Das Lied der Vögel - Tor Udall - E-Book

Das Lied der Vögel E-Book

Tor Udall

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Beschreibung

Jonah liebte Audrey, mehr als alles andere. Doch dann stirbt sie plötzlich viel zu jung. Jonahs Welt bricht zusammen. So oft er kann, geht er in die Kew Gardens, einen botanischen Garten in London. Hier, an Audreys Lieblingsort kann er ihr nahe sein. Und ausgerechnet hier trifft er Chloe, eine eigensinnige Künstlerin. Sie, die Origamivögel faltet, zeigt ihm, wie aus einem Blatt Papier immer wieder etwas Neues, Einzigartiges entstehen kann. Und schließlich gelingt es ihr auch, Jonahs Leben eine neue Wendung zu geben.

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EPUB

Seitenzahl: 408

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Zum Buch

Jonah liebte Audrey, mehr als alles andere. Doch dann stirbt sie plötzlich viel zu jung. Jonahs Welt bricht zusammen. Sooft er kann, geht er in die Kew Gardens, einen botanischen Garten in London. Hier, an Audreys Lieblingsort, kann er ihr nahe sein. Und ausgerechnet hier trifft er auch Chloe, eine eigensinnige Künstlerin. Sie, die Origamivögel faltet, zeigt ihm, wie aus einem Blatt Papier immer wieder etwas Neues, Einzigartiges entstehen kann. Und schließlich gelingt es ihr auch, Jonahs Leben neu zu falten.

Zum Autor

Nachdem TOR UDALL Theater und Film studiert hatte, begründete sie eine Tanztheatergesellschaft mit und verbrachte so die meiste Zeit in ihren Zwanzigern damit, Regie zu führen, zu schreiben und zu tanzen. »Das Lied der Vögel« ist ihr erster Roman. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in London.

Tor Udall

Das Lied der Vögel

Roman

Aus dem Englischen von Edith Hyronimus

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »A Thousand Paper Birds« bei Bloomsbury Circus, einem Imprint von Bloomsbury Publishing, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung November 2018

Copyright © 2017 by Tor Udall

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Zitatnachweis siehe hier

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotive: © CSA Images/Getty Images; © Shutterstock/secondcorner

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

AH · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-19894-7V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für TomIn Gedenken anHiromi Kawabata1965–2015

Denkt man nicht immer an die Vergangenheit in einem Garten, wo Menschen unter den Bäumen liegen? Sind nicht sie unsere Vergangenheit, alles, was davon bleibt, diese Menschen, diese Geister unter den Bäumen … unser Glück, unsere Wirklichkeit?

›Kew Gardens‹, Virginia Woolf

Teil I

Das Gegenteil von Schwerkraft

Written in pain, written in aweBy a puzzled man who questionedWhat we were here for

›Oh! You Pretty Things‹, David Bowie

Audreys Lächeln

Jonah steht an der Schwelle. Der Duft seiner Frau hängt in der Luft, ein Parfum, das sie seit Jahren trug. Er bleibt in der Tür stehen, mustert die kalkweißen Wände, die lackierten Dielen, den bestickten roten Überwurf. Die Regale sind vollgepackt mit Büchern und den Erinnerungen an die Geschichten, die sie bergen; Zeit, die man miteinander verbringt und doch allein, getrennt durch unterschiedliche Charaktere und Kontinente. Sein Blick ruht auf einem Blumenstrauß, den er vor drei Tagen gekauft hat. Die gelben Blütenblätter werden langsam welk.

Die Sonne strömt durch die großen Schiebefenster herein, schafft Geister aus Staubstraßen. Staubkörnchen schimmern. Der Raum sieht aus wie konserviert, die Tulpen eingemacht in einem antiken Schimmer. Als Jonah den Raum betritt, ist er verloren an einem Ort, an dem er sich zu Hause fühlen sollte. Alles, was wahr ist, eine Erinnerung.

