles nicht, Stefan. Besser du versuchst es gar nicht.«

»Moment Mal«, Stefan wurde rot im Gesicht und beugte sich vor, als ihn Viktor, der unhörbar näher gekommen war, am Arm fasst. »Ruhig Blut«, sagte der leise. »Es geht doch hier um ganz etwas anderes.«

Stefan schnaufte angestrengt, konnte aber nicht umhin, drohend die Faust zu erheben. »Euch Freaks werde ich es schon noch zeigen. Ihr zieht unseren ganzen Kurs runter. Kein Wunder, dass sie uns mit dem miesesten Durchschnitt beglücken. Kein Wunder, dass wir so einen Mist hier bringen sollen.«

Ein wenig ruhiger geworden ließ er sich von Viktor fortziehen.

»Ihr helft uns also?«, fragte Kristen, und konnte nur daran denken, was die anderen vielleicht über Adriana wussten und was ihr entging. »Ihr helft uns wirklich?«

Gudrun lehnte sich lächelnd vorwärts. »Dafür ist die Gemeinschaft da«, bemerkte sie. »Unabhängig davon aus wie vielen unterschiedlichen Facetten sie besteht.«

Kristen nickte und erwiderte das Lächeln.

»Adriana war hier«, sagte Maria schließlich. »Und jetzt ist sie zu den Schränken. Ich denke, sie wollte ihre Jacke holen.«

»Danke.« Kristen wusste nicht genau wofür sie sich bedankte, aber die Erleichterung, die sie spürte, überwältigte sie. Einfach zu lächerlich, welch eine Aufmerksamkeit sie der Neuen schenkte. Sie kannte Adriana überhaupt nicht, wusste nichts von ihr. Eigentlich wusste niemand etwas von ihr und Kristen hatte das starke Gefühl, dass Adriana das ganz recht war.

Immer noch in Gedanken verloren merkte Kristen kaum, dass sie sich bereits wieder auf dem Rückweg befanden, durch die Umkleide trabten und schließlich in der Aula landeten. Ihr Blick richtete sich auf den Gang links neben dem Eingangstor, der zu den Schränken führte und sie war bereits drauf und dran ihre Schritte dorthin zu lenken, als ein gellender Schrei ertönte. Er wiederholte sich und Kristen und ihre Begleiter fuhren aus ihrer Erstarrung. Viktor war der Erste, der reagierte. Er lief ihnen voraus, die Treppe hinauf und in die Richtung, aus der das Geräusch entstammte. Bis in den zweiten Stock rannten sie und an der weit aufgerissenen Tür zum Musikzimmer blieb Kristen wie angewurzelt stehen.

Birgits Finger bohrten sich wie Krallen in ihren Arm, als ihre Freundin ebenfalls einen spitzen Schrei ausstieß.

Inmitten des Zimmers, zwischen Trommel und Klavier, lag zusammengekrümmt ein Mädchen. »Alexandra«, flüsterte Birgit, als sie wieder Luft holen konnte. »Bitte nicht.«

Alexandras Gesicht war blutverschmiert und in ihrer Brust steckte ein großes Messer. Ihre Augen starrten weit aufgerissen an die Decke und ihre Finger schienen bei dem Versuch das Messer zu erreichen erstarrt.

Kapitel 2

»Wie konnte das passieren? Das ist doch nicht möglich?«, flüsterte Kristen, als ein anderes Mädchen neben ihr zu weinen begann. Die Schreie von zuvor waren verstummt, ersetzt durch inzwischen bedrückendes Schweigen. Endlich durchbrach Sam die Stille. »Sie ist doch nicht wirklich tot?«, fragte er leise. »Das kann doch nicht …« Er verstummte, als Viktor an ihm vorbei und auf Alexandra zuging. Er beugte sich über sie, sah ihr in die Augen, legte ihr dann die Hand auf die Stirn und schloss die Lider.

»Sie ist tot«, sagte er mit belegter Stimme. »Hier ist ein Mörder unter uns.«

»Nein, das kann nicht wahr sein.« Birgit schüttelte wild den Kopf. »Ich weigere mich, das zu glauben. Alexandra war eben noch hier. Sie stand eben noch neben mir.«

Kristen fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen.

