Das Leben neu backen - Olivia Potts - E-Book

Das Leben neu backen E-Book

Olivia Potts

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Darf ich mich vorstellen: Olivia Potts, Journalistin, Foodbloggerin und Patissière. In meinem Buch erzähle ich davon, wie mir Torten, Brotteig und Zuckerguss dabei halfen den Tod meiner Mutter zu verarbeiten.«
»Das Leben neu backen« ist die bewegende, humorvolle und lebensbejahende Geschichte einer jungen Frau, die ihre Trauer besiegt, ihre große Liebe findet und in dem Backen unwiderstehlicher Kuchen ihre neue Berufung findet. Dieser Weg wird begleitet von vielen köstlichen Rezepten zum Nachbacken: Shepherd’s Pie, Bananen-Rolo-Brot, Lemon Curd, Pizza, Sodabrot mit Käse, Mums Minestrone, Cantuccini, Schoko-Maracuja-Pavlova, Flan mit Safran, Himbeersoufflé mit Erdnussbutter-Crème-Anglaise-Füllung ,Schokokuchen mit flüssigem Kern, Ochsenschwanz-Marmite-Pithivier, Chai-Birne-Tarte-Tatin, Windbeutel mit Earl-Grey-Füllung, Gesalzener Milchschokolade-Praliné-Crisp und Lebkuchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Als ihre Mutter stirbt, steht Olivia Potts in der Küche von Freunden und backt einen Kuchen. Es ist kein Meisterwerk, aber sie möchte einen Mann beeindrucken, der etwas von Essen versteht. Von diesem schicksalhaften Tag an ist das Backen für sie untrennbar mit dem Verlust ihrer Mutter verbunden. Und doch drängt es Olivia zu ihrer eigenen Überraschung nun immer wieder an Herd und Ofen. Wenn sie nach einem langen Tag vor Gericht – Olivia ist Strafverteidigerin – müde und niedergeschlagen nach Hause kommt, stellt sie sich in die Küche, um zu backen. Der Teig sackt ein, die Vanillesoße klumpt. Und doch findet sie Trost bei dieser Arbeit. Bis aus der Flucht vor der Trauer die unstillbare Sehnsucht nach einem anderen Leben wird: Olivia gibt ihren Beruf auf, für den sie so hart gearbeitet hat, und schreibt sich an der berühmten Kochschule Le Cordon Bleu für ein Diplôme de Pâtisserie ein. Madeleines statt Mandanten, Pralinen statt Plädoyers, Gebäck statt Gerichtssaal. Es wird eine aufregende Reise in eine fremde Welt voller Herausforderungen, Rückschläge, Erfolgserlebnisse und seltsamer Gerätschaften. Und auch wenn die Trauer dadurch nicht verschwindet, eröffnet sich Livvy doch ein neues, erfülltes Leben. Und ein privates Happy End mit einem Mann, der etwas von Essen versteht …

Wie Trauer, Liebe und Kuchen mein Leben veränderten

Aus dem Englischen von Sonja Häußler

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »A Half Baked Idea: How grief, love and cake took me from the courtroom to Le Cordon Bleu« bei Fig Tree, London, an imprint of Penguin Books.

Fig Tree is part of the Penguin Random House group of companies whose addresses can be found at global.penguinrandomhouse.com

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Auszug aus dem Gedicht »Was mir an Kummer kommt vor Augen« von Emily Dickinson ist folgendem Werk entnommen: Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, Zweisprachig. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler. © 2015 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.

Deutsche Erstveröffentlichung März 2020

Copyright © 2019 by Olivia Potts

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München

Umschlagillustration: Ruth Botzenhardt

Redaktion: Julie Hübner

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24989-2V001

www.wunderraum-verlag.de

Wie Trauer, Liebe und Kuchen mich aus dem Gerichtssaal ins Le Cordon Bleu gebracht haben.

Für Mummy, dank Sam

© privat

Olivia Potts als kleines Mädchen mit ihrer Mutter Ruth

1

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, geschieht etwas Seltsames. Was immer auch in diesem Moment passiert, erzeugt ein besonderes Echo. Vielleicht hat man sich gerade eine Folge der eigenen Lieblingsserie angesehen, oder man war auf dem Weg zum Pilatestraining. Oder man hat gerade eine bestimmte Sorte Schokoladenkekse gekauft.

Es muss nicht einmal etwas Besonderes gewesen sein; meistens ist es sogar etwas ganz Alltägliches. Der Tod hat ein Händchen dafür, in ganz gewöhnlichen Situationen aufzutauchen. Doch es sind gerade diese gewöhnlichen Situationen, die den Großteil unseres Lebens ausmachen. Und so nehmen wir wahrscheinlich genau diese alltägliche Tätigkeit, ohne es eigentlich zu wollen, irgendwann wieder auf und durchleben dadurch den Moment des Todes immer und immer wieder. Es wird mit jedem Mal schwerer, die Lieblingsserie anzuschauen; Pilates verliert seinen Reiz.

Mit der Zeit klingt die Trauer ein wenig ab, aus dem Stich, der uns den Atem raubt, wird ein dumpfer Schmerz; sie steht nicht mehr vor uns und versperrt uns die Sicht, sondern tritt einen Schritt hinter uns, ist gegenwärtig, verwirrend, aber unauffällig. Doch am Ende sind es genau die Schokoladenkekse, die uns immer wieder direkt zu diesem Moment zurückkatapultieren, auf eine Weise, die uns den Atem raubt und uns immer wieder das Herz bricht.

Wenn man an diesem Punkt ist, scheint es vernünftig, diese mit dunklen Erinnerungen behafteten Situationen und Tätigkeiten zu meiden, das Problem zu lösen, indem man so schnell wie möglich davor flieht. Man findet eine neue Lieblingsserie, die dieselben Bedürfnisse stillt; Pilates kann ohnehin niemand ausstehen, und es gibt andere Kekse. Problematisch wird es dann, wenn man zur eigenen Überraschung feststellt, dass es genau diese von Trauer überschatteten Tätigkeiten sind, mit denen man sich für den Rest seines Lebens beschäftigen will.

Als meine Mutter starb, war ich gerade in der Küche. Allerdings war ich damals bei Weitem keine Köchin. Ich kochte gar nicht. Ich ernährte mich von Sandwiches bekannter Fast-Food-Ketten, von gefüllter Pasta aus dem Supermarkt und von mehr Kebabs, als ich zugeben mochte. Meine seltenen Ausflüge in die Küche führten zu zusammengefallenen Kuchen, verbrannten Keksen und pampigen Eintöpfen. Aber ich hatte vor Kurzem einen Mann kennengelernt – einen Mann, der ganz scharf aufs Kochen war und den ich unbedingt beeindrucken wollte. An einem Wochenende schlug er vor, gemeinsam für Freunde zu kochen. Und ich dachte noch: Oh Gott, das klingt nach einer furchtbaren Idee! Aber ich sagte: »Klingt großartig!« Und so stand ich plötzlich in einer Küche, die nicht mir gehörte, und backte zusammen mit einem Mann, den ich kaum kannte, einen Kuchen.