Ihm steigt die Galle in den Hals. Er watet durch das Licht, auf der Suche nach Trost. Ein Taschenbuch liegt über der Sofalehne, um ihre Seite offenzuhalten. Eine Strickjacke auf der Stuhllehne, ein Lippenstift verloren neben dem Wasserkocher, die Einkaufsliste hängt am Kühlschrank – ihre Schrift hastig, ungeduldig; doch alles perfekt von ihr bedacht. Hier die Wäsche, seine Jeans mit den hartnäckig tintenbefleckten Taschen. All diese Dinge hat sie berührt. Ihre Finger …

Was sie zurückgelassen hat, ist zerbrechlich. Er fühlt sich dadurch einfältig, seine Hände nutzlos, riesig. Auf einem Foto sieht man Audrey von hinten, ihr Blick zurück in die Kamera, ihr rotes Haar. Ihr Haar, wirr auf dem Kissen oder salzig-strähnig vom Meer auf Sizilien, er erinnert sich. An diesem Tag hatte sie sich einen Sonnenbrand auf der Nase geholt.

Zerknitternde Zeit, eine welkende Stunde. Selbst das Atmen fühlt sich falsch an, so still ist es. Die Stille breitet sich nahtlos in der ganzen Wohnung aus, während Jonah dasteht und Staub ansetzt. Er wartet darauf, dass Audrey mit einem schiefen Lächeln und einer Tasse Tee hereinkommt. Die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen – unendlich schön.

Eine Tulpenblüte fällt. Jonah steht inmitten der Blütenblätter, des toten Lichts. Doch seine Frau schaltet den Wasserkocher niemals an, oder kommt mit diesem wackligen, leuchtenden Lächeln herein.

Die Kew Road vor dem Fenster ist getüpfelt mit Frühling und Fußgängern. Der Himmel ist da, wo er hingehört, genauso wie die Baumwipfel, die er hinter der Mauer des Botanischen Gartens sehen kann. In der Wohnung steht immer noch Milch im Kühlschrank, und das Geschirr ist immer noch rot. Die Möbel wurden nicht verschoben, oder die Straßenlaternen, oder die Mülltonnen auf dem Gehsteig, doch Jonah erkennt diesen Ort nicht mehr. Als wäre über Nacht die ganze Welt umgestellt worden.

Ein Buch der Küsse

Harry Barclay sieht sich im Fenster der Papeterie. Erstaunt. Mitgenommen. Es kommt ihm bekannt vor, das Gesicht, das er schon immer trägt, die blitzblauen Augen – doch er sieht aus wie ein Mann, der verloren ist, der keinen Ausweg findet. Reiß dich zusammen, Hal. Er stößt seine Hand in die Hosentasche, fühlt eine Rolle Klebeband, ein bisschen Müll (ein Lutscherpapier, Folie von einer Packung Kippen) und schließlich, ganz unten, einige Samen. Er tastet in der anderen Tasche und findet sein Notizbuch.

Es hat einen weichen Umschlag und die Farbe von Pappe. Darin liegt als Lesezeichen ein Schwarz-Weiß-Foto. Vor Jahrzehnten hat Harry es aus einer Zeitschrift gerissen, mittlerweile ist die Seite abgegriffen und zweimal gefaltet. Sie markiert die Stelle, die er sucht: eine Liste mit den Abfahrtszeiten der Züge von Paddington.

HB.07.06.04.District Line nach Earl’s Court16:0716:27Alle 10 Minuten

Da er nicht weiß, wann Jonah losfährt, will er früher dort sein. Erst zwölf Tage ist es her, doch Jonah unterrichtet wieder. Er hat bestimmt etwas Tapferes gesagt; die Kinder brauchen ihn, die Prüfungen stehen an. Eine Frau rempelt Harry an. Sie eilt ungerührt weiter über den Vorplatz, balanciert mühsam einen Kaffee im Pappbecher in der einen und ihre Handtasche, ihr Handy, ihr Ticket in der anderen Hand. Harry spürt einen Blick auf sich: ein Junge im Kinderwagen, ein paar Meter entfernt. Was sieht das Kind: einen Mann Anfang fünfzig, einen gut geschnittenen Anzug, der seine besten Zeiten hinter sich hat? Er hofft, dass sein rostoranger Schal ihn als Künstler kennzeichnet, aber das Kind betrachtet den geflickten Ellbogen seines Jacketts.

Er stopft das Notizbuch in seine Brusttasche. Er nickt der Stille des Kleinkinds zum Abschied zu und stürzt sich ins Chaos: das Beben und Knallen der Ticketschranken, die Feierabendflut. Die Rolltreppe trägt ihn hinab in die verdreckten Adern der Stadt, den Lebenssaft Londons. Er nimmt seine Schiebermütze ab und reibt nervös am Rand herum.