»Wir sollten alles so lassen wie es ist«, schlug Viktor vor. »Wir …« Er sah hilfesuchend zu Kristen, offenbar nun auch mit seinem Latein am Ende.

Kristen bemühte sich um Fassung. »Wir sollten Maria, Patrick und die anderen holen«, sagte sie dann. »Vielleicht wissen sie, was zu tun ist.«

»Vielleicht stecken sie auch dahinter?«, rief das blonde Mädchen schrill. Kristen fuhr zu ihr herum. »Das können wir nicht wissen«, entgegnete sie hastig. »Wir wissen gar nichts. Wir … wir sollten nur sichergehen, dass wir nicht allein bleiben. Dass wir bis morgen alles richtig machen.«

»Ich geh zur Turnhalle.« Mit diesen Worten war Viktor aus der Tür hinaus.

Birgit weinte still vor sich hin und Kristen legte ihr den Arm um die Schulter. »Wir sollten in den Übernachtungsraum gehen«, sagte sie dann. »Vielleicht ist es da sicherer. Und wenn Frau Natal kommt, dann doch sicher dorthin.«

»Wenn sie kommt«, schluchzte Birgit. »Ich hoffe, das ist alles nur ein Albtraum.

»Das wünschte ich auch«, flüsterte Kristen.

In diesem Moment kehrte Viktor bereits mit der Gruppe aus der Turnhalle zurück. Kristen blieb stumm stehen und beobachtete, wie die Klassenkameraden respektvoll näher traten. Sie nickten zögernd, als Viktor sie darauf hinwies, dass sie nichts anfassen sollten. Dann bildeten sie einen Kreis um Alexandra und stimmten einen ruhigen Sprechgesang an. Worte, die Kristen nicht verstand schwebten durch die Luft und erfüllten sie mit dem Frieden und der notwendigen Kraft, sich loszureißen und umzudrehen.

Unendlich langsam dehnte sich der Rückweg zur Eingangshalle. Hin und hergerissen zwischen dem Bedürfnis bei Alexandra zu bleiben und dem Anblick zu entfliehen, ging Kristen mit ihren Mitschülern die Treppe hinunter. Schwere Schritte und verschwommene Sicht verwandelten den Weg in schwieriges Gelände.

Doch als sie im Übernachtungszimmer ankamen und dort den Zurückgebliebenen zu erklären versuchten, was geschehen war, zog sich Kristen merklich zurück. Ihr Blick wanderte wieder und wieder durch den Raum, doch die insgeheim gehegte Befürchtung bewahrheitete sich. Adriana war nicht unter ihnen. Ein mulmiges Gefühl stieg in Kristen hoch. Ganz egal was der Hexenclub andeutete, Adriana befand sich alleine dort unten.

Sie blinzelte, überlegte einen Moment, ob sie ihre Besorgnis teilen sollte, doch Birgit war gerade dabei, in eine tränenreiche Umarmung mit einer anderen Schülerin zu versinken.

Als Kristen zur Tür ging, packte sie jemand an der Hand. Viktor zog sie näher zu sich. »Was glaubst du, wo du hingehst?«, fragte er mit großen Augen. Kristen schluckte. »Adriana ist noch unten. »Hast du nicht gehört, was die Hexen gesagt haben? Sie ist alleine unten. Alles Mögliche kann ihr zustoßen.«

»Sie sind keine Hexen«, stöhnte Viktor. »Und lass sie das nur nicht hören. Ich glaube nicht, dass sie begeistert über den Ausdruck wären.«

»Und ich glaube, wir haben jetzt andere Sorgen als politisch korrekte Sprache, denkst du nicht?«, zischte Kristen zurück und straffte ihren Rücken. »Ich geh sie holen. Du kannst mitkommen, oder es lassen.«

»Oh Mann.« Viktor verdrehte die Augen, doch war schon längst dabei neben ihr herzugehen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ich das wirklich mache«, protestierte er fruchtlos.

Doch Kristen lächelte nur. Eine Mundbewegung, die den Rest ihres Gesichtes nicht veränderte, geschweige denn dass sie ein Gefühl zum Ausdruck brachte.

Sie wusste nur, dass sie zu Adriana musste, und dies sofort. Die Vorstellung, dass ihr etwas ähnlich Grauenerregendes zustoßen konnte wie Alexandra erschütterte den Rest des mühsam zusammengehaltenen Willens, den sie zur Schau zu stellen imstande war. Ein Strohhalm nur schien es, an den sie sich jedoch umso fester klammerte, wild hoffend, dass ihr in dieser Nacht nicht noch mehr genommen wurde.

