Das Lied der Eibe - Duke Meyer - E-Book

Das Lied der Eibe E-Book

Duke Meyer

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Beschreibung

Vergesst Runenbücher – oder noch besser: Vergleicht sie mit diesem. Das Lied der Eibe ist ein Runen-Rausch, mehr Rock’n’Roll als Ballade, ein mitreißendes Wortkonzert, leidenschaftlich, wild und zärtlich – und zwischen Humor und Scharfsinn immer poetisch, mit einem ausgeprägten Faible für originelle Sprachbilder. Duke Meyers unverwechselbarer Stil verbindet fundierte Sachkenntnis mit persönlichen Erfahrungen und Interpretationen – und entlarvt nebenbei völkische Ideologie hinter mancher gängigen Deutung. Das älteste germanische Runensystem als magische Matrix der Seele und für menschliches Miteinander – der Fokus liegt dabei weniger auf den einzelnen Runen, stattdessen stellt der Autor sie miteinander und mit der menschlichen Psyche in Beziehung – und veranschaulicht mit manchem Beispiel aus eigenen Abgründen. Duke Meyer zeigt, wie sich Runen heute nutzen lassen: als Denksystem im Alltag und auf der Suche nach Erkenntnissen über das eigene Ich, die kleinen und die größeren Zusammenhänge…

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„Es gibt drei Bereiche der Welt,

die jeder für sich unendlich sind:

das weite All, der tiefe Ozean –

und dein Inneres, mein Kind.“

(„Bumm, bumm, bumm“, 2015)

1. Auflage April 2016

2. Auflage November 2016

3. Auflage Juni 2017

Copyright © 2015, 2017 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache – Holger Kliemannel, Haufeld 1,

07407 Remda-Teichel

[email protected]; www.roterdrache.org

Buchgestaltung: Edition Roter Drache

Titelbild- und Umschlaggestestaltung: Milan Retzlaff,

man-at-media.de

Lektorat: Sarah Bräunlich

Gesamtherstellung: Jelgavas tipografia, Lettland.

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 978-3-964260-10-9

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort des Herzens

Vorwort des Verstandes

Kapitel I

Mythen, Götter, Menschenwege

Kapitel II

Vom Werden, Erkennen und Handeln

Kapitel III

Aus dem Vergessen

Kapitel IV

Gedanken zur Gegenwart

Kapitel V

Die erste Acht: Freyrs Schöpfung

Kapitel VI

Das liebe Vieh

Kapitel VII

Mutter Materie

Kapitel VIII

Riesen-Rumms

Kapitel IX

Göttliches Gefüge

Kapitel X

Der Faktor Zeit

Kapitel XI

Kunst, Können, Leidenschaft

Kapitel XII

Kleine und große Gaben

Kapitel XIII

Wonnen der Vollendung

Kapitel XIV

Die zweite Acht: Hels Geheimnis

Kapitel XV

Was noch kommt

Kapitel XVI

Das Nornenmodell

Kapitel XVII

Allein die Stille

Kapitel XVIII

Verheißung

Kapitel XIX

Vom Dunkel ans Licht

Kapitel XX

Aus dem Kessel

Kapitel XXI

Hier und jetzt

Kapitel XXII

Sonnenhochzeit

Kapitel XXIII

Magie – das unverdaute Erbe

Kapitel XXIV

Die dritte Acht: Tyrs Beispiel

Kapitel XXV

Das Ziel und sein Weg

Kapitel XXVI

Pferdekräfte – Menschenwerke

Kapitel XXVII

Lebensgrundlagen

Kapitel XXVIII

Endlich daheim

Kapitel XXIX

Der ewige Wandel

Kapitel XXX

Wenn die Welt kopfsteht

Kapitel XXXI

Feuer für den Stamm

Kapitel XXXII

Runenraunen

Kapitel XXXIII

Scheibenwelten – Ratestäbe – Zauberträger

Kapitel XXXIV

Verästelungen

Kapitel XXXV

Das Ältere Futhark: Tabellarischer Überblick

Der Autor

Emotionale Einleitung

VORWORT DES HERZENS

Es heißt, dass die Achse der Welt ein Baum sei, ja sogar, dass alle denkbaren Welten an diesem einen Baum hingen. So groß soll er sein, dass niemand sieht, wohin seine Krone ragt, geschweige denn, wo er wurzelt: zu tief das eine, zu hoch das andere… jedenfalls für unsere Sinne, Überlegungen und Berechnungen. Die Altvorderen nannten ihn „Winteresche“, weil er immer grünt, doch nur wenige wissen heute, was damit wirklich gemeint war: die ewige Eibe – die, an der jene neun Welten hängen, von denen die alten Mythen des Nordens erzählen. Und wer weiß, wie viele Welten, Kosmen, Universen oder Kontinua es noch sind!

Erzählt wird, neben vielen anderen Geschichten, dass ein eifriges Eichhörnchen den Stamm dieser Weltachse hinauf- und hinunterrenne, um Postdienste zu verrichten. Post von wo nach wo, wessen Post wohin? Ein Wind entfachender Adler wohne in den Wipfeln des Baumes, heißt es, und ein übel gelaunter Drache nage an dessen Wurzeln – und die beiden könnten einander nicht leiden und führten daher so etwas wie einen Flame War (wie wir heute sagen würden): Den vermittle das Eichhörnchen. Lasst euch ein Geheimnis verraten! Das Hin- und Hertragen von Schmähworten zwischen Feder- und Schuppenvieh ist nicht der einzige Job unseres flinken Eibenläufers. Jedes Mal, wenn das Eichhörnchen hinauf- oder hinunterflitzt, kommt es an allen Welten vorbei, die an der großen Eibe hängen. Und da kriegt es so mancherlei mit! Bereits seit vielen hundertundneunquadrilliarden Nächten oder noch mehr Jahren und Jahrzigtausenden schon! Niemand sonst hat eine solche Kenntnis der Zusammenhänge außer vielleicht Frigg oder Odin, aber das sind Große, von denen ich an anderer Stelle erzähle. Lasst uns die Spuren des kleinen Postbötchens untersuchen…

Einem (unbestätigten) Gerücht zufolge war es sogar das Eichhörnchen selbst, dem unterwegs vor lauter Eile die einen oder anderen Notizen aus der Tasche gerutscht sind. Denn nicht einmal ein Eichhörnchen kann sich so viel merken, dass es sich – bei einem solchen Auftrag – nicht wenigstens ab und zu auch Notizen machen müsste. Und diese Notizen waren es dann, die ein Schamanengott fand, der sich an einem Ast unseres wunderbaren Weltenbaums aufgehängt hatte! Zu Selbstfindungszwecken! Was geborene Mannsbilder halt manchmal so tun, um ein Wissen zu erlangen, das sie als Nichtmenstruierende vermissen! Halb verhungert und verdurstet, verwundet, fiebrig und von Sinnen hielt er, der große Sucher, den manche als Odin kennen, die in Holz geritzten Merkzeichen für… ja, für Runen. Vielleicht waren es ja welche. Jedenfalls sind es – spätestens mit des großen Suchers Eingebung, Ideenreichtum und Hilfe – Runen geworden!

Von ihnen sei die Rede hier. 24 an der Zahl, erzählen sie, aufgeteilt in drei Achterreihen, die Geschichte der Welt – und noch mehr. Wie damit umzugehen ist, woran was hängt und was wie miteinander verbunden ist – und was wir tun sollen oder besser: können, wenn mal wieder alles schiefläuft. Manche Leute glauben, die Runen verraten die Zukunft – dafür müsste es aber erstmal eine solche geben… Darüber lachen die Nornen, die Schicksalskräfte selbst! Auch davon will ich erzählen: wie und warum wir uns eine Zukunft ersparen können – und damit viel besser fahren als mit dem Glauben an eine solche! Fest ist das Netz, das die drei Weberinnen fügen – aber nichts so festgelegt, dass du nicht daran ziehen und dich daran entlanghangeln könntest – oder wo hindurchschlüpfen, wo das geeignete Loch ist, der Weg zum nächsten Knoten… Kein Mensch, nicht einmal Seherinnen oder weise Frauen sind in der Lage, dieses Netz in seiner Gesamtheit zu sehen – aber seine Struktur können wir erahnen, seine Biegungen und Windungen erspüren und manches von seinem Verlauf: den nächstliegenden Faden auf unserem persönlichen Lebensweg. Die Entscheidungen, die wir treffen (einschließlich derer, die wir vermeiden oder denen wir ausweichen – wir treffen damit trotzdem welche), sind immer die unseren. Unsere eigenen. Diese Freiheit nimmt uns niemand ab, kein Mensch, kein Tier und kein Gott. Die müssen wir aushalten. Aber genau dabei auch können sie helfen: die Runen. Sie weisen Wege. Lassen uns erkennen, welche Wahl wir haben: Die ist meist vielfältiger, größer und reichhaltiger, als wir meinen. Gewusst wie!

Davon handelt dieses Buch. Ich, Eibensang, schrieb es für Lesekundige, die lernen wollen, wie sich Herz und Verstand verbünden lassen und wie Verwandlungen funktionieren: zum Beispiel die vom Pechpilz zum Glücksvogel (das war eine, die ich durchmachen durfte und die mir gelang) oder das wundervolle Kunststück der Wiedergeburt, und zwar noch in diesem Leben (…was mir ebenfalls glückte). Mit Wiederholung! Egal, woher du kommst, was dich trug, trog und trägt; egal auch und erst recht, wie dein Körper beschaffen sein mag oder seine Neigungen und die deiner Seele. Die Gottheiten, die uns leiten, halten sich nicht auf mit unseren Schranken und Grenzen – im Gegenteil fordern sie uns auf und ermutigen uns, diese zu erweitern. Dafür vergaben sie Gaben: jedem Geschöpf mindestens eine von Geburt an – weitere wären erlernbar. Auch davon soll noch die Rede sein. Meine ist die: Ich kann nur Worte machen. Zauberworte an dein Herz. Der Zauber, wenn du es öffnest, ist der deine. Aber die Belohnung ist unsere, gehört uns zusammen: wo immer wir einander helfen, erahnen – und erkennen.