Währenddessen starb 442 Kilometer entfernt meine Mutter. Am Vormittag hatte ich noch mit ihr telefoniert. Ich hatte ihr von diesem Mann erzählt und davon, was ich für seine Schwächen hielt: Er war sich nicht sicher, ob er Kinder wollte, und er war kürzlich wieder Vegetarier geworden – etwas, was ich unerklärlicherweise als Affront empfand. »Mach dir keine Sorgen, Liebes«, erwiderte meine Mutter. »Bring ihn mit nach Hause, damit er deine Mutter kennenlernt: Ich werde auf dein gebärfreudiges Becken hinweisen und meinen Shepherd’s Pie für ihn backen. Das bringt ihn wieder in die Spur. Als ich deinen Vater kennenlernte, trug er einen blauen Samtanzug. Alles lässt sich zurechtbiegen«, schloss sie. Ich lachte und erwiderte, dass sich diese Geschichte gut erzählen ließe, sollten wir je heiraten. Sie gähnte, und wir verabschiedeten uns.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was ich dann sechzehn Stunden später erfahren sollte: dass dieses Gähnen eine Totenglocke war, ein Schwanengesang. Ein Gähnen – so gewöhnlich, so trivial –, das bedeutete, dass sie nicht genug Sauerstoff bekam. Später führte ich mir dieses Gespräch, dieses Gähnen immer und immer wieder vor Augen. Ihr Körper hatte sich bereits auf das, was in den folgenden Stunden eintreten würde, vorbereitet. Vollkommen selbstbezogen hatte ich nicht einmal nachgefragt, wie es ihr ging. Allerdings versprach ich ihr, sie am nächsten Tag anzurufen und einen lückenlosen Nachruf auf das Abendessen zu liefern. Die Ironie bemerkte ich erst später. Meine Mutter war 442 Kilometer entfernt, und sie lag im Sterben. Doch das wusste ich nicht. Deshalb trank ich und lachte und servierte stolz den Kuchen, den ich für diesen Abend gebacken hatte – einen Klementinen-Mandel-Kuchen, den einzigen Kuchen, den ich backen konnte. Betrunken machte ich den Abwasch – und zwar ziemlich schlecht. Der Mann, mit dem ich nicht zusammen war, wusch später alles noch einmal ab, ohne zu erwähnen, wie nachlässig ich meine Aufgabe erledigt hatte – auf diese stille Art und Weise, die merkwürdig ist für ein Paar, das seinen Status als Paar noch gar nicht etabliert hat. Der Abwasch war nur zur Hälfte gemacht, als ich in ein Bett schlüpfte, das nicht mein eigenes war. Und 442 Kilometer entfernt war meine Mutter gestorben.

Am Nachmittag des folgenden Tages, einem unglaublich blauen Februartag, der ebenso kalt wie strahlend war, klingelte mein Telefon. Die Nummer meiner Eltern leuchtete auf dem Display auf. Ich schaffte es nicht rechtzeitig, den Anruf anzunehmen, und das Display verdunkelte sich wieder. Dann leuchtete das Symbol für eine Sprachnachricht auf. Egal, wie oft ich meinen Vater darum bat, nicht auf meine Mailbox zu sprechen – er tat es immer wieder. Genervt verdrehte ich die Augen. Er wusste genau, wie ich dazu stand. Widerwillig rief ich die Mailbox an, während ich auf dem Klo saß. Er sagte nur, dass ich zurückrufen solle, aber ich wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert war. Ich legte auf und rief zu Hause an. Und auch wenn ich immer noch am liebsten vergessen will, was darauf folgte, erinnere ich mich sehr gut an alles.

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, kommt man nicht umhin, die Nachricht immer und immer wieder anderen überbringen zu müssen. Es überrascht nicht, dass dies mit der Zeit leichter fällt, auch wenn es niemals diese gewisse Befangenheit verliert, diese seltsame Betretenheit, die sich als Entschuldigung manifestiert: »Es tut mir so leid, ich habe schlechte Nachrichten …« Diese zaghafte Verlegenheit wird noch größer, wenn das Gegenüber Schock und Trauer zeigt. Die eigene Trauer fühlt sich wie eine Unannehmlichkeit an, die einen im gleichen Atemzug vor Schuldgefühlen erschaudern lässt.

Man wird besser darin. Natürlich wird man das. Man variiert immer wieder dasselbe Gespräch, jeden Tag, jahrelang. Man legt sich Worthülsen zurecht, die die ganze Sache so schmerzfrei wie möglich gestalten. Man findet eine Methode, wie man es für die andere Person so leicht wie möglich machen kann. Man erledigt es schnell, effizient, wie wenn man ein Pflaster von einer Wunde reißt. Vielleicht findet man sogar einen schonenden Witz, den man am Ende des Gesprächs anbringen kann, um die Spannung zu lösen. Aber nichts ist vergleichbar mit dem Moment, in dem man die Worte das erste Mal aussprechen muss.

Ich ging zurück ins Schlafzimmer, wo Sam gerade ein Buch las. Er blickte auf und war eindeutig überrascht, als er mich reglos dort stehen sah, doch er sah mich mit der sorglosen Ruhe eines Mannes an, dessen Leben nicht gerade durch einen einzigen Anruf aus den Fugen geraten war. »Meine Mum ist … tot?«

Die körperliche Anstrengung, diese Worte auszusprechen, wirkte wie ein Dammbruch. Trauer brach über mich herein wie eine Woge, Adrenalin durchströmte mich, und ich merkte, dass mir übel wurde, und ich befürchtete, gleich ohnmächtig zu werden. Es riss mich buchstäblich von den Füßen; ich krümmte mich und fiel auf die Knie, eine Parodie des Leids, wie der Protagonist einer griechischen Tragödie.

Meine Mutter war tot. Meine Mutter war tot. Meine schöne, brillante, mich auf die Palme bringende, verrückte Mutter, mit der ich vor weniger als vierundzwanzig Stunden noch gesprochen hatte, die Witze über Shepherd’s Pie und gebärfreudige Becken gemacht hatte, war tot. Mich überfiel dieses schwerelose Gefühl, das man empfindet, wenn man sich hinlegt, nachdem man zu viel getrunken oder den ganzen Tag in einem Spaßbad verbracht hat.

In Über die menschliche Trauer schrieb C. S. Lewis: »Niemand hat mir je gesagt, dass sich Trauer so sehr nach Angst anfühlt. Ich habe zwar keine Angst, aber es fühlt sich an wie Angst.« Doch in diesem Augenblick wusste ich, dass er sich irrte. Ich hatte Angst. Ich war in völliger Panik, die Angst war tiefsitzend und körperlich. Ich hatte gleichzeitig das Bedürfnis zu pinkeln, mich zu übergeben und fest in den Arm genommen zu werden. Ich hatte das Gefühl, als würde ich zerbrechen, wenn mich jemand berührte. Ich hatte Angst davor, keine Mutter mehr zu haben. Ich hatte Angst davor, den Menschen zu verlieren, der vertraglich, biologisch und genetisch dazu verpflichtet war, mich zu lieben. Ich hatte Angst davor, nichts mehr zu haben, auf das ich meine Liebe zu ihr richten konnte.

