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Das letzte Licht des Tages E-Book

Kristin Harmel

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Beschreibung

Eine grausame Zeit, ein schrecklicher Fehler und die Hoffnung auf Vergebung: »Das letzte Licht des Tages« von Bestseller-Autorin Kristin Harmel erzählt eine ebenso gefühlvolle wie dramatische Familiengeschichte aus Frankreich zur Zeit des 2. Weltkriegs Frankreich 1940: Als Inés herausfindet, dass ihr Ehemann auf dem Weingut der Familie Flüchtlinge und Waffen für die Résistance versteckt, ist auch sie gezwungen, eine Seite zu wählen. Inés schließt sich dem Widerstand an – und begeht einen schrecklichen Fehler, der das Leben aller auf dem Weingut für immer verändert. Jahrzehnte später begleitet die junge Amerikanerin Liv ihre exzentrische Großmutter auf eine Reise nach Frankreich. Vom Weingut Chauveau fühlt Liv sich wie magisch angezogen – auch, weil sie spürt, dass ihre Großmutter nicht zufällig hierher wollte. Mithilfe des sympathischen Anwalts Julien Cohn beginnt Liv, die Geschichte des Weinguts zu erforschen. Ihre Recherchen führen sie zurück in die dunkelste Zeit des 2. Weltkriegs, zu einer Geschichte von Liebe und Verrat – und der Hoffnung auf Vergebung. Die amerikanische Bestseller-Autorin Kristin Harmel knüpft mit dieser ebenso tragischen wie wunderschönen Familien- und Liebesgeschichte während des 2. Weltkriegs nahtlos an ihren größten Erfolg »Solange am Himmel Sterne stehen« an: Gefühlvoll, wendungsreich und atmosphärisch dicht erzählt, wird »Das letzte Licht des Tages« alle begeistern, die große historische Romane über das 20. Jahrhundert lieben.

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Seitenzahl: 540

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Kristin Harmel

Das letzte Licht des Tages

Roman. Die dramatische Résistance-Geschichte einer französischen Familie bei Ausbruch des 2. Weltkriegs

Aus dem amerikanischen Englisch von Veronika Dünninger

Knaur e-books

 

 

Über dieses Buch

Frankreich 1940: Als Inés herausfindet, dass ihr Ehemann auf dem Weingut der Familie Flüchtlinge und Waffen für die Résistance versteckt, ist auch sie gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Inés schließt sich dem Widerstand an – und begeht einen schrecklichen Fehler, der das Leben aller auf dem Weingut für immer verändert.

Jahrzehnte später begleitet die junge Amerikanerin Liv ihre exzentrische Großmutter auf eine Reise nach Frankreich. Vom Weingut Chauveau fühlt Liv sich wie magisch angezogen – auch, weil sie spürt, dass ihre Großmutter nicht zufällig hierher wollte. Mithilfe des sympathischen Anwalts Julien Cohn beginnt Liv, die Geschichte des Weinguts zu erforschen. Ihre Recherchen führen sie zurück in die dunkelste Zeit des 2. Weltkriegs, zu einer Geschichte von Liebe und Verrat – und der Hoffnung auf Vergebung.

Inhaltsübersicht

WidmungZitat1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. KapitelEpilogAnmerkung der AutorinDanksagung
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Für Jason und Noah.

Ihr lehrt mich immer wieder, was Liebe wirklich ist.

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Es ist nicht hinnehmbar, es ist nicht möglich, dass aus so viel Tod, so viel Opfer und Ruin, so viel Heldenmut keine größere und bessere Menschheit entstehen sollte.

 

– General Charles de Gaulle, Anführer des französischen Widerstands, über die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs

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1

MAI1940

INÈS

Die Straße schlängelte sich über die üppigen Weinberge der Champagne, während Inès Chauveau in Richtung Südwesten aus Reims herausschoss. Staubwolken ballten sich hinter ihrem glänzenden schwarzen Citroën, der Wind peitschte durch ihr kastanienbraunes Haar. Es war Mai, und die Weinreben erwachten bereits zum Leben, ihre Knospen waren wie winzige Fäuste der Sonne entgegengereckt. In wenigen Wochen würden sie blühen, und bis zum September würden ihre Trauben – hellgrüner Chardonnay, tiefschwarzer Pinot Meunier, blaubeerfarbener Pinot noir – prall und reif für die Ernte sein.

Aber würde Inès dann immer noch hier sein? Würde irgendeiner von ihnen es noch sein? Ein Schauder durchlief sie, während sie abbremste, um eine Kurve zu nehmen, und als sie in die Straße einbog, die nach Hause führte, heulte der Motor protestierend auf. Michel würde ihr sagen, dass sie zu schnell, zu tollkühn fuhr. Aber er war eben bei allem vorsichtig.

Im Juni würde es ein Jahr her sein, dass sie geheiratet hatten, und sie konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem er sie seitdem nicht für irgendetwas sanft getadelt hatte. Ich passe eben auf dich auf, Inès, sagte er immer. Das soll ein Ehemann tun. In letzter Zeit ging es bei fast all seinen Warnungen um die Deutschen, die gleich auf der anderen Seite der undurchdringlichen Maginot-Linie lauerten. Es war die befestigte Grenze, die Frankreich vor dem Chaos schützte, das den Rest Europas heimsuchte. Diejenigen von uns, die im Ersten Weltkrieg hier waren, wissen, dass wir sie ernst nehmen müssen, erklärte er mindestens einmal täglich, als wäre er selbst nicht erst vier Jahre alt gewesen, als die letzte Schlacht ausgetragen wurde.

Natürlich war Inès, sechs Jahre jünger als Michel, noch gar nicht geboren gewesen, als sich die Deutschen im Jahr 1918 endlich aus dem Marnegebiet zurückzogen, nachdem sie das Stadtzentrum von Reims nahezu dem Erdboden gleichgemacht hatten. Aber sie hatte von ihrem Vater genügend Geschichten über den Krieg gehört – im Allgemeinen, während er betrunken von Branntwein war und mit der Faust auf den Tisch schlug –, um zu wissen, dass sie wachsam sein musste.

Man darf den Deutschen niemals trauen! Jetzt konnte sie die tiefe, raue Stimme ihres Vaters hören, obwohl er seit Jahren tot war. Sie geben sich vielleicht als Frankreichs Freunde aus, aber nur Dummköpfe würden dergleichen glauben.

Nun ja, Inès war kein Dummkopf. Und diesmal, ausnahmsweise, würde sie die Neuigkeit überbringen, die alles veränderte. Sie verspürte ein leises Triumphgefühl, aber während sie in das Dorf Ville-Dommange raste, schien die stille, düstere, siebenhundert Jahre alte Kapelle Saint-Lié, die sich über dem kleinen Ort erhob, sie für ihre kleingeistige Haltung zu verspotten. Hier ging es nicht darum, wer recht oder unrecht hatte. Hier ging es um den Krieg. Um Tod. Das Blut junger Männer tränkte bereits den Boden in den Wäldern im Nordosten. All die Dinge, die ihr Ehemann prophezeit hatte.

Sie fuhr durch das Gatter, bremste scharf vor dem prächtigen zweistöckigen Château, sprang aus dem Wagen und rannte auf die Tür zu, die in das riesige Geflecht unterirdischer Keller hinunterführte.

»Michel!«, rief sie und stürmte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die steinerne Treppe hinunter. Die kühle, feuchte Luft schlug ihr ins Gesicht wie ein nasses Handtuch. »Michel!«

Ihre Stimme hallte durch das verworrene Labyrinth aus Gängen, die der exzentrische Urgroßvater ihres Ehemanns ein Dreivierteljahrhundert zuvor aus der Erde gehauen hatte. Tausende Flaschen Champagner ruhten dort auf der Seite, ein kleines, perlendes Vermögen, das auf seinen nächsten Akt wartete.

»Inès?« Michels besorgte Stimme ertönte irgendwo tief aus den Kellern, und dann konnte sie Schritte hören, die sich näherten, bis er vor ihr um die Ecke bog, dicht gefolgt von Théo Laurent, dem chef de cave, dem Kellermeister von Maison Chauveau. »Meine Liebe, was ist?«, fragte Michel. Er eilte auf sie zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und musterte ihr Gesicht. »Geht es dir gut, Inès?«

»Nein.« Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, wie atemlos sie von der Neuigkeit, der Fahrt und dem raschen Abstieg in die Kälte der Keller war. »Nein, Michel, es geht mir ganz und gar nicht gut.«

»Was ist passiert?«, fragte er, während Théo sie schweigend betrachtete, die Miene so unergründlich wie immer.

»Sie hat begonnen«, stieß Inès hervor. »Die Invasion, Michel. Die Deutschen kommen!«

Schweres Schweigen lag in der feuchten Luft. Wie lange würde es dauern, bis die Stille der Keller vom Stampfen im Stechschritt marschierender Stiefel über ihnen durchbrochen wurde? Bis alles, was sie aufgebaut hatten, bedroht, vielleicht sogar zerstört wurde?

»Na dann«, sagte Michel schließlich. »Ich nehme an, es ist Zeit, auch den restlichen Champagner zu verstecken.«

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2

JUNI2019

LIV

Liv Kents linke Hand war nackt. Oder zumindest fühlte es sich jedes Mal so an, wenn sie den Blick senkte und die leere Stelle sah, wo in den vergangenen zwölf Jahren ihr Ehering gewesen war. Und obwohl sie ihn bereits vor drei Monaten abgestreift hatte, fünf Wochen nachdem Eric verkündet hatte, dass er gehen würde und den Papierkram so rasch wie möglich erledigt haben wollte, verblüffte es sie manchmal noch immer, diese Abwesenheit von etwas, von dem sie gedacht hatte, sie würde es für immer behalten. Aber andererseits gab es viele Dinge, von denen sie gedacht hatte, sie könne sich auf sie verlassen.