Bragishof, im Frostmond (Januar) 2015

Rationale Einleitung

VORWORT DES VERSTANDES

Dieses Buch ist ein Versuch, die Welt zu erklären anhand eines alten germanischen Zeichensystems, über dessen Herkunft, Sinn und Geschichte schon viel Widersprüchliches und manch Zweifelhaftes geschrieben wurde – und bis heute jede Menge Mist kursiert. Um etwas Brauchbareres zu bieten, mache ich meine Quellen kenntlich und alles, was ich daraus ableite, so nachvollziehbar wie möglich. Dies ist keine Untersuchung darüber, was historische „Germanen“ mit Runen anstellten, sondern was sich anhand dessen, was wir wissen, heute daraus machen lässt. Inspiriert von den alten Zeichen und in jahrzehntelanger Praxis entwickelt und erprobt, stellt dieses Buch ein Wertesystem vor, ein gegenwartsbezogenes Lebensmodell: zum Nachfühlen, Mitdenken, Ausprobieren – und zur Diskussion.

Ich kenne zwei Arten von Runenbüchern. Die einen haben wissenschaftlichen Anspruch, die anderen enthalten esoterische Interpretationen. Die einen scheren sich kaum um Deutungen, die anderen selten um Fakten. Die einen sind so trocken, dass es staubt, die anderen oft so schwammig und sumpfig, dass es zumindest streckenweise in Beliebigkeit ausartet. Wissenschaftliche Werke über Runen beschränken sich auf Angaben, die (nach jeweiligem Forschungsstand) archäologisch nachweisbar sind. Hin und wieder muss ich mich darauf beziehen, da strukturell nachvollziehbare Methodik, die jegliche Wissenschaft auszeichnen sollte, zum Skelett auch meines Wertgefüges gehört. Ich selbst bin kein Wissenschaftler, nur gelernter Träumer – der allerdings mit offenem Auge durch die Welt tanzt.

Damit gehört dieses Sachbuch zu den esoterischen dieser Art. Ich schrieb es, weil keines der mir bekannten eine Rezeption ermöglicht, die ich auch unerfahrenen Neugierigen bedenkenlos empfehlen kann. (Selbst die besseren und anspruchsvolleren Runenschmöker empfehlen zum Beispiel fast ausnahmslos „Runen-Yoga“, das Nachstellen von Runenformen mit dem eigenen Körper, ohne die rassistische Intention und ausschließlich militaristischen Quellen solcher Übungen auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu erklären. So machen sie sich gerade für Neulinge unüberprüfbar und werden zu Denkfallen-Trägern – und für spirituelle Sinnsuche und Lebensbewältigung sogar zu heimlichen Giftquellen. Warum ist so etwas Gift? Weil das Tun seiner Quelle Energie zuführt und aus ihr überträgt, und das Runenstellen hat nun mal nur eine einzige: die Intention, rassistischen Ansichten mittels obskuren Turnereien einen okkulten Anstrich zu verleihen.) Als ich 1984 zum ersten Mal auf Runen stieß – in einem denkbar miserablen Eso-Machwerk, das mir ein Kumpel unversehens in die Hand gedrückt hatte –, war ich noch bekennender Atheist. So sehr mich die Runen auf Anhieb faszinierten, so vehement stieß mich das menschen- und insbesondere frauenfeindliche Gegeifer ab, das als „Erklärung“ aus dem ariosophischen Ideologiekonstrukt quoll wie Eiter aus schwärenden Wunden. Igitt, jawoll. Was Ariosophie bedeutet und wie diese esoterische „Rassenlehre“ bis heute in fast jedem esoterischen Sehnsuchtswinkel (insbesondere magischer Runenkundlerei) zumindest in Spurenelementen vor sich hingiftelt, erfuhr ich erst viel später. Fortgeschrittene erkennen solche Fallen oft nur schwer – für Unkundige ist es fast unmöglich.

Was ich ebenfalls erst in allmählicher, jahrelanger Sichtung erfasste, war die tatsächliche Quellenlage, die sich als verstreuter Scherbenhaufen quer durch die Geschichte erstreckt. Ich sammelte die brauchbaren Stücke, reinigte sie und baute ein Haus daraus. Als Mörtel nahm ich meine Anschauungen. Einige Steine, die noch fehlten, meißelte ich selbst. Das Ergebnis mag darum nicht „germanisch“ genannt werden können – in dem Sinne, dass Angehörige derjenigen Sprachkulturen, die wir heute „germanisch“ nennen, je so gelebt hätten. Ich bin allerdings der Meinung, dass es dazu passt. Nicht nur, weil ich selbst Ásatrú bin und deswegen all mein Tun und Lassen als „germanisch“ bezeichne. Ich empfehle es auch jenen, die auf derlei Bezeichnungen weniger Wert legen – und unabhängig davon, welche Götter sie im Herzen tragen oder ob.

Bragishof, im Blütenmond (Juli) 2014

Bildstein auf Gotland, Schweden

KAPITEL I

Herkunft der Runen, germanische Kultur und deren teilweise problematische Rezeption von außen, vom Umgang mit spirituellen Aspekten und vom Wert der Menschenrechte

MYTHEN, GÖTTER, MENSCHENWEGE

Ein großer Teil dessen, was ich aus den 24 Sinnzeichen des ältesten germanischen Runensystems herauslese, mag wissenschaftlich nicht belegbar sein. Gesichert ist dies: Nur etwas mehr als ein Fünftel aller historischen Runeninschriften lässt sich dem Älteren Futhark zuordnen – dass es sich dabei überhaupt um ein System handelt, ist gerade mal durch eine Handvoll Funde belegt. Nur diese wenigen zeigen ein jeweils komplettes Älteres Futhark: mal mit der Rune Othala, mal mit Dagaz am Ende. Die ansonsten feste Reihenfolge der Zeichen muss (unter Runenkundigen) verbindlich gewesen sein, denn an ihr orientiert sich eine bestimmte Art von Runenverschlüsselung aus derselben Ära, die sich nur über die entsprechende Kenntnis entziffern lässt.

Ideenstiftend für die Runen waren höchstwahrscheinlich italische, etruskische sowie phönizische Alphabete. Unbekannt ist, wie sie aus dem mediterranen in den skandinavischen Raum gelangten. Wahrscheinlich waren Reisende aus dem Norden einfach davon begeistert, dass die Leute im Süden miteinander sprechen konnten, ohne dabei selbst anwesend sein zu müssen – Zauber der Schrift! Die Reihenfolge der nordischen Adaption wurde eine eigenständige, nur die Benennung erfolgte wie beim Alphabet, dem ABC, nach der Anlautfolge der jeweiligen Eingangszeichen. Bei Runensystemen: F-U-TH-A-R-K (Fehu, Uruz, Thurisaz, Ansuz, Raidho und Kenaz). Deswegen heißen typische Runensysteme „Futhark“.

Obwohl es sich nicht belegen lässt, ist es wahrscheinlich, dass Runen zunächst in Holz geritzt wurden: So erklärt sich die Abwesenheit waagrechter Striche. Gegen die Maserung geritzt, werden senkrechte und schräge am besten sichtbar: Ausschließlich aus solchen besteht das Ältere Futhark. Die ältesten Funde zeigen allerdings nur wenige Zeichen, die obendrein sehr krakelig ausgeführt sind – so sehr, dass bei manchen noch strittig ist, ob es sich dabei überhaupt schon um Runen handelt, also um Zeichen eines bereits bestehenden Älteren Futhark, oder nur um ungelenke Einkerbungen, deren mögliche Bedeutung dann noch viel unklarer wäre.

Das Ältere Futhark war vom zweiten bis zum achten Jh. in Gebrauch – das ist die Zeit, aus der es entsprechende Funde belegen. Die gemeingermanischen Namen seiner 24 Zeichen sind uns aus erst viel später entstandenen Liedtexten bekannt, von denen sich nur Abschriften aus bereits mittelalterlicher Zeit erhielten, die schon lang keine heidnische mehr war. Dennoch ergibt sich auch bei kritischer Lesart ein erstaunlich harmonisches, in sich sehr stimmiges Bild. Dieses musste allerdings erst von weltanschaulich beeinflussten Interpretationen deutscher Runenforschung bereinigt werden, die ihre nationalromantischen Wurzeln nicht verleugnen kann (und damit meine ich noch keineswegs die Auswüchse gezielten Missbrauchs durch die Nazis, deren Vordenker wie heutige Nachbeter. Davon sei später die Rede).

Umso interessanter jedoch, was uns gerade das Ältere Futhark eröffnet. Ob es tatsächlich ein raffinierter Algorithmus war, der alle wichtigen Parameter für ein harmonisches Miteinander überschaubarer Sozialgemeinschaften enthält, sei dahingestellt. Das muss keineswegs so gewesen sein – aber es lässt sich so anwenden. In dieser Hinsicht erscheint es mir nahezu einzigartig. (Aber dies mag meiner Begeisterung darüber geschuldet sein. Ich bin da sicher befangen – und erhebe weder Anspruch auf Deutungshoheit noch auf die Verallgemeinerung meiner Ansichten. Im Gegenteil: Zu Diskurs will ich anregen.)

