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Abgrundtief glücklich - über die Kraft der Freundschaft und die Gleichzeitigkeit von Gefühlen
Der Tod ihres geliebten Opas stürzt Romy in eine Krise. Ihr fehlt der Halt, mit nichts fühlt sie sich mehr verbunden. Alles um sie herum scheint dunkel zu sein - bis Jakob auftaucht, den sie bei einer Party kennengelernt hat. Ihm gelingt es, sie an etwas Wichtiges zu erinnern: daran, dass es einem gleichzeitig sehr schlecht und sehr gut gehen kann; daran, dass es auch an dunklen Tagen Licht gibt. Als sie sich gemeinsam um eine kranke Taube kümmern - das Lieblingstier von Romys Opa -, kommen sie einander näher. Irgendwann ist die Taube gesund, breitet ihre Flügel aus. Wird es auch Romy gelingen, neuen Lebensmut zu finden?
Ein beeindruckender Roman über die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und die Hoffnung, in der Welt Halt zu finden.
Elli Kolb trifft das Lebensgefühl ihrer Generation.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Leser:innenhinweis
Motto
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Danksagung
Triggerwarnung
Abgrundtief glücklich – über die Kraft der Freundschaft und die Gleichzeitigkeit von Gefühlen
Der Tod ihres geliebten Opas stürzt Romy in eine Krise. Ihr fehlt der Halt, mit nichts fühlt sie sich mehr verbunden. Alles um sie herum scheint dunkel zu sein – bis Jakob auftaucht, den sie bei einer Party kennengelernt hat. Ihm gelingt es, sie an etwas Wichtiges zu erinnern: daran, dass es einem gleichzeitig sehr schlecht und sehr gut gehen kann; daran, dass es auch an dunklen Tagen Licht gibt. Als sie sich gemeinsam um eine kranke Taube kümmern – das Lieblingstier von Romys Opa –, kommen sie einander näher. Irgendwann ist die Taube gesund, breitet ihre Flügel aus. Wird es auch Romy gelingen, neuen Lebensmut zu finden?
Ein beeindruckender Roman über die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und die Hoffnung, in der Welt Halt zu finden.
Elli Kolb trifft das Lebensgefühl ihrer Generation.
Elli Kolb, geboren 1986, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Nordische Philologie in München und Göteborg. Heute lebt sie in Fürth, nicht weit von einem Fluss entfernt. Wenn sie nicht gerade dort (eis)badet, bloggt sie auf understandingly.de über Mind-Body-Connections und mentale Gesundheit. Manchmal pflegt sie in ihrer freien Zeit auch kranke und verletzte Tauben.
Elli Kolb
DasLeuchten desHimmelsan dunklenTagen
Roman
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben
vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training
künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln
Umschlagmotiv: © Lili Wood
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-8406-1
luebbe.de
lesejury.de
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.Deshalb findet sich am Ende eine Triggerwarnung.Achtung, sie enthält Spoiler für das gesamte Buch!
***
Alle Tauben in diesem Buch sind echt.
»Das Leben rächt sich an dem, der sich weigert,die Dinge der Welt mit glücklichen Augen zu betrachten; das Schöne ernährt sich von unserer Liebe.«
Ralf Rothmann, Theorie des Regens
32 Grad, und ich war bereit für eine neue Geschichte über mich. Wir hatten alle Fenster der Wohnung geöffnet, die Geräusche vorbeifahrender Autos in den Ohren. Es roch nach erhitztem Beton, Gräsern und Feuchtigkeit, als würde die Stadt nachts heimlich von Wasser durchflossen, und am Horizont, wo die Sonne untergegangen war, konnte ich noch einen letzten hellen Streifen erkennen, aber nichts mehr von dem ausgedehnten rosa-blauen Oszillieren davor.
Als Kathleen an meine Zimmertür klopfte und mich fragte, ob ich mit zu Lolas WG-Feier kommen wolle, lag ich gerade auf dem Boden, versuchte, Körperwärme an das Parkett abzugeben, und las so viele Artikel parallel, dass mein Browser mir statt der Anzahl der Tabs nur noch ein Unendlichkeitszeichen anzeigte. Seit Egon heute Vormittag ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte ich diese drückende Vorahnung, und ich hätte alles getan, um sie loszuwerden oder mit etwas anderem zu überdecken. Kathleen hatte schon die Tasche über die Schulter geworfen; sie wollte sofort los, und ich nickte einfach und sagte Ja.
Lola wohnte ein paar Straßen weiter, es waren wirklich nur ein paar Schritte dorthin, und zum ersten Mal seit Tagen bemerkte ich einen leichten, kühlen Luftzug an den Schultern. Für den späteren Abend waren Gewitter vorhergesagt.
Kathleen klingelte, der Türöffner ertönte, und wir stiegen die Treppe hoch. Die Tür zu Lolas WG war angelehnt. Flur und Wohnzimmer waren voll mit Leuten, die ich nicht kannte. Ein paar von ihnen umarmten Kathleen zur Begrüßung, ich blieb hinter ihr stehen und erblickte Lola weiter hinten im Raum, sie winkte mir zu. An diesem Tag trug sie eine komplizierte Hochsteckfrisur, sodass ein Teil von ihr immer aus der Menge herausragte, was praktisch war. Sie war Kathleens beste Freundin; ihrem Vater gehörte die Eventagentur, in der Kathleen jobbte, und, wenn ich es richtig verstanden hatte, auch die riesige Altbauwohnung, in der sie selbst wohnte und in der es sogar ein Gästezimmer gab. Lola hatte blonde Haare und einen strengen Blick; ich glaube, insgeheim verachtete sie mich.
Ich hob die Hand zum Gruß, dann verschwand ich schnell in Richtung Küche, einerseits um Lola zu entkommen, andererseits weil ich mich in Küchen immer sofort wohlfühlte. In den letzten Monaten hatte ich dort viel Zeit verbracht, um für Egon zu kochen: Ich hatte ihm jeden Tag Essen vorbeigebracht, damit er nicht immer nur diese runden Butterkekse aus Spritzteig oder Salzbrezeln aß. Allein der Gedanke daran machte mich wütend – dass er freiwillig nur industrielles, maschinelles Gebäck gegessen hatte, als würde er versuchen, schneller zu sterben. Die Tauben, die er immer fütterte, bekamen Premiumfutter, und er selbst aß nur diese verdammten Butterkringel.
