Das leise Verschwinden - Ingrid Schreiner - E-Book

Das leise Verschwinden E-Book

Ingrid Schreiner

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  • Herausgeber: Echter
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Vergessen, Verleugnen, Verlieren. Das sind einige der größten Herausforderungen, wenn man mit Demenz konfrontiert wird. Ob als Erkrankter oder Angehöriger, das Leben verändert sich durch die Diagnose. Ehrlich und ohne Beschönigung berichtet Ingrid Schreiner in diesem Buch von ihrem Leben mit zwei an Demenz erkrankten Eltern. Sie erzählt von Momenten der Überforderung, schwierigen Entscheidungen und wertvollen Erinnerungen. Das alles kostet unglaublich viel Kraft und bringt sie manchmal an den Rand der Verzweiflung. Dabei steht sie immer wieder vor der Frage: Wie findet man die richtige Balance zwischen ausreichender Unterstützung der Eltern und dem eigenen Leben?

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Seitenzahl: 89

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INGRID SCHREINER

Das leiseVerschwinden

Mein Leben mit meinendemenzkranken Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2023 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Gestaltung: Christine Eisner, Würzburg

Foto: Shutterstock/M.Photos

Bilder Innenteil: Ingrid Schreiner, Papier: Dan Cristian, unsplash

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN 978-3-429-05844-9

eISBN 978-3-429-06608-6

Inhalt

1.Vorboten und Befürchtungen

1.Erste Wahrnehmungen

2.Diagnose Demenz - HILFE!

2.Im Irrgarten der Gedanken

3.Logik ade

4.Die Voll(e) Macht

5.Fesseln der Vergangenheit

6.Ich bin doch nicht blöd

7.Warum

8.Überforderung pur

9.Organisation ist alles

10. Kampf um das Gedächtnis

3.Du sollst Vater und Mutter ehren

11. Freiheits-Entzug

12. Wir haben kein Brot

13. Zwischen Liebe, Wut und Pflichtgefühl

14. Woher kommt die Kraft

15. In Memoriam

16. Heute auf dem Speiseplan

17. Protest und Verzweiflung

18. Warnstufe rot

19. Der Fall

4.Der alte Adler fliegt nicht mehr

20. Auf dem Weg in die Ewigkeit

21. Lügenwelten und Abschied

22. Heimat

23. Neubeginn wider Willen

24. Seele im Himmel

25. Die Frage aller Fragen

5.Es ist IHR Schicksal

26. Eine schwere Entscheidung

27. Ich will doch nach Hause

28. Ein Denkmal für den Vater

29. Lachen, wenn alles zum Heulen ist

30. Engel auf zwei Beinen

31. Plädoyer für mein eigenes Leben

32. Licht und Schatten im Alltag

33. Erinnerungen

34. Dein letzter Wille

35. Trauer verjährt nicht

36. Erkenntnis

37. Alte und neue Sehnsucht

6.Der Weg zur Befreiung geht durch das Leiden

38. Das leise Verschwinden

39. Zeit der Tränen

40. Zeitenwende

41. Das Glück, den Sonnenschein…

7.Und der Wind legte sich

Epilog

Dieses Buch

Dieses Buch erzählt von den Wirren der Demenz und damit einhergehenden Zumutungen des Schicksals. Es ist eine Schilderung von Ereignissen und Erfahrungen und gleichzeitig eine Sammlung von Fragen und Antworten, von Gedanken und Empfindungen, die eine Demenzerkrankung begleiten können. Irgendwie chronologisch und doch manchmal einfach nur wirr. Genauso, wie eine Demenzerkrankung sich zeigen kann. Wie ich sie bei Vater und Mutter erlebt habe. Das Buch erzählt vom Kampf der Logik um den Verstand. Von unberechenbaren Befindlichkeiten und extremen Gefühlswelten. Von Liebe und Schuldgefühlen. Von Wut auf das Schicksal. Von Aggression und inniger Verbundenheit. Von Anspannung und Unsicherheit. Von herzzerreißender Verzweiflung und von großer Zärtlichkeit.

Es erzählt von einer Krankheit, die von den Betroffenen selbst überhaupt nicht als Krankheit wahr- und ernstgenommen wird. Die von Angehörigen häufig so lange verdrängt wird, bis die Wahrheit sich unmissverständlich vor ihnen aufbäumt und plötzlich ihr ganzes Leben bestimmt.

Das Buch berichtet von endlosen Fragen zum Warum und zum Sinn einer solchen die Persönlichkeit langsam zerstörenden Krankheit. Vom herausfordernden Abtauchen in eine fremde Welt, von Meilensteinen und Stolpersteinen auf der Suche nach Akzeptanz und einem angemessenen Umgang mit den kranken Menschen.

