Das Leben und Schlimmeres - Georg Ringsgwandl - E-Book

Das Leben und Schlimmeres E-Book

Georg Ringsgwandl

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Beschreibung

Wie wirkt sich ein Null-Energie-Haus auf das Liebesleben seiner Bewohner aus? Wenn ein herausoperierter Kropf radioaktiv verseucht ist – kann man den einfach so wegwerfen? Und inwiefern schafft Kleinkriminalität Arbeitsplätze? Georg Ringsgwandl spinnt aus Alltagserlebnissen und Beobachtungen in der bayerischen Provinz grotesk-komische Geschichten. Er erzählt von Ärger mit Ehefrau und Hunden, Nachbarn und Behörden; er leidet am Hochdeutschen und unter den Gebrechen des mittleren Alters; und er macht sich über bürgerliche Neurosen und alternative Heilmethoden lustig. Ein wunderbar schräges Buch, mit viel Dialogwitz und manchmal erfrischend derb. «So überzeugend grantelt sonst keiner.» Frankfurter Allgemeine Zeitung «Seine Kunst, entlarvende Details mit erbarmungsloser Freude zu beschreiben, ist so vital wie großartig.» Frankfurter Rundschau "Wer sich bei diesen 'hilfreichen Geschichten' über Modetorheiten, Neurosen und andere Peinlichkeiten nicht halb totlacht, dem ist tatsächlich nicht mehr zu helfen." Nürnberger Nachrichten "Keine Sekunde langweilig." Neue Zürcher Zeitung am Sonntag "Lakonisch und treffend." WDR 5

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Georg Ringsgwandl

Das Leben und Schlimmeres

Hilfreiche Geschichten

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Das Null-Energie-HausDas BonbonpapierbarometerKleinkriminalitätHomöopathische WurmkurNachhaltig schnäuzenDie klandestine HitfabrikNischenmarktUnendlich fernsehenHummelbrunnerovaLaufen, laufenSchuhe kaufenDänemarkDas FledermäuslhäuslBlitzziegen und SmaragdbaumnatternDermatologieUntersendlingRentnerschutzkleidungFlori und die trommelnde Hexe vom NaturkostladenDas Knie. Biomechanisches Drama in drei AktenNachhaltig musizierenMein Kampf-HundTiroler RundfunkDer verstrahlte KropfDas MüllstrafenregisterSchwarzhaarige EngländerDialektminderwertigkeitskomplexUnfruchtbarkeitssprechstundeDie BadewannenrandarmeeJede Menge GlutenTücken der AntimaterieFlughundeNussbericht Weinsberg Nr. 1, Aktualisierung der Fassung vom 17. 10. 07 zum 10. 10. 2010.
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Das Null-Energie-Haus

Jahrelang lebten wir auf einem Hügel im Alpenvorland, die Berge im Süden, ohne Angst vor Muren oder Lawinen, und das Grundwasser so tief unter uns, dass wir keine nassen Füße zu fürchten hatten. Zur Heuernte fuhr ein Bauer auf seinem Traktor über die Wiesen, im Herbst grasten Kühe um das Haus. So hätte es bleiben können. Dann kam die Belagerung. Ein Haus nach dem anderen wurde gebaut, inzwischen sind wir von Nachbarn umzingelt. Alle wollen hierher, dabei ist das Alpenvorland letzten Endes nichts anderes als eine Ansammlung von Schotterhaufen. Jahrtausendelang sind die Gletscher die Gebirgstäler hinuntergewandert und haben das Geröll vor sich hergeschoben. Im Flachland wurde es ihnen zu warm, das Eiswasser lief an den tieferen Stellen zusammen und heißt jetzt See, aber die Schotterhaufen sind liegen geblieben. Später ist Gras drüber gewachsen, und heute verlangen sie 700 Euro für den Quadratmeter.

Jetzt ist der letzte freie Fleck auch noch zugebaut worden. Ein Typ aus Hannover. Das Haus ist so eine moderne Holz-Glas-Konstruktion mit Pultdach. Eigentlich schaut es aus wie ein vergrößerter Fahrradschuppen, einfach grausig. Ich sag zu ihm, muss das sein? Vorher haben da jahrhundertelang die Pinzgauer gegrast, und jetzt stellst du deine Mistbude hin.

«Das ist keine Mistbude.»

Er meint, sein Haus sei besser für die Umwelt als die Pinzgauer. «Allein, was die Pinzgauer an Darmgas rauslassen, da brauchen meine Frau und ich uns nicht verstecken.» Was er baut, ist nämlich ein Null-Energie-Haus.

«Was?»

Ein Null-Energie-Haus, behauptet er, ist hochgradig isoliert.

«Naja, meine Bude ist auch isoliert, so ist es ja nicht. Auf dem Land, da leben alle isoliert.»

«Nee, Null-Energie-Haus ist ’ne völlig neue Philosophie, ’ne ganz andere Denke.»

Das Haus ist so gut isoliert, das wird, wenn es fertig ist, einmal geheizt und dann nie wieder. Wärmemäßig, sagt er, sind sie praktisch autark. Sie brauchen keine Wärme, geben aber auch keine ab.

«So wie Russland?»

«Ja, aber menschlicher.»

«Da bin ich neugierig.»