Ach, Egon, dachte ich wütend, sagte mir dann aber sofort: Entspann dich, Romy, jetzt ist hier erst mal Party, okay?
In der Küche standen halb volle Flaschen, Plastikgeschirr, Quiche, Baguettes und Schüsseln mit Salaten auf dem Tisch, alles war schon angegessen oder angetrunken worden. Aus den Nebenzimmern drangen Gelächter und Stimmengewirr, doch außer mir war niemand hier.
Ich nahm mir ein Stück Quiche, sie zerlief salzig und buttrig in meinem Mund, und gerade, als ich mir vornahm, jetzt aber wirklich zu den anderen zu gehen und nicht nur in der Küche herumzustehen, nahm ich aus den Augenwinkeln eine vage Bewegung wahr. Ich drehte mich um. Ein Mann war ins Zimmer gekommen und goss sich etwas zu trinken in einen Plastikbecher. Ich lächelte ihm aus Reflex zu, weil ich es sonst unangenehm gefunden hätte, zu zweit in diesem kleinen Raum zu sein, und als er zurücklächelte, spürte ich plötzlich meinen Körper viel mehr als sonst: wie mein Herz Blut durch mich hindurchpumpte, wie die Luft durch meine Nasenlöcher strömte, dass meine Haare ein eigenes Gewicht und eine eigene Struktur hatten. Mein Kleid klebte unterhalb meines Brustkorbs fest, ich zupfte es wieder weg und bedauerte, dass ich es heute nicht geschafft hatte, im Fluss schwimmen zu gehen und mich wenigstens einmal richtig abzukühlen.
Ich setzte mich auf das Fensterbrett und lehnte mich vorsichtig raus, Richtung Straße. Schräg gegenüber strahlte mich ein Edeka-Schild an, und am Horizont hatte sich eine große Gewitterwolke aufgetürmt, die von den Lichtern der Stadt angeleuchtet wurde und sich immer weiter im Raum ausbreitete.
Der Mann stellte sich als Lolas Mitbewohner vor. »Aber nur vorübergehend«, sagte er, was auch immer das genau bedeutete.
Wir redeten ein bisschen, ich erzählte, dass ich Grafikdesign studierte, gerade aber Semesterferien hatte; dass ich es mochte, Dingen eine bestimmte Form zu geben. Er stellte nicht die Frage, die alle anderen zurzeit immer stellten, nämlich: »Hast du keine Angst, dass dein Job bald von einer KI übernommen werden könnte?«, sondern er sagte: »Spannend, damit könntest du bestimmt auch gut im Ausland arbeiten, wenn du das wolltest, oder?« Seine Augenlider waren an den Seiten leicht nach oben gebogen, sie erinnerten mich an irgendetwas, ich konnte aber nicht sagen, was genau. Der Rest seines Gesichts war auf eine beruhigende Weise symmetrisch; die Farbe seiner Haare changierte genau zwischen Hellbraun und Dunkelblond, und auf seinem Handrücken wuchsen ein paar Härchen, die von der Sonne ausgebleicht waren. An seinem rechten Unterarm befand sich eine lange gerade Narbe, wie von einer Operation.
Irgendetwas an ihm suggerierte mir, dass er ein Zuhause für mich sein könnte. Ich hatte in den letzten Jahren nicht aktiv gedatet, war aber immer mal wieder irgendjemandem aufgefallen, man hatte mich zum Kaffee eingeladen, war mit mir spazieren oder ins Kino gegangen. Ich mochte ihre Haut, ihre Lippen und manchmal auch, was sie sagten, aber es hatte dieses Magnetische gefehlt, das mich innerlich neu ausrichtete, als würde etwas auf mich warten, und zwar nur auf mich. Aber zu ihm spürte ich sofort diese Nähe; als sei er auch jemand, der Schaden genommen hatte. Dabei kannte ich ihn ja noch nicht einmal, es war wirklich merkwürdig.
Nach ein paar Minuten kam eine Frau mit Dreadlocks in die Küche und sagte zu dem Mann: »Kommst du jetzt endlich mal?«, und er winkte mir halbherzig zu und ging dann mit ihr mit ins Wohnzimmer.
Eine halbe Stunde später hatte ich diesen Horrortrip. Ich war inzwischen ebenfalls zu den anderen ins Wohnzimmer gegangen, wobei ich darauf geachtet hatte, ein wenig Zeit verstreichen zu lassen, damit es nicht so wirkte, als würde ich dem Mann von vorhin nachgehen; dann hatte ich mich neben Kathleen auf das Sofa gesetzt. Irgendwann kam Lola zu uns, berührte mich leicht an der Schulter und fragte: »Wie geht es Egon denn?«
Augenblicklich füllten sich meine Augen mit Tränen.
»Oh nein!«, sagte Lola. »Hätte ich nicht fragen sollen?«
Ich wischte mir die Tränen mit dem Handrücken weg und schüttelte den Kopf.
Kathleen legte den Arm um mich, ich ließ meinen Kopf auf ihre Schulter fallen. Lola setzte sich im Schneidersitz vor uns auf den Boden.
»Sollen wir lieber über was anderes reden?«, fragte sie. Dann sprang sie auf. »Wartet mal, ich habe da noch was.« Sie ging zum Schrank und nahm eine runde Blechdose heraus, dieselbe Art von Dose, in der meine Mutter früher immer ihre Weihnachtsplätzchen gelagert hatte.
»Hier«, sagte Lola und hielt mir die Dose entgegen. »Nimm ein Stück. Da ist gutes Zeug drin.«
»Was denn für Zeug?«, fragte ich.