Historisch lässt sich von ca. 200 vor bis ca. 1100 nach Christus von germanischen Kulturen sprechen: von der ersten römischen Erwähnung germanischer Stämme – der Skiren und Bataver – über die folgenden Jh.e der Völkerwanderung und ihrer Wirren bis zur endgültigen Assimilierung letzter germanischer Stammesgemeinschaften in Königreiche, die inzwischen wesentliche Teile des römischen Rechtssystems übernommen hatten. (Der Einfluss christlicher Strömungen auf germanische Kulturen hatte bereits im frühen 4. Jh. begonnen und sich von da an zunehmend ausgebreitet: dies meist wesentlich friedlicher als in neuheidnischen Kreisen unserer Tage gern beargwöhnt und vermutet wird. Die meisten germanischen Stämme aus der Völkerwanderungszeit sind uns überhaupt nur als christlich überliefert – wenn auch vorwiegend der arianischen Glaubensrichtung angehörig, die erst später dem katholischen Alleingeltungsanspruch unterlag und verschwand.)

Was es über germanische Kulturen zu lesen gibt, stammt nicht aus diesen selber. Sie gelten als schriftlos. Der Gebrauch von Runen war Eingeweihten vorbehalten, so genannten Erilar (Runenkundigen). Wer nicht zu diesen zählte, konnte die Zeichen höchstwahrscheinlich nicht entziffern, geschweige denn selber setzen. Neben dem Älteren Futhark und dem – deutlich später entwickelten – Jüngeren entstanden im Lauf der Zeit noch etliche weitere Runensysteme: das Friesische Futhark, das Angelsächsische Futhark und andere. Die Bedeutung einer allgemein verbreiteten Schreibschrift erlangten sie nie. Die Überlieferung innerhalb der Stämme war und blieb mündlich. Die frühesten (erhaltenen) Runen wurden auf Alltagsgegenständen wie Kämmen oder Schemeln angebracht – und bezeichnen meist nur den Gegenstand selbst. Andere, ähnlich knapp gehaltene Zeichenfolgen aus der Ära des Älteren Futhark ergeben überhaupt keinen nachvollziehbaren Sinn, was nahelegt, dass diese frühen Inschriften magisch intendiert gewesen sein mögen. Sie fanden sich auf Knochen, Waffen, Rüstungsteilen und Haushaltsgegenständen, später auch auf Münzen und Medaillen (so genannten Brakteaten) wieder.

Erst die Wikinger hinterließen uns aus den 300 Jahren ihrer europaweiten Seefahrten, Handels- und Eroberungszüge (vom 8. bis zum 11. Jh.) etliche tausend Gedenksteine (verteilt über weite Teile Europas, die meisten jedoch im skandinavischen Raum). Deren Botschaften beschränken sich auf das Festhalten von Einzelereignissen wie Schiffsunglücke oder Jagderfolge – in wenigen dürren Sätzen, die kaum Rückschlüsse auf Zusammenhänge zulassen. Oft besteht mehr als ein Drittel des Textes aus dem „Impressum“: der Mitteilung, welche namhafte Fachkraft die jeweiligen Runen eigenhändig auf dem Stein anbrachte und wer die Arbeit in Auftrag gab (nicht selten waren das Frauen). Ein paar späte, wortreicher geratene Ausnahmen feiern den Beitritt des jeweiligen Stammes zum Christentum…

Die Wikinger benutzten ein auf 16 Zeichen reduziertes Runensystem, das sogenannte Jüngere Futhark. Es ist mit über 6.000 historischen Funden das mit Abstand verbreitetste gewesen. Warum das Ältere (von dem nur ca. 350 Funde künden) so plötzlich verschwand, ist ebenso unbekannt wie der Grund für die erst hundert Jahre spätere Entstehung des Jüngeren und dessen Reduktion auf nur noch 16 Zeichen. (Ich traf mal einen britischen Kenner dieses Systems, der mir – soweit nachvollziehbar – seine Vermutung nahebrachte, die Wikinger hätten halt diejenigen älteren Runen weggelassen, für die sie – als Seefahrer – keine Verwendung mehr hatten. Was zu meiner Auffassung von Runen als hauptsächliche Sinnzeichen passt, denen eine komplexere Bedeutung innewohnt als einem bloßen Buchstabensystem – aber das ist natürlich nicht belegbar.)

Lassen wir die wenig beredten Runeninschriften allesamt – sowie die wenigen lateinischen Buchstaben aus germanischer Hand (wie z.B. die rätselhafte Ein-Wort-Kritzelei „Harigasti III Il.“ auf dem „Helm von Negau“ als älteste germanische Inschrift überhaupt) – beiseite: Alle uns erhalten gebliebenen schriftlichen Aufzeichnungen, die von germanischen Kulturen künden, stammen von Außenstehenden – die größtenteils nicht einmal Zeitzeugen waren.

Die Edda, die reichhaltigste Niederschrift nordischer Götter- und Heldensagen, entstand im 13. Jh. auf Island – das um diese Zeit schon 300 Jahre lang christlich war. Der Verfasser Snorri Sturluson bediente sich der alten Geschichten nach Gutdünken – wir wissen nicht, was er weggelassen, abgewandelt, zusammengefasst, gekürzt oder dazuerfunden hat. Sicher ist, dass er nicht vorhatte, heidnische Überlieferungen möglichst authentisch zu erhalten. Ihm ging es darum, die Kunst der Skaldik zu vermitteln, die damals angesagte Form höfischer Dichtung. Dafür nahm er alte Erzählungen über halb vergessene Götter (denen längst niemand mehr ernstlich huldigte) als Textmaterial und schmiedete daraus die uns erhaltenen altnordischen Verse. Entsprechend hochmittelalterlich geprägt ist das darin gespiegelte Gesellschaftsbild, wenn auch heidnische Vorstellungen früherer Zeiten mit eingeflossen sein dürften. Historisch zuverlässig bringt da aber niemand mehr die Milch aus der Melange. Viele – heute als „typisch germanisch“ geltende – Phänomene sind nur bei Snorri erwähnt oder auf seine Schriften zurückzuführen – und sonst nirgends belegbar. Dazu gehört zum Beispiel die Einteilung der Götter in „Asen“ und „Vanen“ oder die Beschreibung des Weltenbaums Yggdrasil mit seinen „neun Welten“. Ebenfalls finden sich etliche in der Edda erwähnte Gottheiten – wie zum Beispiel Heimdall – so gut wie nur dort. Die Inschrift einer englischen Spindel aus dem achten Jahrhundert nennt zwar (unter anderem) möglicherweise auch Heimdalls Namen, die Deutung bleibt jedoch spekulativ. Mit Sicherheit lässt sich daher nicht sagen, ob dieser Gott je wirklich von Angehörigen germanischer Kulturen verehrt wurde – auch wenn gerade die offensichtlichen Lücken in den literarischen Quellen dies wahrscheinlich machen (weil sie auf ältere Teile des Mythos schließen lassen, die verloren sind), beweisbar ist es bislang nicht. Etliche andere – von der Archäologie eindeutig als germanisch recherchierte – Gottheiten wiederum finden bei Snorri keine Erwähnung. Entsprechend unbekannt blieben Göttinnen wie Tamfana oder Baduhenna. Auch die uns überlieferten Sagas, ebenfalls altnordische Nacherzählungen, wurden erst in christlicher Zeit aufgeschrieben.

Der römische Gelehrte Tacitus, der im ersten Jh. lebte und dessen Ethnografie „Germania“ zu den wenigen aus der Antike verbliebenen Aufzeichnungen über germanische Kultur gehört, hat die nördlichen Landstriche, deren Bewohner er beschrieb, selbst nie betreten. Er zeichnete das Bild der „edlen Wilden“: Unverkennbar wollte er seinem Publikum – der von ihm als „dekadent“ empfundenen römischen Stadtbevölkerung – eine Moralpredigt halten. Was von seinen Schilderungen auf (ohnedies nur abgelauschten) Tatsachen beruhte und was mehr oder minder frei erfunden war, bleibt offen.

Für uns ist und bleibt ganz wichtig, jeden Text, der etwas über germanische Kulturen zu erzählen hat, kritisch zu überprüfen: Wo kommt das her, wer hat das verfasst, woher haben die, die das verfasst haben, ihre Kenntnisse (sind die Quellen glaubwürdig oder im Zweifelsfall nachprüfbar?) – und wovon will der Text uns überzeugen und warum. Das klingt nicht nur mühsam, das kann wirklich in Arbeit ausarten. Aber wer nicht irgendeinem falschen Mythos oder richtig platten Lügen aufsitzen will, kommt nur so der Wahrheit näher. Der ideologische Missbrauch hinterließ nicht etwa Spuren, er hält den ganzen Themenkomplex nach wie vor in Acht und Bann. Die Befreiung davon kann nur schritt- und stückweise erfolgen, manchmal nur im Tempo und mit der Vorsicht archäologischer Pinselstriche. Denn es sind ja nicht immer nur bewusst gesetzte Ideologeme, womit die Deutungen durchdrungen sind, sondern auch unreflektierte und subtiler vermittelte bürgerliche Vorurteile (woher die wiederum stammen und was sie befördert und aufrechterhält, wäre ein Extrathema, das den Rahmen des vorliegenden Buches sprengt).

Bei dieser Gelegenheit sei auf das Beispiel einer berühmten Moorleiche hingewiesen. Seit den 50er Jahren des 20. Jh. geisterte der Fund als „Mädchen von Windeby“ durch die Presse und wurde allgemein als „hingerichtete Ehebrecherin“ gedeutet: aufgrund ihrer in „obszöner Geste“ geballten Faust. Diese erwies sich jedoch zwischenzeitlich als Irrtum: Der Daumen war nie zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt gewesen. Das hatte nur auf dem ersten Foto so ausgesehen – und das war halt wieder und wieder so abgedruckt worden. Ein halbes Jh. hindurch bezweifelte kein Mensch die „eindeutige“ Botschaft. Aber es kommt noch besser: Das (aus welchen Gründen auch immer im Moor versenkt gewesene) Mädchen ist, wie sich inzwischen herausstellte, in Wahrheit ein Junge. Soviel zu bürgerlich-moralischen Interpretationen germanischer Kultur…!