»Danke, dass du das cool aufnimmst«, meinte Eric, während er den letzten Pappkarton mit ihren gemeinsamen Habseligkeiten in die kleine Zweizimmerwohnung trug, in die Liv gezogen war, nachdem sie sich getrennt hatten. Es war seltsam, ihn hier zu haben, wo er Raum ausfüllte, der ihm nie gehören würde. Ein Teil von ihr wollte ihn anschreien, er solle verschwinden, aber ein anderer, ein Teil, für den sie sich zutiefst schämte, wollte ihn anflehen zu bleiben. Das Tempo, in dem ihre Ehe zerbrochen war, hatte bei Liv das Gefühl hinterlassen, der Boden hätte sich unter ihr aufgetan.

»Cool?«, wiederholte sie, während er sich in der Wohnung umsah, die sie mit Möbeln gefüllt hatte, die sie und Eric sich früher geteilt hatten.

Sein Blick verharrte auf dem Antikledersofa, das den Raum verankerte, und sie fragte sich, ob er so wie sie an den Tag zurückdachte, an dem sie es gekauft hatten. An die Art, wie sie sich wegen der Ausgabe gestritten hatten, und wie sie sich danach in die unnachgiebigen Kissen hatten fallen lassen, um sich zu versöhnen, verschwitzt und ineinander verheddert. Aber vielleicht dachte er auch einfach nur, dass er froh war, einen Neuanfang machen zu können, ohne sich von irgendeinem ihrer gemeinsam gekauften Gegenstände sein neues Leben beeinträchtigen zu lassen.

Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Ich wollte nur sagen, ich weiß, dass es nicht leicht war.« Er arrangierte sein Gesicht zu einer Maske düsteren Mitgefühls, und Liv verspürte einen Anflug von Ärger. Aber das war immer noch besser als die Traurigkeit, die in ihr herumgewirbelt war wie ein Sturm, seit sie an diesem Morgen die Scheidungspapiere offiziell unterzeichnet hatten. »Es tut mir wirklich leid, wie alles gekommen ist, Liv, aber wir wollten einfach verschiedene Dinge.«

Alles, was Liv zustande brachte, war ein unverbindliches »Mmmm«.

»Ich will wirklich nur dein Bestes. Das weißt du doch, oder? Ich werde mich immer um dich sorgen.«

»Nur nicht so sehr, wie du dich um dich selbst sorgst«, konnte sich Liv nicht verkneifen zu sagen. »Oder um deine neue Freundin.«

Eric seufzte. »Sei nicht wütend, Liv.« Er stellte den Karton auf den Boden und klopfte sich die Hände ab. »Ich würde mir wünschen, dass wir eines Tages vielleicht sogar Freunde sein können.«

Liv schnaubte spöttisch. Für eine Sekunde verrutschte Erics teilnahmsvolle Miene, und seine Stirn furchte sich verärgert und gewährte Liv einen Blick auf den Mann, der, wie sie jetzt wusste, unter der sorgfältig gepflegten Fassade lauerte, den Mann, der ihr die Schuld an allem gab, was zwischen ihnen schiefgelaufen war. Liv hatte sich ein Baby gewünscht, hatte eine Familie gründen wollen, und Eric schien gern bereit, es zu versuchen. Aber dann, nach über einem Jahr voller Enttäuschungen, war bei ihr ein vorzeitiges Eierstockversagen diagnostiziert worden. Sie hatten es mit drei Runden künstlicher Befruchtung mithilfe von Eizellspenden versucht, bevor Eric überraschend verkündet hatte, er sei fertig – fertig damit, zu versuchen, ein Baby zu bekommen, fertig damit, zu versuchen, Livs Traurigkeit zu verstehen, fertig mit ihrer Ehe. Und natürlich hatte Liv später herausgefunden, dass er zu der Zeit bereits etwas mit einer Vierundzwanzigjährigen namens Anemone angefangen hatte, einer der Verwaltungsassistentinnen der Bergman Restaurant Group, dem Unternehmen, das er managte. »Freunde, ach ja?«, erwiderte Liv schließlich. »Na klar. Vielleicht können du und ich und deine neue Freundin uns zu einem wöchentlichen Dinnerdate treffen. Das klingt doch gemütlich.«

»Liv, ich weiß, dass du wütend bist. Aber das hier ist nicht Anemones Schuld. Wir beide haben uns einfach auseinandergelebt. Es war uns nicht bestimmt, noch länger zusammen zu sein.«

»Und dir war es bestimmt, mit einer Millennial-Veganerin zusammen zu sein, deren Hippie-Eltern sie nach einer Quallenart benannt haben?«

»Eine Anemone ist ein Seepolyp, um genau zu sein«, korrigierte Eric sie, ohne ihren Blick zu erwidern. Er zuckte in entnervter Hilflosigkeit die Schultern. »Was soll ich sagen, Liv? Sie versteht mich.«

»Was genau versteht sie? Dass du ein absolutes Klischee bist? Dass du die wandelnde Verkörperung einer Midlife-Crisis bist? Dass du Anemone eines Tages, wenn du sie satthast, ebenfalls sitzen lassen wirst?«

Eric seufzte, und Liv sah Mitleid in seinen Augen, sodass sie sich gleich noch schlechter fühlte. »Liv, sei ehrlich. Hast du mich überhaupt noch geliebt, als wir uns getrennt haben?«

Sie gab keine Antwort, denn wie könnte sie ihm erklären, dass sie ihn für immer geliebt hätte, wenn er ihr nur die Chance dazu gegeben hätte? Denn so sollte man zu den Leuten sein, denen man sein Leben versprach. Es war nur so, dass sie ihn zum Ende hin nicht mehr besonders gemocht hatte. Aber sie war gewillt gewesen, an ihrer Beziehung zu arbeiten, zu versuchen, zurück zu den Menschen zu finden, die sie beide einmal gewesen waren. Ihre eigenen Eltern hatten diese Chance nie bekommen; ihr Vater war gestorben, als Liv noch ein Baby war, und ihre Mutter war seitdem ständig von einer Beziehung zur nächsten geschlittert. Liv hatte sich immer geschworen, dass ihr Leben anders verlaufen würde. Aber vielleicht waren wir alle dazu verdammt, die Fehler derjenigen zu wiederholen, die vor uns kamen, selbst wenn wir es besser wussten.

Die Sache war: Eric hatte recht. Sie gehörten nicht zusammen. Vielleicht hatten sie es nie getan. Und getrennte Wege zu gehen war vielleicht das Beste, was sie tun konnten. Aber es war trotzdem, als hätte er sie im Stich gelassen, als sie ihn am dringendsten brauchte.

Als sich das Schweigen allzu lange hinzog, ergriff Eric wieder das Wort. »Und, was wirst du jetzt tun? Willst du dich wieder dort draußen ins Heer der Erwerbstätigen einreihen? Du weißt, dass du mich jederzeit um ein Empfehlungsschreiben bitten kannst, wenn du eines brauchst.«

Liv biss sich auf die Lippe; sie hasste ihn ein klein wenig für die Art, wie er sie ansah – als ob sie bemitleidenswert wäre. Vor einem Jahr hatte er vorgeschlagen, dass sie ihren Job als stellvertretende Marketingchefin bei Bergman aufgeben sollte, dem Unternehmen, bei dem sie sich fünfzehn Jahre zuvor kennengelernt hatten. Eineinhalb Jahrzehnte hatten sie Seite an Seite gearbeitet; er war in der Finanzabteilung aufgestiegen, während sie an die Spitze der Marketingabteilung gelangte. Sie waren das perfekte Powerpaar gewesen – bis sie es irgendwann nicht mehr waren.

Hör zu, wenn wir es ein drittes Mal mit der künstlichen Befruchtung versuchen, solltest du vielleicht einfach zu Hause bleiben und dich nur noch darauf konzentrieren, hatte er im letzten Juni gesagt. Außerdem, sobald das Baby da ist, wirst du dir doch sowieso eine Auszeit nehmen wollen, oder? Sie hatte widerstrebend eingewilligt, aber jetzt sah sie, dass es ein Fehler gewesen war, seinen Rat zu befolgen – dass es sein erster Schritt gewesen war, um sie aus ihrem eigenen Leben zu drängen. Die Folge war, dass sie, als der Boden unter ihr wegbrach, nichts mehr hatte – kein Kind, keinen Ehemann, keinen Job, keine Ersparnisse. Sie hing völlig in der Luft. »Ich werde schon eine Lösung finden«, murmelte sie.

»Wenigstens hast du in der Zwischenzeit deine Großmutter.« Erics Lippen zuckten. »Sie wird dir doch sicher helfen, oder?«

»Sie war sehr großzügig«, erwiderte Liv steif. »Ich glaube, ihr ist bewusst, dass sie mir einen schlechten Rat erteilt hat.« Es war Grandma Edith – die in Paris lebende exzentrische, wohlhabende Mutter ihres Vaters – gewesen, die auf einem Ehevertrag bestanden hatte, bevor Liv Eric heiratete – einem Vertrag, nach dem, wenn die Ehe endete, keiner Anspruch auf irgendetwas aus dem Besitz des jeweils anderen hatte. Offenbar sollte er verhindern, dass Eric in die Finger bekam, was eines Tages Livs Erbe sein würde, aber da Grandma Edith noch immer lebte und Eric inzwischen im mittleren sechsstelligen Bereich verdiente, während Liv arbeitslos war, schien dieses Dokument jetzt ein Riesenfehler zu sein. Wenigstens hatte Grandma Edith angeboten, die Kosten für Livs Wohnung zu übernehmen, während die sich über ihr Leben klar wurde, aber Liv fühlte sich schon schuldig genug, dieses Geld anzunehmen, auch ohne dass Eric es ihr unter die Nase rieb.