»Gutes Zeug«, sagte sie. »Du weißt schon.«
»Nein, danke«, sagte ich, weil mir wieder einfiel, dass sie ab und zu Space-Brownies gebacken hatte. Die Wirkung war immer einigermaßen unberechenbar gewesen, und es hatte ewig gedauert, bis man was gemerkt hatte. »Lass uns lieber was rauchen.«
»Hast du was zum Drehen dabei?«, fragte Lola. Ich schüttelte den Kopf, Kathleen ebenfalls.
Im nächsten Augenblick formte Kathleen die Hände zu einem Trichter und rief: »Hat jemand was zum Drehen dabei?«
Sie fackelte generell nicht lang. Kathleen ertrug es auch nicht, wenn Nachrichtensprecher:innen langsamer sprachen, als sie selbst dachte. Wenn wir zum Beispiel während des Essens Radio hörten und die Moderatorin ansetzte: »Ihr hört«, rief Kathleen ganz schnell: »Deutschlandfunk Nova!«
Sie hatte kurzes dunkles Haar und ein herzförmiges Gesicht. Tagsüber studierte sie Eventmanagement und jobbte, und nachts versuchte sie, zu schlafen wie alle anderen auch, was ihr aber nicht gelang, und deswegen hatte sie auch vor Kurzem eine Therapie angefangen. Manchmal fand ich sie nachts in der Küche, wo sie sich YouTube-Videos ansah und Schokomüsli in so viel Milch auflösen ließ, dass die Milch dunkel wurde wie Kakao. Sie hatte dann kreisrunde, ratlose Augen und freute sich, wenn ich ins Zimmer kam, weil sie immer die Hoffnung hatte, dass sie vielleicht wenigstens nicht allein nachts wach sein musste. Ihre Wimpern waren lang und hingen schläfrig nach unten, aber das war auch das Einzige an Kathleen, was verriet, dass auch sie Schlaf brauchte.
Kathleens Therapeutin hatte ihr zu Yoga geraten; ihre Theorie war, dass Kathleen nicht schlafen könne, weil sie tagsüber zu viel mache, sie brauche auch mal Pausen, sonst könne das Gehirn nicht runterfahren.
Aber Kathleen sagte, das Problem sei, dass ihr Gehirn gar nicht runterfahren wolle, es wolle die ganze Zeit irgendetwas machen, sie müsse ununterbrochen gegen ihre eigene umtriebige Persönlichkeit anarbeiten, superstressig.
»Ich mag deine Persönlichkeit«, sagte ich, und Kathleens Gesicht leuchtete plötzlich auf, und sie sagte: »Oh, wirklich?«, als sei sie total überrascht davon.
Wenn ich ganz ehrlich zu mir war, wünschte ich mir vielleicht ein bisschen, dass Kathleen meine beste Freundin werden würde. Aber ich gab es selbst mir gegenüber nur heimlich zu, und vor allem unternahm ich nichts, um meinen Wunsch in die Tat umzusetzen. Die meisten Sachen machte Kathleen weiterhin mit Lola, wir aßen nur manchmal zusammen oder machten Yoga. Auch vorhin, als ich total aufgelöst aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war und überall die Fenster aufgerissen hatte, hatte Kathleen sofort die Yogamatten geholt und sie direkt vor mir aufgebaut. »Jetzt erst mal eine kleine Sequenz zur Beruhigung«, hatte sie gesagt, mich sanft auf den Boden gedrückt und auf ihrem Laptop das Yogavideo angeschaltet. Umstandslos hatte eine Yogalehrerin auf YouTube damit begonnen, uns Anweisungen zu geben.
»Atme tief ein und noch länger wieder aus«, hatte ihre harmonische Stimme gesagt. »Und dann lass alles los.«
»Lass die ganze Scheiße los«, hatte Kathleen neben mir gemurmelt, die Yogafrau hatte gesagt: »Alles, was zählt, ist dieser Moment«, wir dehnten uns nach vorn und nach hinten und zur Seite, meine Muskeln mochten, was wir machten, und Kathleen hörte irgendwann auf, die Harmonie der Yogafrau mit hämischen Kommentaren zu unterlaufen, aber bei der Schlussentspannung rief Kathleen ganze drei Mal vorzeitig »Namaste!«, weil sie der Yogafrau auf jeden Fall zuvorkommen wollte.
»Ich habe was zum Drehen dabei«, hörte ich plötzlich den Mann von vorhin sagen. Ich blickte auf. Er hielt einen kleinen Beutel mit Tabak in die Luft, und wir gingen nach draußen.
Mittlerweile hatte es ein wenig abgekühlt, und der leichte Wind von vorhin wehte noch immer. Lola drehte einen Joint und reichte ihn mir. Ich sog den weißen Rauch tief ein und stellte mir vor, dass er sich bis in mein Gehirn ausbreitete.
»Ja«, sagte Kathleen. »Das Leben kann manchmal schon ziemlich scheiße sein.«
»Aber es kann auch ziemlich schön sein«, sagte der Mann, und Kathleen sagte: »Lass es dir doch irgendwo hintätowieren: ›Das Leben ist schön.‹«
»Lass du dir doch ›Das Leben ist scheiße‹ irgendwo hintätowieren«, sagte der Mann.
»Dann hättet ihr zusammen so ein Yin-Yang-Tattoo«, sagte ich und blies Rauch in die Luft. »Und wenn ihr euch nebeneinander stellt, kommt die Welt genau so raus, wie sie wirklich ist.«
»Hä?«, machte Lola, aber der Mann lachte.
Ich reichte den Joint weiter, und während die anderen nacheinander daran zogen, merkte ich, dass mein Herzschlag sich ein wenig beschleunigte. Der Mann aus der Küche stand gerade neben mir, und ich bekam plötzlich Lust, ihm alles Mögliche zu erzählen.
»Egon hatte heute seinen dritten Herzinfarkt«, sagte ich, es platzte einfach so aus mir heraus, ohne irgendeine Überleitung.
»Wer ist Egon?«, fragte der Mann.