Am Bahnsteig der District-Line-U-Bahn zeigen ihm Plakate, was er unbedingt haben muss und Wege ins »Himmlische Florida«. Während Pendler sich mit Zeitungen Luft zufächeln, sucht Harry einen Mann Ende dreißig mit einer beigen Schultertasche mit roten Tintenflecken. Darin wahrscheinlich lauter Zeugnisse, Beispiele für Menuette von Mozart, ein Rondeau. Über die Menschenmenge hinweg entdeckt er Jonahs Kopf – seine mächtige Gestalt, die Tasche. Der Zug fährt in den Bahnhof ein, und Harry rennt den Bahnsteig entlang. Er drängelt sich in denselben Wagen, die Nase vergraben in der Achsel eines Fremden.

Jonah Wilson trägt einen schäbigen braunen Anzug und zieht den Kopf ein, als versuche er, genauso groß wie die anderen zu sein. Durch das Gewirr an Körperteilen und Gepäck erhascht Harry hin und wieder einen Blick auf ihn – der Bart, Marmelade an der Manschette. Doch nichts ist so, wie er es sich vorgestellt hat. Er wägt die Unterschiede zwischen diesem Mann und Audreys Beschreibung ab. Er hatte sich jemand Kleineren vorgestellt, nicht diesen belastbaren Rücken, diese breiten Schultern. Wie kann solch eine Eiche von Mann gefällt werden? Die U-Bahn ist erdrückend; der Gestank des versammelten Schweißes, verrauchte Klamotten, der Geruch von Essen in Pappboxen. Darüber liegt ein süßlicher Hauch, den Harry nicht einordnen kann. Vielleicht Kaugummi. Dicht gequetscht an andere Leute sieht er die gespaltene Nähe zwischen Freunden, ein Lächeln über eine fremde Schulter hinweg. Sie fehlt ihm – diese unbedachten Momente. Wie Audrey eine Tasse in die Hand nahm oder sich die Haare hinter die Ohren strich. Wie sie ihre Lippen mit den Fingerknöcheln berührte … ihr Gähnen sich von einem Blinzeln zu einem Japsen aufbaute, als hätte ihr Körper sie mit seinem Bedürfnis nach Sauerstoff überrumpelt.

Bei Earl’s Court steigen sie um. Als Jonah sich hinsetzt, ergießt sich seine Traurigkeit auf die Polstersitze, sie leckt und tropft. Harry hält Abstand, seine Zunge trocken und nutzlos. Als ich Audrey zum ersten Mal sah, habe ich ihr das Leben gerettet. Auf der weiteren Strecke, vorbei an Hammersmith, wird die Bahn immer leerer. Zeitungen liegen auf leeren Sitzen verstreut. Beim Überqueren der Kew Bridge kann man endlich wieder atmen. Eine Befreiung. Harry blättert in seinem Notizbuch.

… die alarmierende Zerstörung der Flora unseres Planeten.Seltene Palmen verschwinden für immer.Unser Madagaskar-Immergrün ist eines von zweien, die es auf der Welt noch gibt.Vor fünf Jahren haben wir den Frauenschuh vor dem Aussterben gerettet.Wir retten vor dem Tod.

Nein. Ich nicht.

Dieser Eintrag war drei Tage alt. Seit Jahren führt Harry schon dieses Tagebuch, erfasst systematisch den Wachstumsfortschritt von Pflanzen, notiert sich, welche Bäume langsam schwach werden. Auf der nächsten Seite steht winziges Gekrakel.

Millionen besuchen Kew Gardens – um die Qualität der Zeit und ihre Rolle darin zu genießen.Manche plaudern mit Gott, einer Knospe oder einem welkenden Blatt.Es ist ein Garten voller Liebreiz …

Die Worte verschwimmen vor Harrys von Trauer getrübten Augen.

Der Bahnhof Kew Gardens. Harry blickt auf und bemerkt wieder die unbestreitbare Anziehungskraft des Mannes, dem Audrey das Jawort gab. Als sie beide in die Sonne hinaustreten, lastet Harry ein Gewicht auf den Schultern, schwerer als aller Regen der Welt. Wie soll ein Mann aus Nebel das schultern können? Unmöglich.