«Wenn es fertig ist, machen wir ’ne House-Warming-Party.»

«So eine Art Tag der Offenen Tür?»

«Nein, eben nicht, eine House-Warming-Party.»

Das haben wir zuerst nicht verstanden. Er hat die ganzen Dörfler eingeladen, und wie alle im Haus waren, Fenster und Türen zugemacht. Wenn so viele Leute im Haus sind, wird’s natürlich warm, so wie im Kuhstall, wenn der Ventilator ausfällt. Dann hat er uns rumgeführt und alles erklärt. In so einem Haus steckt nämlich einiges an Technologie. Und das muss man ihm lassen, er kann ganz gut erklären, er ist nämlich Physiker. Kein richtiger Physiker zwar, nur Physik-Lehrer, aber die Führung war interessant.

Das Wichtigste, sagt er, ist der Wärmekollektor. Unter dem First, also ganz oben unter dem Dach, hat er, wie eine Art Klimaanlage, einen Wärmekollektor. Die ganze Wärme, die in einem Haushalt entsteht, steigt nach oben und wird unter dem Dach eingesammelt. Es entsteht nämlich eine Menge Wärme im Haushalt. Wenn er abends zum Beispiel mit seiner Frau, natürlich nur, wenn die Kinder schon im Bett sind, wenn er mit seiner Frau also richtig die Ehe vollzieht – wir haben da ja früher immer hinterher gelüftet, aber er sagt, nein, auf gar keinen Fall. Da entsteht doch eine enorme Wärme, wegen der macht er es doch überhaupt. (Er ist Protestant, er macht’s wegen der Wärmeentstehung, seine Frau ist katholisch, die macht’s wegen der Gaudi.) Diese Wärme steigt, wie gesagt, unters Dach, wird vom Kollektor aufgesammelt und durch eine isolierte Hitzeleitung nach unten geschickt. Im Keller steht ein hochisolierter Hitzespeicher. Da drin sagt er, hat es zum Teil vier- bis fünftausend Grad.

«Was, so geht’s rund bei euch?»

Er wechselt das Thema: Grippe. Gerade in der kalten Jahreszeit. Früher, als unsere Kinder noch klein waren, hieß es immer, über 38,5 Grad rektal kriegen sie ein Fieberzäpfchen. Kinder wollen ja nichts schlucken, also schiebt man es ihnen hinten rein. Da, schau mal, der bunte Zwerg an der Wand!, und schwupps, hinten rein, wie beim Pfarrer von St. Blasien. Nein, sagt er, hahaha, auf gar keinen Fall, da sind wir schon viel weiter. Wenn eines von seinen Kindern Grippe hat, der Torben zum Beispiel. Einer von seinen Buben heißt Torben. Torben. Keine Ahnung, wo der Name herkommt. Ich vermute, das ist so eine Art Energiesparname. Ansonsten hat der Torben aber keine Behinderung.

«Wenn der Torben Grippe hat, den lassen wir raufgehen auf vierzig, einundvierzig Grad. Der Torben muss glühen!»

Er hat es auf seinem Laptop genau ausgerechnet. Der Torben wiegt jetzt 26 Kilo. Wenn der zehn Tage lang gescheit Grippe hat, davon kann die ganze Familie schon wieder drei Wochen lang duschen.

Die Leute aus dem Dorf haben sich dann schnell wieder verlaufen. Zum Fressen gibt’s nichts Gescheites, sagten sie, nur das grausige Rohkostbüfett, und mit den naturtrüben Säften kann er uns jagen. Man muss die Dorfbevölkerung verstehen. Das sind Menschen, die auf dem Land wohnen, außen rum nur Bäume, Gras, Garten, Gemüse. Sie sagen, wenn wir jetzt auch noch Grünzeug fressen, haben wir überhaupt kein Unterscheidungsmerkmal mehr zum Vieh.

Ich habe die Rohkost allerdings auch nicht vertragen. Vielleicht fehlen meiner Darmschleimhaut die Enzyme, mit denen der Nachbar oder ein anderer Wiederkäuer die rohen Pflanzenteile verdaut. Auf einmal hatte ich einen ganz unguten Druck im Bauch. Vielleicht eine Fehlgärung? Der Bauch dehnte sich zu einer immer größeren Kugel, ich dachte, gleich mache ich eine Ballonfahrt. Ich spürte schon, wie es mich hochlupfte. Der Auftrieb war so stark, dass ich mich am Tisch festhalten musste. Wenn es so weitergeht, dachte ich, kann ich noch ein paar Leute mitnehmen. Die Spannung wurde derart massiv, ich wusste, ich muss etwas herauslassen, sonst zerreißt es mich. Ich ging in die Diele hinaus und achtete darauf, dass niemand in der Nähe war, und dann: wrumms, eine ziemliche Explosion. Gerade in dem Augenblick kommt der Nachbar aus dem Wohnzimmer.

«Entschuldigung, ich dachte, es ist keiner mehr da. Es ist mir sehr peinlich. Ich mach auch gleich Türen und Fenster auf, wir lüften schnell durch …»

«NEIN, bloß nicht!»

«Warum denn nicht?»

«Auf keinen Fall, das sind doch alles Edelgase.»