»Mein Opa.«
»Sie hat in den letzten Monaten jeden Tag für ihn gekocht«, schaltete sich Kathleen ein, aber ich wollte meine Geschichte selbst erzählen und redete schnell weiter: »Er bekommt von mir sogar extra eine eigene Speisekarte«, sagte ich. »Jede Woche neu. Mit den aktuellen Gerichten. Und dann kann er die Gerichte auf einer Skala von einem bis fünf Sternen bewerten. Damit ich weiß, was ihm am besten schmeckt.«
»Aber es klappt nicht besonders gut«, redete mir nun Kathleen wieder rein. »Weil Egon einfach alles mit fünf Sternen bewertet.«
»Dann hast du ja quasi ein eigenes Restaurant«, sagte der Mann zu mir.
»Ja«, sagte ich. »Restaurant Romy, das steht auch so auf der Speisekarte.«
Ich erzählte ihm sogar von den Türkentäubchen in unserem Hinterhof, dabei war das wirklich eine irrelevante Information. Die Türkentäubchen wohnten in einem Nest auf einem tief liegenden Zweig, den wir von unserem Küchenfenster aus sehen konnten. Von dort aus blickten sie stets mit panischem Blick zu uns herab, und ihre Augen sahen immer so aus, als hätten sie sich morgens mit Kajal sorgfältig so geschminkt wie Lana del Rey, nur mit Weiß. Ich fand die Angst, die sie ausstrahlten, ein bisschen übertrieben, aber ich mochte die Farbe der Türkentauben: ein helles, warmes Grau. Sie sahen so grazil und edel aus.
Von meinem Nebenjob in der Bahnhofsbuchhandlung berichtete ich ihm auch, jetzt, wo ich schon dabei war. Früher hatte ich während meiner Schichten immer Zeitung gelesen, aber seitdem Egon so krank war, kam es mir so vor, als gäbe es nur schlechte Nachrichten auf der Welt, und dafür hatte ich keine Kapazitäten mehr, also las ich hauptsächlich Fachzeitschriften über Themengebiete, die nichts mit mir zu tun hatten, etwa über Astronomie oder Gärtnern. Aber leider musste ich dann oft feststellen, dass es dennoch etwas mit mir zu tun hatte. Zum Beispiel hatte ich letztens in einer Wissenschaftszeitschrift gelesen, dass das Weltall pro Sekunde um siebzig Kilometer anwuchs. Seitdem musste ich oft daran denken, dass wir ja alle nur auf einem kleinen blauen Planeten durch ein expandierendes Universum trieben. Und dann fragte ich mich immer: Wenn sich das Weltall ausbreitet, wohin breitet es sich aus? Was ist die Grenze, in die es hineinragt?
»Das ist ja krass«, sagte der Mann.
»Ja, krass, oder?«, wiederholte ich.
Kathleen sagte: »Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ihr das richtig verstanden habt. Lest das lieber noch mal nach.«
Ich lehnte mich zurück. Ein paar E-Scooter standen neben uns auf dem Gehweg; aus der Ferne konnte man das dumpfe Grollen eines Flugzeugmotors hören.
Der Stadtteil, in dem Lola wohnte, war nah an der U-Bahn, nah an der Innenstadt, nah am Industriegebiet und nah am Park, irgendwie nah an allem, aber auch genau zwischen allem. Die Straße, in der ihre Wohnung lag, bestand fast ausschließlich aus Wohnhäusern, die um 1900 herum gebaut worden waren, mit vereinzelten Cafés, die vegane Kuchen und handgerösteten Kaffee anboten.
In Lolas Stadtteil war es immer friedlich, und wenn jemand einen anrempelte, konnte man davon ausgehen, dass die andere Person sich entschuldigte. Bei Kathleen und mir brüllten sich abends oft irgendwelche Leute an, und manchmal saßen Teenager auf den Eingangsstufen der Häuser, telefonierten mit ihren besten Freund:innen und weinten.
Bevor ich mit Kathleen zusammengezogen war, hatte ich in einem Studentenwohnheim gelebt, in dem die Wände dünn wie Papier gewesen waren und alle ständig meinen Namen vergessen hatten, weil man mich fast nie gesehen hatte und ich entweder an der Uni, auf der Arbeit oder bei Egon gewesen war. Wenn wir uns doch einmal auf dem Gang begegneten, hielten sie mir die Hand zur Begrüßung hin und sagten: »Hey, wohnst du auch hier? Ich studiere XY, und du?«
Ich fand es ein bisschen deprimierend, ständig von Neuem meinen Namen sagen zu müssen, aber ehrlich gesagt hatte ich mich dort sowieso nicht wohlgefühlt: Es waren zu viele Leute, ein ständiges Kommen und Gehen, eigentlich kein Wunder, dass sich niemand merken konnte, wer ich war. Ich war jetzt im dritten Mastersemester. Meinen Bachelor hatte ich in einer anderen Stadt gemacht, dann war ich wegen Egon zurückgekommen.
Ich sah nach oben: ein einzelner weißer Kondensstreifen neben dieser riesigen Gewitterwolke, blinkende Flugzeuglichter, Häuserdächer, Schornsteine.
Lola sah meinen Blick und drehte sich zu Kathleen: »Bald soll es wieder Polarlichter geben, dann müssen wir uns unbedingt treffen und Fotos machen!«
»Polarlichter, ja, das wäre schön!«, sagte Kathleen. »Ich schaue gerade, ob man hier diese Starlink-Satelliten sieht. Sieht man die nicht manchmal?«
»Starlink – das ist doch dieses 5G-Zeug von Elon Musk, das aussieht wie eine Lichterkette am Himmel, oder?«, fragte Lola.
Aus unerfindlichen Gründen fand ich die Vorstellung gruselig. Vielleicht verband mein Gehirn »Starlink« sofort mit »Weltraumschrott«. Ich sah schon alles in der Atmosphäre verglühen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass hoch über uns Satelliten schwebten, Tag und Nacht. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, obwohl es so warm war. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte ich. »Sieht man das immer? Oder nur manchmal?«
»Keine Sorge, das sieht man fast nie«, sagte der Mann.
»Okay, gut, Gott sei Dank.« Ich nahm Kathleen den Joint aus der Hand, machte zwei tiefe Züge und schloss die Augen. Jetzt fühlte sich mein Denken wattig an, als könnte mir nichts passieren, weil in meinem Kopf alles ausgepolstert war.