Plötzlich ging mir auf, dass ich diesen Mann eigentlich kaum kannte, in dessen Schlafzimmer ich stand, auf dessen Klo ich gesessen hatte, als ich die Mailbox abgehört hatte, und der mich jetzt entsetzt ansah, während ich meine Sachen einsammelte. Und ich fühlte mich fürchterlich allein. »Willst du, dass ich mitkomme … hoch in den Norden, dass ich dich begleite?«, fragte er.

Himmel, bloß nicht.

Doch plötzlich wurde mir bewusst, was mir bevorstand. Ich musste nach Hause fahren. Ich musste in den Norden. Jetzt. Ich war Strafverteidigerin und musste in etwas mehr als zwölf Stunden am Kingston Crown Court, dem dortigen Strafgericht, sein. Ich war im südlichen Teil von London, aber meine Papiere lagen im Norden. Mein Vater war in Sunderland, wo ich so schnell wie möglich hinmusste. Es war Sonntagabend, und niemand war in der Kanzlei, deshalb rief ich meinen Vorgesetzten auf dem Handy an und störte ihn am Ende seines Wochenendes, um ihm die Information zu geben, die ich Minuten vorher selbst erhalten hatte; ich verschluckte die wichtigsten Worte, doch am Ende schaffte ich es, die Botschaft zu übermitteln, und legte so schnell wie möglich auf. Sam begleitete mich zu Fuß zur U-Bahn-Station, und wir verabschiedeten uns unbeholfen voneinander. Ich hatte für die Dinnerparty Schuhe mit hohen Absätzen angezogen, und da ich keine anderen bei mir hatte, schlitterte ich die Treppen zum Bahnsteig in Stockwell hinunter.

Die verfremdende Taubheit, die mit der Trauer einhergeht und die die Hinterbliebenen distanziert, benommen, ja sogar unhöflich erscheinen lässt, war noch Tage entfernt. Diese klischeehaften Stadien, von denen wir alle schon mal gehört haben – Leugnung, Zorn, das Hadern mit dem Schicksal, Depression –, erfüllen alle einen Zweck. Sie schützen uns; sie hüllen uns ein und entfernen uns von der Realität. Ihre Heftigkeit bietet einen Puffer gegen die neue Welt, in der wir gelandet sind. Doch sie setzen erst ein, wenn der Schock abgeklungen ist. Davor, ohne diese Decken und Kissen, die einen ummanteln, wenn echte Trauer einsetzt, steht man nackt vor der Welt da. Nein, mehr als nur das, man ist wie ein rohes Stück Fleisch. Eine Masse aus Knochen und pulsierenden Muskeln und ohne den Schutz der Haut.

Während ich London durchquerte, gab es nichts, was mich vor einer Welt schützte, die nicht todunglücklich war. Die U-Bahn-Station King’s Cross fiel mich regelrecht an. Die lärmende Geschäftigkeit und die Alltäglichkeit der Leute, die ihren Angelegenheiten nachgingen, fühlten sich wie ein persönlicher Angriff an.

Mechanisch traf ich meine Reisevorbereitungen, so wie Hunderte Male davor. Keiner der einzelnen Handgriffe deutete darauf hin, dass diese Reise anders war als frühere. Einen Moment lang reagierte ich gereizt auf die Kosten für das Ticket von London nach Newcastle für den selben Tag, bevor ich mich mit einem Entsetzen zusammenriss, das beinahe an Hysterie grenzte. Ich konnte nicht fassen, dass die Leute um mich herum meinen Kummer nicht spürten, nicht wahrnahmen, wie ich ihn verströmte, mich nicht als leidgeprüft, als anders identifizierten.

Der Zug nach Newcastle war überfüllt, wie meistens sonntagabends – Leute fuhren zu ihren Jobs oder ihren Familien, kehrten von Ausflügen und Besuchen zurück. Ich saß eingezwängt auf einem Fensterplatz. Unfähig, mit meinem Dad oder meiner Schwester Madeleine zu sprechen, schrieb ich eine Nachricht an Maddys Freund; kurz darauf sah ich auf mein Handy und stellte fest, dass der Akku leer war. Ich saß mit einem toten Handy in der Bahn und hatte nichts, was mich von meiner toten Mutter hätte ablenken können. Meine Mum ist tot, meine Mum ist tot, meine Mum ist tot. Mein Kopf wiederholte den Satz im ratternden Rhythmus des Zuges.

Irgendwann im Laufe der Bahnfahrt fragte mich der Mann, der neben mir saß, ob alles in Ordnung sei, und da merkte ich, dass ich weinte. Wir können darüber reden, wenn Sie möchten, bot er an. Ich dachte kurz darüber nach: Wenn ich das künftig erzähle, Jahre später, mache ich eine lustige Geschichte daraus. »Stellt euch vor«, sage ich dann, »wenn ich mich an diesen wohlmeinenden Mann gewandt und ihm mein Herz ausgeschüttet hätte …!« Meine Mum ist tot, meine Mum ist tot, meine Mum ist tot! Aber natürlich hätte mir das keine Erleichterung verschafft. Es hätte den Gedanken Form und Gestalt verliehen. Ich konnte diese Worte nicht wiederholen, jetzt noch nicht.

Dass meine Mutter stirbt, war immer meine größte Angst gewesen. Ich meine das nicht in einem abstrakten Sinne. Ich dachte viel über meine größten Ängste nach – was vielleicht etwas über meine allgemeine Veranlagung verrät –, und diese Angst stand ganz oben auf meiner Liste. Ich war schon immer ängstlich, ein Charakterzug, den ich – und das entbehrt nicht einer gewissen Ironie – von meiner Mutter geerbt habe, auch wenn es bei ihr schlimmer gewesen war, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt. Meine Mutter war gefangen von ihrer Angst vor dem Tod. Ihr Vater war an Krebs gestorben, als sie dreizehn gewesen war. Sie liebte Hunde, aber wir durften nie einen haben. Auch kein anderes Haustier übrigens, denn sie wusste, wenn wir einem Hund unsere Liebe geschenkt hätten, würde er uns irgendwann wegsterben, und wir wären sehr traurig gewesen. Sie liebte auch Pferde. Sie wuchs mit dem Reitsport auf und ging jeden Tag in den Stall, bis ihre beste Freundin im Alter von sechzehn Jahren starb, nachdem sie von einem Pferd abgeworfen worden war, und das war es dann: Keine Pferde mehr. Mum hatte dauernd entsetzliche Angst um uns, ihre Töchter. Alle Eltern machen sich natürlich Sorgen, aber ich schwöre, dass es bei meiner Mutter schlimmer war. Keine Tätigkeit – von Kreuzstich bis Tennis – war aus ihrer Sicht ungefährlich. Panik brodelte unter der Oberfläche.

Nun, ich bin die Tochter meiner Mutter. Ich habe ihr glattes, dunkles Haar, ihre Stimme und ihr Lachen, ihren Wettbewerbsgeist geerbt, aber es ist ihre Angst, die schon immer alle anderen Eigenschaften wie ein Leuchtfeuer überstrahlte. So fühlte es sich an, jedes Mal, wenn etwas beinahe Schlimmes oder potenziell Schlimmes oder einfach etwas Neues passierte: Es war, als hätte irgendjemand ein Leuchtfeuer in mir entzündet, das durch meinen Körper hinauf bis zum Kopf schoss und ihn mit gleißendem Licht ausfüllte – und mit einem alles überwältigenden Gedanken: Etwas Schreckliches war passiert. Jemand, den ich liebte, war tot.