Halbversteckt inmitten des kühlen Schilfrohrgrüns steht ein Reiher auf einem Bein und sieht der funkelnden Sonne auf dem Wasser zu. Er wartet still, die Flügel die Farbe eines blauen Flecks, wie ein alter Mann mit einem strähnigen Federkleid. Vier bewaldete Inseln gibt es in dem See, von Menschen ungestört. Ein Tummelplatz für Wasser- und Sumpfhühner und Kanadagänse. Die Luft ist ein einziges Surren aus Vogelzwitschern und Wasserjungfern, die zwischen Lichtnelken und Algenteppichen hin und her huschen. Rund um das Wasser bieten Bänke Sonne oder Schatten, Einsamkeit oder Gesellschaft, doch sie alle tragen etwas, das sie verbindet: den Namen eines Verstorbenen.

Unter der Esskastanie findet man Eliza Wainwright, »die diesen Garten so sehr liebte«. Unter einer Stieleiche stehen kreisförmig mehrere Bänke, auf ihnen die Namen der Crew des Fluges 103, die im Bombenanschlag von Lockerbie ums Leben kam. Auf der westlichen Seite des Sees ragt eine Betonplattform drei Meter auf das Wasser hinaus. Ein einsamer Mann sitzt darauf auf einer Holzbank. Sein brauner Anzug passt nicht zum verfilzten Haar; als wäre er ein gezähmter Simson aus dem Buch der Richter. Er hat die gleichen kolossalen Knochen, den Bart, aber ohne seine Frau hat er seine Energie, sein Talent verloren. Der Garten schließt in einer Stunde, doch nur hier hält Jonah es aus, Welten entfernt von der Gesamtschule in Paddington. Heute Morgen noch hatte er gedacht, er würde es schaffen – Sophie quälte sich durch ihre Akkordfolgen, Ben brauchte ein Schreiben für seine Mutter – doch schon die Anwesenheitsliste brachte ihn fast zum Weinen: Anwesend.Anwesend.Abwesend.

Als Jonah nach seiner Tasche greift, stellt sein Rücken die Nähte des Anzugs auf die Probe. Er nimmt einen Stapel Aufsätze heraus, versucht, eine schlampige Teenagerschrift zu entziffern. Er reibt sich die juckenden Augen, versucht es wieder, aber es ist, als hätte er einen Sonnenstich. Gegen das Licht, das durch die Bäume tropft, hat er keinen Schutz, der Tag ist fast beleidigend heiß. Die kleinsten Dinge tun weh: Eine Wasserjungfer, die auf einem Schilfrohr landet, ein Reißnagel, der in seiner Schuhsohle steckt – Audrey hatte ihn erst vor ein paar Wochen darauf hingewiesen. Selbst das Trinken aus seiner Wasserflasche brennt. Ohne sie hat er keinen Angelpunkt für den Sinn des Daseins dieses Tages. Mit welchem Recht, fragt er, ist die Welt heute schön?

Eine Stockente watschelt aus dem See, während ein Schwan zwei Gänse piesackt. Das Loch, das sie hinterlassen hat, dehnt sich aus und kristallisiert, es erdrückt seine Lungen, bis er kaum noch atmen kann. Ohne sie ist die Luft dünner geworden. In zwei Tagen ist die Beerdigung. Er hat immer noch keine Musik dafür ausgesucht. Zu Hause liegen überall auf dem Boden CDs verstreut: ein Stapel für »Nein«, einer für »Vielleicht«. Ein Freund hat ein Lied von Jonahs alter Platte vorgeschlagen.

»Komm schon, du hast zwölf Lieder zur Auswahl …«

»Nein.«

»Zwölf verschiedene Audreys …«

»Verdammt nochmal, wie soll ich mich für eines entscheiden?«

Als er dort am See sitzt, summt Jonah, wieder einmal, die gleichen vier Noten einer Elegie vor sich hin. Doch weiter kommt er nicht.

»Ich weiß überhaupt nichts über Schubert«, sagte sie, als sie sich zum ersten Mal trafen.