»Und doch war sie sich damals so sicher.« Er gackerte. »Wie auch immer, Liv, ich muss zurück ins Büro. Aber gib mir Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst, okay? Ich nehme an, wir sehen uns.«

Er wartete keine Antwort ab und ging ohne einen Blick zurück, und als Liv die Tür hinter ihm schloss, hatte sie das Gefühl, dass sie endlich die Vergangenheit aussperrte und in eine unsichere Zukunft trat.

 

Eine Stunde später hatte Liv endlich den Mut aufgebracht, den letzten Karton, den Eric ihr gebracht hatte, zu öffnen. Als sie das Klebeband aufschnitt, die Laschen anhob und sah, dass er ihr Hochzeitsalbum und zwei Schuhkartons mit Fotos aus ihrem gemeinsamen Leben enthielt, fühlte sie sich, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Fotos, die Eric offensichtlich nichts mehr bedeuteten. Sie blätterte die zuoberst liegenden durch – Bilder von ihrer Hochzeitsreise, wo sie und Eric an einem Strand auf Maui Kokosnussdrinks in den Händen hielten und sich anstrahlten –, dann stopfte sie sie wieder in den Karton und wich zurück, als könnte allein ihre Nähe sie schon verletzen.

Es klopfte hart an der Tür, und Liv sah auf. Sie erwartete niemanden, und ihre neue Adresse hatte sie nur wenigen Leuten gegeben. Ihre einzigen Freundinnen während ihrer Ehe mit Eric waren ihre Kolleginnen bei Bergman gewesen, und als sie den Job letztes Jahr aufgegeben hatte, war keine von ihnen mit ihr in Kontakt geblieben, was ihr Gefühl, aus ihrem eigenen Leben ausgelöscht zu werden, nur verstärkt hatte. War Eric zurückgekommen, um noch einen Karton voller Erinnerungen loszuwerden? Sie spielte mit dem Gedanken, nicht zu öffnen, da sie ihm nicht noch einmal gegenübertreten wollte, aber dann klopfte es wieder, lauter und beharrlicher diesmal.

Als sie aufstand und durch den Türspion äugte, musste sie ein paarmal blinzeln, um zu begreifen, was sie sah. Dort, in dem matt erhellten Flur, stand ihre neunundneunzig Jahre alte, unglaublich rüstige Großmutter, die weißen Haare zu einem tadellosen Knoten gebunden, das graue Chanel-Tweedjackett perfekt geschneidert, die schwarze Hose einwandfrei im Sitz. »Grandma Edith?«, fragte Liv ungläubig, während sie die Tür öffnete.

Die alte Frau kniff die Lippen zusammen, und ihre nachgezogenen Augenbrauen furchten sich. »Also wirklich, Olivia, ist das die Art, wie du dich kleidest, wenn ich nicht hier bin, um dich zu beaufsichtigen?« In Grandma Ediths weichen französischen Akzent verpackt klang der Seitenhieb fast höflich. »Habe ich dir das nicht besser beigebracht?«

»Ich, ähm, habe dich nicht erwartet.« Liv sah an sich herunter auf die zerschlissene Jeans und das ausgeleierte Sweatshirt, in die sie geschlüpft war, nachdem Eric gegangen war. Genau die richtige Kleidung zum Trübsalblasen. »Hätte ich dich erwarten sollen?«

»Na ja, ich bin hier, oder?«

»Aber … was tust du denn in New York?« Als Liv das letzte Mal mit ihr gesprochen hatte – drei Tage zuvor, als Grandma Edith anrief, um sie rundheraus zu fragen, wann die Scheidung durch sein würde –, war von einem Transatlantiktrip von Paris hierher keine Rede gewesen. Angesichts Grandma Ediths Alter wäre ein Flug nach New York doch zumindest eine Erwähnung wert gewesen.

»Ich bin natürlich gekommen, um dich zu holen. Willst du mich nicht hereinbitten? Ich brauche dringend einen Martini. Und sag mir bloß nicht, du hast keinen Gin da. Ich müsste dich auf der Stelle enterben.«

»Ähm, nein«, antwortete Liv. »Ich habe Gin da.« Zögernd trat sie zur Seite und sah zu, wie Grandma Edith an ihr vorbeirauschte. Einen Moment lang fragte sie sich, warum sie sich nie umarmten wie normale Leute.

»D’accord. Hast du Blauschimmelkäse-Oliven zur Hand?«, fragte Grandma Edith über die Schulter hinweg, während Liv ihr in die Wohnung folgte. Erst jetzt bemerkte Liv, dass Grandma Edith nichts bei sich hatte bis auf ihre übliche Kelly-Tasche.

»Wo ist denn dein Gepäck, Grandma Edith?«

Die ältere Frau ignorierte sie. »Zur Not würde ich sogar eine Knoblauch-Olive nehmen.«

»Ähm, ich glaube, ich habe nur die normalen da.«

Grandma Edith rümpfte die Nase, schien sich aber damit abzufinden, während sie es sich auf Livs Wohnzimmercouch bequem machte.

Liv schwieg, während sie den Lieblingsdrink ihrer Großmutter zubereitete, eine Aufgabe, die ihr zugefallen war, seit sie neun war. Eine anständige Portion Gin, ein Schuss trockener Wermut, ein paar Tropfen Olivensaft, mit Eis geschüttelt und dann gefiltert.

»Du solltest das Glas vorher wirklich kühlen, Olivia«, sagte Grandma Edith anstelle eines Danks, als Liv ihr den Drink reichte. »Nimmst du selbst keinen?«

»Es ist zwei Uhr nachmittags, Grandma Edith. Und ich versuche noch immer zu verstehen, was du hier eigentlich tust.«

Die ältere Frau schüttelte den Kopf. »Im Ernst, Liv, musst du so verkrampft sein?« Sie nahm einen großen Schluck. »Na schön. Wenn du es unbedingt wissen musst, ich bin hier, weil heute der Tag ist, an dem du offiziell frei von diesem seelentötenden salaud bist. Ich sage ja nur ungern, ich hab’s ja gleich gewusst, aber …«

»Das heißt, du bist hier, um zu frohlocken.«

Grandma Edith nahm noch einen Schluck von ihrem Martini, und Liv bemerkte flüchtig, dass die Hand ihrer Großmutter zitterte. »Das bin ich mit Sicherheit nicht«, erwiderte sie. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen, deine Taschen zu packen.«

»Meine Taschen zu packen?«

Grandma Edith seufzte theatralisch auf, erhob sich und winkte Liv zum Schlafzimmer. »Na los, jetzt komm endlich! Wir sind schon spät dran.«

»Wofür?«

»Für unseren Flug.«

Liv starrte sie nur an.

»Genug Trübsal geblasen, Olivia. Unser Flug geht in viereinhalb Stunden, und du weißt doch, wie die Security am JFK ist.«

»Grandma Edith, wovon in aller Welt redest du denn?«

»Jetzt mach schon, Liebes.« Grandma Edith verdrehte die Augen und leerte den Rest ihres Martinis. »Wir reisen nach Paris, natürlich.«

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3

MAI1940

INÈS

Die Keller unter dem Chauveau-Anwesen waren dunkel, nasskalt und feucht. Die gewölbten Backsteinwände, in weiche Kreide und Kalk gehauen, hielten die Feuchtigkeit, so wie immer, seit Michels Urgroßvater sieben Jahrzehnte zuvor begonnen hatte, sie zu errichten. Daher waren sie der ideale Ort, um Champagnerflaschen ruhen zu lassen, während sie zu etwas Großartigem heranreiften.

Inès wusste es, da Michel ihr die Geschichte des Familienanwesens erzählt hatte, als er vor eineinhalb Jahren begonnen hatte, sie zu umwerben. Die Vorfahren seines Vaters waren seit dem sechzehnten Jahrhundert vignerons, Weinbauern, aber erst seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert hatten sie mit dem Gedanken gespielt, ihren eigenen Wein herzustellen. In den nahe gelegenen Städten Reims und Épernay und selbst in der Gemeinde Aÿ verdienten riesige Champagnerhäuser ein Vermögen, während die Erzeuger in den kleinen Dörfern noch immer wie Kleinbauern lebten. Als Michels Ururgroßvater im Jahr 1839 die Tochter eines Textilindustriellen heiratete, war endlich etwas Geld da, um Gerätschaften und Zubehör zu kaufen.

Das Geschäft war nur langsam gewachsen und fast zum Erliegen gekommen, als Michels exzentrischer Urgroßvater es sich in den Kopf setzte, unter ihrem Anwesen ein Geflecht von Kellern anzulegen, das sich mit den aus Kreide gehauenen crayères der großen Häuser von Reims messen lassen können sollte. Die Tunnel, die er seit den 1870er-Jahren gebaut hatte, waren so verschlungen und komplex, dass Inès sich in ihrer ersten Woche auf Maison Chauveau einmal stundenlang unter der Erde verirrt hatte, eine Furcht einflößende Folter. Michel hatte sie erst lange nach Einbruch der Dunkelheit gefunden.