Irgendjemand nahm mir den Joint wieder aus der Hand. Ich öffnete die Augen, um mich zu beschweren, überlegte es mir aber in letzter Sekunde anders. Es war die Anstrengung nicht wert. Ich setzte mich auf den Bordstein und ließ mich mit dem Rücken auf den Asphalt sinken. Der Boden war immer noch warm von der Sonne, und die Gewitterwolke war in der Zwischenzeit noch größer geworden und sah leicht überheblich aus. Die anderen redeten weiter.
»Kann ich den Joint noch einmal haben?«, fragte ich und streckte eine Hand nach oben. Als niemand darauf reagierte, ließ ich die Hand wieder sinken.
Der Himmel über mir war hoch wie eine Kathedrale. Ich stellte mir vor, nach oben zu schweben und mich gleichzeitig im Raum auszubreiten. Je höher ich kam, desto dunkler wurde es; die Dächer der Stadt wurden immer kleiner, die Lichter flossen auf der Autobahn gleichmäßig dahin, ich sah die Krümmung der Erde und die Erdatmosphäre.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte, die Bilder loszuwerden und mir vorzustellen, wie ich langsam und geordnet wieder nach unten glitt, aber meine Vorstellungskraft hing an der Erdatmosphäre fest, ich hatte keine Kontrolle mehr über sie. Um mich herum war viel zu viel frei schwebendes Schwarz. Ich war die einsamste Person der ganzen Welt.
»Seid ihr noch da?«, rief ich. Die anderen standen weiterhin zusammen und redeten. Ich konnte sie sehen, aber den Abstand zu ihnen nicht einschätzen.
»Du siehst uns doch«, sagte Kathleen und verdrehte die Augen.
»Kommst du bitte?«, rief ich.
»Komm doch selbst. Bin ich deine Dienerin?«
»Mir ist so schwindelig wegen der Erdatmosphäre«, murmelte ich.
»Wegen der was?«, fragte Kathleen. »Was hast du gerade gesagt?« Sie beugte sich zu mir herunter. »Schau mich mal an. Alles in Ordnung bei dir?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich sehe so komische Bilder«, flüsterte ich.
»Siehst du die wirklich? Oder denkst du nur, dass du sie siehst?«
»Ich habe Angst«, sagte ich, und Kathleen sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, das sei nur ein kleiner Horrortrip, das könne jedem mal passieren.
Sie brachten mich in ein Zimmer, in dem ein Bett stand, vermutlich Lolas Schlafzimmer. An den Wänden hingen drei gerahmte Bilder, die Lola mit breitem Strohhut am Strand oder neben einem kleinen weißen Hund zeigten. Der Hund hatte auf jedem Foto den Mund leicht geöffnet und zeigte seine untere Zahnreihe, was fast so aussah, als würde er lächeln. In der Ecke stand ein Spiegel, an dessen Ecke Perlenketten hingen.
»Los jetzt, hinlegen!«, befahl Lola, und Kathleen sagte: »Sei doch nicht so grob mit ihr.«
Ich wollte nicht am Spiegel vorbeigehen, weil ich plötzlich befürchtete, dass ich eventuell kein Spiegelbild mehr haben könnte. Sicherheitshalber schlug ich auf dem Weg zum Bett einen Bogen. Mein Körper war so schwer, dass ich metertief in die Matratze einsank, und sobald ich die Augen schloss, war ich wieder umgeben von schwarzem Weltall. »Seid ihr noch da?«, rief ich erneut.
»Schhhh!«, machte Kathleen in meine Richtung. Dann sagte sie zu den anderen: »Jemand sollte bei ihr bleiben.«
Kurz verhandelten sie, wer diese Rolle übernehmen sollte. Lola sagte, sie müsse als Gastgeberin auf ihrer eigenen Feier schon präsent sein, und der Mann bot an, er könne das sehr gern übernehmen: »Ich weiß aber nicht, ob das bei ihr so gut ankommt. Wir haben uns ja eben erst kennengelernt, und vielleicht fühlt sie sich unwohl, wenn nur ich –«
»Okay, verstehe den Punkt«, unterbrach Kathleen seine Ausführungen, und ich fragte: »Was ist, wenn Elon Musk jetzt plötzlich kommt?«
»Mann, wo soll der denn jetzt plötzlich herkommen?«, rief Lola.
»Oder eine Drohne von ihm«, sagte ich.
»Schhhh«, machte Kathleen wieder.
»Kannst du mir deine Hand geben?«, fragte ich.
Wortlos legte Kathleen ihre Hand in meine; sie war klein und weich und schmiegte sich perfekt an.
»Wie lange dauert das jetzt, Kathleen?«, fragte ich.
»Woher soll ich das wissen?«, sagte sie genervt.
Eine Weile hörte ich sie und den Mann noch im Zimmer reden. Erst sprachen sie über Algorithmen und Desinformation, dann beschwerten sie sich über die Hitze und googelten das Wetter von Städten, von denen sie annahmen, dass es dort ganz sicher wärmer war als bei uns: Athen, Istanbul, Texas City, aber sie lagen oft falsch, und es war dort entweder gleich warm oder sogar kälter.
Ich hatte das Gefühl, mich im Inneren eines Kaleidoskops zu befinden. Ständig schob sich irgendetwas vor meine Wahrnehmung, und es gab keinen Ausgang, nur bunte Glasscherben, die sich zu keinem Ganzen zusammenfügen ließen. Ich versuchte, meine Füße in die Matratze zu stemmen, um die Schwerkraft deutlicher zu spüren – so hatte uns das die Frau in dem Yoga-Video heute Nachmittag gezeigt –, und tatsächlich meinte ich, langsam wieder aus dem Universum oder von der Zimmerdecke herunterzusinken, allerdings ohne irgendwo anzukommen, ich sank einfach nur.
Plötzlich merkte ich, dass ich kotzen musste. Ich hatte keine Zeit mehr, irgendwie zu reagieren, ich lehnte mich einfach aus dem Bett und übergab mich auf Lolas Boden. Währenddessen dachte ich darüber nach, ob das hier das Leben war oder nur ein Ausnahmefall oder ob ich irgendetwas falsch verstanden hatte.