»Sagt die Frau, die fünf Sprachen spricht!«

»Sechs.«

Damals standen sie hier in diesem Garten, ihr Gesicht, vom Wein gerötet, wurde von dem Feuerwerk erhellt. Die letzten Ausläufer von Ave Maria hingen noch in der Luft – und da kommt Jonah die Idee, als könnte er es hören. Inspiriert von einem Schubertzitat weiß er nun, was die Inschrift sein soll. Doch wie gibt man eine Bank für eine Verstorbene überhaupt in Auftrag? Soll er an der Informationstheke fragen oder lieber anrufen – und werden sie ihn auch hier mit der Auswahl zwischen Mahagoni und Eiche bombardieren, wie beim Bestatter?

Jonah muss von den vielen Gräsern niesen. Mit gesenktem Kopf fällt sein Blick auf einen Zigarrenstummel, der auf dem Boden vor der Bank liegt.

Er stupst ihn mit seinem Absatz an und erinnert sich an Audreys Lippen um eine Zigarette. Er sagte immer, er verabscheue ihre Sucht, doch vielleicht war er auch bloß eifersüchtig, dass ihre Lippen sich nicht an seine pressten. Wie oft sie sich wohl geküsst haben in den neun Jahren zusammen? Tausendmal, millionenmal? Vor seinem inneren Auge listet er all die Küsse auf, die er geliebt hat, den Kuss zur Begrüßung, der ihm von ihrem Tag erzählte, ihre schläfrig-befriedigten Lippen nach dem Sex … ein sinnlicher Nachklang. Das Salz auf ihren Wangen nach einem Streit, der Kuss, der sagte, ich bin schon zu spät, aber ich will noch nicht los, oder ihre Lippen an seinem Hals, die all die Möglichkeiten für den nächsten andeuteten. Und dann gab es den Kuss, von dem er nicht wusste, dass er der letzte sein würde.

War es ein Unfall? Laut den Zeugen hatte es keinen Grund für ihr plötzliches Ausscheren gegeben. Jonah denkt an das unbehagliche Achselzucken. »Es ist nicht deine Schuld. Depressionen sind eine Krankheit.« Ihre Freunde sprachen von Vergeudung; dass sie erst sechsunddreißig war. Doch für Jonah ist es unbegreiflich, dass seine Frau willentlich gegangen sein soll. Die ganzen Jahre, die er als gegeben für sie angenommen hatte, die Zukunft eine Selbstverständlichkeit. Er versucht, sich Audrey mit achtzig vorzustellen, wie sich ihr Mund an seinem dann wohl anfühlt. Jonah blickt in den Himmel. Schau doch, all die Küsse, die du aufgegeben hast.

Am Morgen der Beerdigung schrubbt Harry den Matsch von seinen Stiefeln, als hoffe er, sich so die Schuld ausgeißeln zu können. Schon um fünf Uhr morgens weiß er, dass es ein schwüler Tag wird. Einen ausgefransten Schnürsenkel umwickelt er mit etwas Klebeband. Als er sich eine Nelke durchs Knopfloch steckt, bleibt ihm die Ironie darüber nicht verborgen, einen Dianthus – die sogenannte »Gottesblume« – zu tragen. Die ganze Zugfahrt nach Cornwall muss er daran denken.

Die Kirche liegt nah am Meer. Audrey hat die Sommer ihrer Kindheit hier verbracht, und Harry stellt sich vor, wie sie barfuß durch die Mohnwiesen rennt, mit aufgeschürften Knien. Doch heute sind nur ihre Freunde und Familie hier und schwitzen in ihrer Sonntagskleidung. Der Nachmittag stinkt nach Geißblatt und Schweiß. Die in Anzüge eingenähten Männer sind ruhelos. Einzig die Grabsteine wirken entspannt, sie räkeln sich in der Sonne wie Besoffene.

Der Rhythmus des Wartens wechselt, der Geräuschpegel sinkt und steigt, als die Leute über das Wetter reden und dann über die Wiesen hinwegstarren und auf Audreys bevorstehende Ankunft warten. Ihre Mutter Tilly schwirrt umher, als wäre sie auf einer Cocktailparty. Sie spricht laut über Audreys »Krankheit«, als könnte sie dadurch das Wort »Selbstmord« auslöschen. Sie spielt ununterbrochen mit ihrer Perlenkette, und ihr anhaltendes, lippenstiftverschmiertes Lächeln erinnert Harry an eine Pute. Das liegt vor allem auch an den Falten um ihren Hals, die Art, wie ihr Lächeln pickt und packt. Sie winkt ihrem jungen Liebhaber zu, doch der sucht – den Fuß zögernd gegen einen Grabstein erhoben – nach einer Stelle, um Hundedreck abzukratzen.