»Die Tunnel erstrecken sich über viele Kilometer und sind durchaus verwirrend«, hatte er einer schluchzenden Inès erklärt, während er sie in die Abendluft hinausführte. »Sei unbesorgt, mein Schatz. Du wirst es schon noch lernen.« Natürlich kannte Michel jeden Zentimeter des Labyrinths in- und auswendig. Als Junge hatte er in den verwinkelten Höhlen Verstecken gespielt, hatte seinen Namen neben die seiner Vorfahren in die Kreidebereiche der Wände geritzt, hatte dort gekauert, während die Bomben des Ersten Weltkriegs die Erde über ihnen verwüsteten.

Aber selbst ein Jahr nach jener ersten beängstigenden Erfahrung hatte sich Inès noch immer nicht an die dunkle Stille gewöhnt, an die Art, wie die reifenden Flaschen die Keller ausfüllten wie schweigende kleine Särge. Sie hatte sich nicht an die ständige Kälte gewöhnt, als ob die Jahreszeiten über der Erde hier aufhörten zu existieren, und an die Art, wie der Wind manchmal um den Haupteingang der Keller heulte, ein Geräusch, das sie an die Gespenster und Wölfe in Märchen erinnerte.

Das hier sollte ein Märchen sein, dachte Inès mit einem Anflug von Bedauern, als sie jetzt innehielt, um ihre pochenden Schultern zu reiben. Als sie Michel damals, im November 1938, kennenlernte, schienen sie ein perfektes Paar zu sein. Er war entzückt von ihrer Jugend und ihrem Optimismus, sie war ebenso hingerissen von seiner Bodenständigkeit, seiner Weisheit und der faszinierenden Tätigkeit, einen Champagner herzustellen, den jeder in Frankreich kannte. Es war ihr alles so magisch erschienen. Wer hätte gedacht, dass sie nur siebzehn Monate später Arbeitsstiefel tragen und zwanzig Kilo schwere Kisten mit Wein in den geheimen Kellerraum schleppen würde, den Michels Eltern im Ersten Weltkrieg angelegt hatten, um ihre Wertsachen zu verstecken?

Es war eine geniale Anlage, und als Michel sie Inès zum ersten Mal zeigte, kurz nachdem Frankreich Hitlerdeutschland im September den Krieg erklärt hatte, stand ihr vor Staunen der Mund offen. Nie hätte sie vermutet, dass sich hinter einer scheinbar undurchdringlichen Wand ein riesiger Lagerkeller verbarg. Eine versteckte Tür schwang in einer Angel, hinter Backsteinen verborgen, nach außen auf, und wenn sie geschlossen war, sah es aus, als sei sie ein Teil des jahrzehntealten Tunnels aus Stein und Kreide. Es gab sogar eine eigens dafür angefertigte Madonna, die den Anschein erwecken sollte, als hätte sie ihren festen Platz davor, obwohl die Statue der Jungfrau Maria täuschend leicht zu bewegen war. Das wusste Inès, da sie es an diesem Morgen selbst tun musste, um sich Zugang zu dem Versteck zu verschaffen, wo sie seit Monaten nach und nach immer mehr Flaschen verbargen.

Allein in den Kellern, während ihre Arme und ihr Rücken schmerzten, überkam sie auf einmal eine düstere Vorahnung. Im Januar, während sie in einer stürmischen Nacht zusammen im Bett gelegen hatten und der Wind draußen gegen die Weinreben peitschte, hatte Michel ein schreckliches Jahr für die Champagne prophezeit – eine schlechte Ernte, einen Schatten, der sich über ihre ganze Region legen würde. Inès hatte gedacht, er sei nur ein Pessimist, aber jetzt, nachdem die Deutschen die Grenze zu Frankreich überschritten hatten, fragte sie sich, ob er nicht doch mit allem recht hatte – wie üblich. Auch wenn sie seinen Intellekt respektierte, konnte seine Unfehlbarkeit mitunter erdrückend sein. Sie ließ Inès keinen Raum für Gedanken oder Meinungen, die von seinen abwichen.

»Inès? Bist du hier?« Eine Stimme hallte die schmale steinerne Treppe vom Haupteingang zu den Kellern hinunter. Der Eingang befand sich hinter einer Holztür, die in eine Steinmauer hinter dem Château eingelassen war, in dem Michel und Inès lebten. Inès schloss für einen Moment die Augen. Es war Céline, die Ehefrau von Michels Kellermeister Théo Laurent. »Michel hat gesagt, du würdest vielleicht Hilfe benötigen.«

»Ja, ich bin hier!«, rief sie zurück, um einen freundlichen Ton bemüht. Sie kratzte sich am linken Unterarm, eine Angewohnheit aus ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte versucht, sie ihr abzugewöhnen, hatte erklärt, es sei nicht damenhaft, und die leuchtend roten Striemen, die ihre Fingernägel hinterließen, seien unvorteilhaft und ein Zeichen von Unreife. Trotzdem verfiel Inès noch immer jedes Mal in diese nervöse Eigenart, wenn sie angespannt war. »Ich wollte eben noch einmal in den Keller, in dem die letzten Achtundzwanziger lagern.«

»C’est bon. Ich bin gleich bei dir.« Sie konnte schwere Schritte auf der Treppe hören; Céline hatte ihre eleganten Halbschuhe schon vor Monaten abgelegt, als das Marnegebiet seiner Männer beraubt wurde, und trug jetzt fast jeden Tag Arbeitsstiefel. Sie war kräftiger als Inès, auch selbstbewusster, und neben ihr fühlte sie sich oft wie ein unerfahrenes kleines Mädchen, obwohl zwischen ihnen nur ein Jahr Altersunterschied lag.

Inès versuchte, ebenfalls mit anzupacken, aber sie besaß nicht das gleiche Geschick wie Céline und stand oft nur hilflos daneben. Inès besaß keinen Gaumen für die Verkostung, obwohl sie sich Mühe gab, kein Talent dafür, die verschnittenen Weine abzufüllen, und kein Geschick dabei, die Flaschen in Regale zu räumen. Sie nahm an, dass die anderen sie einfach nur für faul hielten, aber tatsächlich war sie zögerlich und unsicher, und jedes Mal, wenn sie eine Flasche zerbrach, verlor sie ein bisschen mehr Selbstvertrauen. Sie war zu nichts zu gebrauchen.

Die Ironie dabei war, dass Michel sie noch vor gar nicht langer Zeit genau so hatte haben wollen. Als er ihr eineinhalb Jahre zuvor einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte er gesagt, er würde für sie sorgen und wolle nicht, dass sie auch nur einen Finger krümme.

»Aber ich helfe gern mit, weißt du«, hatte sie zu erklären versucht.

»Es ist jetzt meine Verantwortung, für dich zu sorgen«, hatte Michel erwidert, ihr Kinn dabei sanft mit einer schwieligen Hand umfasst und ihr in die Augen gesehen. »Du wirst nicht arbeiten müssen.«

»Aber …«

»Bitte, meine Liebe«, hatte er ihr das Wort abgeschnitten. »Mein Vater musste meine Mutter nie bitten, sich mit der Champagnerherstellung zu befassen, und ich will dich auch nicht darum bitten. Du wirst jetzt die Dame des Hauses sein.«

Doch dann war in jenem September der Krieg erklärt worden, und die Mobilmachung hatte ihnen ihre Arbeitskräfte genommen. Allmählich hatte Michel einen anderen Ton angeschlagen, hatte sie anfangs unter gemurmelten Entschuldigungen gebeten, kleinere Arbeiten zu erledigen. Sie nutzte jede Gelegenheit, um ihm zu versichern, dass sie wirklich mit anpacken wollte. Aber als der Herbst in den Winter überging und der Arbeitskräftemangel langsam seinen Tribut von ihrem Produktionszeitplan forderte, hatte er sie angefleht, immer mehr Aufgaben zu übernehmen. Sie gab sich Mühe, zu tun, was er wollte, aber oft gab es dabei eine Lernkurve, und im Laufe der Monate konnte sie immer deutlicher spüren, wie enttäuscht er von ihr war.

Jetzt setzte sie ein Lächeln auf, als Céline um die Ecke bog. Selbst in verwaschenen Hosen und schlammigen Stiefeln war Céline wunderschön, was Inès ärgerte, obwohl sie wusste, dass es irrational war. Aber dann betrachtete Inès die andere Frau etwas genauer, und selbst im Dunkeln konnte sie sehen, dass Célines Augen rot umrandet waren.

»Geht es dir gut?«, fragte Inès.

Céline senkte prompt den Kopf, verbarg ihr Gesicht hinter einem Vorhang langer brauner Haare. »Oh, ja, alles bestens.«

»Aber du hast geweint.« Inès wusste, dass es taktlos war, aber es erschien ihr einfach nicht fair, dass Céline so tat, als sei alles in bester Ordnung, während über ihren Köpfen alles zusammenbrach. Andererseits waren die beiden Frauen in dem Jahr, seit Inès Michel geheiratet hatte, nie wirklich Freundinnen geworden, obwohl Inès es versucht hatte. Céline war still und ernst und lief immer mit einem Stirnrunzeln herum, während sich Inès alle Mühe gab, die Lage positiv zu sehen. Einen Monat nach Inès’ Ankunft auf Maison Chauveau hatte sie gehört, wie Céline Théo zuflüsterte, Inès’ ständiger Optimismus ginge ihr gegen den Strich, da er so unrealistisch sei. Danach hatte Inès wenigstens die entnervten Blicke verstanden, die Céline ihr manchmal zuwarf.