«Komisch. Riechen tun sie aber ganz anders.»

«Diese Gase sind hochenergetisch!»

«Das glaube ich sofort. Und was passiert jetzt mit denen?»

«Die ziehen hoch. Das ist ’ne Riesenblase hier im Flur, danke, danke! Die nehmen wir mit hoch.»

«Also, ich rühr’ die nicht mehr an.»

«Sehen Sie mal!»

Und da sah ich erst, dass er unter dem First, neben dem Wärmesammler, noch einen zweiten Apparat hat, auch so eine Art Klimaanlage.

«Das ist der Darmgaskollektor. Der filtert die Edelgase wie Methan, Schwefelwasserstoff, Ammoniak aus der Luft heraus und sammelt sie.»

«Und was macht er damit?»

«Der komprimiert sie, das ist ein Darmgaskompressor.»

Er drückt sich gern etwas geschwollen aus. Bei uns sagt man zu so etwas Schoaßkompressor.

«Verstehe, der komprimiert das Ganze zu Flüssiggas, das wird in Stahlflaschen abgefüllt, und dann verkaufst du sie einem Schlosser zum Autogenschweißen.»

«Neenee, die Kompression ist noch viel höher. Die Gase werden nicht nur zu Flüssig-, sondern zu Festkörpergas komprimiert. Das werden Darmgaspellets.»

Die Darmgaspellets, erklärte er, werden von einem Schneckentrieb in den Keller hinuntergestrudelt und in einem geruchsdichten Edelstahltank aufbewahrt.

«Und dann?»

«Damit heizen wir. Wenn der Hitzetank im Januar, Februar allmählich auslässt, heizen wir mit Pellets hinterher.»

«Und das reicht?»

«Ja, da komme ich gut mit hin.»

Da, wo er herkommt, redet man anscheinend so: Komme ich gut mit hin. Ein umständlicher Dialekt. Bei uns sagt man: Es langt, oder: Es langt nicht. Ja/Nein, 0/1, binärer Code, wie im Computer, ganz einfach.

«Was heißt das: … kommst du gut mit hin?»

«Ooch, das reicht dann bis April, Mai, und dann ist eh gewonnen.»

«Ja, von wegen.»

Er kommt wie gesagt aus Niedersachsen, und dadurch kennt er sich nicht aus. Bei uns ist es nämlich so: Im April schneit es sowieso noch; Anfang Mai kann es kurz wärmer werden, gegen Ende Mai schneit’s wieder, dann kommen die Eisheiligen, Pankraz, Bonifaz, Kalte Sophie usw., im Juni die Schafskälte; im Juli gibt’s auch noch irgendwas, und im August schneit’s schon wieder runter.

«Na gut, dann hängt sich meine Frau halt noch mit rein.»

Das habe ich nicht gleich verstanden.

«Dann stellt meine Frau eben den Speiseplan um.»

Das heißt, sie legt die Betonung dann mehr auf Rettich, Bohnen, Zwiebel, Kraut usw.

An denen kannst du dir ein Beispiel nehmen, sagte meine Frau später daheim, bei denen funktioniert’s, die ziehen an einem Strang, da hört man nie was.

«Logisch hört man da nichts. Die Bude ist derartig isoliert, der kann den Torben mit der Kettensäge amputieren, ohne dass man draußen was mitkriegt.»

Unser Haus dagegen ist so schlecht isoliert, wenn ich mit meiner Frau streite, kann man auf der Straße jedes Wort mitschreiben.

Längere Zeit hab ich vom Nachbarn nichts mehr gehört, aber kürzlich ist Folgendes passiert. Ich komme gerade von meiner Paartherapeutin heraus, und da begegnet er mir im Wartezimmer. Ich sage: «Was machst du denn da?»

«Ach, ich schau nur mal so vorbei.»

«Verstehe. Ich auch, ich schau auch nur so vorbei. Wir schauen hier alle nur so vorbei. Das ist eine reine Vorbeischaupraxis.»

Am Abend dann, nach der Sprechstunde, bin ich nochmal zur Therapeutin hin und hab sie gefragt, was macht denn der Nachbar bei dir? Was hat der für ein Problem?

Zuerst tat sie rum von wegen Berufsgeheimnis. Aber ich bin schließlich Arzt, ich muss doch wissen, was in der Nachbarschaft los ist. Natürlich hat sie mir alles erzählt. Die Ehe ist völlig zerrüttet. Man muss es sich in etwa so vorstellen: Er hockt mit dem Laptop unten im Keller, online mit der Photovoltaik und den Kollektoren, und sieht genau, oh, da kommt eine Wolke, das kostet mich soundso viel Joule, oder ah, jetzt kommt die Sonne raus, das bringt schon wieder soundso viel. Er hat zum Beispiel ausgerechnet, dass, wenn alle Chinesen so viel Energie sparen würden wie er, dass dann die Polkappen wieder wachsen. Von oben ruft seine Frau: «Komm rauf, das Essen ist fertig. Komm jetzt endlich, mir werden die Schnitzel kalt.»

«Macht doch nichts, das kommt alles wieder runter zu mir.»