»Shit«, sagte Kathleen.
Der Mann sprang auf und hielt mir die Haare aus dem Gesicht. Ich atmete schnell durch den Mund und sah absichtlich nicht nach unten.
Kathleen versuchte, mich ins Bad zu bringen, aber es war besetzt, also schob sie mich nach draußen, weil sie meinte, es sei besser, wenn ich in einen Busch kotzte als noch mal auf Lolas Parkett.
Kathleen und der Mann hielten mich zwischen sich, doch sobald wir auf der Grünfläche vor Lolas Haus waren, kniete ich mich hin, stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Die Luft roch nach Erde und nassem Gras. Die Übelkeit kam in Wellen, und ich hoffte, wenn ich mich nur genug darauf konzentrierte, nicht zu kotzen, könnte ich es vielleicht stoppen.
»Geht’s wieder?«, erkundigte sich der Mann.
»Wo ist Kathleen?«, fragte ich, und er sagte, sie sei wieder hochgegangen, alles aufwischen, bevor Lola sauer werde.
»Was war in diesem verdammten Gras drin? Ich check’s nicht«, sagte ich, und dann musste ich mich wieder übergeben.
Dieses Mal legte er eine Hand auf meinen Rücken, mit der anderen strich er meine Haare zurück, wenn sie mir ins Gesicht fielen. Als ich fertig war mit Kotzen, rollte ich mich ein paar Meter weiter, und erneut spürte ich seine Hand zwischen meinen Schulterblättern.
Mir war, als breite sich ausgehend von seiner Hand etwas sternförmig in mir aus. Seine Finger rannen durch meine Haare wie Wasser; ich wusste nicht mehr, wo ich anfing und wo ich aufhörte. Plötzlich traute ich mich nicht mehr, mich zu bewegen, und versuchte sogar, so leise wie möglich zu denken, dass ich dieses Gefühl gern öfter haben würde – nirgendwo anzufangen und nirgendwo aufzuhören.
»Danke«, sagte ich schließlich und richtete mich auf, und der Mann sagte: »Für was?«
»Wie geht’s dir jetzt?«, schob er dann nach, ich sagte: »Ich glaube, ich geh mal rauf, meine Sachen holen.«
Als ich versuchte aufzustehen, merkte ich, dass mir dazu zu schwindelig war, und setzte mich wieder hin. Aus der Ferne hörte ich Donnergrollen. Einige Plastikverpackungen und vertrocknete Blätter wurden von einer Windböe erfasst und zu mir herübergeweht. Am Horizont zuckten in kurzer Abfolge schwache Lichter hinter den Wolken auf. Plötzlich sah ich neben mir ein Stück Papier, das senkrecht Richtung Himmel flog, als würde es von einer unsichtbaren Hand vorsichtig nach oben gehoben.
Dann kam der erste größere Blitz, Hunderte Meter gezacktes Licht. Alles wurde mit einem Schlag hell. Der Wind wurde immer stärker. Er setzte plötzlich ein und hörte ebenso plötzlich auf, immer wieder, bis er blieb. Ich konnte richtig spüren, wie über mir die Luftmassen ausgetauscht wurden, meterhohe Luftsäulen, die mich streiften, obwohl ich auf dem Boden lag.
Es begann zu regnen, erst vereinzelte Tropfen, dann immer mehr. Innerhalb weniger Sekunden war ich komplett durchnässt. In meinen Ohren rauschte es, ich wusste nicht, ob vom Regen oder von mir selbst, oben und unten waren für einen Moment völlig austauschbar geworden, ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob Egon schon gestorben war oder erst sterben würde, ob wir uns jahrelang gekannt hatten oder nur ein paar Sekunden, ob Liebe alles überleben würde oder gar nichts, ob mein Leben nach diesem Sommer weitergehen würde und, falls ja, wie. Es blitzte wieder und donnerte gleich darauf, so laut, dass mein Brustkorb vibrierte und ich mir instinktiv die Ohren zuhielt.
Der Mann hielt mir die Hand hin, um mich hochzuziehen.
Ich nahm die Hände von den Ohren und sagte: »Geh ruhig rein, ich bleibe noch ein bisschen.«
»Glaubst du, ich lasse dich jetzt hier halb tot im Gewitter liegen?«
»Ich bin nicht halb tot«, sagte ich.
»Komm bitte einfach.«
»Du musst nicht auf mich aufpassen. Geh einfach rein, wir sehen uns später, ja?«
»What the fuck?«
»Ich brauche das jetzt!«, rief ich. »Geh einfach hoch!«
»Was?«, rief er zurück. Das Rauschen des Regens war mittlerweile so laut, dass er ganz nah an mein Gesicht kommen musste, um mich zu verstehen.
»Ich brauche das jetzt!«, wiederholte ich, und da sagte er, mit einem Mal ganz ruhig: »Okay.« Er ging nicht einmal zurück zum Hauseingang, sondern blieb bei mir auf der Grünfläche sitzen.
Das Rauschen kam mittlerweile von allen Seiten gleichzeitig. Ich sah den Tropfen dabei zu, wie sie von meinem Unterarm abperlten. Einmal spiegelte sich ein Blitz in einem Wassertropfen, und mir schien es, als wäre ich gerade sehr nah dran an allem: an der Zerstörung und an dem, was auf die Zerstörung folgen würde. Die Bäume bogen sich im Wind. Irgendwann wurde ich von herabfallenden Zweigen getroffen, und ich vergrub den Kopf zwischen meinen angewinkelten Beinen. Dann war es plötzlich vorbei. Alles war ganz still. Der Mann und ich blickten nach oben.
Das Leuchten hinter den Wolken ging unvermindert weiter, aber es hatte aufgehört zu regnen. Ich konnte genau den Abstand spüren, den ich zum Körper des Mannes hatte. Es gab mir ein gutes Gefühl, dass er immer noch da war. Das Gewitter war weitergezogen. In der Luft lag dieser Geruch von nassem Asphalt, den es nur im Sommer gab, und obwohl der Regen alles abgekühlt hatte, fühlte meine Haut sich immer noch heiß an, als hätte sie die Hitze des Tages gespeichert und gebe sie nur langsam wieder ab.