Céline holte schaudernd Luft. »Ja, nun ja, ich bin besorgt um meine Familie, Inès.«

»Oh.« Für einen Moment war sie um Worte verlegen. »Ich nehme an, es geht ihnen gut. Ich bin sicher, die Deutschen tun den Zivilisten nichts an.«

Céline machte ein Geräusch irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen. »Inès, erinnerst du dich denn nicht, dass meine Familie jüdisch ist?«

»Doch, ja, natürlich.« Die Wahrheit war, dass Inès nicht viel darüber nachdachte. In den letzten Monaten war es ein paarmal zur Sprache gekommen, wenn es in den Nachrichten Berichte über Massenverhaftungen von Juden in Deutschland gegeben hatte. Célines Vater und seine Familie waren Juden, aber Inès wusste, dass Célines Mutter – die zwei Jahre zuvor gestorben war – katholisch gewesen und Céline überhaupt nicht religiös erzogen worden war. »Aber du darfst dir keine Sorgen machen. Das hier ist schließlich immer noch Frankreich.«

Céline schwieg so lange, dass Inès schon dachte, sie hätte vielleicht keine Antwort. »Meinst du wirklich, das wird noch eine Rolle spielen, wenn die Deutschen hier die Kontrolle haben?«

Inès biss sich auf die Lippe. Céline musste nicht jede Situation so betrachten, als ob sie das Ende der Welt bedeutete. »Man hört nichts davon, dass den Juden hier irgendetwas passiert«, meinte sie zuversichtlich. »Du wirst schon sehen. Es wird alles gut gehen.«

»Na schön.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Céline ab. Inès sah zu, wie sie sich bückte, eine Kiste mit Achtundzwanzigern vom Boden hochhob und den Tunnel hinunter zu dem versteckten Keller stapfte.

Inès schnappte sich selbst eine Kiste und eilte ihr hinterher. Ihr Rücken protestierte, und ihr untrainierter Bizeps brannte. »Aber du bist doch aus der Nähe von Dijon, oder?«

»Ja, gleich südlich davon, Nuits-Saint-Georges.«

»Dann sind dein Vater und deine Großeltern doch viel weiter von den Deutschen entfernt als wir hier, oder?« Inès wusste, dass Dijon rund dreihundert Kilometer südlich der Champagne lag. »Vermutlich sind sie schon auf dem Weg in den Süden.« Michel hatte ihr erklärt, dass Hunderttausende Flüchtlinge die Straßen verstopften, während die Deutschen näher rückten.

»Nein.« Céline sah Inès nicht an, während sie ihre Kiste auf dem Steinboden des versteckten Kellers abstellte. »Mein Vater leitet ein Weingut, und fast alle seine Arbeiter wurden an die Front geschickt. Er hatte das Gefühl, nicht weggehen zu können. Er ist dem Besitzer, der immer gut zu ihm war, treu ergeben, und meine Großeltern haben entschieden, bei ihm zu bleiben.«

»Es wird ihnen sicher gut gehen.«

»Es wird ihnen sicher gut gehen«, wiederholte Céline, aber Inès konnte die Bitterkeit heraushören, die Angst, daher schwieg sie und wandte sich wieder ihren Flaschen zu.

Inès nahm an, dass sie sich auch um ihre Angehörigen sorgen würde, wenn sie noch welche hätte. Aber ihre Eltern waren beide gestorben, als Inès erst sechzehn war – ihr Vater war einem Schlaganfall erlegen und ihre Mutter zwei Monate später einem Herzinfarkt. Sie hatte keine Geschwister, keine entfernten Angehörigen; Inès war ganz allein. Zum Glück hatte die Familie ihrer lieben Freundin Edith sie bei sich aufgenommen, und so hatte Inès wieder ein Zuhause gefunden.

Als Edith sich Anfang 1938 in einen jungen Gastwirt namens Edouard Thierry verliebte, der die Brasserie seiner Familie in Reims geerbt hatte, war es daher nur logisch, dass Inès sie in die Champagne begleiten würde. Sie hatte keinen Grund, in ihrer Heimatstadt Lille zu bleiben, und obwohl sie es Edouard anfangs verübelte, dass er ihr Edith weggenommen hatte, war sie erstaunt und gerührt von seinem Angebot, sie solle mitkommen und mit ihnen in seiner großen Wohnung über der Brasserie leben. Du bist ihre liebste Freundin, hatte er feierlich erklärt, während sie sich nach ihrer bescheidenen Hochzeit in der Église Sainte-Marie-Madeleine mit der barocken Kuppel in der Altstadt von Lille die Augen wischte. Natürlich wirst du bei uns bleiben, so lange du willst.

Anfangs hatte sie nicht geglaubt, dass er sie wirklich dort haben wollte, aber er war ein aufrichtig begeisterter Gastgeber gewesen, hatte sie oft bei gesellschaftlichen Anlässen miteinbezogen und manchmal sogar nach ihren Ansichten zum Weltgeschehen gefragt. Hin und wieder hatte er sie sogar hinter der Bar der Brasserie aushelfen lassen, damit sie sich ein bisschen Geld dazuverdienen konnte. Als Edouard eines kalten Abends im Herbst 1938 seinen alten Freund Michel Chauveau zum Essen mit nach Hause brachte und erklärte, Michel sei ein sehr begehrter Junggeselle, schien vorbestimmt, dass Inès sich in ihn verlieben würde.

»Oh, Michel sieht so gut aus!«, hatte Edith ausgerufen und in die Hände geklatscht, während Edouard Michel zur Tür brachte und die beiden Frauen allein ließ. »Findest du nicht auch, Inès?«

Inès hatte gelächelt, während ihr Herz noch immer flatterte. »Hast du seine Augen gesehen?« Sie waren von einem durchdringenden Blau, die Art, die genau durch einen hindurchsehen konnte. Er war hochgewachsen und kräftig gebaut, mit sandblondem Haar und scharfen Zügen, und auch wenn sein Anzug ein wenig altmodisch war, stand er ihm gut.

»Seine Augen?«, hatte Edith lachend erwidert. »Mir ist nur aufgefallen, dass sie den ganzen Abend auf dich gerichtet waren, meine liebe Freundin. Und wie könnte er dir auch widerstehen? Du bist wunderschön.«

Edith verstand es, Inès dieses Gefühl zu geben. Diese Art Freundin war sie schon immer gewesen, die Art, die einen aufmunterte, wenn man niedergeschlagen war.

»Kannst du glauben, dass ihm Maison Chauveau gehört?«, ergänzte Edith und zog dabei bedeutungsvoll beide Augenbrauen hoch.

»Und doch war er so bescheiden«, meinte Inès. Er war mit eisgekühlten Flaschen drei verschiedener Chauveau-Jahrgänge gekommen, hatte Inès’ Fragen nach seinem Champagner-Imperium aber höflich abgewehrt und die Aufmerksamkeit stattdessen wieder auf sie gelenkt, hatte sie nach ihrem Leben in Lille und ihrer Freundschaft mit Edith gefragt und ob sie schon Gelegenheit gehabt habe, Ausflüge in die Champagne zu unternehmen.

Später waren sie und Edith sich einig gewesen, dass er sie tatsächlich um ein Rendezvous gebeten hatte. Genau wie Edouard war er ein paar Jahre älter als Edith und Inès und auch ernster als sie. Inès nahm an, der Grund dafür war, dass er und Edouard beide schon früh in ihre jeweiligen Familienunternehmen gezwungen worden waren; sie hatten mit Anfang zwanzig Verantwortungen übernommen, die Inès sich kaum vorstellen konnte.

»Ich habe mich bislang noch nicht aus Reims hinausgewagt«, hatte Inès erwidert. »Aber ich würde sehr gern einmal die Umgebung sehen.«

»Wirklich?«, lächelte Michel, und Inès’ Magen flatterte. In der Woche darauf hatte er sie besucht, und im Frühjahr waren sie verlobt. Sie heirateten in der ersten Maiwoche, denn es gab keinen Grund zu warten; genau wie Inès hatte auch Michel keine lebenden Angehörigen.

Anfangs war ihr alles so blendend erschienen. Inès war die junge Ehefrau des Besitzers eines renommierten Champagnerhauses! Sie würde inmitten wogender Weinberge leben! Sie würde jeden Abend Schampus trinken!

Aber die Realität sah völlig anders aus. Sobald Inès und Michel verheiratet waren, fuhren sie nur noch selten nach Reims; die malerische Landschaft wurde nach einer Weile banal, und selbst die allabendliche Flasche, die sie zum Essen öffneten, erschien ihr allmählich eintönig.

Aber das größte Problem war, dass Inès Edith nicht mehr hatte, um täglich mit ihr zu plaudern, oder auch nur Edouard, um eine Unterhaltung zu führen, jetzt, da sie nicht mehr bei ihnen lebte. Michel war noch in sich gekehrter und ernster, als er während ihrer kurzen Zeit des Werbens zu sein schien, und sie verbrachten oft ganze Mahlzeiten in völligem Schweigen, während er über Probleme mit dem Produktionszeitplan oder Schwierigkeiten mit Erzeugern nachgrübelte – beides wollte er nicht mit Inès erörtern.

Inès hatte sich vorgestellt, sie und Michel würden oft nach Reims fahren, um ihre Freunde zu treffen, aber obwohl die kleine Stadt mit dem Wagen nur vierzig Minuten von Ville-Dommange entfernt war, hätte sie genauso gut in einem anderen Land liegen können. Die Anforderungen der Champagnerherstellung nahmen Michel an den meisten Tagen von früh bis spät in Anspruch, und er wollte nicht, dass Inès ohne ihn den Wagen nahm. Inès war im Grunde gefangen an einem Ort, der sich noch immer nicht wie ein Zuhause anfühlte.