Die Frau sagt, sie packt das nicht. Sie hat sich die Ehe anders vorgestellt. Ihre Vorstellung von Romantik ist nicht ein Typ, der im Keller sitzt und Energieersparnis ausrechnet. Man hält als Frau schon einiges aus, aber diese ewige Tüftelei, da streiken ihre Eierstöcke. Wenn sie sich das anschaut, kriegt sie akutes Hormonversagen.

Gut, hatte die Therapeutin gemeint, aber irgendwie muss es ja weitergehen. Ihr Vorschlag war, sie sollten es erst mal ganz vorsichtig probieren. Wenn die Kinder im Bett sind, miteinander einen Liebesfilm anschauen. Nicht gleich Porno, sondern etwas Sanftes, Christiane Hörbiger als frisch geschiedene Tierärztin, die eine Farm in Afrika geerbt hat, nach Namibia fliegt und Götz George trifft, der als Großwildfarmer mit kranken Emus kämpft. Eine schöne Geschichte, bei der nicht gleich alle übereinander herfallen wie die Viecher. Ein mehr behutsames Aufeinanderzusteuern, und trotzdem spannend. Man weiß nämlich nicht, erleben sie es überhaupt noch?

Sie sitzen also auf dem Sofa, er am linken Rand, sie rechts, er versucht, zu ihr rüberzurutschen, aber sie will nichts von ihm wissen. Er platzt vor lauter Energie, seine Frau hat keine Lust, und hinter ihnen in der Isolierung ficken die Marder.

«Ach was, das bilden Sie sich ein, Sie haben ja schon Zwangsvorstellungen.»

«Nein, ich höre es doch ganz genau, immer zuerst dieses Hecheln: he-he-he-he-he und dann: haaaahhhhhh.»

«Womit haben Sie denn isoliert?»

«Mit Zeitungsschnitzel.»

«Ach so, dann ist es doch klar: Die Marder lesen Zeitung, ab und zu ist ein lustiger Artikel dabei, und dann lachen sie halt.»

Die Situation war so verfahren, dass die Therapeutin nicht mehr weiterwusste. Und das heißt etwas bei ihr. Sie ist nämlich sehr erfahren, eine wirklich ausgekochte alte Analyse-Matz, eine mit allen Wassern gegerbte Konfliktlösungspeitsche, die abgebrühteste Streithenne südlich von Celle. Bevor du zu einer wie ihr gehst, verträgst du dich lieber mit deiner Frau. Aber beim Nachbarn, meinte sie, steht sie auf dem Schlauch.

«Und, was hast du mit ihm gemacht?»

«Ich hab ihn überwiesen.»

«Du hast ihn überwiesen? Ich meine, du bist die letzte Instanz in Sachen Beziehungsstress, wohin willst du jemand überweisen?»

«Ich hab ihn aufstellen lassen.»

«Was, du schickst jemand zur Familienaufstellung?»

«Warum nicht?»

«Nach München?»

«Nein, nein, schon hier am Ort.»

«Bei uns? Wir sind ein kleiner Ort, ich wusste gar nicht, dass es bei uns so was gibt.»

«Doch, doch, inzwischen gibt es das auch bei uns.»

«Und wer macht das?»

«Der Dings, der Soundso.» (Ich verrate seinen Namen nicht, sonst heißt es, ich mache Schleichwerbung für ihn.)

«Der Dings? Der macht Familienaufstellungen?»

«Ja. Abends natürlich, tagsüber ist er ja Fliesenleger.»

Und der hat es hingekriegt. Er hat den Nachbarn mit ein paar anderen Leuten bei sich in seiner Mansardenwohnung aufgestellt: «Du, du stellst dich rüber zur Stereoanlage, du bleibst bei der Gummipalme, du schaust vom Balkon runter.» Und dann spricht er die Leute ganz behutsam an: «Was passiert’n jetzt mit dir? Was geht’n mit dir vor? Spürst du was? Und wenn ja: Möchtest du drüber reden?» Energiewellen gehen durch den Raum, so als ob die ganze Luft feinstofflich schwingen würde, und auf einmal, wie ein Erleuchtungsschlag, erkannten alle im gleichen Augenblick: Der Nachbar ist ja gar nicht der Papa, er ist die Oma! 1908 gab es bei der Großmutter einen Konflikt, der nie richtig aufgearbeitet wurde, und deswegen sitzt der Nachbar jetzt im Keller und rechnet Energieersparnis aus.

Das ist ja ganz einfach, sagte der Fliesenleger, da brauchen wir gar nicht lang rumlabern, das kriegen wir musiktherapeutisch. Er hat ihm eine Zither verordnet, und seitdem klappt die Ehe wieder. Abends, wenn die Kinder im Bett sind, setzt sich der Nachbar an den Wohnzimmertisch, und dann wird Zither gespielt und gejodelt. Genauer gesagt ist es so: Der Physiker spielt Zither, aber es jodelt die Oma aus ihm heraus, und das mag die Frau. Er braucht nur ein paar Takte zu spielen, und schon fällt sie über ihn her wie eine Marderin. Kaum zu glauben, aber es funktioniert.