Wer waren „die Germanen“ nun überhaupt? Die Bezeichnung selbst ist ein propagandistischer Kunstgriff – eine Art antiker Werbeslogan. Sein Schöpfer: Gaius Julius Caesar. Der römische Feldherr hatte Mitte des letzten vorchristlichen Jh.s (ca. 58 bis 50 v. Chr.) zahlreiche gallische Stämme unterworfen. Um das für die Fortführung seiner Feldzüge erforderliche Geld vom römischen Senat bewilligt zu bekommen, war eine überzeugende Erfolgsmeldung nötig. Was hätte besser gewirkt, als „ganz Gallien erobert“ melden zu können? Dafür legte Caesar den Rhein als Grenze fest – und bezeichnete alle jenseits des Ostufers lebenden Stämme kurzerhand als „Germanen“.

Den meisten der so Benannten dürfte der Sammelbegriff unvertraut geblieben sein (wie uns dessen Herkunft: Die lange kolportierte Annahme, wenigstens ein Stamm sich so nennender „Speer-Mannen“ habe für die, dann verallgemeinerte, Namensgebung „Germanen“ Pate gestanden, erwies sich als nicht haltbar). In den rheinöstlichen Wäldern und Sümpfen siedelten Stammesgemeinschaften oder zogen nomadisch herum. Germanische Stämme jener Zeit waren in erster Linie Personengefolgschaften. Sie mögen bestimmte Gebiete für sich beansprucht haben, definierten sich aber nicht über Territorialgrenzen, sondern über personelle Zugehörigkeiten. Die richteten sich nach Verwandtschaft – aber nicht nur. Die Abstammungsmythen bezogen sich auch auf Götter und wer sich den einen nicht mehr zugehörig fühlen mochte, wechselte nicht selten die Gemeinschaft samt (spiritueller) Herkunft: um fortan von den dort bevorzugten Gottheiten mit „abzustammen“. Die massenhafte Aufnahme von Personen ganz anderer und unterschiedlichster Herkunft ist speziell für einen europaweiten Wanderzug von Goten belegt (im so genannten „gotischen Rückstromhorizont“: als binnen kaum einer Generation die Kopfzahl des betreffendes Zuges von hundert bis maximal einhundertfünfzig Leuten auf über dreitausend anschwoll, die sich fortan alle als Goten bezeichneten und die handwerklichen und künstlerischen Merkmale der betreffenden Kultur übernahmen und weiterentwickelten; was wiederum von den daheimgebliebenen Gotenstämmen noch in derselben Generation detailgetreu kopiert wurde).

Insgesamt gilt: Vor allem von den Bildern angeblichen „Germanentums“, die nationalsozialistische Propaganda bis heute in den Köpfen hinterließ, dürfen wir uns getrost und gründlich verabschieden. Stämme verbündeten sich, gingen zuweilen ineinander über oder trennten sich wieder. Sie behaupteten, Abstammungsgemeinschaften zu sein, was sie nachweislich nicht waren und sich nur über spirituelle Auffassungen erklären lässt (auch wenn wir von denen en détail wenig wissen). Ein über jeweilige Stammeszugehörigkeiten hinausgehendes Bindungsgefühl gab es nicht: Die Stämme bekriegten und befehdeten sich untereinander häufig und unüberschaubar. Es gab keine „vereinigten Stämme von Germanien“, kein „germanisches Volk“ – und keinerlei entsprechendes Bewusstsein. In jedem erdenklichen Sinn gilt: Mit Stammeskulturen ist kein Staat zu machen. Die frühmittelalterlichen Reichsbildungen lassen sich nicht mehr als germanische Kulturen bezeichnen. Sie beerbten – mit der Übernahme einer zentralistisch organisierten Religion und, wesentlicher, dem damit staatstragend verknüpften römischen Rechtssystem – das römische Imperium: seine maroden Reste, aus denen sich das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ entwickeln sollte. Die letzten beiden Worte des Begriffs sind irreführend: Die erste „deutsche Nation“ in neuzeitlichem Sinn entstand – lange nach Frankreich, England, Spanien und anderen europäischen Nationalstaaten – erst 1871 mit dem Zusammenschluss der Großherzogtümer Hessen und Baden und der Königreiche Württemberg und Bayern zum „Deutschen Bund“. Die antike Herkunft suggerierende Gleichsetzung neuzeitlicher Franzosen mit antiken „Kelten“ entstammt – ebenso wie deutsche Ansprüche auf „Germanen“ – ausschließlich nationalstaatlicher Propaganda und hat mit den bis dahin schon lange untergegangenen vor- und frühchristlichen Kulturen von Kelten und Germanen nichts zu tun. Im Gegenteil verstellt sie bis heute das Bild auf diese. Nationalromantische Dünkel ziehen sich auch erkennbar durch die deutsche Runenforschung, die in mancher Hinsicht erst dadurch ihren Anfang nahm. Das diskreditiert nicht neuere Forschungen und nötige Korrekturen – es ist nur wichtig zu wissen. Kritisches Lesen absolut jeder Quelle samt ihrer Überprüfung ist grundsätzlich angebracht.

Meine eigene Beschäftigung mit den Runen und ihrer Kultur brachte mir die dahinterstehenden Gottheiten näher, als ich sie zunächst haben wollte… und mündete nach Jahren dann doch in meinen persönlichen Bund mit ihnen. Seitdem kam es zu einer dynamischen Wechselwirkung zwischen dem, was ich aus literarischen und archäologischen Quellen ziehen konnte, und dem, was ich als ideologische Missdeutung oder gar Missbrauch aussortieren musste. Am schwierigsten sind natürlich die persönlichen Anteile zu schildern: jene Auffassungen, die meinen eigenen – höchst subjektiven – Erfahrungen entwuchsen. Diese kann ich hier unmöglich aussparen – und möchte daher betonen, dass sie so wenig verallgemeinerbar sind wie eine eigene Handschrift, ein persönlicher Stil oder eben ein Glaubensgebäude. Was immer ich aus Letzterem vorstelle, dient ausschließlich als Beispiel – und will anregen, das eigene spirituelle Weltbild damit zu erweitern oder zu ergänzen oder, im Bedarfsfall, sich überhaupt ein eigenes zu schaffen.

Für mich sind alle Gottheiten der Welt wahrhaftige Wesenheiten. Diese Auffassung muss niemand teilen. Ich habe nichts davon, wenn irgendjemand die gleichen oder auch nur (angeblich) ähnliche Götter wie ich anruft oder verehrt oder dieselben Namen und Begriffe benutzt – die aber jederzeit und überall anders assoziiert und mit ganz anderen Werten und Bedeutungen verbunden sein können. Wenn mich jemand zum Beispiel fragte, ob ich „an Jesus Christus glaube“, müsste ich – genau genommen – diese Frage bejahen. Das macht mich noch lang nicht zu einem Christen. Ich bin bei der genannten Gottheit so wenig unter Vertrag wie bei Siemens, der Deutschen Bank oder anderen Institutionen und Instanzen, deren Existenz ich ebenso selbstverständlich anerkenne wie die beliebiger Religionsgemeinschaften – unabhängig davon, was ich von den jeweiligen Kräften, ihren Auswirkungen, ihrem Personal oder dessen Methoden halte. Ich glaube an (die spirituelle Existenz und Wirkkraft von…) Jesus genauso wie an (die von…) Allah, Shiva, Pallas Athene, der Weißen Büffelfrau, Quetzalcoatl oder auch – das ist nicht despektierlich gemeint gegenüber vorgenannten Beispielen! – King Kong und Micky Maus; ebenso glaube ich an den Mount Everest, die Donau, das Geld, den Morgenkaffee oder McDonald‘s und Monsanto. Denn all diese – nennen wir sie mal „Phänomene“ – sind da. Und unabhängig davon, welche von ihnen als „real“ gelten und welche nicht, bewirken sie etwas in Materie und Geist. Natürlich ganz unterschiedliche Ereignisse und Zustände. Die einen betreffen mich persönlich, die anderen weniger. „Unter Vertrag“ – im Bunde – bin ich für meinen Teil mit Gottheiten, die ich mir in gewisser Weise selber geschaffen habe… aus Dankbarkeit dafür, dass sie – die Großen, wie ich sie nenne – die Welt und letztlich auch mich erschufen, mich leiten, anfordern, kurz: mich leben und wirken lassen. Den Widerspruch in dieser Aussage kann ich nur mit einem Grinsen beantworten… und dem Hinweis, dass sich eine magische Weltsicht so wenig an Logik oder die gewohnheitsmäßige Zeitachse zu halten braucht wie jeder anständige Traum auch. Ich nehme für mich in Anspruch, sowohl Realist als auch Träumer sein zu dürfen – ja: zu können.

Mein persönlicher Wertekanon ist ganz gut durch die so genannten Menschenrechte umrissen. „Ganz gut“ meint, dass ich den Geist dieses Wertesystems am liebsten noch angewandt auf weitere Teile der Natur sähe. Keinesfalls jedoch akzeptiere ich irgendeine Einschränkung dieses Kanons, ganz konkret: der Proklamation der allgemeinen Menschenrechte von 1948. Sie sind mein Maßstab für die Bewertung und Beurteilung menschlichen Handelns und Unterlassens im Kleinen wie im Großen, im Alltag wie im gesellschaftlichen Gesamtgefüge – welcher Person, welcher Gruppierung und welchen Staates, welcher ethnischen oder kulturellen Gemeinschaft auch immer. Wenn es eine Front zwischen mir und anderen gibt, verläuft sie an dieser Frage: wie wer mit den Menschenrechten umgeht. Ich bin gegebenenfalls bereit, mich mit all denjenigen Menschen verbündet zu sehen oder tatsächlich zu verbünden, die die Menschenrechte achten, leben, verteidigen. Wer dies nicht tut, kann nicht mein Freund oder meine Verbündete sein – egal, wer sich da Hexe, Heide oder irgendetwas anderes nennen mag, gleiche oder ähnlich benannte Gottheiten verehrt wie ich, vielleicht dieselbe Musik hört wie ich, vergleichbaren kulinarischen, sexuellen oder sonst irgendwelchen Vorlieben frönt oder auf andere Ähnlichkeiten pocht, die vorkommen mögen – na und. Entscheidend für meine Bündnisse ist die genannte Haltung – sie ist die unabdingbare Verhandlungsbasis. Innerhalb dieser findet zivilisierte pluralistische Gesellschaft statt. Nur dort. Wer sich außerhalb positioniert, steht draußen (und hat sich gegebenenfalls selber „ausgegrenzt“). Verhältnisse, in denen die Menschenrechte gelten, kamen nicht vom Himmel gefallen, sondern entstanden aus irdischen Einsichten und unendlichen Mühen heraus. Menschenwürdige Verhältnisse bedürfen – auch da, wo sie bereits bestehen – ständigen persönlichen Einsatzes. Ihr Überleben hängt an einer knappen Faustregel: Keine Toleranz für Feinde der Toleranz!