Die anderen treiben weiterhin ihren asymmetrischen, monotonen Tanz. Glühenden Arm kratzen, auf die Uhr schauen, jemandem in der Menge zulächeln. Die Hitze wegblinzeln, die Fassungslosigkeit. »Audrey tat nie etwas Unvorhergesehenes.« Ihr Vater, Charles Hartman, nähert sich der Kirche, ein charmanter Gentleman, einst berüchtigt unter den Mädchen. Jetzt wirkt er wie ein abgewetzter Schuh, den man mal wieder polieren müsste.

Die Frau, auf die sie alle warten, trifft ein. Aus einem zweiten Auto steigt Jonah, die Hand schützend gegen die blendende Sonne erhoben. Sein Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden.

Die Familie folgt dem Sarg. Als sie das Vestibül durchquert haben, reiht sich Harry mit dem Rest der Trauergesellschaft ein. Als er sich auf der Kirchenbank niederlässt, fällt ihm auf, dass er immer noch auf Audrey wartet. Er stellt sich vor, wie sie blinzelnd aus dem hellen Tageslicht tritt, ihr Sommerkleid eingerahmt vom Kirchenportal. Doch sie ist schon vor dem Altar, in dieser Kiste, und niemand erscheint in dem hellen Bogen aus Licht am Eingang.

Der Pfarrer steigt in die Kanzel und lobt Audreys ausgezeichnete Bildung, ihren hervorragenden Geschmack, ihren Wunsch, in Cornwall begraben zu werden. Als er dem Verdacht des Selbstmords ausweicht und von einem Autounfall spricht, fangen zwei Frauen an zu weinen. Doch es klingt nicht menschlich. Es ist ein seltsames Singen, das in der Kirche widerhallt, bis es eine Kettenreaktion von Emotionen auslöst. Die Orgel setzt ein, und die Trauergesellschaft klagt in Arpeggios; der Vorsatz, nicht zu weinen, bricht beim hohen E. »Wer wahre Tapferkeit will seh’n …« Harrys Liedblatt zittert, die Worte zerspringen und zerlaufen ins Nichts. Er gibt auf und beobachtet Jonahs Vater. Ein alter Mann, der auch seine Frau verloren hat, nimmt die Hand seines Sohnes und legt all seine knochige Kraft in sie hinein. Sie wanken beide, und Harry erwischt sich beim Gedanken, wie wunderbar das hier ist, wie wunderbar, betrauert zu werden. Wie fühlt sich das hier an, Audrey? Kannst du es sehen?

Der Leichenschmaus ist fast schon fröhlich, es gibt ein Picknick und einen Pavillon.

Im leisen Stimmengewirr knabbern heiße rote Gesichter an Sandwiches und jammern gelangweilte Kinder, dass es keine Marmelade gibt. Es liegt eine Mappe mit Bildern von Audrey aus, die die Gäste durchblättern und in Erinnerungen schwelgen.

»Meine Güte, sieht sie hier jung aus!«

»Ich wusste gar nicht, dass sie einmal in Israel war.«

»Weißt du noch, als …?«

»Das hier hat bestimmt Jonah gemacht.«

»Wie kommt er damit klar?«

Immerhin Jonahs Vater weiß, dass es nichts zu sagen gibt. Er sitzt auf einem Gartenstuhl und nuckelt an einem Bier, dann klettert ein kleines Kind auf seinen Schoß: »Opa, ich will huckepack reiten!« Auf der anderen Seite des Pavillons erdulden Audreys Eltern ein freundliches Gespräch. Harry sieht ihre jeweils neuen Partner miteinander flirten, dann merkt er, dass Jonah fehlt.

Als er das Zelt verlässt, wird das Licht schon grau und das Gras nass. Harry geht durch die Reihen von Grabsteinen, die Namen zerfressen von Salz und Wind. Über Audreys Grab gebeugt steht eine Silhouette. Es scheint, als trüge Jonah die Last des Himmels auf seinen Schultern. Dann blickt er auf und starrt ihn an.