Dieses Gefühl war vor allem mit Anrufen verbunden. Mum hinterließ mir nie Nachrichten auf der Mailbox, weil sie dieses Gefühl kannte und genauso empfand. Natürlich hatte sie auch eine Technikphobie und trug einen alten Backstein von einem Handy in ihrer Handtasche mit sich herum, schaltete es aber nie ein; sie hatte nicht mal eine E-Mail-Adresse. Ich habe nie auch nur eine einzige Textnachricht von ihr erhalten. Doch selbst wenn sie Bill Gates oder Mark Zuckerberg gewesen wäre, hätte sie mir trotzdem nie und nimmer eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Weil sie wie ich war, nur neunundzwanzig Jahre älter. Weil sie Bescheid wusste.

Gewissermaßen hätte ich meinen Dad gar nicht zurückzurufen brauchen. Ich hörte seine Nachricht ab, hörte, wie seine Stimme brach, als er mir sagte, ich solle ihn zurückrufen, und ich wusste es. Mein ganzes Leben lang hatte ich damit gerechnet, dass genau das passierte. Jetzt saß ich hier und war erschüttert, weil die Prophezeiung in Erfüllung gegangen war.

Sam rief mich an jenem ersten Abend in meinem Elternhaus an. Ich tappte aus meinem alten Kinderzimmer nach unten, bekleidet mit dem T-Shirt, das ich am Tag vorher schon getragen hatte. Ich setzte mich aufs Sofa, zog die Füße unter mich und gab ihm einen Freifahrtschein. »Das ist nicht, worauf du dich eingelassen hast«, sagte ich zu ihm. »Du hast die Erlaubnis auszusteigen, ohne als ›bad guy‹ dazustehen.«

»Ich weiß«, sagte er. »Aber das will ich nicht.« Noch lange, nachdem wir uns verabschiedet hatten, starrte ich auf mein Handy. Ich glaubte ihm nicht.

Ich war in diesem seltsamen Hinterland des Erwachsenendaseins. Ich war fünfundzwanzig; also in jeder Hinsicht erwachsen. Ich lebte 442 Kilometer von meinen Eltern entfernt, ich zahlte Miete, ich verdiente Geld, ich vertrat vor Gericht andere Erwachsene (und Kinder!) und stritt für ihre Freiheit. Ich hatte eine Katze! Aber ich war immer noch ein Kind. Und anders als meine Schwester hatte ich keinen richtigen Partner, niemanden, auf den ich mich stützen, auf den ich mich verlassen konnte. Nur diesen Kerl, mit dem ich online geflirtet und ein paarmal zu Abend gegessen hatte.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich meine Mum zum letzten Mal gesehen hatte. Es musste wohl Weihnachten gewesen sein. Hatte sie damals schon angefangen zu sterben? Ließ ihr Körper sie damals schon im Stich? Wusste sie, dass etwas ganz und gar nicht stimmte? Ich weiß es nicht sicher, aber ich glaube, die Antwort auf all diese Fragen wäre ja. Genau wie sie vor der modernen Technik zurückschreckte, mied sie auch Ärzte, aber ich vermute, dass sie wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Natürlich spielt das eigentlich keine Rolle. Es ändert nichts am Resultat. Aber irgendwie spielt es doch eine Rolle. Es spielt eine Rolle. Für mich spielt es eine Rolle. Als wir klein waren, hatten wir ein Lieblingsbuch, es hieß Ich will meine Mami! und war von Martin Waddell. Es ging darin um drei kleine Eulen, die eines Nachts aufwachen, und ihre Mutter ist verschwunden. Sarah und Percy, die älteren Eulchen, bleiben recht gelassen. Sie versuchen herauszufinden, wo ihre Mutter sein könnte. Vielleicht ist sie jagen gegangen! Um Futter zu besorgen! Doch Bill, der Jüngste, ist untröstlich. »Ich will meine Mami«, sagt er. Wir haben diese Zeile bestimmt tausendmal zusammen gelesen. Es war so einfach, so unmöglich, sich das vorzustellen.

Natürlich kehrt die Mutter in Ich will meine Mami! wieder zurück: »Was soll die ganze Aufregung?«, fragt sie.

*

Sam bekam nie die Gelegenheit, den Shepherd’s Pie meiner Mutter zu essen. Lange Zeit aß ich ihn auch nicht mehr. Der Tod verwandelt die banalsten Erinnerungen in schmerzhafte, in Trauer verstrickte – selbst wenn man nur Kartoffelpüree isst. Man muss hart dafür arbeiten, um die Heftigkeit dieser Erinnerungen zu mildern, ihnen wieder zu erlauben, dass sie Trost spenden, wie sie es früher getan hatten. Dies ist eine meiner liebsten Erinnerungen an meine Mutter: Mum, die in ihrer Küche steht und sorgfältig und systematisch Gemüse in Würfel schneidet, der Duft von Lauch, der schonend in Butter angebraten wird, und das schmatzende Geräusch der obligatorischen Dose Baked Beans, die irgendwann ins Spiel kommt. Ich verwende dafür Henderson’s Relish, eine vegane Version von Worcestershiresauce und in Yorkshire eine Institution. Aber Worcestershiresauce tut es auch, wenn man das Zeug aus dem Norden nicht auftreiben kann. Meine Mutter behauptete immer, ihr Shepherd’s Pie hätte Zauberkräfte. Wie sich zeigt, hatte sie recht.

Shepherd’s Pie

Menge: Für 4 Personen (aber ich bereite diese Menge für 2 Personen zu und bewahre die Reste auf: Aufgewärmt und mit brauner Soße schmeckt es am nächsten Tag noch besser)

Zubereitungsdauer: 25 Minuten

Backzeit: 1½ Stunden, einschließlich der unbeaufsichtigten Zeit auf dem Herd

Zutaten:

Für die Füllung

2 EL Olivenöl

400 g Lammhackfleisch

2 mittelgroße Karotten, gewürfelt

2 Stangen Sellerie, gewürfelt

2 kleine Zwiebeln, gewürfelt

1 Dose Baked Beans (400 g)

2 EL Tomatenmark

½ EL Henderson’s Relish / Worcestershiresauce

200 ml Lammbrühe

Salz und Pfeffer

Für die obere Schicht

1 kg Kartoffeln, geschält und in 5 cm große Würfel geschnitten

50 g Butter

50 g reifer Cheddar, gerieben

1 Stange Lauch, in feine Streifen geschnitten

Das Hackfleisch in einer großen Schmorpfanne und in 1 Esslöffel Olivenöl bei starker Hitze anbraten, bis es braun ist. Aus der Pfanne nehmen und beiseitestellen, die Flüssigkeit, die ausgetreten ist, wegschütten.Einen weiteren Esslöffel Öl in die Pfanne geben und das gewürfelte Gemüse bei niedriger Hitze schonend darin anbraten, bis es weich, aber nicht braun ist.Das Hackfleisch zurück in die Pfanne geben und die Baked Beans, das Tomatenmark, Henderson’s Relish / Worcestershiresauce, die Lammbrühe sowie großzügig Salz und Pfeffer hinzufügen. Zum Kochen bringen, bei sehr niedriger Hitze abgedeckt eine Stunde köcheln lassen. Danach die Konsistenz prüfen: Wenn sie noch ziemlich flüssig ist, den Deckel abnehmen, die Hitze ein wenig erhöhen und weitere 20 Minuten kochen, bis sie dick und auflaufähnlich ist.Die Kartoffeln ca. 15 Minuten gar kochen. Abgießen und 5 Minuten ausdampfen lassen. Die Kartoffeln zerstampfen oder durch eine Kartoffelpresse drücken, bis eine glatte Masse entsteht; die Butter unterziehen.Den Backofen auf 200° C Umluft / 220° C Ober- und Unterhitze / Gas Stufe 7 einschalten. Zwei Drittel des Käses und den kompletten Lauch unter das Kartoffelpüree mischen und die Mischung damit bedecken. Mit dem Löffelrücken glattstreichen, dann einen Gabelrücken in konzentrischen Kreisen darüberziehen. Den verbliebenen Käse darüberstreuen. 25 Minuten backen, bis die obere Schicht goldgelb ist und an den Rändern knusprig wird.