Ich lasse jede spirituelle Wahrheit gelten und akzeptiere jeden persönlichen Glauben – und daraus resultierende Verhaltensweisen, solange und soweit sie sich im Rahmen der Menschenrechte bewegen. Daraus folgt, dass ich auch Wertsysteme, die mir fremd oder gar unsympathisch sind, ebenso selbstverständlich respektieren kann wie deren FürsprecherInnen. Ich gewähre so viel Toleranz, wie ich bekomme (und wo ich es mir leisten kann, auch gern mal etwas mehr: Das lässt sich nicht pauschalisieren, kommt aber vor). Ich toleriere jedoch nicht die Abschaffung meiner Werte, entsprechende Handlungen oder Absichten. Die Gleichwertigkeit aller Menschenwesen ist die Grundlage, auf der alle erforderlichen und möglichen Verhandlungen beruhen. Ich gehöre zur weltweiten Rasse derer, dessen Blut rot ist. Wir alle gehören ihr an. Es bedarf keinerlei Blutvergießens, das zu beweisen.

Wenn ich hier von bestimmten Göttinnen und Göttern rede und erkläre, was sie mit Runen zu schaffen haben, ist das so ähnlich, wie von selbstkomponierter Musik zu sprechen. Musik folgt Regeln (Ausnahmen bestätigen das). Meine Töne und Klangfolgen muss niemand nachspielen oder gutheißen – ich zeige nur auf, wie sie funktionieren, welchen Regeln sie folgen. Es ist ein Unterschied, ob du sie nachvollziehst und anwendest, um deine eigene Musik (oder Magie) zu entwickeln – oder meine Ergebnisse imitierst und übernimmst. Letzteres kann einen Zwischenschritt darstellen, niemals aber taugliches Endergebnis.

Das kann nicht oft genug betont werden. Die Unsitte, andere für sich denken zu lassen, anderen mehr oder minder kritiklos und selbstvergessen zu „folgen“, ist in der Menschheitsgeschichte allzu verbreitet und gerade in unserer Gesellschaft eingeschliffen wie kaum etwas anderes. Die Subszene esoterisch Sinnsuchender spiegelt dieses gesellschaftstypische Phänomen nochmal in ungewollt karikierender Form scharf wieder, lebt es gewissermaßen übertrieben nach: in ihren offenen wie versteckten Hierarchien, in ihren Werten, Zielen, Methoden und deren Resultaten. Das muss nicht erst über offenkundige Kommerzinteressen sichtbar werden oder vorwiegend in seelische Ausbeutung und innere Verelendung münden, tut es aber meistens und typischerweise. Autoritätshörigkeit wird in allen Möglichkeiten des Spektrums gefördert, Selbständigkeit selten gelehrt. Es gibt jedoch Erfahrungen, die sind nur individuell zu machen. Dazu gehören Essen und Trinken, das Darmentleeren, das Sterben – und das Lernen. Und damit auch das Erleben spiritueller Wahrhaftigkeiten. Bei solchen, als einem kulturellen Phänomen, lässt sich natürlich mogeln. Wir können jederzeit spirituelle Erfahrungen anderer Leute für unsere eigenen halten – dabei wird dann ziemlich egal, ob die Erfahrungen jener anderen, von denen wir sie übernehmen, „echt“ sind oder nur vorgegaukelt: Sie kommen in jedem Fall vitaminarm und substanzlos an. Ihr möglicher Wohlgeschmack ist künstlich und meist oberfaul herbeigetrickst. Im schlechtesten Fall machen sie süchtig. Wie schlechte Nahrung sind sie meistens voller Ballaststoffe, ungesunder Zusätze ungewisser Herkunft – und allzu oft zuckersüß. (Das allein sollte schon misstrauisch machen. Es ist ein sicheres Erkennungsmerkmal, dass die Weisheit dahinter nicht das Glanzpapier – oder auch nur den salbungsvollen Ton – wert ist, auf dem sie uns entgegensäuselt.)

Süchtig nach solchem Zeug, laufen wir Gefahr, andere von derselben Sache überzeugen zu wollen. Notfalls um jeden Preis. Denn das mulmige Defizit der ausgebliebenen Erfüllung isoliert unsere Seelen. Die unreflektierte Einsamkeit schreit bald nach Bestätigung durch Äußerlichkeiten: am besten durch gleichartige Gemeinschaft. Ab da werden Gewandung und Gepränge und das Bestätigen verbaler Formeln oberwichtig: als Kennzeichen von Gleichartigkeit, von Miteinander. Das bedingungslose Mitmachen und – vor allem auch äußere – Gleichziehen der anderen wird oft zum einzigen Trost in der zu Recht gefühlten – und umso manischer geleugneten – persönlichen Leere.

Genau darum sind die meisten Offenbarungsreligionen (wie auch ihre marodierenden Ableger, die oft sektiererischen Einzelkulte) so vehement um Missionierung bemüht – und darin so erfolgreich: An die Stelle persönlicher Erfüllung tritt die Not, äußere Merkmale anzugleichen und ans idealisierte Vorbild angeglichen zu sehen. Die Gleichschaltung nennbarer Kennzeichen dient als Ersatz für innere und eigene Entwicklung und Erfahrung. Nur wer im eigenen „Glauben“ keinen echten Halt findet, ist darauf angewiesen, dass möglichst alle anderen dasselbe glauben – und fühlt sich von allen bedroht, die davon irgendwie abweichen. Das sind die üblichen Kennzeichen vieler heutiger Religionen und Kulte… Und so sehr sie individuell durchaus für Halt und Orientierung zu sorgen vermögen, gleichen sie in ihrer Struktur und Grundhaltung doch eher einer gefährlichen Geisteskrankheit. Ungeachtet ihrer Gebetsmühleninhalte tendieren sie zu Heuchelei, Ungerechtigkeit, Willkürherrschaft, Verblendung, Gewalt und Krieg. Es ist ihnen inhärent. Statt die Seele zu befreien, knechten sie die Massen. Noch perfider: Sie haben beides verwoben. Wohlgemerkt: Diese Kritik gilt nicht Menschen und ihrem persönlichen Glauben, sondern den gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen ihrer Religionen.

Spiritualität ist entweder eine persönliche Erfahrung oder wertlos. Daraus folgt, dass Missionierung – jegliche! – Gift ist für jedwessen persönliche spirituelle Entwicklung. Missionierung ist das (meist systematische) Übertragen festgelegter Glaubensinhalte von einer Person zur anderen. Das braucht nicht nur so genannte Religionen zu betreffen, ist aber kennzeichnend für sie. Religionen, die missionierend verbreitet werden, verwandeln – wie alle Ideologien – Menschen in Schafe und Bluthunde. Die Verwandlung zum Schaf wie auch zum Bluthund zu vermeiden, ist der erste Schritt zum sozial kompetenten Menschenwesen.

Letzteres wollte ich werden. Wie mir ausgerechnet die Runen des Älteren Futhark dabei helfen sollten – und warum sie dafür taugen – zeige ich in den folgenden Kapiteln.

Bildstein mit Runen, Århus, Dänemark

KAPITEL II

Vorstellung der drei Ættir, Einblick in ihre Zusammenhangsverläufe

VOM WERDEN, ERKENNEN UND HANDELN

Das Ältere Futhark ist aufgeteilt in drei Achterreihen. Die erste beschreibt Prozesse des Erschaffens und Entstehens, die zweite einen exemplarischen Erkenntnis- und Einweihungsweg, die dritte zeigt, worum sich menschliches Handeln dreht und unter welchen Bedingungen es stattfindet.

Während die ersten beiden Reihen konkrete Verläufe in klar aufeinanderfolgenden Ereignisfeldern markieren, erschließen sich die Runen der dritten Acht eher paarweise. Diese letzte Reihe zeichnet keinen bestimmten Weg mehr vor, nur noch das Wie und Womit – und verweist damit umso mehr auf die Macht unserer Verantwortung.

Die drei Runenreihen werden (altnordisch) Ættir genannt. Ætt heißt „Acht“, „Sippe“ oder „Familie“. Über die Ættir des Älteren Futhark wachen drei Gottheiten: Freyr, der sinnliche Herr der Fruchtbarkeit, Hel, die fahle Herrin des Totenreiches, und Tyr, der streitbare Hüter der Gerichtsbarkeit.

Über Freyrs Ætt, die erste Acht, lernen wir, wie Schöpfungsprozesse funktionieren – ihre Voraussetzung, die gleichbleibenden Grundlagen ihrer vielfältigen Entwicklungen, ihr Werdegang und ihre Vollendung – samt möglicher Gefahren: was dabei alles schiefgehen kann, wie dem gegebenenfalls zu begegnen ist und was das jeweils für Konsequenzen hat. Die Abfolge dieser Reihe lässt sich auf zahllose Entstehungsprozesse übertragen – auf kleine und große Menschenwerke bis hin zum Wunder der Schöpfung selbst.