Und schließlich erzählt es von wertvollen Lernerfahrungen, von engagiertem Fachpersonal und liebevollen Begleitern, von verborgenen inneren Kraftquellen und dem unbesiegbaren Glauben daran, dass alles einen Sinn hat. Und wenn es nur der ist, dass wir lernen, dieses Schicksal zu tragen und zu bewältigen.

Mir hat es immer geholfen, Worte zu finden und meinen Gedanken und Gefühlen damit Ausdruck zu verleihen.

Vielleicht, liebe Leserin und lieber Leser, kennen Sie auch einen dementiell erkrankten Menschen. Vielleicht sogar in Ihrer Familie. Vielleicht teilen Sie die ein oder andere Erfahrung. Und vielleicht bestätigt oder ermutigt Sie der ein oder andere Gedanke aus diesem Buch. Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie teilhaben an dieser besonderen Geschichte. An mehr als zehn Jahren außergewöhnlicher Lebenszeit.

Jeder trägt sein Leben

wie ein Kind auf dem Arm.

Sei behutsam.

Wiege es, wenn es schreit.

Nimm es an,

auch wenn es dich

an den Rand der Verzweiflung treibt.

Trage es,

auch wenn es schwerer wird.

Und drücke es an dein Herz.

Denn es gehört zu dir.

Dein Kind.

Dein Leben.

Widmungen

Für meinen Vater

Er war ein Dichter. Nicht berühmt, aber doch vielen bekannt. Dennoch wirkte er lieber im Hintergrund, würdigte andere und nahm sich selbst nicht so wichtig. Er stand nicht gern im Mittelpunkt, obwohl er das manchmal verdient gehabt hätte. Er ließ anderen gern den Vortritt, obwohl er etwas zu sagen hatte. Er war kein großer Redner, fasste lieber schriftlich in Worte, was ihn bewegte. Poesie floss ihm aus Herz und Seele. In seinen Gedichten bewahrte er das Andenken an die verlorene Heimat, an Schicksalsschläge und glückliche Stunden und manchmal an ganz Alltägliches. Im Verborgenen seiner Schreibstube schrieb er sein ganzes Leben auf. So, als müsste er jede Erfahrung, jede Erkenntnis, jeden flüchtigen Gedanken festhalten. Als hätte er schon immer Angst gehabt, mit seinen Erinnerungen sein Leben zu verlieren. Noch in der fortgeschrittenen Phase der Altersdemenz schrieb er halbfertige Sätze, hielt er in Silben und Wortfetzen fest, was ihm an Gedanken geblieben war. Schrieb er gegen das Vergessen. Schrieb er um sein Leben.

Ihm, dem leidenschaftlichen Dichter, dem klugen und wissbegierigen Menschen, dem manchmal strengen, aber liebenswerten Vater widme ich dieses Buch!

Für meine Mutter

Und ihr, die immer Angst hatte, etwas falsch zu machen, sei dieses Buch gewidmet. Ihr, deren Selbstwertgefühl immer mehr schrumpfte angesichts der Tragödie um ihren geliebten Sohn. Die schon als Kind Pflichten zu erfüllen hatte, die kaum zumutbar für Erwachsene waren. Die sich immer schlechter fühlte als andere und dennoch stets bereit war zu geben und andere zu umsorgen. Die für ihre Enkelkinder die Welt auf den Kopf stellte und ihnen im übertragenen Sinne noch ihr letztes Hemd gab, auch wenn sie selbst frieren musste. Die heute, wie damals fragt: Hab ich was falsch gemacht? Unvorstellbar, diese tiefe Angst vor Fehlern, gepaart mit der steten Bereitschaft, alle Schuld der Welt auf ihren Schultern zu tragen.

Ihr, die jedes Leiden auf sich nahm, die so viele Tränen weinte wie niemand sonst. Ihr, der das Schicksal diese schreckliche Krankheit und damit neues Leiden bescherte, die in ihrem schrumpfenden Horizont immer kleiner wird. Ihr, der fürsorglichen, traurigen, der starrsinnig kämpfenden, der alles gebenden und doch so bedürftigen Mutter widme ich dieses Buch!

Für die Pflegerinnen und Pfleger

Allen Pflegerinnen und Pflegern, die meine Eltern im Laufe der Jahre betreuten und umsorgten, vor allem aber den guten Engeln im Landsitz Elfershausen, sei dieses Buch gewidmet. Worte können nicht fassen, was sie leisten. Mögen sie nicht erst im Himmel dafür entlohnt werden!

Für alle lieben Menschen an meiner Seite

Und auch, euch ihr lieben und kostbaren Menschen in meiner Familie, in der Verwandtschaft, der Nachbarschaft und im Freundeskreis, die ihr in dieser schwierigen Zeit so selbstverständlich an meiner Seite wart und seid, die ihr mich in Wort und Tat unterstützt und mich ermutigt habt, wenn ich mutlos war. Ihr habt mich aufgefangen, wenn ich nicht mehr weiter wusste. Ohne euch hätte ich das alles nicht tragen und bewältigen können. Auch euch sei dieses Buch gewidmet. Ich umarme euch in Dankbarkeit!