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Das Bonbonpapierbarometer

Vor einigen Jahren, als der Zug Frankfurt-Köln noch gemächlich auf der linken Flussseite durch die Windungen des Rheintals quietschte, fuhr ich Richtung Köln. In Bonn stieg eine Mutter-Sohn-Kombi ein und setzte sich mir gegenüber ins Abteil. Noch ehe die Karten kontrolliert waren, packte die Mutter das Pausenbrot für den Sohn aus. Damit er auf dem Weg nach Köln nicht verhungert, lästerte es aus dem Boshaftigkeitslappen meines Gehirns, das aber, gut erzogen, den Gedanken nicht an die Sprechwerkzeuge weitergab. Vielleicht war ich neidisch auf den Buben, weil er, ohne sich um Proviant oder frische Wäsche kümmern zu müssen, mit Ende dreißig noch einträchtig in Gesellschaft seiner Mutter verreisen durfte, während meine Eltern mich schon kurz nach dem Führerschein aus dem Nest vertrieben hatten.

Genussvoll verzehrte er sein belegtes Brot und wies seine Mutter auf Sehenswertes in der vorbeifliegenden Landschaft hin: Kühe, Traktoren, Rübenhaufen, seltene Wolkenformationen. Für einen dicklichen Enddreißiger, der noch bei der Mutter wohnt, war er auffällig modern gekleidet. Wäre die Mama nicht dabei gewesen, hätte man ihn für einen Bruder aus der Hiphop-Szene gehalten. Als Nachtisch reichte ihm die Mutter ein Bonbon. Daran nestelte er einige Zeit herum, bis sie ihn plötzlich anfuhr: «Was machste denn so lange daran rum? Wie oft muss ich dir das denn noch zeigen?» Aber der Sohn hielt dagegen.

«Mama, das Papier geht nicht richtig ab, weil ein Tiefdruckgebiet in Anzug ist.»

Die Mutter war hart an der Explosionsgrenze. Aber der Sohn erklärte ihr ruhig und beharrlich, dass die erhöhte Luftfeuchtigkeit das Zellophan aufweiche, sodass es sich nicht mehr sauber von der Bonbonoberfläche entfernen lässt.

Ein paar Kilometer weiter fing es tatsächlich an zu regnen, und keine Minute später kam auch schon die Durchsage des Zugschaffners: «Meine Damen und Herrn, wir fahren gerade durch ein Tiefdruckgebiet. Wundern Sie sich bitte nicht, wenn sich Ihre Bonbons schlecht auswickeln lassen.»

Da verstand ich die Mutter. Einen so begabten Buben gibt man nicht gerne aus dem Haus.

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Kleinkriminalität

Ich erwachte im Laufe des Vormittags, trat, noch etwas eingeschränkt von den Geschehnissen der Nacht, aus dem Haus, überquerte erfolgreich die Straße und kaufte mir in der Bäckerei schräg gegenüber zwei Sonnenblumensemmeln. Wenn man sieht, wie alle anderen zügig und zielbewusst ihrem Tagewerk nachgehen, jeder irgendwo hinmuss, jeder etwas zu erledigen hat, wenn man sich also sicher sein kann, dass die anderen die Volkswirtschaft in Gang halten, lässt sich ein freier Tag in der Großstadt genießen wie ein Urlaubstag. So war in etwa meine innere Verfassung, als ich nach einer massiv entgleisten Feier bei Münchner Freunden auf den unbemannten Verkaufsstand an der Ecke Tatzelwurm-/Übelverreckerstraße zusteuerte, um mir eine Zeitung zu besorgen.

Ich war, wie man bei uns sagt, noch etwas traamhappert. In Norddeutschland heißt es schlaftrunken. Die Nervenzellen meines Gehirns waren noch durch die Toxine der vergangenen Nacht behindert. Anders ist es nicht zu erklären, dass ich die Umgebung nicht sauber abscannte, bevor ich den Nachtexpress zum reduzierten Preis aus dem Kasten nahm. Abscannen heißt so viel wie: Ich lasse meine Augen sorgfältig in der Gegend umherwandern, aber das wäre ein schiefes Bild. Wenn ich richtig wach bin, vergewissere ich mich mit einem konzentrierten Schwenk meiner optischen Sensoren, dass mich niemand beobachtet, und erst dann klaue ich die Zeitung.

Das Gehirn ist ein empfindliches, hochkomplexes Organ, das nicht sauber funktioniert, wenn es noch von den Stoffwechselschlacken nächtlicher Getränke umspült wird. An jenem trüben Morgen wäre es nicht in der Lage gewesen, eine Zeitung mit kleiner Schrift und wenig Bildern zu verarbeiten. Deshalb entschied ich mich für den Nachtexpreß (mittlerweile: Nachtexpress). An Wochentagen kostet dieses Boulevardblatt sechzig Cent, aber weil ich die Schlagzeile billig und niederträchtig fand, setzte ich den Verkaufspreis um 90 % herab und ließ eine Fünf- und eine Ein-Cent-Münze in den Kassenbehälter klappern, entnahm ein Exemplar und wandte mich wieder heimwärts.

Keine zehn Schritte weiter stellte mich, von links hinten kommend, ein untersetzter Mittvierziger in Jeans und Lederjacke. «Moment, Augenblick», schnaufte er und rief laut nach seinem Komplizen, der den Arm schon bis zum Ellbogen in dem Kassenbehälter versenkt hatte: «Wiavui war’n drin?» Jetzt kam auch der andere auf mich zu, ein beflissener Galgenvogel zwischen 35 und 50, und präsentierte in der flach hergestreckten Rechten die zwei Münzen, die ich bezahlt hatte.