Hels Ætt, die zweite Acht, ermöglicht uns Erkenntnisse darüber, was das alles soll und wer wir überhaupt sind. Sie bietet einen Weg zu möglicher Charakterreife, der auf unterschiedliche Art erlebt und gegangen werden kann. Es ist kein Zufall, dass sich ein Drittel des ganzen Runensystems den Sinnfragen des „wer bin ich“ und „was soll das“ widmet. Der Helsweg, wie ich ihn nenne, ist kein Ponyhof: Er führt uns schnurstracks in unsere persönlichen Abgründe hinein, in die oft verschütteten Untiefen des eigenen Seelen- und Herzensgrundes, die wir im Alltag so gern scheuen (wofür wir ja auch Gründe haben). Doch am Ende wartet ein Schatz. So dunkel der Abstieg beginnt und so viel er fordert, so strahlend und selbstbewusst baden wir am Schluss im Licht der Sonne. „Erleuchtung auf Germanisch“ ließe sich das nennen – wäre der eine Begriff nicht so abgeschmackt und der andere nicht so missverständlich belastet. Aber ich will nicht vorgreifen.

Tyrs Ætt, die dritte Acht, beschäftigt sich mit unserem Tun und Lassen und bringt uns in persönliche Verantwortung – die wir mit den Erkenntnissen und Erfahrungen aus den vorangegangenen Reihen tragen können. Erst wenn wir wissen, wie etwas erschaffen wird, und zudem erfahren haben, wer wir selber sind und aus welchen Motiven wir handeln, können wir zu erwachsenen Menschen werden, die eigenständige Entscheidungen treffen und für deren Folgen einstehen. Zudem kennen wir die Welt und Umgebung, in der das stattfindet. Im gleichzeitigen Beachten dieser Umstände und Möglichkeiten sowie unserer persönlichen Erfahrungen lernen wir, unser Leben zu meistern und unseren Aufgaben gerecht zu werden.

Die Abfolge der 24 Runen des Älteren Futhark lässt sich als Weg von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel lesen, aber auch zu einem Kreislauf verbinden. Ich bevorzuge inzwischen die zyklische Variante, da sie alle möglichen Wegteile – auch die linearen – enthält.

Bevor wir uns den Runen und deren Vielschichtigkeit im Einzelnen widmen, werfen wir zunächst einen Blick auf das, was sie verbindet und zusammenhält. Um diese Verläufe in ihrem Zusammenhang kenntlich zu machen, beschränkt sich die Vorstellung der Einzelrunen hier auf Ableitungen ihrer Urbedeutung.

Aller Anfang ist das Entstehen. Wo nichts war, soll etwas werden – und dem kann durch Erschaffen nachgeholfen werden.

Freyrs Ætt – und damit das ganze Futhark – beginnt mit der Rune Fehu. Sie stellt das verfügbare Potential dar, aus dem etwas – ja letztlich alles – erwächst. Diese frei bewegliche Energie ballt sich zusammen in Uruz, das heißt, sie verdichtet sich zu Materie. Thurisaz ist die Kraft, die diese Materie schlagartig und weiträumig verteilt: Das Ergebnis dieser jähen Entladung ist chaotische Verbreitung. Ab hier wird sortiert: Ansuz repräsentiert sowohl das sinnvolle Gefüge als auch die Kommunikation darüber („wo etwas hin soll“: Das Schaffen einer Ordnung bedarf der Verständigung der daran Beteiligten – ob das nun Götter sind oder Menschen…). Raidho erst bringt den Faktor Zeit ins Spiel: Bewegung und Tempo spielen eine Rolle, Zyklen entstehen, rhythmische Abläufe greifen ineinander. Jetzt ist kompetentes Gestalten gefragt und die Lust darauf: wie etwas zusammengehört und wie es zu bearbeiten ist, damit es passt und schön wird. Dieses Können (und den Drang dazu) symbolisiert die Rune Kenaz. Sie führt zur Vollendung des Werkes in Gebo. Das Geschaffene, das nicht mehr verbessert werden kann (was seine Harmonie ausmacht: auf welchem Level auch immer), ist nun fertig, wird „übergeben“, kann ab da sein Eigenleben führen. Das schafft Verbundenheit der daran Beteiligten – sowohl mit dem Werk als auch untereinander. Die Rune dafür ist Wunjo. Sie krönt den Prozess mit Wonne und symbolisiert sowohl die Verbundenheit als auch die Freude darüber.

Der Schöpfungsprozess ist nun abgeschlossen.

Ab hier lassen sich die menschentypischen Fragen stellen: Wer bin ich? Und was soll das alles? Wozu gibt es die Welt? Wozu mich? Und überhaupt was? Die Antwort ist nicht lustig, der Weg nicht einfach. Aber dafür wird er ja beschrieben: um ihn aufzuzeigen, ihn gangbar zu machen, trotz aller Unwägbarkeiten – und durch sie hindurch. Das Ergebnis lohnt alle Mühen. Im Erfolgsfall! Die Anleitung dient seiner Ermöglichung.

Denn Hels Ætt – die mittlere Reihe – beginnt mit einem Schrecken. Hagalaz steht für elementare Zerstörungen und (meist ungewollte) Umwälzungen: Was du hast und was du vorhast, wird womöglich alles verhagelt. Nichts bleibt beim Alten. Wie diese Kraft auch gezielt genutzt werden kann, ist ein besonderes Geheimnis (das an späterer Stelle gelüftet wird) – immer aber stellt diese Rune eine Herausforderung dar. Sie steht letztlich auch für das, was wirklich passiert, während wir Pläne machen – die wir dann aufgeben müssen, weil es angesichts der Umstände so nicht geht. Und damit bringt sie uns – zunächst und bis auf Weiteres – in Not.

Nauthiz, in mehrfacher Hinsicht eine „Schicksalsrune“ (auch das bedarf besonderer Erläuterungen – später!), konfrontiert uns damit, was wir wirklich brauchen – im Wortsinn benötigen. Alles Überflüssige wird unter ihr nichtig und gegenstandslos. So von allem (schönen Zierrat, aber auch störenden Ballast: der meistens überwog – wenn beides nicht eh weitgehend identisch war…) befreit, kommt dein Streben zum Stillstand, die Seele zur Ruhe.

Isa, die einfachste Rune von allen, reduziert uns auf unseren persönlichen Wesenskern. Die zunächst einsame Essenz deines Ichs findet sich bald als Mittelpunkt wieder: von allem.

Jera, als 12. Rune des Futhark auch Mitte des Helsweges, verheißt die Erreichbarkeit alles irgendwie Vorstellbaren – und weist sogar darüber hinaus. Ja: die ganze Welt. Sie sei dein. Sie gehört dir zwar nicht alleine – du teilst das All mit allen anderen Geschöpfen, Kreaturen, Wesenheiten – aber dennoch dir ganz. Alles ist erreichbar: für dich! Bedingungslos und einwandfrei. Das ist wichtig. Es gibt keine Einschränkungen. Du musst nicht einmal Entscheidungen treffen – jetzt noch nicht. Das kannst du erst, wenn du wirklich aus dem Ganzen schöpfen kannst, ohne etwas auszusparen (wie du es vorher lerntest) – und zu dieser Erkenntnis, dass dir (ja, dir!) alles, aber auch wirklich alles möglich ist, verhilft Jera. Sie macht dich eins mit dem All, bis ihr die Rollen tauschen könnt, weil ihr – ungeachtet der Dimensionen: du und das Weltganze – aus ein- und derselben Substanz beschaffen seid.

Ab da geht‘s wieder aufwärts: Die Eibenrune Eiwaz repräsentiert deinen langsamen, aber beharrlichen Aufstieg aus dem Dunkel (deiner eigenen Tiefen: wo du all das erlebtest) ans Licht.

Zurück in das deiner Alltagswirklichkeit wiegt und wirft dich Perthro, der Kessel der Wiedergeburt. Diese bezieht sich auf dein Leben: dieses eine. Der Helsweg ist eine Verwandlung: deine. Die deines Charakters.

Und nach diesen Erfahrungen fühlst du dich in der Tat wie neugeboren: hellwach, wie runderneuert, zu allem bereit. Diesen Zustand repräsentiert Algiz. Ganz im Hier und Jetzt. Fähig zu vollkommener Gegenwärtigkeit: erfüllt vom Zauber des Moments. Jetzt fehlt nur noch ein Schritt. Der letzte. Er führt dich direkt in die Sonne.

Sowilo: Dein innerstes Wesen kommt ans Licht. Es wird dir bewusst. Und es ist rein. Du bist es jetzt: geworden. Auf deiner Fahrt durch die Abgründe. Aus deren Tiefen ermessen sich die Höhen deiner Bewusstwerdung. Du erkennst deinen wahren Willen. Die Wurzeln deiner innersten – auch und gerade dir selbst bis dahin verborgen gebliebenen – Wesenswünsche, deines Strebens und Sehnens. Du siehst die Zusammenhänge: Deine eigene Sonne bringt sie an den Tag. Ab hier gelingen deine Taten.

Du bist jetzt voll und ganz. Ein Geschöpf, das seiner selbst bewusst ist.

Ab da bist du überhaupt erst fähig zu handeln: Entscheidungen zu treffen im Bewusstsein deines Wollens und seiner Impulse und die Konsequenzen sowohl einzuschätzen als auch zu tragen. Ab hier kannst du sie übernehmen: Verantwortung.