Harry öffnet den Mund. Er ist ein Fremder auf dieser Beerdigung, nicht eingeladen, doch Jonah hebt halb den Arm und winkt ihm unsicher zu. Harry kann seine Schlaflosigkeit, sein Nichtbegreifen spüren. Sie blinzeln beide ins Halbdunkel, verborgen vom abendlichen Schleier. Harry möchte im Boden versinken oder sich hinter einen Grabstein ducken. Stattdessen versucht er zu lächeln, als gehöre er hierher. Er könnte ein entfernter Onkel sein – jemand, der sich an ein Mädchen erinnert, das Jonah niemals kannte. Die Luft wird greifbar, als ob sich zwischen den Blicken der Männer eine Brücke bilden würde … eine Einladung, zwischen hier und dort hin- und herzureisen. Vielleicht spürt Jonah es auch. Harry wird die Gefahr bewusst und lüftet schnell seinen Hut. Das stört das verworrene Gleichgewicht, und Jonah wendet sich ab; die Atmosphäre ist gebrochen.

Zurück im Pavillon versucht sich Harry zu beruhigen, indem er mit einer Tortenspitze herumspielt. Er schaut immer wieder zurück zum Friedhof, wo Jonahs Silhouette immer noch gebeugt unter der Bürde des Himmels steht. Wie konnte ich ihn mich nur sehen lassen? Doch als der Witwer zurückkehrt, denkt Harry, dass aus seiner Perspektive bestimmt alle Gesichter der Gäste verschwimmen. Jeder ist müde, aber alle versuchen zu lächeln; und doch lächelt keiner wirklich. Es wirkt eher wie kleine Risse um ihre Mundwinkel. Es erinnert Harry an den unsichtbaren Schmerz, wenn man sich an Papier schneidet; sie tragen alle ein Lächeln wie Papierschnitte.

Übende Götter

Chloe Adams sitzt am See und zeichnet einen Fischreiher. An diesem rastlos heißen Julimorgen scheint der Vogel das einzig Ruhige zu sein. Eigentlich sollte sie diese Tage der Freiheit genießen, sich darüber freuen, dass sie einen hervorragenden Abschluss an der Goldsmith University geschafft hat. Sie weiß jedoch nicht, wie sie die Miete für die kleine Wohnung bezahlen soll, die sie in Dalston angesehen hat. Ihre Füße schwitzen in ihren Doc Martens vor sich hin.

Letzten September hat sie sich den Kopf rasiert, ihr Schädel ist komplett kahl. Doch in letzter Zeit hat sie den dunklen Flaum wachsen lassen, ein seidenweicher Millimeterpelz. Die schweren Stiefel und der geschorene Kopf sollen ihr ausgestreckter Mittelfinger sein, doch ihre schmalen Schultern sind entschieden feminin. Ihr dünnes Sommerkleid rutscht hoch, als sie nach einem Packen Papier greift.

Jeder Bogen misst zwanzig Zentimeter im Quadrat, die Blätter verziert mit kunstvollen japanischen Mustern. Sie wählt eines mit goldumrandeten Blumen, einem pfirsich- und smaragdfarbenen Hintergrund, dann schaut sie wieder zu dem Fischreiher, der zwischen Schilfrohr balanciert. Sie arbeitet seine Proportionen aus, damit der gefaltete Vogel trotz des Gewichts seiner Flügel stehen kann.

Sie fängt mit einer einfachen Vogelgrundform an, so einfach, dass sie sie im Schlaf falten könnte; doch für jeden anderen sieht es so aus, als habe sie innerhalb von Sekunden eine Gestalt heraufbeschworen: ein Zaubertrick. Falten ist Meditation, ihre Gedanken sind durch die Wiederholung der Bewegungen ruhiggestellt. Yoshizawa, der Meister des modernen Origami, bestand darauf, dass seine Schüler in der Luft falteten. Ohne eine stützende Unterlage benötigt man Geduld und Präzision für diese Kunst. Chloe nennt sie japanisches Jonglieren.

Ihren ersten Papierflieger bastelte sie in einer Nachmittagsbetreuung nach der Schule. Ihr Vater war schon vor ihrer Geburt verschwunden, und Chloe fragte sich, ob sie vielleicht das Ergebnis einer unbefleckten Empfängnis war. An ihrer christlichen Schule flüchtete sie sich in den Zauber der Jungfrauengeburt, oder in den Trick, wie man Papier in ein Schiff oder einen Fisch verwandelt. Doch jeden Tag um sechs wurde jede Illusion durch das verbitterte Lächeln ihrer Mutter ersetzt, durch den enttäuschten Kummerspeck auf ihren Hüften.