Aha, hamma’n scho, sagte der in der Lederjacke und hielt mir in künstlich aufgebrachtem Ton vor, dass das, was ich getan hätte, illegal sei; dass so etwas nicht gehe, da hingen ja schließlich Existenzen dran.

«Sie haben bloß noch zwei Möglichkeiten, entweder Sie zahlen jetzt gleich bei mir bar, oder Sie überweisen das Geld. Dann brauch ich aber Ihren Personalausweis.»

Ich zog zwei Zwanziger aus meinem Geldbeutel und verlangte eine Quittung (Abb. 1).

Abb. 1: Die anonymisierte Quittung des Untersetzten an den Autor

Später in der Wohnung, als ich, durch den Abend vorher und ein spürbares Kaffeedefizit zwar immer noch benommen, durch den Vorfall an der Straßenecke aber schon deutlich wacher, in der Küche hantierte, ging mir wieder der Satz mit den Existenzen durch den Kopf, die durch meine mindere Zahlungsmoral bedroht seien. So etwas trifft einen, dessen Erziehung in erster Linie Rechtschaffenheit zum Ziel hatte. Andererseits, ich hatte vierzig Euro für eine Boulevardzeitung bezahlt, genauer gesagt: vierzig Euro und sechs Cent. Angenommen, die zwei Wegelagerer stellen am Tag zehn Zahlungssäumige, dann verdienen sie vierhundert Euro. Richtiger gesagt: Sie nehmen vierhundert Euro ein. Das ist kein schlechter Verdienst für zwei, die nichts Gescheites gelernt haben. Was würden sie denn tun, wenn nicht immer wieder jemand den Mut fände, eine Zeitung ohne korrekte Zahlung zu entnehmen? Sie würden dem Gemeinwesen auf der Tasche liegen, Hartz IV kassieren oder sich so lange krankschreiben lassen, bis der Sozialapparat die Nerven verliert und sie in den vorgezogenen Ruhestand schickt. Denn natürlich sind sie keine Kleinodien des Arbeitsmarktes, sonst hätten sie in einer Boomtown wie der unsrigen längst einen ausfüllenden Beruf gefunden, sei es als U-Bahn-Wächter oder als Omnibuseinwinker am Flughafen Franz Josef Strauß. Leute wie ich, die sich immer wieder ein Herz fassen und ein Stück Kleinkriminalität wagen, wir halten solche schwer vermittelbaren Naturen in Lohn und Brot.

Ein anderes Beispiel: Geschwindigkeitsüberwachung. Wenn jemand mit 100 durch eine Ortschaft fährt, ist das schwerkriminell, er gefährdet Menschenleben. Das sollte man ruhig als versuchten Totschlag ahnden. Wenn aber ein versierter Autofahrer, langjähriges Mitglied des ADAC, wenn ein Kavalier der Landstraße außerorts 83 statt 70 km/h fährt, tut er dann etwas Verwerfliches, oder nützt er der Gesellschaft, genauer gesagt: dem Staat? Wenn alle zuverlässig die Geschwindigkeitsgrenzen einhielten, bräuchte man deutlich weniger Überwachungsteams, und wenn selbst diese wenigen Abend für Abend ohne Strafzettel ins Revier zurückkehrten, also weit unter ihrem Planziel blieben, würde man ihre Zahl weiter senken, zunächst nur noch ein Team hinausschicken und die Geschwindigkeitsüberwacherei schließlich ganz aufgeben. Mit anderen Worten: Führen alle korrekt, fielen Arbeitsplätze weg, würde das Klima in der Gesellschaft noch etwas kühler. So weit mag ich es nicht kommen lassen. Ich fahre öfter ein bisschen zu schnell. So oft, dass es sich lohnt, hier und dort ein Überwachungsteam zu postieren, aber wiederum nicht so schnell, dass es Punkte in Flensburg gibt. Eitel gesprochen bin ich ein qualifizierter Zuschnellfahrer.

Wenn viele Leute anhaltend, oder wie man heute sagt, nachhaltig zu schnell fahren, ernährt das eine ganze Reihe von Kamerateams, und wenn die gut laufen, das heißt Geld verdienen, wird aufgestockt. Acht Überwachungsteams brauchen bereits einen Abteilungsleiter. Der kann natürlich nicht einfach so vor sich hinwursteln, er muss sich fortbilden. Eine Reise zur Jahrestagung der BUGÜWA, der BUndesvereinigungGeschwindigkeits-ÜberWachenderAbteilungsleiter, wird fällig. Die Dienstreise bekommt er aber nur dann genehmigt, wenn eine Vertretung vor Ort ist. Stelleninhaber und Vertretung brauchen zwar keine, haben aber Anrecht auf eine Sekretärin, der ihrerseits eine Urlaubs- und Krankheitsvertretung zusteht. Alle miteinander brauchen Büroräume. Ein Anbau wird fällig, Aufträge für verschiedenste Gewerke: Maurer, Zimmerer, Installateure, Boden- und Fliesenleger. Feuerwehrleute und TÜV-Ingenieure prüfen die Sicherheit der Baumaßnahme. Außen wird ein Schild benötigt: Zentralstelle für Geschwindigkeitsüberwachung. Das will gestaltet sein, Arbeit für junge Designer. Zunächst stundenweise, später halbtags, kommt eine Putzfrau. Das Ganze muss verwaltet werden, Jobs über Jobs – also kein Grund für den maßvollen Raser, zerknirscht zu sein.