Sie ist der rote Faden, der sich durch die dritte und letzte Achterreihe zieht. Diese gibt keinen Ereignisverlauf mehr vor: Der hängt jetzt allein von dir und deinen Entscheidungen ab. Von deinem Tun und Lassen. Weshalb ich diese letzte Runen-Acht gern „die für Erwachsene“ nenne. Die erste lehrte uns, etwas zu erschaffen, entstehen zu lassen, zu gestalten und wie solche Prozesse überhaupt funktionieren. Die zweite verhalf uns zur Erkenntnis unserer selbst, zur Sinnstiftung des eigenen Daseins. Denn wer soll diesen Sinn formulieren, wenn nicht du selbst? Genau deshalb fand das alles statt, nur dazu hast du den Helsweg durchwandert, durchlitten, erlebt und zu deiner eigenen Macht gefunden. Die dritte Runenreihe zeigt, wo und wie diese stattfindet und zu welchen Bedingungen. Darüber hinaus stellt sie ein Arsenal dar: für dein Tun. Sie setzt die Erfahrungen der ersten und zweiten Reihe voraus: Die bilden dein Vermögen, dein Wissen, deinen Hintergrund.

Tyrs Ætt besteht aus Runenpaaren. Zumindest die ersten beiden bestechen durch eine Gegensätzlichkeit, die zunächst unvereinbar scheint. Doch genau darin liegt die Lösung: in deren Verbindung, ja Gleichzeitigkeit – zu jeweiligen Anteilen. Erst zusammen entfalten sie ihre Wirkung harmonisch. Sie ist jedoch kein Festwert, sondern veränderlich. Du bekommst ein Arsenal beweglicher Parameter. Ihre Ausrichtung und ihr Maß bestimmst immer du. Es gibt keine Vorschriften. Nur Konsequenzen. Die Runen helfen, deren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.

Tiwaz ist die zielgerichtete, entschlossene Tat und das Tragen ihrer Folgen – und der Mut zu beidem. Berkana steht für die Fähigkeit, dies pfleglich, umsichtig (auch und gerade in Bezug auf deine Umgebung) und sogar fürsorglich, mitfühlend und rücksichtsvoll zu veranstalten. So blank betrachtet liegen beide Extreme klar vor Augen: ihre Möglichkeiten wie Mängel. Tiwaz allein führt, trotz und bei aller Verantwortungsbereitschaft, zu fanatischer, rücksichtsloser Durchführung und Durchsetzung (konsequent zu Ende gedacht) wovon auch immer. Berkana schafft Behaglichkeit, Wärme und Freundlichkeit, wird aber darüber hinaus kaum etwas bewegen. Meist braucht der Mensch eine Mischung von beidem: Umsichtiges, entschiedenes, aber rücksichtsvolles Handeln ließe sich das nennen. Mitunter mag die eine oder die andere Richtung überwiegen – müssen? Deine Entscheidung! Vergiss nie, auch im Extremfall nicht, das „Gegengewicht“, den möglichen Ausgleich. So bleibst du in Balance und deine Umgebung wird es dir danken. Der Erfolg auch.

Ehwaz symbolisiert die wilde Herde deiner animalischen Triebe. Sie sind schreckhaft und, wenn sie erst einmal lostoben, kaum mehr aufzuhalten. Mannaz steht für das soziale Miteinander, deinen Platz in der Gemeinschaft, und die Regeln, die sie sich gibt, denen sie folgt und die sie bedarfsweise verändert. Die Synthese aus beidem füllt Bücher bergeweise, aber kaum wer hält sie für möglich: Wir kennen das so gut wie gar nicht in der Praxis. Das hat mit Geschichte zu tun, mit Religionseinflüssen und -auswirkungen, mit sozialen Entwicklungen. Dennoch hängen beide Phänomene zusammen, sind und bleiben aufeinander angewiesen. Das weitgehende bis versucht vollständige Unterdrücken von Trieben ist möglich, hat aber einen hohen Preis. Zügelloses Sichgehenlassen auch. Ersteres schafft unfrohe Gesellschaften voller Zwang, Letzteres gar keine: Es verhindert jegliche. Zusammenleben und miteinander auskommen ist aber nötig. Über das jeweilige Maß – wem was gestattet ist und was nicht und wann, warum und wie – können vielleicht wirklich nur Kompromisse erzielt werden. Eine ideale Gesellschaft gibt es wahrscheinlich nicht. Aber bessere und schlechtere gibt‘s. Nichts davon ist statisch. Gesellschaften verändern sich – immer und laufend. Daran mitzuwirken, ist das Bestreben aller Beteiligten und Betroffenen. Wer das nicht tut, hat es vielleicht aufgegeben oder nie eine Chance gesehen, die eigenen Interessen einzubringen. Nichtsdestotrotz existieren sie und ihre Unterdrückung hat Folgen. Die Zivilisiertheit einer Gesellschaft lässt sich daran messen, wie wenig Gewalt zu ihrem Erhalt und ihrer Weiterentwicklung aufgewendet wird (je weniger Gewalt ausgeübt werden muss, umso zivilisierter ist das Gemeinwesen) und welchen Einfluss auf diese Gewalt die von ihr Betroffenen nehmen können (je größer und breiter gestreut dieser Einfluss ist, desto demokratischer, hierarchieflacher und gerechter geht es in der betreffenden Gesellschaft zu).

Laguz bedeutet sowohl „Lauch“ als auch „fließendes Wasser“: Pflanzliche Nahrung und Süßwasser sind zweifellos Lebensgrundlagen, ohne die gar nichts geht. Inguz, das Ei, verweist darauf, dass zumindest das Gemüse sich fortpflanzen muss, kann und darf, damit es auch morgen noch etwas zu essen gibt. Die Rune symbolisiert das Lebensprinzip der Fortpflanzung und die Wunder der Genetik. Von beiden Runen lässt sich eine Menge ableiten, was an dieser Stelle noch kein Anstoß für Debatten zu sein braucht.

Die Reihenfolge der letzten beiden Runen ist strittig: Auf den wenigen historischen Funden, die ein vollständiges Älteres Futhark zeigen, steht manchmal Othala, manchmal Dagaz am Ende. Im zeitgenössischen Gebrauch hat sich Othala als Endrune durchgesetzt. Ich bevorzuge inzwischen Dagaz – richtig darf beides genannt werden.

Othala ist sowohl Verwurzelung im Sinne einer „Heimfindung“ als auch Bewusstsein dafür, welcher Weg dich an diesen Ort gebracht hat und welche Ereignisse dich dabei prägten. Dagaz symbolisiert den ewigen Wandel: die größte universale Konstante überhaupt. Auch das trauteste Heim, der vollendetste Weg, die tiefste und hartnäckigste Wurzel fällt irgendwann wieder der Vergänglichkeit anheim, um abermals etwas Neues entstehen zu lassen! So schließt sich der Kreis und erlangt erst darüber seine Dauerhaftigkeit (wie so vieles Natürliche ist auch dies in Wirklichkeit eine Spirale…). Wege mögen enden, aber was auch immer vergeht, schafft nur Platz für Weiteres. Das ist Ewigkeit: dieses gewaltige Kreiseln in stetiger Weiterbewegung. Nicht eine Strecke von A nach B und das Verharren an einem Endpunkt. So gern wir das oft hätten. Die Welt ist größer als unser Wille. Auch er – und gerade er – wird aber erst durch ihre Größe und Wunder ermöglicht. Glück – über die persönliche Zufriedenheit hinaus (vielleicht ist das die Weisheit, die ich meine) – ist, wie ich‘s bis jetzt übersehe oder erahne, eine Mischung aus Macht, der Entfaltung meiner persönlichen Möglichkeiten und der Einsicht um ihre Grenzen. Das ist kein „Mittelweg“, im Gegenteil. Denn mit „Grenzen“ meine ich nicht die menschengemachten, sondern die kosmischen. Ihnen beuge ich mich, diskussionslos und demütig. Was leicht fällt: So viel weiter sind sie als jene, die Menschen mir steckten, stecken wollten, zu oft stecken konnten. Aber Letzteres zu ändern, ist meine Macht. Eine, die von Geburt an in mir lag. Ich musste sie nur finden. Und erkennen. Und einüben. Und auszuüben anfangen. Versuch und Irrtum. „Nur“ heißt nicht, dass es einfach gewesen oder mir leicht gefallen wäre… Ich hatte Hilfe – oft unerwartete – und, allen Rückschlägen zum Trotz, immer wieder erstaunliches Glück. Das alles zu entdecken – und dem nicht nur ausgeliefert zu sein, sondern es mit beeinflussen zu lernen –, halfen mir Runen; damit weiterzukommen, auch. Viel weiter, als ich je gedacht hatte… Deshalb erzähle ich das alles. Vielleicht hilft es ja auch dir.

So beschreiben mir die Runen des Älteren Futhark die ganze Welt. Sie zeichnen eine Art Landkarte – genauer: viele Arten von Landkarten, je nach Bedarf – und nehmen mich gleich mit. Sie geben nichts vor, was ich zu tun oder zu lassen hätte. Sie nehmen mir keine Entscheidung ab, aber sie ermöglichen mir, besser zu erkennen, warum ich welche treffe und welche ich wagen sollte, wenn ich mich denn schon (oder endlich) traute. Oder so ähnlich. Womit ich sagen will, dass es keine Patentlösungen braucht. Wo immer mir solche angeboten werden, misstraue ich ihnen zutiefst und, wie alle Erfahrung lehrt, zu Recht. Was du nicht selbst machst und verantwortest, macht meist unfrei. Ich mache eine Menge Sachen nicht selber, weil ich sie nicht kann oder mag und bin mir der Folgen bewusst. Niemand kann oder muss alles können. Aber Prioritäten setzen: Das lohnt. Was du willst, machst, nehmen und geben kannst. Es gibt keinen „Alles-wird-besser-Knopf“, so wenig wie endgültige Gewissheit über irgendwas. Aber Haltegriffe – die gibt‘s. Wo sie mir fehlen, sehe ich zu, dass ich mir welche schaffe. Daran entlanghangeln – das ist das Abenteuer. Ich kenne schlechtere.

Runenstein auf Gotland, Schweden

KAPITEL III

Fiktive Erinnerungen eines ebensolchen chattischen Kriegers aus dem 6. Jh.