»Sie ist angeblich bei den Schränken«, stellte Kristen unnötig fest und Viktor nickte. Schweigend liefen sie weiter, bis sie die Räume betraten, zu denen Kristen gewiesen worden war. Sie ging einen Schritt voran und hielt Viktor mit einer Hand gegen seiner Brust davon ab, weiterzugehen. Natürlich ließ er sich nicht abwehren, sondern folgte ihr mit nur geringem Abstand, als sie die Reihen durchschritt. Und dort, direkt neben Alexandras Spind und der nur schattenhaft erkennbaren Zeichnung des morbiden Symbols saß Adriana auf der Bank. Den Kopf in die Hände gestützt, die Augen geschlossen verharrte sie starr und Kristen war sich sicher, dass sie schon seit geraumer Zeit in dieser unbequemen Lage verblieb.

Vorsichtig kam sie näher, als fürchte sie, die andere aus einer Art von Trance oder auch nur einem Traum aufzuschrecken.

»Hey«, sagte Kristen leise, und räusperte sich dann beinahe unhörbar. »Adriana?«

Das Mädchen reagierte immer noch nicht. Bis Kristen sich neben sie auf die Bank setzte und langsam ausatmete. Erst dann schlug Adriana die Augen auf. Ihr Blick fiel auf Viktor, der immer noch in einigem Abstand am Ende der Reihe von Spinden stand und sie stirnrunzelnd ansah. Kristen folgte Adrianas Blick und in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, was der Junge dachte.

‚Nein‘, dachte sie und schüttelte innerlich ihren Kopf. Niemals konnte ein so zartes Wesen hinter einer Tat wie der zuvor Beobachteten stecken. Kristen schwor jeden Eid, dass die Annahme alleine ein Hirngespinst der Lächerlichkeit sein dürfte.

Ganz im Gegenteil vertraute sie eher ihrem ersten Instinkt, dem klaren Eindruck, dass Adriana in Gefahr schwebte. Kristen sah die andere an und ein weiteres Mal stockte ihr der Atem im Angesicht der Schönheit, die Adriana verströmte. Unwissentlich verströmte, denn keine einzige Geste, kein Ausdruck ihres fein geschnittenen Gesichtes, ließ darauf schließen, dass sie sich ihrer Wirkung bewusst war. Kristen blinzelte nervös und sah zu Viktor herüber, der sie beide skeptisch und, wie sie glaubte, auch ein wenig ungeduldig, musterte. Sie konnte kaum glauben, dass dem Jungen der Zauber nicht auffiel, den Adriana verströmte. Sogar ohne sich zu regen, ohne einen Blick zu wechseln, hielt sie den Raum in ihrem Bann, vertrieb den Schatten, der von der bösen Zeichnung neben ihr ausging. Kristen erschauerte unwillkürlich. Doch die plötzlich mit dem Bild Alexandras vor ihren Augen einströmende Kälte schreckte sie auch aus ihren Gedanken.

»Komm mit«, forderte sie Adriana leise auf. »Wir versuchen zusammen zu bleiben.« Adriana drehte langsam ihren Kopf und in dem schwachen Licht wirkten ihre Augen wie zwei große, glänzende Onyxe, hypnotisch und tiefgründig wie dunkle Seen in einer unterirdischen Höhle.

Kristen schluckte und versuchte, sich vergeblich aus dem Bann dieser Augen zu befreien. Es wäre ihr wohl nie gelungen, wenn Viktor nicht plötzlich eingegriffen hätte. »Es ist etwas geschehen«, sagte er schlicht. »Du solltest nicht hier bleiben.«

Adriana fragte nicht. Sie löste ihren Blick von Kristen und richtete ihn auf Viktor, der weniger beeindruckt wirkte.

Er sah sie aufmerksam an, als erwarte er, dass sie eine Erklärung fordere, Details und Gründe wissen wolle, warum sie ihre offenbar selbstgewählte Einsamkeit aufgeben solle.

Doch Adriana gab keinen Laut von sich. Sie nickte nicht einmal, als sie aufstand und auf Viktor zuging, der ihr automatisch den Weg frei machte.