Und obwohl Inès den stämmigen, dunkelhaarigen Théo und seine kräftige, elegante Ehefrau, Céline, bereits bei ihrem ersten Besuch auf Maison Chauveau kennengelernt und gedacht hatte, sie könnten vielleicht Freunde werden, war auch das nicht passiert. Théo war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er manchmal für Wochen verschwinden konnte, während Céline ebenso still und ernst war wie Michel. Je mehr Inès versuchte, über Klatsch und Tratsch oder Neuigkeiten aus der Stadt eine Verbindung zu ihr aufzubauen, desto mehr schien sich Céline zurückzuziehen.

Jetzt, während der Krieg am Horizont heraufzog, fühlte sich Inès abgeschnittener als je zuvor. In den Tiefen der Keller hätten sie und Céline ihre Ängste vor dem, was kommen würde, teilen sollen. Aber stattdessen arbeiteten sie schweigend, und das einzige Geräusch war der leise Aufschlag jeder Kiste, die in ihrem neuen, verborgenen Zuhause landete.

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4

JUNI1940

CÉLINE

An einem Freitagmorgen im Juni, Tage nachdem die Deutschen schließlich in die Champagne einmarschiert waren, stürzte Théo mit geröteter Miene in das kleine Cottage, das er sich mit Céline teilte.

»Sie sind hier, in Ville-Dommange«, platzte er heraus. »Die Deutschen. Komm schnell.«

Céline spürte Angst in sich aufwallen. Sie hatte gewusst, dass das passieren würde, denn seit die Deutschen Anfang der Woche hier eingefallen waren, hatten sie die Ortschaften rings um sie geplündert. Sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, ihr kleines Dorf würde irgendwie übersehen werden, aber das war natürlich töricht. Die Eroberer würden ihre Belohnung haben wollen – in diesem Fall die unzähligen Flaschen guten Champagner, die in den dunklen Kellern unter der Landschaft lagerten. Aber was, wenn die Deutschen auch noch etwas anderes suchten? Was, wenn sie kamen, weil sie wussten, dass Céline Halbjüdin war? »Sollte ich mich verstecken?«, fragte sie.

»Hier geht es nicht um dich«, erwiderte Théo prompt, die dunklen Augenbrauen gefurcht. »Das passiert allen Champagnerhäusern. Komm schon, Céline. Wir sind nicht in Gefahr, solange wir tun, was sie sagen. Und im Augenblick braucht Michel uns.«

Dazu konnte Céline nicht Nein sagen, nicht nach der Freundlichkeit, die Michel ihnen entgegengebracht hatte. Als Théo sich vier Jahre zuvor um die Stellung als Kellermeister auf Maison Chauveau beworben hatte, kurz nachdem er Céline in Nuits-Saint-Georges geheiratet hatte, war er bereits von mehreren größeren Champagnerhäusern in Reims abgelehnt worden, da er seinen Beruf im Burgund und nicht in der Champagne erlernt hatte. Aber Michel hatte nichts auf seine bescheidene berufliche Herkunft gegeben. »Du bist ein fähiger Winzer, so viel steht fest«, hatte er gesagt, nachdem er Théos Empfehlungsschreiben studiert und eine Reihe Verkostungen und Verschneidungen mit ihm durchgeführt hatte. »Jedes Haus könnte sich glücklich schätzen, dich zu haben.«

Und damit war die Sache besiegelt gewesen. Michel hatte ihnen, als Teil von Théos Gehalt, das ehemalige Hausmeistercottage angeboten, nur fünfzig Meter rechts neben dem Haupthaus gelegen, und Théo hatte es angenommen. Seit jenem Tag war Michel über die Maßen großzügig gewesen, hatte die Laurents wie Familienmitglieder behandelt, sie hin und wieder zum Sonntagsessen in dem weitaus größeren Haupthaus und an Festtagen sogar zu ihren Feierlichkeiten eingeladen. Er und Théo waren eine Zeit lang fast wie Brüder gewesen, auch wenn Céline, seit im September der Krieg erklärt worden war, eine wachsende Distanz zwischen ihnen spürte. Théo wollte so tun, als sei nichts geschehen, während Michel entschlossen war, der Zukunft fest ins Auge zu blicken, selbst wenn sie beängstigend und unsicher war. Céline würde es niemals laut aussprechen, aber sie nahm an, dass Michel recht hatte, während ihr Ehemann einfach nur kurzsichtig war.

Und so strich sich Céline, trotz ihres hämmernden Herzens und ihrer feuchten Hände, die Haare nach hinten und setzte ein Lächeln auf. Sie war bereits angezogen, mit einer Latzhose und Arbeitsstiefeln und einer weißen Baumwollbluse, die über ihrem Mieder zugeknöpft war. Sie hatte vorgehabt, Théo zu einem nahe gelegenen Weinberg zu begleiten, um einige der ersten Knospen zu inspizieren, aber jetzt war klar, dass das warten musste. »Na schön«, sagte sie zu Théo. »Gehen wir.«

Er nahm ihre Hand, drückte ihre Finger dabei etwas zu fest und zog sie zur Tür hinaus. Unten an der Straße, vielleicht einen knappen Kilometer entfernt, konnte Céline eine kleine Karawane von Militärlastwagen sehen. Staub wirbelte um sie herum auf, während sie sich näherten. Das Dröhnen ihrer Motoren durchschnitt die Stille des Morgens, ein leises und beharrliches, bedrohliches Brummen.

»Merde«, murmelte Théo. »Sie sind früher hier, als ich dachte.«

Théo und Céline rannten zum Haupthaus. Die Tür stand bereits offen, und Michel und Inès warteten drinnen auf sie, mit bleichen Mienen.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Inès, sobald die beiden eintraten. Ausnahmsweise sah sie nicht zurechtgemacht aus, ihre dunklen, kastanienbraunen Haare ungebändigt und wild. Sie trug hohe schwarze Riemchensandalen und ein langes blaues Kleid mit einer betonten Taille, irgendwie noch immer anmutig und hübsch inmitten des ganzen Chaos. Inès sah von Théo zu Céline und dann wieder zurück zu Michel. »Wir müssen etwas tun!« Sie legte die Hände an die Wangen und kratzte mit den Fingernägeln an ihren Armen hinunter, als wüsste sie nicht, was sie mit ihren Händen tun sollte.

»Wir warten ab«, sagte Michel und schloss die Tür. Die dunkle Stille der Eingangsdiele umfing sie. »Wir warten ab, und dann werden wir sehen, was sie wollen.«

Keine Minute später, nach dem Quietschen von Bremsen und einer Kakofonie aus rauem Gelächter und tiefen Stimmen draußen, klopfte es hart an ihrer Haustür.

»Ganz ruhig«, rief Michel ihnen in Erinnerung, und dann drückte er die Tür auf, um ihre Eindringlinge zu begrüßen. Céline konnte drei deutsche Soldaten sehen, alle in voller Uniform, zwei mit langen Gewehren in den Händen, die auf der Schwelle standen, und hinter ihnen noch ein halbes Dutzend mehr. Sie waren jung, vielleicht Anfang zwanzig, bis auf den breitschultrigen Mann ganz vorn, der eher an die vierzig zu sein schien. Seine Hand verharrte über der gehalfterten Pistole an seiner Hüfte.

»Guten Tag«, sagte Michel gelassen, als sei es ein alltägliches Vorkommnis, Deutschen die Tür zu öffnen. »Wie können wir Ihnen helfen?«

»Uns helfen?«, schnaubte der ältere Mann spöttisch. »Ihr könnt uns helfen, indem ihr uns zeigt, wo der Eingang zu eurem Champagnerkeller ist.«

Michel antwortete nicht sofort, und in diesen wenigen angespannten Sekunden musterte Céline den Mann. Er war hochgewachsen und dunkelhaarig, mit einem schmalen Schnurrbart, kleinen Augen und feinen, fast vornehmen Zügen, die in diesem Moment zu einem höhnischen Grinsen verzerrt waren. Seine waldgrüne Uniformjacke mit dem steifen schwarzen Kragen wurde von einem braunen Ledergürtel zusammengehalten und war mit Bronzeknöpfen, Medaillen und einem Nazi-Emblem verziert. Seine Hose war grau, und darunter glänzten seine hohen schwarzen Stiefel im Sonnenlicht. Trotz der Hitze des Morgens war nicht eine Falte an ihm zu sehen. Er war ein Offizier, begriff sie, der das Kommando über die anderen hatte. Sein Französisch war tadellos und ließ auf ein gewisses Maß an Bildung und Kultiviertheit schließen.

»Sicher«, antwortete Michel gelassen. »Darf ich fragen, wonach Sie suchen?«

»Das darfst du nicht.«

Michel und Théo wechselten einen Blick, dann trat Michel zur Seite und bat die Soldaten herein, als wären sie Ehrengäste. Er führte sie durchs Haus und zur Hintertür wieder hinaus, und erst in diesem Moment erkannte Céline, dass der kleine Nebeneingang zu den Kellern – der, den Michels Urgroßvater in der Küche angelegt hatte, falls die Familie einmal rasch hinuntermusste – jetzt hinter einem großen Schrank verborgen war. Stattdessen schien Michel – dicht gefolgt von Théo – die Soldaten zu dem Haupteingang in der Steinmauer zu führen, die ihren Garten von den Weinbergen dahinter trennte. Als Michels Urgroßvater die verschlungenen Tunnel angelegt hatte, die sich mit den crayères der größeren Champagnerhäuser messen können sollten, hatte er auch einen eindrucksvollen steinernen Eingang errichtet, der von einer kunstvoll geschnitzten Holztür verschlossen wurde, sodass es möglichst prunkvoll aussah. »Ihr bleibt hier«, warnte Michel sie über die Schulter, wobei er erst Inès und dann Céline ansah.