Wie gesagt, er darf niemanden gefährden, aber wenn er zur Gruppe der qualifizierten, verantwortungsbewussten Geschwindigkeitsüberschreiter gehört, wenn er die filigrane Kunst des Einbisschenzuschnellfahrens beherrscht, darf er da nicht ein wenig stolz sein? Oder wie es auf Seminardeutsch heißt, sich ein Stück weit bestätigt fühlen? Was würde mit den Polizisten vom Kameratrupp passieren, führe keiner mehr zu schnell? Sie kämen in eine Abteilung für wirklich schwere Straftaten, und dann hätten sie es plötzlich mit richtigen Verbrechern zu tun. Das kann in Arbeit ausarten und gefährlich werden. Außerdem kostet es Geld, während die Strafzettelverteilerei Geld einbringt. Wenn also die wohlverstandene Kleinkriminalität schon wie eine Jobmaschine wirkt, wie viel Arbeitsplätze schafft dann erst die berufsmäßig ausgeübte Großkriminalität? Was verdanken wir Strauß, Leisler-Kiep, Siemens, Thyssen, Krupp, Mannesmann usw.? Zur Beantwortung dieser Frage fehlt dem Autor jegliche Voraussetzung. Das allerdings wagt er zu behaupten: Sorgfältig betrachtet und mit volkswirtschaftlichem Ernst überlegt, gibt es für den sittlich stabilen Bürger nur eines: die stete Pflege einer wohlverstandenen Kleinkriminalität.

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Homöopathische Wurmkur

Achtzehn Jahre ist es nun her, dass ich meine Stelle als Krankenhausdoktor in Garmisch-Partenkirchen aufgegeben habe, aber manchmal werde ich noch um medizinischen Rat gebeten. Neulich rief mich eine alte Freundin an.

«Du Georg, unser Hund ist krank. Was soll ich machen?»

«Keine Ahnung.»

In unserer Jugend haben wir mal zusammen gearbeitet. Sie war quasi die Aphrodite der Wachstation, ein Weib, so bestrickend, dass ich ihr zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Kaffee aus der Kantine geholt hätte. Damals hat sie sich für einen anderen Typen entschieden, und jetzt, wo ihr Hund krank ist, denkt sie wieder an mich. Kein richtiger Hoffnungsschimmer.

«Aber du bist doch mit einem Arzt verheiratet, warum kümmert sich nicht der drum?»

Das war gemein von mir. Ihr Mann kann dem Hund allenfalls noch eine AU-Bescheinigung ausfüllen. Er ist zwar offiziell Arzt, schlägt die Zeit aber seit Jahrzehnten als Formulardompteur beim Gesundheitsamt tot.

«Georg, du kennst dich mit so was einfach besser aus.»

«Was für eine Rasse ist er denn?»

Ich hab nichts mehr zu verlieren bei ihr, ich kann mich ruhig einer schlichteren Grammatik bedienen.

«Ist das wichtig? Ein Labrador.»

Sie sagt Labrador. Das hat mich schon damals fasziniert an ihr, wie sie, allein durch ihre nachlässige Aussprache, einen Hauch von Laszivität in die Luft zaubern kann – unwiderstehlich. Wahrscheinlich heißt es Laborator, ich bin kein Tierarzt, ich kenne mich mit Rassen nicht so gut aus, aber aus meiner Erfahrung als Wissenschaftler würde ich nicht Labrador, sondern Laborator sagen.

«Und, was hat er?»

«Nicht er, sie, es ist eine SIE, eine Hündin.»

«Verstehe, eine Laborator-Hündin.»

«Ja. Sie nimmt laufend ab; frisst und frisst und wird immer weniger.»

«Vielleicht hat sie eine Hundebulimie, wie Prinzessin Diana damals. Frisst so viel in sich rein, wie sie kriegt, verschwindet heimlich aufs Klo, speit alles wieder heraus und drückt mit der Pfote die Spülung.»

«Nein, das haben wir bereits ausgeschlossen.»

«Wie willst du das ausschließen?»

«Wir haben sie videoüberwacht, wir hatten sie sogar am Lügendetektor – aber in der Ecke ist nichts.»

«Und warum gehst du mit ihr nicht einfach zum Tierarzt?»

«Nein, kommt überhaupt nicht in Frage.»

«Verstehe.»