»Das ist sicher die richtige Entscheidung«, begann Kristen hinter ihr zu brabbeln. »Es ist alles nicht ganz geheuer und …«

Sie verstummte, als Adriana sich zu ihr umdrehte und sie von oben bis unten musterte. »Ich meine …«, versuchte Kristen weiter, aber dann gelang es ihr lediglich ihre Lippen zu bewegen, ohne dass ihnen ein Laut entkam. Sie glaubte fast ein schmales Lächeln zu entdecken, das Adrianas Mundwinkel umspielte, als es schon wieder verschwunden war. Verstummt folgte sie dem Mädchen, getraute sich kaum ihren Blick zu heben. Als sie in die Aula traten, wäre Kristen fast gestolpert, hätte Viktor sie nicht am Arm gepackt und den sicheren Fall aufgehalten.

»Was machst du denn?«, murmelte er und Kristen sah ihn hilflos an. Als sie ihre Augen wieder nach vorne richtete, war Adriana auf der untersten Stufe stehen geblieben und musterte sie mit hochgezogenen Brauen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie leise und die sanfte Melodie in ihrer Stimme nahm Kristen den Atem. Sie versuchte zu nicken, doch hielt inne in der Bewegung, als Adriana leicht die Stirn runzelte und dann mit ihren schlanken, weißen Fingern eine Strähne ihres Haares zurückstrich. Kristens Mund öffnete sich und sie hörte wie ihr eigener Atem mit einem Hauch entwich.

»Nun kommt schon«, forderte Viktor die beiden auf und schüttelte den Kopf, als wolle er bestätigen, dass ihm das nur recht geschehe, wenn er soweit ging, sich in die Belange seiner Mitschüler einzumischen.

Adriana sagte auch nichts, als sie in den Übernachtungsraum eintraten.

Dort hatten sich verschiedene Grüppchen gebildet. Gedämpftes Getuschel und angsterfüllte Blicke dominierten den Raum. Mit ihrem Eintritt beruhigten sich die Gemüter keineswegs.

Einzig Birgit zeigte einen deutlichen Ausdruck der Erleichterung, als sie Kristen ansichtig wurde und sie ging rasch auf die Freundin zu. »Bin ich froh, dass du wieder da bist«, sagte sie mit einem Seitenblick auf Adriana. »Wir reden gerade darüber, dass wir uns woanders hin zurückziehen sollten. Viele fühlen sich hier zu nahe an dem, was geschehen ist.« Sie schluckte unglücklich. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«

Kristen drückte kurz ihren Arm. »Das kann keiner.«

»Und wo war sie?«, fragte Birgit. Sie musste nicht klären, wen sie meinte. »Bei den Schränken«, antwortete Kristen. »Wie Patrick gesagt hat.« Sie blickte sich um. »Sind die immer noch dort oben?«

Birgit erschauerte. »Wir wussten alle, dass sie komisch sind, aber offenbar sind sie regelrecht fasziniert vom Tod und von all dem Schrecklichen.« Sie senkte den Kopf, schauderte leicht. »So etwas kann ich echt nicht verstehen.«

Kristen drückte ihre Hand und sah zu Viktor, der sich trotz des murmelnden Protestes eine Zigarette anzündete. Birgit folgte ihrem Blick und schauderte erneut. Sie lehnte sich zu Kristen und flüsterte in ihr Ohr: »Er war auch verschwunden. Für eine ganze Weile konnte ich ihn nicht mehr sehen.«

Kristen zuckte zusammen. »Was willst du damit sagen?«, fragte sie beunruhigt.

»Was glaubst du, was ich sagen will«, zischte Birgit zurück. »Sieh ihn dir doch einmal an!« Sie sah Kristen unglücklich an. Diese schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich weiß nicht, was du meinst. Er sieht doch aus wie immer.« Sie verengte ihre Augen. »Ich dachte auch, dass du ihn magst. Lag ich da so falsch?«

Birgit errötete, schüttelte dann ebenfalls ihren Kopf. »Ich kenne ihn doch gar nicht. Und dann … er interessiert sich gar nicht für mich.« Sie verstummte einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Er interessiert sich für niemanden, so wie es aussieht. Es ist fast, als hätte er nichts zu verlieren.« Sie schauderte wieder, blinzelte. »Ich hab versucht, ihn anzusprechen, aber er zieht immer gleich mit dir los. Und dann die Art, wie er Alexandra angesehen hat. Als könnte er sie nicht leiden.«