Neben mir bewegte sich der Mann. Er tat es ganz vorsichtig, als wollte er überprüfen, ob noch alles an ihm dran war. Von meinen Haaren liefen langsam Wassertropfen in meinen Nacken, und gerade, als ich irgendetwas sagen wollte – so etwas wie »Alles in Ordnung bei dir?«, aber cooler, vielleicht in einem Witz verpackt –, kam Kathleen mit zwei Regenschirmen in der Hand aus dem Haus und sah sich suchend um. Der Mann stand sofort auf und hielt mir erneut die Hand hin. Dieses Mal griff ich nach ihr, sie war nass und kräftig und zog mich nach oben.
»Mann, wieso habt ihr euch nicht untergestellt?«, sagte sie. »Lola will doch jetzt noch Fotos machen.« Sie spannte hektisch einen Schirm auf, schien erst da festzustellen, dass es gar nicht mehr regnete, und klappte ihn wieder ein.
Wir gingen zurück in die WG. Im Wohnzimmer stand Lola umgeben von einer Traube von Freund:innen, denen sie gerade etwas auf ihrem Handy zeigte. Als sie uns sah, glitt ihr Blick über Kathleen und mich hinweg und blieb an dem Mann hängen. Mir war nicht mehr so schwindelig, und ich hatte das Gefühl, wieder besser denken zu können als vorhin, und doch war die Realität noch nicht ganz greifbar für mich, und es war viel zu hell und stickig in der WG.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich den Mann.
»Jakob«, sagte er. »Und du?«
»Romy.«
»Romy«, wiederholte er. »Ach so, daher kommt der Name für dein ›Restaurant‹? ›Restaurant Romy‹?«
Ich schaute darauf, wie sich seine Lippen beim Sprechen bewegten – und plötzlich hörte ich Egons Stimme, wie er meinen Namen sagte. In derselben Sekunde tauchte seine schlaffe weiße Hand vor meinem inneren Auge auf, und ich war wieder mit ihm im Krankenhaus. Die Szene von heute Nachmittag passierte für mich einfach noch einmal.
Wandernde Lichtflecken auf der Bettwäsche von der Sonne, die durchs Fenster hereinscheint; Egons Hand sieht ganz weiß aus auf dem hellen Stoff, eine wulstige blaue Ader an seinem Arm zuckt ab und zu. Die Luft steht still, es gibt keine Klimaanlage. Was, wenn dieses verdammte Wetter an allem schuld ist?, denke ich. Was, wenn es ihm einfach zu heiß ist, wenn sein Herz nicht mehr mit diesen Hitzewellen klarkommt?
Ich nehme eine Zeitung vom Vortag und wedle ihm Luft zu.
»Könntest du nachher noch mal in meiner Wohnung vorbeischauen?«, fragt Egon. »Falls Zausel kommt. Er war heute noch nicht da, gestern auch nicht. Sonst hat er nachher zwei Tage gar nichts gefressen.«
Zausel ist seine Lieblingstaube. Sie heißt so, weil sie unter dem Schnabel immer ein wenig zerzaust ist, so, als hätte sie ein leichtes Doppelkinn und jemand hätte die Federn darüber verwuschelt. Als wir sie fanden, hatte sie eine blutige Verletzung vorn an der Brust. Egon und ich fingen sie gemeinsam und untersuchten sie, aber die Wunde hatte schon zu heilen begonnen, und wir sprühten nur Wunddesinfektion darüber und ließen die Taube dann wieder frei.
Erstaunlicherweise nahm sie es uns überhaupt nicht übel, dass wir sie gefangen hatten, sondern kam nach einer kurzen Schrecksekunde, in der sie auf das gegenüberliegende Dach flog, zu uns zurück. Das ist ungewöhnlich für eine Taube. Aber auch, wie Zausel ansonsten drauf ist, ist besonders. Zausel verhält sich sauber, diskret und selbstbewusst. Zum Beispiel geht er fast nie aufgeregt vor dem Fenster auf und ab, sondern schaut nur bewegungslos mit durchdringendem Blick zu uns hinein, als würde er uns telepathisch eine Botschaft schicken und sei sich sicher, dass sie auch ankommen wird. Er hat eine Art Würde an sich, dass man es sich mit dieser Taube nicht verscherzen möchte.
Nur, wenn andere Tauben da sind, die sein Futter fressen, verliert er die Contenance: beginnt vor Neid, am ganzen Körper zu zittern, sodass seine Schwanzfedern mitwippen, und produziert ein tiefes, kehliges »HUH«, das klingt wie ein nervöses Hüsteln von jemandem, der jemand anderen unterbrechen will. »HUH« ist ein Ausdruck der Missbilligung bei Tauben.
Insgeheim denke ich, dass Zausel ja wohl zwei Tage ohne Futter überstehen wird, aber um Egon einen Gefallen zu tun, nicke ich und sage: »Klar füttere ich Zausel.«
In Egons Augen sehe ich kurz Freude darüber aufleuchten, dass seine Taube auch heute ordentliches Futter bekommen wird. Er bestellt immer säckeweise Taubenfutter, das er sich extra liefern lässt: mit getrocknetem Mais und Erbsen, Weizenkörnern und anderen Körnern, die ich nicht zuordnen kann, aber insgesamt sehen sie ziemlich gesund aus.
»Du, Egon«, sage ich. »Ich wollte dir noch was sagen. Ich …«
Mir schnürt es den Hals zu. Was ich sagen will, klingt nach Abschied. Es klingt wie das Fazit meines Lebens, seines Lebens, und wenn ich es sage, wird ihm klar werden, dass ich Angst habe, dass er sterben könnte.