2

Sam und ich haben uns über Twitter kennengelernt. Wir waren zusammen im selben Unijahrgang, doch obwohl wir Dutzende gemeinsamer Freunde hatten, gab es lange Zeit keine Berührungspunkte in unseren Leben. 2009 unterhielten wir uns zum ersten Mal auf Twitter. Dann trafen wir uns 2011 zu einem »Tweetup«, wie es damals so spaßig hieß, bei Wetherspoon’s, einem gemütlichen Pub. Er stand mit mir draußen, während ich eine Zigarette rauchte; wir tauschten die Namen von Freunden und Bekannten aus und staunten darüber, wie wir es bisher geschafft hatten, uns noch nie über den Weg zu laufen. Aber das war es dann auch schon. Ich hatte einen Freund, er hatte eine Freundin. Ich begegnete ihm erst sehr viel später wieder, nachdem wir beide im Abstand weniger Wochen von unseren Partnern kurzerhand sitzen gelassen worden waren.

Für unser erstes Date – bevor all das hier passierte – lud er mich zum Abendessen zu sich ein. Es war kurz vor Weihnachten. Wir hatten bereits vereinbart, dass wir Silvester zusammen verbringen würden, und hatten uns schon fadenscheinige Gründe zurechtgelegt, weshalb wir auf Partys verzichten und lieber mit einem praktisch Fremden abhängen wollten. Aber wir hatten beide beschlossen, dass wir uns vorher noch einmal so treffen wollten – denn wer hat schon sein erstes Date (wenn es überhaupt eins war) an Silvester? Wir hatten uns sehr kurzfristig verabredet, und zum ersten Mal genoss ich meinen Arbeitstag im Milton Keynes Magistrates’ Court, der durch die Aussicht auf Romantik und Spannung versüßt wurde. An all das dachte ich, obwohl Sam mir – per Twitter natürlich – geschrieben hatte, dass er höllisch erkältet war. Als mein Zug im Bahnhof Euston einfuhr, hatte ich noch Zeit totzuschlagen und deckte mich mit Schmerzmitteln, Taschentüchern und Klementinen ein, die ich ihm mitbringen wollte. Das hielt ich für charmant.

Er sah tatsächlich aus wie die fleischgewordene Erkältung, als er mir die Tür öffnete, und ich fragte mich, ob wir nicht vielleicht einfach noch ein paar Wochen hätten warten und dieses erste Date dann doch für Silvester hätten vereinbaren sollen. Aber nun waren wir hier, deshalb konnte ich ebenso gut das Beste daraus machen, fand ich. »Wie wäre es mit einem Käsetoast?«, fragte er. »Gerne«, erwiderte ich, »was immer dir keine Umstände bereitet.« Dabei dachte ich: Ja, selbst ich würde einen Käsetoast zustande kriegen. Durch einen Nebel aus verstopfter Nase und blockierten Nebenhöhlen machte er sich in der Küche zu schaffen, schnitt das Ende eines selbstgebackenen Brotes in Scheiben und schnippelte Kräuter, die er auf der Fensterbank zog. Er schmolz Butter in einer Pfanne und streute Mehl darüber, bis es brutzelte. Dann schüttete er Milch in die Pfanne, bis eine dicke, samtige Soße entstanden war. Er rieb würzigen Käse in die Mischung, gab Senf und Worcestershiresauce dazu und legte dicke Scheiben Brot in den Grillofen. Danach löffelte er die Käsesoße auf die Brotscheiben, bevor er sie wieder zurück in den Ofen schob. Dort blieben sie, bis der Käse Blasen schlug. Ich heftete mich an seine Fersen und versuchte, mir interessante Dinge einfallen zu lassen, die ich erzählen konnte, doch eigentlich quatschte ich nur von meinem Job. Ich war frischgebackene Anwältin, und der Job verzehrte mich. Ich beobachtete, wie er in der Küche hantierte, und dachte: Ich bin gerade so was von langweilig, was tue ich da eigentlich? Der blubbernde Toast kam aus dem Ofen, gelb wie Schlüsselblumen und braun wie Mahagoni. Ganz anders als alle anderen Käsetoasts, die ich je gegessen hatte. Er hatte das Ganze ohne Rezept, ohne Hektik und ohne sich die Haare zu raufen zustande gebracht. Wir aßen an seinem kleinen Esstisch, dann setzten wir uns aufs Sofa und plauderten (beide) und schnieften (er). Er bestand darauf, mich zur U-Bahn zu begleiten. Vor der Station Stockwell küsste er mich, und ich ließ ihn trotz seiner Erkältung gewähren. »Ich würde dich gern wiedersehen«, sagte er. »Nun, das wirst du auch!«, sagte ich. »An Silvester!« Aber was ich dachte, war: Ich auch. Ich saß in der Victoria Line und lächelte die ganze Strecke bis Finsbury Park. Denn ich war fünfundzwanzig – die Aussicht auf Romantik ließ mich ganz hibbelig werden, und, nun ja, meine Mutter war noch am Leben.

*

Die ersten Tage der Trauer ziehen sich in die Länge wie Toffee. Es ist zu früh, um damit zu beginnen, die Besitztümer durchzuschauen. Momente fieberhafter Aktivität und hektischer Entscheidungen wechseln sich ab mit endlos langen Phasen, in denen man Tee trinkt und sinnlos herumsitzt. Es gibt keinen Plan. Alle verweilen in Schockstarre, einer Art Schwebezustand, in dem man nicht so recht weiß, was man mit sich anfangen soll. Wie am zweiten Weihnachtsfeiertag, nur dass der zweite Weihnachtsfeiertag nicht schrecklich ist.

Keiner in meinem Umfeld konnte schlafen. Ich hingegen war praktisch narkoleptisch. Ich schlief. Ich schlief und schlief und schlief. Ich brauchte mich nur einen Augenblick hinzusetzen, und schon klappten mir die Augen zu. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen deswegen. Ich war traurig, weil meine Mum gestorben war, oder? Wie kam es dann, dass ich schlief wie ein Baby? Ich schlief auf Sofas und in Sesseln ein, ich machte nachmittags ein Nickerchen und ging abends früh schlafen. Ich sehnte mich danach, dass der Tag zu Ende ging und ich in das Bett meiner Kindheit sinken und alles vergessen konnte.