Ingrid Schreiner

1

Vorboten und Befürchtungen

„Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm

und die Wellen schlugen in das Boot,

sodass es sich mit Wasser zu füllen begann.“

Markus 4, 37

1.

2012

Erste Wahrnehmungen

Ist da was? Oder leide ich an Wahrnehmungsstörungen? Wahrscheinlich bilde ich mir nur ein, dass die Mutter immer vergesslicher wird. Kann ja nicht sein. Sie ist gerade mal 77 Jahre alt. Kein Alter für Alzheimer, oder? Aber Moment. Ihre Mutter, also meine Großmutter, hatte auch Alzheimer und ist bereits mit 75 Lebensjahren gestorben. Ach du meine Güte, was soll das werden? Wollte sie mir wirklich gerade zum dritten Mal das Geld für den Einkauf geben? Und hatte mir nicht gerade jemand erzählt, dass sie seit neuestem wichtige Termine vergisst?

Und der Vater? Er ist 85 und auch irgendwie verändert. Er freut sich wie ein Kind, als wir beschließen, gemeinsam mit den Enkeltöchtern in seine alte Heimat zu reisen und die Stätten seiner Kindheit zu besuchen. Das Elternhaus, in dem er aufgewachsen war, das Dorf mit seiner schönen Umgebung, den Feldern und Obstgärten. Den alten Friedhof. Die Schule, an die noch viele Erinnerungen wach sind. An seine Kameraden und an so manchen Streich, mit dem die Schüler ihre Lehrer einst zur Weißglut trieben. Er lebt auf in seinen Erzählungen und wir freuen uns mit ihm über seine erwachende Lebendigkeit. Ja, der Opa ist immer noch der Alte, aber doch irgendwie anders und – er vergisst meinen Geburtstag. „Jetzt gratuliere schon!“ insistiert die Mutter beim gemeinsamen Abendessen. Da taucht er ab mit seinen Gedanken und keiner von uns weiß, wohin.

So fängt es an. Und es soll fast ein Jahr vergehen, bis ich aus der Erstarrung erwache, der Realität, die ich nicht wahrhaben will, ins Auge blicke und anfange zu handeln.

2

Diagnose Demenz - HILFE !

„Alles hat seine Stunde.

Für jedes Geschehen unter dem Himmel

gibt es eine bestimmte Zeit:

… eine Zeit zum Weinen / eine Zeit für die Klage /

und eine Zeit für den Tanz … eine Zeit zum

Suchen und eine Zeit zum Verlieren …“

Kohelet 3,1; 3,4; 3,6

2.

2013

Im Irrgarten der Gedanken

Nun zeigt es sich deutlich. Ich habe es ja schon seit langem wahrgenommen, aber immer wieder erfolgreich verdrängt. Das Gedächtnis der Mutter scheint durchlöchert wie ein Sieb, das Hörvermögen des Vaters ist stark eingeschränkt. „Wenn er kein Hörgerät trägt, rutscht er unaufhaltsam in eine Demenz“, konstatiert der von mir konsultierte Arzt. Ein Schreckensszenario entsteht vor meinem inneren Auge. Kann das wirklich sein? Der Alltag läuft tatsächlich nicht mehr rund. Ich höre die immer gleichen Fragen, obwohl die Antworten gerade erst gegeben wurden. Vergessene Termine, Irrfahrten mit dem Auto. Desorientierung und Überforderung bei beiden. Ich erlebe es bei meinen Besuchen. Ich erfahre es von Nachbarn und Verwandten. Doch die Eltern sehen nicht, was ich sehe. Sie wollen es nicht wahrhaben, dass da etwas ganz und gar nicht stimmt. Auch ich wehre mich noch immer dagegen, aber meine Wahrnehmungen lassen sich nicht länger beiseite schieben. Vor Sorge wende ich mich an ihren Hausarzt. Der sieht auch, was ich sehe. Und dann beginnt es. Der Kreislauf ärztlicher Untersuchungen. Das vergebliche Ringen um Einsicht bei den Eltern. Der Kampf um Pflegegrade bei der Krankenkasse. Mir wird klar: Die Eltern müssen mit ihrer Situation, mit der Erkrankung konfrontiert und Entscheidungen müssen getroffen werden. So wird alles offen angesprochen. Von mir. Vom Arzt. Und alles wird heftigst geleugnet. Vom Vater. Von der Mutter. Gespräche und Argumente bringen schon jetzt nichts mehr.

O-Ton Mutter: „Was will denn der Arzt?

Mir fehlt doch nichts.“

O-Ton Vater: „Der behandelt mich ja wie ein

Schulkind. Ich will jetzt nach Hause!“

O-Ton beide: „Uns geht es gut!

Mach dir keine Sorgen!“