Aber der Offizier legte Michel eine Hand fest auf den Unterarm und sah zurück zu den Frauen. Er lächelte, und irgendetwas an seiner Miene – kalt und verschlagen – ging Céline durch Mark und Bein. »Nein«, sagte er, »ich denke, die Frauen werden uns auch begleiten.«

Céline leistete keinen Widerstand, als Inès ihre Hand ergriff und ihre winzigen kindlichen Finger mit Célines längeren und schmaleren verhakte. Zusammen folgten sie ihren Ehemännern durch die eindrucksvolle Kellertür und die schmalen Stufen hinunter. Ihre eiligen Schritte klapperten über den Stein wie das beharrliche Klopfen von Spechten. Einer der Soldaten stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als der erste Keller mit Flaschen in Sicht kam, aber der Mann hinter ihm stieß ihn in die Seite und sagte auf Deutsch: »Oh, ich bitte dich, das ist doch gar nichts, verglichen mit dem Veuve Clicquot Ponsardin.«

Céline verstand, was er sagte, da ihre Mutter, die in der Nähe der deutschen Grenze aufgewachsen war, ihr Deutsch beigebracht hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Aber sie stellte sich dumm, hielt die Augen weit offen und wahrte eine neutrale Miene. Sie wusste, dass sie zumindest einen kleinen Vorteil hatte, wenn die Deutschen das Gefühl hatten, offen vor ihr reden zu können.

»Nun? Wo sind eure 1928er?«, wollte der Offizier wissen, während er sich misstrauisch umsah. »Und eure Vierunddreißiger?«

»Wir haben nur noch etwa einhundert Flaschen von jedem Jahrgang übrig.« Michel fing den Blick des Offiziers auf. »Aber wenn Sie mir folgen wollen, sie sind gleich dort drüben.«

Der Offizier kniff die Augen zusammen, aber er gestattete Michel, die Gruppe den Haupttunnel hinunter zu einem Keller auf der linken Seite zu führen, wo Michel, wie Céline wusste, ein paar Regale mit ihren besten Weinen absichtlich draußen gelassen hatte. Ein völliges Fehlen wäre verdächtig; aber ein Mangel konnte erklärt werden, indem man behauptete, die restlichen Flaschen seien bereits verkauft worden. »Hier ist es«, sagte Michel und wies auf den Raum. »Gleich dort rechts auf dem Boden.«

»Hm.« Der Offizier winkte einen seiner Männer heran, und zusammen hoben sie eine der Kisten hoch und zogen eine Flasche heraus. Es war tatsächlich ein Achtundzwanziger, einer der wertvollsten ihrer Sammlung. Hinter der Jungfrau Maria in der Biegung des Gangs lagen seine Schwestern schweigend in ihrem Versteck. »Wo ist der Rest?«, wandte sich der Offizier an Michel. Seine Miene war hart, und die rechte Hand wanderte wieder zu seiner Pistole.

»Oh, wir sind schon lange Zeit fast ausverkauft. Achtundzwanzig war ein sehr guter Jahrgang, wissen Sie. Sehr nachgefragt. Vierunddreißig auch.« Michel furchte die Stirn. Er war ein weitaus besserer Schauspieler, als Céline ihm zugetraut hatte. »Bitte. Nehmen Sie, was wir haben. Ich werde Ihnen keinen Ärger machen.«

Der Offizier gab zweien seiner Männer ein Zeichen, und sie traten vor und machten sich daran, die Flaschen einzusammeln. »Gut so. Lassen Sie uns jetzt allein.«

»Natürlich.« Michel nahm Inès’ Hand und ging mit raschen Schritten zurück zur Treppe, gefolgt von Céline und Théo. Die vier schwiegen, bis sie wieder, oben angekommen, durch den Hintergarten und in die Küche des Haupthauses gegangen waren.

»Michel, du hast dich bei ihnen praktisch dafür bedankt, dass sie unsere Keller geplündert haben!«, rief Inès.

»Was hätte ich denn tun sollen?« Michel klang erschöpft. »Dort draußen herrscht Anarchie. Wir müssen für die Zukunft planen, und wenn sie glauben, dass wir etwas verstecken, werden sie unsere Keller auseinandernehmen.«

»Aber musstest du so … unterwürfig sein?«, wollte Inès wissen. Ihre Stimme schraubte sich vor Empörung um eine Oktave höher. »Das hier ist unser Anwesen!«

»Inès!«

Es war das erste Mal, dass Céline hörte, wie Michel laut wurde. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, während Inès ihn wie ein verwundetes Reh anblinzelte.

»Mein Schatz«, fuhr er dann etwas ruhiger fort. »Das ist jetzt der schlimmste Teil. Wir werden diesen Sturm überstehen, und in ein paar Tagen werden die deutschen Behörden ihre Männer im Griff haben. Bis dahin müssen wir einfach überleben.«

Inès öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie wurde von einer Stimme hinter ihnen unterbrochen. »Offenbar seid ihr Franzosen doch schlauer, als ihr ausseht.«

Sie schnellten herum und sahen den deutschen Offizier, umrahmt von dem sonnenbeschienenen hinteren Türrahmen, eine Zigarette in der Hand, von der eine sehnige Rauchwolke aufstieg. »Eure einzige Aufgabe ist es jetzt, zurechtzukommen. Verstanden?«

Niemand erwiderte etwas, und als sich das Schweigen allzu lange hinzog, antwortete Céline schließlich für sie alle: »Ja, mein Herr, wir haben verstanden. Wir werden Ihnen keinen Ärger machen.«

Der Offizier lächelte leicht, wodurch er noch gefährlicher, noch unheimlicher aussah. Oder vielleicht war es einfach die Art, wie er sie auf einmal musterte, die so beunruhigend war; es wirkte, als würde er sie zum ersten Mal wirklich wahrnehmen. Sein Blick verharrte auf den oberen Knöpfen ihrer Bluse. Sie widerstand dem Drang, sich wegzuducken, und schließlich wanderte sein Blick wieder hoch zu ihrem Gesicht. »Das freut mich zu hören«, befand er.

Céline schluckte schwer, und der Offizier wandte seine Aufmerksamkeit wieder Michel zu. »Also. Was ist in diesem kleineren Haus?« Er wies auf Célines und Théos Cottage. »Meine Männer wünschen es zu sehen.«

 

Eine Stunde später waren beide Häuser leer geräumt, zusammen mit Dutzenden Kisten des besten Champagners von Maison Chauveau. Michel hatte darauf bestanden, dass sie passiv blieben, während die Deutschen die Möbel hinaustrugen, generationenalte Wandteppiche von den Wänden rissen, ihre Speisekammern plünderten und kostbare Laibe Brot, Gläser mit Marmelade und Dosen mit Kaffee einpackten. Die Deutschen nahmen alles mit – Sessel, Decken, Matratzen, selbst die alte Standuhr, die über einhundert Jahre in ihrem Wohnzimmer Wache gehalten hatte. Sie stapelten ihre Beute vor dem Haupthaus im Garten auf, zertraten dabei das Beet roter Pfingstrosen, das Inès so entschlossen gepflegt hatte, selbst nachdem Michel erklärt hatte, sie müssten den gesamten noch anbaufähigen Boden in Gemüsegärten umwandeln. Jetzt war es einerlei.

Ganz oben auf dem Stapel sah Céline die verblasste Quiltdecke, die ihre Mutter anlässlich ihrer Hochzeit mit Théo für sie angefertigt hatte, und auf einmal wurde sie wütend. Was wollten diese Männer mit etwas so Persönlichem? Es war Mitte Juni; die Nächte waren warm genug. Nein, die Quiltdecke stand für etwas Schlimmeres – das Bedürfnis zu plündern um des Plünderns willen. Sie blinzelte ihre Tränen zurück. Sie wusste, sie sollte eher besorgt sein wegen der Möbel und Dosen und Gläser mit Lebensmitteln, die sie durch den Winter gebracht hätten. Aber die Quiltdecke war eines der letzten Dinge, die sie zur Erinnerung an ihre Mutter besaß.

Nachdem die Männer schließlich alles, was von irgendeinem Wert sein könnte, ausgeräumt hatten, kamen sie aus den Häusern. Während sie die Lastwagen beluden, kam der kommandierende Offizier herübergeschlendert, die Daumen im Gürtel verhakt. »Wir werden wiederkommen und uns noch mehr Champagner holen, wenn wir ihn brauchen.« Er hatte Krümel am Schnurrbart und einen Marmeladeklecks rechts am Kinn. »Alles, was ihr habt, gehört jetzt Deutschland.«

Michel hüstelte und kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.

Der Offizier musterte ihn. »Wir werden uns wiedersehen«, sagte er auf Deutsch in bedrohlichem Ton.

Niemand antwortete, und er schien belustigt von ihrem Mangel an Verständnis. Céline achtete darauf, eine neutrale Miene zu wahren, und als der Blick des Offiziers wieder auf ihr landete und so lange verharrte, dass sie spüren konnte, wie Théo sich neben ihr anspannte, zwang sie sich, nicht zu blinzeln und nicht zusammenzuzucken, bis er schließlich auf dem Absatz kehrtmachte und davonstolzierte.