Kirsten ließ Birgit verletzt los. »Was willst du damit wieder andeuten? Du weißt doch, dass wir Freunde sind.«

Birgit nickte betreten. »Aber wie gut kennst du ihn wirklich?«, flüsterte sie und blickte dann verlegen zu Boden. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich sage. Ich weiß noch viel weniger, was ich machen oder denken soll.« Sie schluchzte auf. »Ich will nur hier raus.«

Kirsten schluckte. »Das wollen wir alle. Ihre Stimme klang heiser.

»Wir sollten hier verschwinden«, schlug plötzlich eine helle Stimme vor. Die blonde Mitschülerin meldete sich zu Wort. Stefan nickte und legte den Arm um sie. »Es hat keinen Wert, wenn wir hier bleiben«, bestimmte er. »Konsequenzen oder nicht. »Wir suchen jetzt eine Möglichkeit, hier herauszukommen. Alleine die Vorstellung, dass hier ein wahnsinniger Mörder sein Unwesen treibt, dürfte Grund genug liefern für ein wenig Vandalismus.«

Die meisten anderen nickten zustimmend.

»Sollten wir nicht denen oben Bescheid sagen?«, schlug Sam vor, ein hochgewachsener, meistens stiller Junge, dem man stets ansehen konnte, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte.

Das blonde Mädchen räusperte sich und Stefan schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass die etwas mit uns zu tun haben wollen.«

»Davon abgesehen, wer würde freiwillig da hinauf gehen?«, fragte die Blonde schrill. Betretenes Schweigen antwortete, und langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung. Manche griffen ihre Taschen, Rucksäcke oder Matratzen und Schlafsäcke. Andere ließen einfach alles liegen, wohl wissend, dass sie in dieser Nacht kaum noch Verwendung dafür fänden.

Mehr oder weniger einträchtig bewegten sie sich die Treppen herunter, nicht ohne gelegentlich besonders dunkle Ecken mit beunruhigten Blicken zu mustern.

Die Aula wurde durchquert und jeder Lichtschalter einer besonderen Prüfung unterzogen. Vergeblich, denn es gelang keinem von ihnen, das Schulgebäude stärker zu erleuchten als zuvor.

Kristen drehte sich nach Viktor um, der in einigem Abstand hinter der Gruppe blieb. Er ging gebeugt, sein gesenkter Kopf verhinderte, dass sein Gesicht unter dem dunklen Haar erkannt werden konnte. Der schwarze Mantel flatterte lose mit den Bewegungen mit und die in regelmäßigen Abständen ausgestoßenen Rauchwolken bewiesen für die kurzen Momente, in denen er den Kopf hob, dass er offenbar plante, sich zum Kettenraucher zu entwickeln.

Birgit hatte sich zu Stefan und seiner Freundin gesellt und als Kristen sich weiter umsah, fiel ihr auf, dass jemand fehlte. Hektisch musterte sie einen nach dem anderen, was in der Bewegung durch die Halle nicht einfach war, aber offenbar hatte Adriana sich wieder abgeseilt.

Ein Kloß setzte sich in Kristens Hals fest und sie versuchte um diesen herum zu atmen. Das war einfach zu verrückt. Adriana war immer eine Einzelgängerin. Eigentlich sollte sich niemand wundern, dass sie es vorzog, auch jetzt ihre eigenen Wege zu gehen. Zugleich fiel Kristen heiß ein, dass sie es auch nicht übers Herz gebracht hatte, Adriana von Alexandra zu erzählen. Vielleicht hatte sich niemand sonst die Mühe gemacht und Adriana grenzte sich ohne Wissen um die Gefahr, in der sie sich befand, von den anderen ab.

Als die Gruppe geschlossen weiterging und, ohne sich miteinander über ein Ziel verständigt zu haben, automatisch in der Schulküche zusammenrottete, blieb Kristen absichtlich ein Stück zurück. Sie wich ein wenig zur Seite und wartete, bis niemand ihr Aufmerksamkeit schenkte, bevor sie sich umdrehte und rasch den Weg zurücklief.