Maddy und Dad schienen sich in ihrer Art zu trauern sehr ähnlich zu sein: Sie konnten nicht schlafen, sie waren still und nachdenklich, während ich vollkommen ausgeruht war und mir während meiner Wachzeiten geradezu manisch vorkam. Ich klammerte mich an Aufgaben, To-do-Listen, blinden Aktivismus.

Andererseits konnte ich nichts essen. Oder wollte vielmehr nichts. Zum Frühstück schlangen mein Vater und meine Schwester mit dunklen Ringen unter den Augen Bacon-Sandwiches in sich hinein, die Tanten und Onkels vorbereitet hatten, während ich nur dasaß und ihnen zusah. Beim Gedanken an Essen drehte sich mir der Magen um. Essen an sich fühlte sich schon wie eine so erfreuliche Tätigkeit an, vor allem zu Hause, am Tisch meiner Mutter, dass es mir wie eine Art Verrat vorkam, es in ihrer Abwesenheit zu tun, an so etwas überhaupt Gefallen zu finden.

Dad ist Nachlassverwalter, was bedeutet, dass der Tod schon solange ich denken kann Teil unseres Lebens ist. In meiner Kindheit schlug er jeden Abend die Lokalzeitung auf und blätterte geradewegs zu den Todesanzeigen weiter, um zu sehen, ob einer seiner Klienten gestorben war. Fast jede Woche war er auf einer Beerdigung. Und auch auf persönlicherer Ebene waren Tod und Verlust nichts Neues für uns. Als meine Mutter starb, hatte ich in unterschiedlichen Lebensphasen schon alle meine Großeltern durch diverse Krankheiten verloren. Außerdem war ich versierter in Emergency Room und Grey’s Anatomy als in irgendwelchen Texten, die ich für meinen Abschluss kennen musste.

Von daher war ich mit dem Tod bereits vertraut, egal ob er in der Nähe oder weit weg zuschlug, plötzlich oder allmählich eintrat. Aber das hier war anders. Ganz anders. Man könnte glauben – ich tat das zumindest früher –, dass der Prozess und das Gefühl des Trauerns sich auf verschiedenen emotionalen Stufen abspielt und dass es einfach mehr schmerzt, wenn man einen nahen Angehörigen verliert, es jemanden vielleicht ganz plötzlich oder allzu früh aus dem Leben reißt. Aber das hier war nicht nur eine tiefere, dunklere Trauer. Es war, als würde ich ausgehöhlt und auf einmal bis oben hin mit Verlust angefüllt. Das Gefühl des Verlusts durchströmte mich bis zu den Fingerspitzen, bis zu den Haarwurzeln.

Trotz unserer Vertrautheit mit dem allgemeinen Konzept des Todes war meine Familie nicht für das Trauern gemacht. Vielleicht waren wir zu vertraut mit dem Tod; unsicher, wie wir reagieren sollten, wenn Galgenhumor nicht mehr zog. Wir begegneten den meisten Herausforderungen des Lebens mit Witz und Humor. Sowohl Maddy als auch ich würden eher sterben, als irgendetwas mit Ernst zu begegnen – und, na ja, wir hatten bereits genug Tod erlebt. Daher machten wir Witze. Wir scherzten unablässig darüber, was Mum wohl gewollt hätte – zum Beispiel hätte sie uns ausgeschimpft, wenn wir um sie weinten. Eigentlich war das aber nur halb im Spaß. Mum hatte sehr entschiedene Ansichten über Anstand, wenn es um den Tod (oder Hochzeiten und Partys, Schriftverkehr und alle möglichen anderen gesellschaftlichen Interaktionen) ging. Rückblickend waren diese Ansichten bestenfalls abseitig. Wenn es nach ihr ging, war es ein Zeichen mangelnder Weltgewandtheit, wenn man auf Beerdigungen weinte, ungefähr so, wie wenn einem die Sandwiches oder das Bier ausgingen.

Trauer, oder zumindest das Ausdrücken von Trauer in der Öffentlichkeit, kann gesellschaftlich ausgesprochen blamabel sein. Dieses Gefühl kennen nicht nur meine verrückte Mutter oder ich: Es ist ein Phänomen, das viele Menschen, die es mit einem kürzlich erlebten Verlust zu tun haben, empfinden. Die Wissenschaftlerin und Literaturkritikerin Sandra Gilbert beschreibt die Erfahrung, ihre Trauer nach außen hin sichtbar gemacht zu haben, als »anhaltende, kaum bewusste Empfindung […], ein seltsam gedämpftes Gefühl der Falschheit«, während C. S. Lewis noch einige Schritte weitergeht und Kolonien für Trauernde vorschlägt: »[…] ein seltsames Nebenprodukt meines Verlustes besteht darin, dass ich mir bewusst bin, eine Peinlichkeit für alle zu sein, denen ich begegne […] Vielleicht sollten die Hinterbliebenen wie Leprakranke in speziellen Siedlungen isoliert werden.«

Ich machte Witze über Mums feste Überzeugungen, aber ich nahm sie mir auch zu Herzen und ging mit Mums Tod, so einzigartig er auch war, genauso um wie mit dem Tod meiner Großeltern: Ich machte weiter. Frei nach dem Motto: Was auch immer geschieht, ich bin die Tochter meiner Mutter. Ich machte weiter, als könnte mein Leben immer noch so funktionieren wie bisher, wenn ich mich nur genug auf alles, was es in meinem Alltag zu bewältigen galt, konzentrierte, ganz so, als wäre Mums Tod belanglos. Das Mindeste, was wir tun konnten, wenn wir um sie trauerten, war, so zu trauern, wie sie es sich gewünscht hätte. Ich traf meine Entscheidung hier und jetzt: Was immer passierte, ich würde die Lage schlicht und ergreifend meistern.

Ich ertrank in Schriftkram. Niemand sagt einem, wie viel Verwaltung der Tod mit sich bringt. Inmitten von Schock und Verwirrung ist die schiere Menge an Papierkram und Logistik überwältigend. Mum war gerade mal zwei Tage tot, und schon mussten wir über so viele Details entscheiden: über Särge, Orte, Reden, Blumen, Almosen, Zeitungsanzeigen. Damit einher gingen so viele Gelegenheiten, diese Entscheidungen im Nachhinein anzuzweifeln.

Ich weiß nicht mehr, wer entschied, dass wir den Trauergottesdienst in der Dorfkirche abhalten würden, aber zu irgendeinem Zeitpunkt war die Entscheidung ohne vorherige Debatte gefallen. Ich saß im Wohnzimmer, dem Zimmer, das nur für Gäste, an Weihnachten, zum Klavierüben und – wie sich jetzt herausstellte – für den Tod benutzt wurde, ich starrte die Hussen an und dachte: Das ist nicht, was Mummy gewollt hätte. Aber du lieber Gott, was hätte sie denn gewollt? Mir wurde klar, dass ich viel besser wusste, was ihr nicht gefallen als was ihr gefallen hatte, als wäre sie eine Waldlichtung oder eine Höhle, die vom Negativ definiert wird, von dem, was gar nicht da ist. Ich wusste, dass meine Mutter in ihrem Schreibtisch eine Liste von Kirchenliedern für ihre Beerdigung aufbewahrte, aber ich konnte sie nicht finden. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Predigt ihr zugesagt oder was für ein Gottesdienst ihr gefallen hätte. Ich hatte von gar nichts eine Ahnung. Mein Kopf war leer, und dieses Gewicht erdrückte mich. In Bezug auf das, worauf es wirklich ankam, was als Einziges noch zu tun war, ließ ich sie im Stich.