Und dann, ebenso schnell, wie sie gekommen waren, kletterten die Deutschen wieder in ihre Lastwagen und fuhren johlend und jubelnd mit ihrer Beute davon, bis sie schließlich außer Sichtweite waren.

»Was hat er gesagt?«, fragte Inès in einem fast hysterischen Ton, sobald der Konvoi endlich verschwunden war. Die plötzliche Stille wirkte unheilvoll. »Weiß irgendjemand, was er gesagt hat?«

»Er hat gesagt, wir werden uns wiedersehen«, antwortete Céline. Aber es war nicht nötig, die Absicht hinter den Worten zu übersetzen. Sie waren eine Drohung, und selbst in der Hitze der Champagne fühlte sich Célines Blut an, als hätte es sich in Eis verwandelt.

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5

JUNI2019

LIV

Du musst das hinter dir lassen«, sagte Grandma Edith, während Liv durchs Fenster auf den dunklen Himmel über dem Atlantik starrte und sich fragte, wann sie die ersten Strahlen der Morgendämmerung über dem östlichen Horizont sehen würde.

Liv wandte sich um, verblüfft zu sehen, dass ihre Großmutter aufrecht dasaß und sie in dem gedämpften Licht ihrer Erste-Klasse-Kabine musterte. Schon vor Stunden waren sie an Bord ihres Delta-Flugs gegangen, aber Liv hatte nicht schlafen können, obwohl die flach ausklappbaren Premiumsitze sogar noch bequemer waren, als sie sich vorgestellt hatte.

»Ich wusste gar nicht, dass du auch wach bist.« Liv legte ihrer Großmutter eine Hand auf den Arm. Er war kalt, von Gänsehaut überzogen, und Liv griff instinktiv nach der Decke, die ihrer Großmutter in den Schoß gerutscht war.

»Lass sie liegen«, sagte Grandma Edith und schob Liv zur Seite. »Es geht mir gut. Aber dir nicht. Du suhlst dich in deinem Elend.«

»Ich suhle mich nicht in meinem Elend. Ich bin nur traurig.«

»Über diesen Nichtsnutz Eric?«

Liv kratzte an ihrem Daumennagel. »Darüber, dass ich nicht einmal mehr weiß, wer ich bin.«

»Ach du lieber Gott, Olivia, ich hoffe, du willst mir nicht sagen, dass du deine Identität mit diesem Nichtsnutz verknüpft hattest. Ich weiß, dass deine Mutter, nachdem dein Vater gestorben war, Ehemänner verbraucht hat wie andere Leute Milchpackungen, aber ich dachte, du wärst besser.«

Liv sah sie eindringlich an. »Ich wollte nur sagen, dass mich diese ganze Sache überrumpelt hat und ich mich jetzt ein bisschen verloren fühle, okay? Ich bin einundvierzig, ohne Ehemann, ohne Kinder und ohne Job. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass ich einmal an diesen Punkt gelangen würde.«

»Ja, na ja, wenn du dir von Eric alles wegnehmen lässt, dann hat er gewonnen, oder?« Grandma Edith schüttelte den Kopf und drückte auf ihren Rufknopf. »Und das wäre wirklich eine Enttäuschung.«

Liv kaute auf ihrer Lippe, während eine Flugbegleiterin auf sie zukam, ihre Mascara war verschmiert und das Haar auf einer Seite angedrückt. Sie hatte offensichtlich geschlafen, aber Grandma Edith schien das nicht zu kümmern, während sie sich fröhlich einen Gin Martini und ein paar Salzbrezeln bestellte. Einen Augenblick später brachte die Flugbegleiterin gähnend die Bestellung und sah Liv fragend an. Liv konnte nur die Schultern zucken. Niemand schien je zu wissen, was er von dieser winzigen Französin in den Neunzigern halten sollte, die trank wie ein Werbemanager aus den Sechzigerjahren.

»Also, wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Grandma Edith, nachdem sie einen langen Schluck von ihrem Cocktail – ihrem dritten seit dem Boarding – genommen hatte. Das Geheimnis der Langlebigkeit der alten Frau war zweifellos eine unerschütterliche Entschlossenheit, ihre Leber zu marinieren. »Ach ja, dein Unwohlsein. Es ist nicht besonders vorteilhaft, Liebes. Meine Mutter sagte immer, eine Dame sollte eine Möglichkeit finden, ihre Probleme ohne Klage zu lösen. Ich denke, das war ein sehr guter Rat, auch wenn ich zugeben muss, dass ich ihn nicht immer befolgt habe.«

»Bei allem gebotenen Respekt, Grandma Edith, aber vielleicht musste deine Mutter sich nie mit Unfruchtbarkeit und einem Ehemann herumschlagen, der ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte.«

»Nein, Liebes, sie musste sich nur mit dem gewaltsamen Tod ihres Bruders im Ersten Weltkrieg herumschlagen, mit entsetzlichen nächtlichen Bombenangriffen, während die Deutschen Frankreich plünderten, und meinem Vater, der halb blind und voller fehlgeleiteter Wut aus Verdun zurückkehrte.«

Liv starrte sie an. »Grandma Edith, es tut mir so leid. Ich hatte keine Ahnung, dass deine Familie das alles durchgemacht hatte.«

»Ja, nun ja, manche Dinge lässt man besser auf sich beruhen. Was ich sagen wollte: Viele Leute verlieren mehr, als sie sich je vorstellen konnten, und finden trotzdem einen Weg, nach vorn zu blicken.« Als sie ihren Martini wieder anhob, zitterte ihre Hand. Sie sah Liv an und dann an ihr vorbei, mit einem weltentrückten Blick. »Ich habe einen Weg gefunden, Olivia. Und du musst das auch.«

 

In Paris herrschte reges Treiben, obwohl es noch nicht einmal acht Uhr morgens war, während sich ihr chauffeurgesteuerter Wagen durch die schmalen Straßen des siebten Arrondissements schlängelte. Liv starrte durchs Fenster auf die Boulangerien, die bereits voller Leute waren, die Blumenhändler, die für den Tag aufbauten, die Fromagerien mit ihrer reichen Auswahl köstlicher Käsesorten. Liv öffnete das Fenster einen Spalt, um die vertraute Mischung aus Hefebrot, leichtem Zigarettengeruch und Blumen einzuatmen – eine Kombination, die einzigartig für Paris war. Sie war als Kind so oft hier gewesen, dass der Geruch glückliche Erinnerungen daran hätte auslösen sollen, wie sie durch die Tuilerien-Gärten gelaufen war, während ihre Großmutter hinter ihr herschlenderte, eine Zigarette zwischen zwei schmalen Fingern.

Stattdessen war die Erinnerung, die sich an ihr festkrallte, die an eine Reise in jüngerer Zeit, eine, die sie mit Eric unternommen hatte, kurz nachdem er ihr vor dreizehn Jahren einen Heiratsantrag gemacht hatte. Ohne Grandma Ediths Zustimmung hatte sie ihn nicht guten Gewissens heiraten können. Es sollte eine bloße Formsache sein, aber Grandma Edith konnte ihn, aus Gründen, die Liv nicht verstand, von Anfang an nicht leiden. Eric mochte Grandma Edith auch nicht besonders; er sagte Liv an ihrem ersten Morgen dort, die alte Frau erschiene ihm zu protzig.

»Ich glaube, sie lebt einfach gern angenehm, das ist alles«, protestierte Liv. »Außerdem weißt du doch, wie großzügig sie mir gegenüber immer ist.«

Eric verdrehte die Augen. »Ja, es muss nett sein, in Geld zu schwimmen, das sie nicht wirklich verdient hat.«

»Was redest du denn? Wir haben doch keine Ahnung, woher ihr Geld kommt.«

»Und du findest das nicht seltsam?«

Liv zuckte die Schultern. »Ich finde es altmodisch. Sie sagt immer, dass es vulgär ist, über finanzielle Angelegenheiten zu reden.«

»Wie dem auch sei, sie scheint nicht zu glauben, dass ich auch nur einen Cent ihres Vermögens wert bin.«

»Was?«

»Willst du mir etwa sagen, dass es nicht ihre Idee war, mich einen Ehevertrag unterschreiben zu lassen?«

Natürlich war es Grandma Edith gewesen, die auf dem Dokument bestanden hatte, was Liv sinnlos erschien. Aber die ältere Frau bezahlte großzügig ihre Hochzeit, und sich ihrer Bitte zu fügen, schien ein kleiner Preis zu sein, um den Frieden zu wahren. »Hör zu, spielt das denn eine Rolle? Es ist doch nicht so, dass wir uns scheiden lassen werden. Ich liebe dich.«

Später, als Eric unter der Dusche war, hatte Liv das Thema gegenüber Grandma Edith angesprochen. »Du magst ihn doch, oder?«

Grandma Edith hatte lange gebraucht, um Livs Blick zu erwidern. »Nein, nicht besonders.«

»Aber du kennst ihn doch kaum! Wie kannst du so etwas denn sagen?«

»Lebenslange Erfahrung, Liebes. Wenn man es weiß, dann weiß man es einfach.«

»Du täuschst dich! Und es steht dir nicht zu, den Menschen, den ich liebe, zu verurteilen!«

»Jemand muss die Stimme der Vernunft sein«, erwiderte Grandma Edith und sah ihr direkt in die Augen. »Und deine Mutter ist zu beschäftigt damit, mit ihren Freunden herumzuziehen, um etwas zu sagen.«

»Vielleicht respektiert sie meine Ansicht einfach mehr als du.«