AUS DEM VERGESSEN

Es dunkelt. Aber das Mondlicht sollte reichen: Fast voll steht Manis Nachtgesicht am Himmel, knapp über den Buchen, die jetzt nur noch Schattenrisse sind, schwarz und stumm. Ich bin nicht weit vom Lager, aber entweder sind sie alle still geworden dort – oder etwas in mir blendet die Geräusche aus, ich kann sie nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen höre ich Unken aus Südwest, da ist wohl ein Bach, und das Aufflattern einer Ralle, aber jetzt ist auch das vorbei. Nur der Wind pfeift und klatscht mir die nassen Haare ins Gesicht. Der Regen hat aufgehört. Ich atme durch. Es wird Zeit. Lang will ich nicht wegbleiben. Mein kleines Messer und der Speer. Das kleine Messer meines Bruders und der Speer. Das kleine Messer, das mein Bruder mir geschenkt hat, nachdem er mir – Monde her – versucht hat, damit in den Arm zu schneiden. Echt lustig. Wir dachten, es sei stumpf – aber wir waren einfach nur zu betrunken. Jetzt wird unsere Blutsbrüderschaft, obwohl überfällig, noch ein wenig warten müssen. Wenn wir überleben, wir beide. Wofür – zumindest für meinen Teil – etwas getan werden muss: was ich vorhabe. Die Klinge muss in Holz schneiden – erstmal. Ich betrachte meine Hand, die den Speer umfasst und wiegt. Die Hand, aus der ich ihn einst empfing, ist Rabenfraß geworden. Mein anderer Bruder ist das gewesen, mein leiblicher. Er war jünger als ich. Aber dann haben die Valkyries ihn geholt, vor der Zeit, wie ich meine. Er ist tot und ich lebe. Die Welt kann ungerecht sein. Es gilt, Ausgleich zu schaffen. Verdammt. Hätte er nicht überleben können? Es ist, wie es ist. Es rafft immer die Falschen dahin. Morgen werden viele dran sein, niemand weiß, wen es treffen wird. Deshalb bin ich hier. Mit dem kleinen Messer meines Lieblingsbruders, der nicht mein leiblicher ist – aber mir so nah wie die eigene Mutter. Welche Zeichen sind die richtigen – was ist der beste Zauber? Ich spucke aus. Kenne eh zuwenige. Wie war das – was hat die Erilar gesagt?

„Nimm Ansuz. Das ist der Atem der Götter. Mächtiger Schutz. Besseren kriegst du nicht für die Schlacht.“ Und das hat sie gesagt: „Es ist Speerschüttlers Mantel. Siehst du den Stab? Den senkrechten Strich? Zwei schräge Äste gehen von ihm ab, weisen nach unten. Das sind die Falten von Siegvaters Mantel.“ Sie nennt den Schrecklichen nie beim Namen, erfindet immer neue. Aber es ist klar, wen sie meint: den Einäugigen! Ich nenn ihn ja auch nie beim Namen. Den Herrn der Valkyries. Die meinen Bruder fraßen. Meinen leiblichen. Kalt braust der Wind. Ich setze die Messerschneide auf den Speerschaft an. Zögere noch. Wie ging sie noch gleich, diese Rune, Ansuz?

Die Erilar. Was willst du von der, hat es geheißen. Diese alte Wanderkrähe will dich doch bloß vernaschen, weil sie nie einen abkriegt. Jetzt versucht sie es bei dir, pass ja auf, haben sie gespottet. Aber sie haben – wie immer – keine Ahnung. Die Erilar braucht keinen Mann, hab ich die Freunde erinnert. Die hat es mit Frauen – und Tieren, wenn überhaupt. Und den Geistern. Ganz sicher mit den Geistern. Sonst wäre sie ja keine Erilar, oder? Aber mit Besoffenen kannst du nicht reden. Die lallen nur herum und dünken sich doll. Trottel, geliebte. Ich grinse. Aber Ahnung haben sie wirklich keine, die Freunde. Ich ging zur Erilar. Weiß gar nicht, was die so hässlich finden an ihr – angeschmust hat sie mich sowieso nicht. Eher fasziniert. Na ja, vielleicht nicht das richtige Wort. Ich mag sie. Sie macht mich ruhig. Ohne dass sie was sagen muss. Eine weise Frau. Ganz dunkel. Wie die Nacht heute. Fast schwarz ihre Haut, tiefschwarz ihr Haar und so kräuselig wie zerzauste Wolle… Sie sei von weit her gekommen, heißt es. Egal: eine der unseren. Vom Stamm der Katzen. Wir sind alle Katzen. Die Sonne ist unsere Mutter. Die Erilar erzählte mir mal, da, wo sie herkam, ganz fern und urweit im Süden, da, wo angeblich kein Wald mehr wüchse und die Luft viel heißer sei, auch winters, da würden andere Große verehrt. Aber dann kam sie zu uns und wurde eine Katze so wie wir. Eine von uns. Mit uns. Sonnentochter. Und dass ihre Haut so schwarz sei, das läge daran, dass die Mutter sie zu lange gewiegt habe. Denn wo sie, die Erilar, herkam, bevor sie eine Erilar wurde, eine Runenkundige, sei die Sonne näher und heißer gewesen und – äh ja, „männlich“. Das war mir dann ein bisschen zu hoch. Ob Gottheit oder sterblich: Ein Mann ist doch keine Mutter! Zumal die Haut der Erilar nicht wirklich verbrannt ist, sondern einfach nur dunkel. So dunkel wie die Augen meines toten Bruders, des geliebten. Obwohl meine Augen die Farben des Wassers haben und mein Haar hell ist wie das von Sif selbst: wie das reife Korn im Wind! Egal. Hauptsache ist, dass wir alle Katzen sind. Kinder der leuchtenden Großen Herrin, der Sonne am Himmel.

Ich weiß jetzt wieder, wie die Ansuz geht. Ritze ins Holz. Runter, kräftig: ein langer Strich. Ganz gerade, steil und stolz. Kerb ihn rein in den Speerschaft, in seine Rundung. Atme durch, konzentriere mich und setze nochmal an: am oberen Ende des Strichs, direkt an dem Ende, seiner Kante. Ritze von da aus schräg runter: den Ast, den einen. Muss plötzlich lachen. Das ist doch auch ein Zeichen? Ja, ich erinnere mich der Weisen Frau, der Erilar Worte. Wie heißt das Ding? Laguz! Das fließende Wasser, der Lauch! Das ist nicht die Rune, die ich ritzen will. Ein einziger Schräg-Ast macht den Unterschied. Es ist schon kompliziert mit der Zauberei. Es kommt aufs Detail an, aufs verdammte. Zum Donner! Fast scheint es mir einfacher, einen wehrhaften Mann zu erschlagen, was ja auch geübt sein will, als diesen ritzigen Fitzelkram herzukerben. Alles so klein hier! Hochkonzentriert: Der zweite Ast kerbt sich parallel zum ersten in die Schaftrundung. Dies ist Ansuz. Jau, jahu, gelungen! Die erste! Wie viele Runen sollen es werden? Sechs, sagte die Erilar, sechs mindestens. Warum sechs, fragte ich. Denn ich bin ja kein Erilar. „Weil sechs das Zeichen des Könnens ist, der Fackel, der Kunst. Und acht schaffst du ja sowieso nicht.“ Sagte die Erilar. Und hat gelacht. Dieses kehlige Lachen, das ich an ihr so liebe. Natürlich schaffe ich acht – hab ich mir vorgenommen. Eine ganze Ætt: eine Familie, eine Sippe! Aber ich sehe schon: Das wird schwierig. Die zweite Ansuz-Rune, die ich ritze, gerät weniger ideal als ihr Vorbild. Ihr zweiter Ast ragt links ein Stück über den Rückgratsstab hinaus. Mist! Hoffentlich gilt das noch… Außerdem ist sie kleiner als die erste. Gleich die nächste ritzen! Mit Schweiß und Not gelingen mir vier – aber irgendwie sehen sie alle aus wie die Kinder, die ich noch nicht zeugte: eins missratener als das andere. Ansuz, Ansuz, Ansuz…

Verzeiht mir, ihr Großen – meine Pfoten sind zu grob, diesen Zauber vollendet zu weben, aber ich hoffe und bitt‘ euch, ihr versteht, wie mein ungelenkes Ritzen gemeint ist. Ihr versteht doch? Um Schutz ruf ich euch an, dich, Speerschüttler, dich, Hammerwerfer, dich, fauchende Sonnenkatze, Herrin des Krieges, den es zu gewinnen gilt: für mich, für den toten Bruder und den lebendigen, der noch keiner ist, für alle Katzen vom Stamm der Katzen – macht meine Hand sicher, lasst diesen Schaft, den sie wirft, über oder in das Heer der Feinde fliegen! Macht mich, bittebittebitte, unverwundbar, groß und mächtig wie den Schreckensbringer selbst! Leiht mir seinen Mantel! Macht mich unversehrbar für Pfeil, Speer und Axt! Denn ihr Großen wisst ja, worum es geht! Wir sind die Katzen! Die, denen wir morgen gegenüberstehen, nennen sich auch so – doch sie sind keine! Die paktieren mit den Legionen des eisernen Lindwurms… von denen sie auch ihre Schwerter haben. Ein römischer Pfeil war es, der meinen Bruder fällte! So weit zu uns hinauf wären die Schildkrötenpanzer des großen Lindwurms aber nie geklappert gekommen, hätten die vom Stamm der falschen Katzen ihnen nicht den Weg gewiesen und bereitet. Wir werden sehen, wer morgen den Speer übers Heer schleudert – es Gungnirs Schüttler weiht, dem Leichenschwelger und seinen schwarzgefiederten Töchtern.

Leiber will ich fällen, Krieger töten, Schwerter von Armen trennen mit der Schneide meiner Klinge, Schädel zertrümmern und in