Sie selber ist auch Ärztin, ihren Patienten verschreibt sie die giftigsten Tabletten, welche die chemische Industrie zwischen Basel und Ingelheim hervorbringt, aber den Hund bringt sie zum Homöopathen. Der hat erst mal die alternativmedizinische Diagnosemühle angeworfen: Mikrowellendiagnoselaser, Bioresonanz, und anschließend pendelte er ihn aus, und zwar mit dem Indianischen Sackhoroskop. Dabei handelt es sich um eine Methode, die auf uralte Geheimrituale der flachköpfigen Indianer aus den westlichen Prärien zurückgeht. Das Verfahren muss man sich in etwa so vorstellen: Der Heiler zieht Über- und Unterhose aus, legt den Patienten auf den Boden, stellt sich breitbeinig darüber und lässt seine Testikel hin- und herpendeln. Dabei beobachtet er den Hautfaltenfluss am Hodensack (seinem eigenen natürlich). Vorausgesetzt, es ist nicht zu kalt im Raum, kann er aus den Fließbewegungen der schlunsigen Skrotal-Haut auf die Krankheitsursache beim Tier schließen. Die Methode setzt allerdings voraus, dass der Homöopath ein gewisses Alter hat. Bei jungen Typen mit straffem Bindegewebe funktioniert das nicht. Zudem muss der Hund schon so krank sein, dass er vor lauter Erschöpfung liegen bleibt. Solang es ihm noch besser geht, besteht die Gefahr, dass er nach dem Beutel des Therapeuten schnappt. Und so weit geht die Tierliebe dann ja wieder nicht.

«Welche Beschwerden hat sie denn?»

«Keine.»

«Wirklich überhaupt keine Beschwerden?»

«Doch. Wenn ich ganz offen sein darf, letzte Woche hat sie einen Wurm hochgehustet oder hochgewürgt.»

«Hast du das dem Homöopathen erzählt?»

«Ja, er sagt, das ist die Diagnose! Aufgrund seiner Erfahrung – er ist ja immerhin seit fast zwei Jahren im Geschäft – hat er einen Verdacht. Er tippt auf Würmer.»

Folgerichtig wird der Hund jetzt mit Wurmglobuli behandelt, kleinen Kügelchen aus Wurmextrakt. Das ist offenbar ein Grundprinzip in der Homöopathie: Die Krankheit wird mit der eigenen Ursache behandelt. Ich kenne das noch aus meiner Kindheit. Bös muss Bös vertreiben, sagte meine Mutter immer, wenn sie uns im Winter die frierenden Hände unter den kalten Wasserhahn hielt. Hast du Würmer, wirst du mit Wurmextrakt behandelt, hast du Durchfall, mit bräunlicher Flüssigkeit. Hast du eine Eiterbeule unter der Achsel, bekommst du eine Art gelbliche Limo, alles stark verdünnt natürlich. Man braucht sich ja nicht vorstellen, woraus das Mittel gewonnen wird, Hauptsache, es hilft. Meistens. Häufig. Manchmal. Je nach Wetterlage und Stand der Sterne.

Die Wurmglobuli für den Hund kosten 380 Euro das Stück. Davon kriegt er drei am Tag: morgens, mittags, abends. Drei ist in der Homöopathie eine heilige Zahl – Caspar, Melchior, Thorsten. Eine teure Geschichte. Der Hund selbst war umsonst, den hat sie aus Neapel mitgebracht, aber die Behandlung kostet über tausend Euro am Tag. Die Kügelchen sind so teuer, weil der Extrakt aus Würmern einer ganz bestimmten Nagetierart gewonnen werden muss, nämlich der Wüstenbeutelratte. Die ist aber selten. Es würde auch nichts helfen, sie in einer Zucht beliebig zu vermehren. Zweite Voraussetzung für die Herstellung amtlicher Wurmglobuli ist nämlich, dass der betreffende Nager in einer absolut chemiefreien Umgebung lebt. Dafür kommt nur noch die Sahara in Frage. Die Nagerpopulation der Wüste ist jedoch spärlich, und von den wenigen Tieren, die es dort überhaupt gibt, gehören wiederum nur wenige zur Gattung Beutelratte. Oft ist eine Karawane wochenlang unterwegs, bis der jagende Araber eine Beutelratte erwischt. Wenn er Pech hat, stellt sich heraus, dass die Ratte zwar einen Beutel, aber keinen Wurm hat. Dann geht die Sucherei von vorne los.

Ist man endlich einer verwurmten Ratte habhaft geworden, kommt es darauf an, den Wurm absolut unversehrt zu entnehmen. Wird seine astralmorphologische Integrität auch nur minimal verletzt, ist das Mittel wirkungslos. Das bedeutet, der Wurm muss enorm vorsichtig aus der Ratte gezogen werden. Alte Berber mit ihren verhornten Pratzen sind dafür ungeeignet. Am geschicktesten stellen sich Beduinenkinder an, und zwar möglichst kleine. Sie verfügen noch über die Feinheit der Finger, welche unabdingbar ist für die fachgerechte Gewinnung therapiegeeigneter Würmer.

Nun wird der Askaride, sprich: Wurm, zur nächsten Oase gebracht und von alten, zahnlosen Beduinenfrauen sauber gespeichelt. Das machen die natürlich nicht umsonst. Der gesäuberte Wurm wird im Hof auf einem Stein zum Trocknen ausgelegt und rund um die Uhr bewacht. Beim Trocknen verliert der Wurm nämlich einiges an Gewicht, und beim leisesten Hauch von Scirocco, wwwffft, fliegt er davon. Der getrocknete Wurm wird in geheimen Mühlen zu Wurmpulver vermahlen. Ein durchschnittlicher Wurm ergibt in etwa 2,5