Die Muskeln in meinen Beinen spannen sich an; meine Hände werden warm und schwitzig, in meinen Adern reine Energie, die durch mich durch pulsiert. Ich muss hier raus, denke ich, aber ich will gleichzeitig auch bleiben. Ich bleibe, für Egon. Aber jetzt, wo ich angefangen habe zu reden, muss ich es auch irgendwie zu Ende bringen.
Die erstbeste rhetorische Umleitung, die mir einfällt, ist: »Was ich dich fragen wollte, Egon … Hast du eigentlich heute schon was gegessen?«
Er sieht so ertappt aus, dass ich sofort wütend werde, ohne es zu wollen. Natürlich hat er wieder nichts gegessen. Sobald ich nicht aufpasse, isst er entweder gar nichts oder dieses verdammte Spritzgebäck. Ich komme gar nicht auf die Idee, dass ihm nach einem Herzinfarkt vielleicht nicht nach essen zumute sein könnte, aber ich habe mit so etwas ja auch keine Erfahrungen, auf die ich zurückgreifen könnte.
Hektisch beginne ich auszupacken, was ich mitgebracht habe: belegte Brote mit Salami und Käse, Dattelriegel, eine Avocado, zwei Äpfel, eine Zeitschrift mit Kreuzworträtseln. Ich habe daheim einfach alles, was wir gerade dahatten, in meine Tasche gestopft.
Egon sieht mir dabei zu, wie ich alles auf seinem Nachttisch auftürme. Die Avocado rollt auf den Boden, ich sage: »Entschuldigung«, dann nehme ich einen Apfel, wasche ihn am Waschbecken ab, trockne ihn mit meinem T-Shirt und lege ihn auf Egons Bett.
»Isst du das bitte?«, sage ich. Es ist eine Frage, klingt aber wie ein Befehl. Ich bemerke es selbst, aber ich bin schließlich für Egons Ernährung verantwortlich.
Egon blickt auf den Apfel und dann wieder auf mich. »Was passiert, wenn ich den Apfel nicht esse?«
»Dann bin ich echt sauer auf dich«, sage ich.
»Okay, habe verstanden.« Betrübt blickt er auf den Apfel, dann führt er ihn zum Mund, beißt ein winziges Stückchen ab und kaut ewig darauf herum.
»Warte, ich schneide ihn dir«, sage ich, nehme ihm den Apfel wieder ab und teile ihn mit meinem Taschenmesser in vier kleinere Stücke. Mühsam isst er einen Apfelschnitz, dann sagt er: »Martha, bitte lass mich einfach, ich kann wirklich nicht mehr.«
Jegliche Kraft rinnt mir aus den Fingern. Seine Frau, meine Oma, hieß Martha. Er hat mich noch nie mit ihr verwechselt. Plötzlich fühle ich mich so verloren, als sei ich die falsche Person zur falschen Zeit am falschen Ort; als würde mich niemand kennen. Er merkt nicht, dass er sich versprochen hat, und ich will ihn nicht korrigieren. Ich bin ganz allein mit ihm in diesem Zimmer. Ich kann ihn nicht einmal dazu bringen, ein winziges Stück Apfel zu essen. Ich muss irgendetwas machen, aber ich habe keine Ahnung, was.
Mein Herz schlägt bis in die Stirn, bis in die Fingerspitzen. Ich nehme seine Hand, sie fühlt sich warm und schwer und echt an. Kurz darauf schläft Egon ein, die drei Apfelschnitze immer noch vor sich, ich lege sie vorsichtig auf den Nachttisch. Was, wenn es das letzte Mal ist, dass ich ihn sehe?, denke ich, und in diesem Moment spüre ich es richtig körperlich: dass die Zeit einen Riss bekommen hat, der sich immer weiter vergrößern wird.
Lola winkte uns zu sich. Sie stand genau in der Mitte ihrer Gäste und genau zwischen Jakob und mir; in der Hand hielt sie so eine Art Selbstauslöserapparat. Wir blickten in ihr Handy, dahinter hatte sie sogar ein Ringlicht aufgebaut, Lola wusste wirklich, wie man Fotos macht. Auch ihr Instagram-Feed sah stets perfekt ausgeleuchtet aus, ihre Wangenknochen kamen immer sehr gut rüber. Lola beim Kaffeetrinken, Lola beim Shoppen, Lola am Meer – das Licht schien jederzeit so, dass Lola genau richtig darin aussah.
»Fünf, vier, drei …« Sie zählte die Sekunden runter zu dem Moment, an dem wir fröhlich schauen mussten. Ich riss die Augen auf und lächelte und fragte mich, ob mir eigentlich noch ein Zweig im Haar hing und wie nass und bekifft ich wirklich aussah. Aber wenn ich darüber schon nachdenken konnte, war ich anscheinend nicht mehr bekifft genug.
Danach löste sich die Gruppe um Lola langsam auf. Kathleen und Jakob blieben bei mir stehen und sahen mich mit einer Mischung aus Sorge und Vorsicht an, als müssten sie bei mir erst einmal die Lage checken. Erst da wurde mir bewusst, dass ich meinen Horrortrip ja gar nicht allein erlebt hatte, auch wenn es sich so angefühlt hatte. Mir wurde so heiß, dass mir Schweißperlen den Rücken hinunterliefen.
»Ich gehe dann mal«, sagte ich.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, ging ich in die Küche. Mein Rucksack stand noch immer in der Ecke, wo ich ihn abgestellt hatte. Als ich ihn mir gerade über die Schultern warf, kam Kathleen ins Zimmer.
»Sicher, dass ich dich nicht begleiten soll?«, fragte sie, ich sagte: »Ganz sicher.«
»Aber was ist, wenn Elon Musk plötzlich kommt?«, fragte Kathleen. Sie grinste, und ich sagte nur: »Tut mir echt leid wegen vorhin.«
»Kein Problem, du warst ziemlich amüsant«, sagte Kathleen.
Ich wollte einfach nur noch weg, und zwar schnell. Deswegen winkte ich kurz in die Runde, anstatt jeden einzeln zum Abschied zu umarmen. Die meisten bemerkten es gar nicht, nur Lola und Jakob hoben langsam die Hand zum Gruß, aber ich wandte den Blick ab, bevor sie etwas sagen konnten.