In Tatsächlich … Liebe gibt es eine Szene, in der Daniel, gespielt von Liam Neeson, eine Trauerrede für seine Frau hält, die an Krebs gestorben ist. Sie will, dass »Bye Bye Baby« von den Bay City Rollers gespielt wird, wenn der Sarg hinausgetragen wird. Daniel sagt zur Trauergemeinde: »Als sie zum ersten Mal erwähnte, was passieren würde, sagte ich ›Nur über meine Leiche‹. Und sie sagte: ›Nein, Daniel, über meine …‹.« Dann sind die charakteristischen ersten Töne des Songs zu hören. Aber wenn diese Person unerwartet und vor ihrer Zeit – was auch immer das heißt – stirbt, wie kann man das dann wissen? Wenn der schlimmste Fall eintritt, wer weiß dann, was die Eltern mittleren Alters, Brüder, Schwestern oder Kinder gewollt hätten? Der Bestatter fragte, ob wir vorne ein großes Bild von Mum aufstellen oder ein Foto im Programmheft wollten. Erleichterung überkam mich, weil ich die richtige Antwort sofort wusste: »Gott, nein«, sagte ich.

Und dann war da natürlich noch das Essen. Wir hatten eine Besprechung. Nein, mehr als nur das – wir hatten eine Verkostung. Dad, Maddy und ich saßen an einem Tisch voller Kostproben, die Teil des Leichenschmausbüfetts werden könnten, so wie man es vor einer Hochzeit macht, nur viel trostloser.

Leichenschmaus-Kuchen. Leichenschmaus-Pasteten. Leichenschmaus-Sandwiches. Jede Entscheidung fühlte sich äußerst wichtig an. Wie viele Schweinefleischpasteten sollte es geben? Ein Hauch von Panik breitete sich am Tisch aus, als jemand andeutete, wir würden den Schweinefleischpastetenkonsum von Trauernden womöglich unterschätzen. Ja, wir wollten unbedingt Thunfischsandwiches als Fingerfood; sie liebte Thunfischsandwiches. Dazu wurden Meeresfrüchte in kleinen Schälchen serviert, und wir diskutierten ernsthaft darüber, ob Mum das bei ihrer Beerdigung gewollt hätte. Sie war allergisch gegen Schalentiere gewesen. Im Zusammenhang mit diesen Muscheltöpfchen war sie natürlich buchstäblich der am wenigsten ausschlaggebende Mensch. Es gab so vieles, worum wir uns kümmern mussten, was uns Kopfzerbrechen bereitete: Warum sollten wir uns Gedanken darüber machen, was sie auf ihrem eigenen Leichenschmaus hätte essen oder nicht essen können?

Mums Zustimmung war mir immer wichtiger gewesen als alles andere, daher ergab es auf verdrehte, kummervolle Weise einen Sinn, dass ich sie hier, in dieser letzten Runde, beeindrucken wollte. Alles, was ich getan hatte, war erfolgsorientiert gewesen. Leistungsorientiert. Das war vor allem das Werk meiner Mutter. Also nahm ich das Thema Trauer ähnlich in Angriff. Das war etwas, worin ich brillieren konnte. Ich behandelte jeden Aspekt der Bestattungsplanung als administrative Aufgabe, die auf einer langen To-do-Liste mit der Überschrift »Mum verabschieden« abgehakt werden konnte. Ich musste unbedingt eine gute Bestattungsgastgeberin werden.

Unversehens bot ich mich an, die Trauerrede zu halten. Das war etwas, was meine Mum wirklich gewollt hätte. Oder? Sicher wusste ich das nicht; genau wie bei allem anderen hatte ich ehrlich keine Ahnung. Doch ich klammerte mich an die Vorstellung, dass dies eine letzte Möglichkeit war, sie stolz auf mich zu machen. Als Kinder hatten Maddy und ich an Schauspiel- und Rhetorikwettbewerben teilgenommen, als würde unser Leben davon abhängen. Jede von uns wurde von Mum im Wohnzimmer in Bezug auf jede Pause und jede Betonung gecoacht. »Okay, dieses Mal war es besser«, sagte sie nach dem vierzehnten Vortrag, »aber achte beim nächsten Mal auf das Komma am Ende von Zeile fünf.« Dieses Mal stand ich allein im Wohnzimmer.

*

Am nächsten Tag fingen wir mit den Anrufen an. Es waren Dutzende. Dad und ich hatten das Adressbuch zwischen uns aufgeteilt und machten uns an die Arbeit. Ich klinge wie meine Mutter, vor allem am Telefon. »Hallo!«, sagte ich mit so viel Fröhlichkeit, wie ich nur aufbringen konnte, wenn einer von Mums Freunden oder Kollegen dranging.

»Ruth!«, riefen sie dann. »Wie schön, dass du dich meldest!« Oft redeten sie dann sofort weiter, bevor ich einhaken und erklären konnte, dass ich es war, mit der sie sprachen. Ich erledigte Anruf um Anruf und entschuldigte mich immer und immer wieder. »Tut mir leid, ich bin nicht Ruth. Ich fürchte, ich habe in Bezug auf sie schlechte Nachrichten. Es tut mir so leid.« Ich entschuldigte mich noch einmal, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, die schreckliche Nachricht, die ich zu überbringen hatte, zu verharmlosen, sie in Watte zu packen. »Meine Mutter ist tot.« Um das Maß vollzumachen, fügte ich dann noch ein »Es tut mir leid« hinzu.

An diesem Abend telefonierte ich eine halbe Stunde lang mit einem Freund aus der Kanzlei, der am nächsten Tag einen meiner Fälle übernehmen würde. Er hatte angerufen, um sich die Fakten zu dem Fall geben zu lassen. Es ist nicht ungewöhnlich, kurzfristig den Fall eines Kanzleikollegen zu übernehmen; auf diese Weise halten wir das Strafgericht mit seinen Myriaden an Verbindlichkeiten und seinem wechselhaften Wesen am Laufen. Häufig ruft man dann denjenigen an, der bis dahin für den Fall zuständig war, um sich zu vergewissern, dass man alles hat, was man braucht, und dass man alles weiß, was man wissen sollte, da es vielleicht in den Unterlagen nicht auftaucht – ein besonders kapriziöser Klient, ein schwieriger gegnerischer Anwalt, ein launischer Richter. Meinem Freund hatte man gesagt, dass er den Fall übernehmen solle, aber nicht, warum. Deshalb verbrachten wir eine seltsame halbe Stunde am Telefon, in der ich zusammenkratzte, was mein erschöpftes Gehirn und meine durcheinandergewürfelten Erinnerungen hergaben, in der Annahme, dass wir meine unglücklichen Umstände umschiffen würden. Ich erwähnte, dass ich oben in Newcastle war, was ihn zu der Frage veranlasste, ob ich Urlaub machte. »Eigentlich ist meine Mum gestorben«, sagte ich und zuckte zusammen, als die Worte mir fast ohne mein Zutun über die Lippen kamen. Der arme Kerl. »Oh, mein Gott. Das haben die Sekretärinnen gar nicht erwähnt. Warum haben die mir nichts davon gesagt?«, stammelte er. »Es tut mir so leid«, erwiderte ich. »Es tut mir leid.«

Wir schalteten eine Todesanzeige für Mum in der Zeitung. Sie war korrekt und gleichzeitig vollkommen falsch:

POTTS, Ruth Anne (geborene Littlehales) ist am Sonntag, den 10. Februar nach langer Krankheit im Alter von 54 Jahren in ihrem Zuhause plötzlich und unerwartet von uns gegangen.

Das war genau das, was passiert war – aber so vieles blieb ungesagt. Es stand weder darin, dass sie seit mehreren Jahren krank gewesen war, noch dass es eben nicht diese Krankheit gewesen war, die sie umgebracht hatte – oder zumindest kein vorhersehbarer, erwarteter Teil davon. »Plötzlich und unerwartet« schien den lähmenden, atemberaubenden, uns in allen Grundfesten erschütternden Schock über all das nur unzureichend wiederzugeben. Die Anzeige sagte nichts darüber aus, dass es gleichzeitig so falsch war, so falsch; dass dies niemals hätte passieren dürfen. Dass es so wahnsinnig ungerecht war. Dass, wenn sie schon so lange unter ihrer schlechten Gesundheit gelitten hatte, sie und wir wenigstens die Gelegenheit hätten bekommen sollen, uns zu verabschieden, dass wir hätten erfahren sollen, dass es zu Ende ging. Dass sie zwar zu Hause gestorben war, aber dass sie dabei alleine gewesen war. Weil wir nichts davon gewusst hatten. Weil sie es höchstens ganz tief drin geahnt hatte.

Über alles geliebt. Mit diesen Worten wurde sie im Rest der Anzeige beschrieben. »Über alles geliebte Mutter von Olivia und Madeleine.« Diese Worte beschwören eine körperliche Reaktion in mir herauf, wenn ich sie lese. Es klingt aufgesetzt, kitschig, aber es war die einzige Beschreibung, die auch nur annähernd einfing, wie erfüllt Maddy und ich uns von ihrer Liebe zu uns und von unserer Liebe zu ihr gefühlt hatten, wie mich diese Liebe aufgeblasen hatte wie ein Ballon und wie jetzt, ohne meine Mum, nichts mehr einen Sinn für mich ergab.

Ich hörte, wie Dad am Telefon mit jemandem sprach, der kondolierte. »Ja, Livvy und Maddy sind tapfer. Eigentlich zu tapfer.« Ich war wütend und zugleich auf perverse Art erfreut. Es fühlte sich an, als würde etwas warm in mir anschwellen. Ich war stolz. Jeder andere würde zusammenbrechen, nicht wahr? Ich hielt mich wackerer als alle anderen, wackerer, als man von irgendjemandem erwarten konnte. Ich hielt mich an mein Versprechen, die perfekte hinterbliebene Tochter abzugeben. Ich würde die beste Trauernde aller Zeiten sein. Man würde mir nicht einmal anmerken, dass ich trauerte! Ich wollte so hochfunktionstüchtig sein, dass niemand denken konnte, dass ich flatterhaft oder unzuverlässig oder – Gott bewahre! – instabil sein könnte. Und ganz bestimmt wollte ich nicht, dass es dramatisch wird. Ich neige zum Drama, aber jetzt war ohnehin schon alles dramatisch genug – vielen Dank auch. Und ich wollte auf keinen Fall, dass es bei alldem um mich ging. Daher musste ich das Gleichgewicht wiederherstellen. Deshalb lautete die Antwort, ruhig und lieb zu sein und die Situation zu meistern. Bloß kein Spektakel um mich selbst machen. Ich würde keine Schwäche zeigen. Trauer war Schwäche. Trauer war Scheitern. Mit dieser Einstellung sorgte ich natürlich dafür, dass es um nichts anderes ging als um mich selbst. Ich brauchte es, dass die Leute versuchten, mich zu bedauern, damit ich sie durch meine Contenance verblüffen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt war mein Job noch immer außerordentlich unsicher. Im Jahr zuvor hatte ich mein Jurastudium abgeschlossen, meine Zulassungsprüfung bestanden und mich einer Londoner Kanzleigemeinschaft für Strafrecht im Herzen von Temple angeschlossen. Anwälte sind selbstständig, schließen sich aber oft zu Gruppen zusammen, um sich Räumlichkeiten, Schreibkräfte und Büroressourcen zu teilen. Häufig verbinden sie entsprechend ähnliche Lebensvorstellungen und Werte. Junge Anwälte sind zu Beginn ihrer Tätigkeit noch Referendare: Diese verbringen die ersten sechs Monate damit, den älteren Anwälten – ihren zugewiesenen Ausbildern und Ausbilderinnen – über die Schulter zu schauen, um zu wissen, wie der Hase läuft, von ihnen zu lernen und kleinere Aufträge für sie zu übernehmen. Nach diesen sechs Monaten dürfen sie meist eigene Fälle übernehmen, bleiben aber in der fachlichen Betreuung ihres Ausbilders. Danach folgt im besten Fall die Aufnahme in die Kanzlei, wo sie oftmals die gesamte Karriere über bleiben. Das Procedere, dort aufgenommen zu werden, unterscheidet sich von Kanzlei zu Kanzlei, aber im Grunde muss die Kanzleigemeinschaft das neue Mitglied in aller Form »akzeptieren«. Wer nicht aufgenommen wird – was durchaus vorkommt –, muss in einer anderen Kanzlei anfangen. Während all dieser Zeit steht viel auf dem Spiel, weil es sich hier quasi um ein Vorstellungsgespräch handelt, das ein ganzes Jahr dauert. Hier wird jeder auf Herz und Nieren geprüft.

Die Entscheidung darüber, ob ich in meine Kanzlei aufgenommen werden würde, sollte in nur drei Wochen fallen. Mein Vorgesetzter war freundlich, aber bestimmt: Ich sollte erst wieder zur Arbeit erscheinen, wenn ich dazu auch wirklich bereit wäre. Aber ich war nervös. Ich war seit vier Tagen nicht mehr am Gericht gewesen, und am folgenden Morgen hatte ich einen wichtigen Fall. Die Verhandlung selbst war keine große Sache, aber ich war für einen der wenigen privat bezahlten Rechtsanwälte dort, von dem ich angeleitet wurde, und von Tag eins an war es mein Fall gewesen. Privat bezahlte Fälle sind in der Welt des Strafrechts dünn gesät, die meisten Fälle werden über die Prozesskostenhilfe finanziert, und wenn ich mich für diese eine, eher unwichtige Verhandlung vertreten ließe, würde dem Rechtsanwalt meiner Überzeugung nach nicht nur klar werden, dass ich nicht das war, wofür er mich gehalten hatte, sondern er würde mich auch nicht weiter anleiten und einen meiner kompetenteren, charismatischeren Kollegen vorziehen. Ich musste also für diesen Fall nach London zurückkehren.

...Ende der Leseprobe