Sie wohnten in der Flugschneise in Hounslow. Ihre Kindheit verbrachte Chloe damit, die Miene ihrer Mutter zu erhellen, in ihre Stille Klang zu singen. Doch erst, als Mr Harris einzog, wurde ihre Mutter fröhlicher. Dieser rotgesichtige Mann gab Chloe das Gefühl, ein perfektes Foto zu ruinieren. So kaute sie an ihren Zöpfen und wurde zum blassen Mädchen, das Papierflieger bastelte. Sie ließ sie im Haus umhersegeln, um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu erhaschen, und saß danach mit aufgestellten Ellbogen am Tisch und schaute finster unter ihrem Pony hervor. Sie faltete einen Vogel mit Flügeln, die nicht im Gleichgewicht waren.

Mit sechzehn zog sie aus, tauschte gefaltetes Papier gegen das zerknitterte Laken eines älteren Jungen. Eines Tages, hoffte sie, werde sie diesen flachbrüstigen Geist von einem Mädchen akzeptieren können, der sich nach dem Sex in einer Rauchwolke auflösen und nichts außer einem Häuflein Staub zurücklassen wollte. Die Eltern des mürrischen Teenagerpoeten ließen sie netterweise bei sich wohnen, bis sie weiterzog zu Gary, dem Mechaniker, der ihr vorschlug, sich doch für einen Einführungskurs für Kunst an der weiterführenden Schule zu bewerben. Mit neunzehn bemalte Chloe im Klassenzimmer großformatige Leinwände. Die Farbschichten trieften nur so vor Wut. Fünf Jahre brauchte sie, bis sie genug Geld gespart hatte, um Kunst zu studieren. Da galt sie schon als Spätstudierende. Sie ließ sich weiterhin von Männern finanzieren, die ihr nur zu gerne ihre Badezimmer und Matratzen liehen. Sie wohnte in einem besetzen Haus in Peckham, einer Wohnung in Archway und war für ein paar Wochen obdachlos. Was sie immer weitertrieb, waren die Männer. Sobald sie anfingen, von Für Immer zu sprechen, lief sie weg.

Während des Studiums arbeitete Chloe nebenher als Aushilfe. Sie faltete Prospekte und falzte das Papier makellos. Dann fiel ihr wieder ein, wie man ein Schiff und einen Fisch bastelte. An diesem Abend ging sie heim zu einem Kiffer namens Dave, der sich gerade einen schlechten Film anschaute. Sie schloss sich ins Badezimmer ein, nahm einen geklauten Packen Papier aus ihrer Tasche und schnitt mehrere Bögen in Quadrate. Sie faltete eine Taube, dann Dutzende, bis winzige weiße Vögel auf dem Linoleumboden zwischen Daves einsamen Schamhaaren verstreut lagen.

Im Studium fing Chloe an, nicht nur die Kunst, sondern auch die Wissenschaft dahinter zu erkunden. Sie fand heraus, dass man mit gefaltetem Papier mathematische Gleichungen lösen konnte, an denen man mit Zirkel und Lineal scheiterte. Doch es waren die Muster, die sie am meisten faszinierten. Beim Origami kann man tausende von Gegenständen aus einem einfachen Quadrat erschaffen – die Herausforderung besteht darin, jedes Mal wieder von Neuem zu falten. Dem Entdecken der richtigen Muster in der korrekten Reihenfolge wohnte eine Symmetrie inne, die schon Leonardo da Vinci erforscht hatte. Als Chloe die großen Meister studierte, verliebte sie sich in die präzise Geometrie. Sie hoffte, durch Fibonacci und Fujimoto den Beweis zu finden, dass hinter allem Dasein ein Muster lag und nicht nur ein verwirrendes Universum. Bald fand sie heraus, dass das japanische Wort kami nicht nur Papier bedeutete, sondern auch Gott.

Chloe hatte die Geschichte der Schöpfung schon immer geliebt. Als Kind war sie stets voller Ehrfurcht gewesen angesichts der Fantasie, die die Meere, Früchte und Sterne erschaffen hatte – und am Freitag schon einen Wal. Wenn sie nach seinem Ebenbild geboren war, wonach sonst sollte sie begehren außer danach, etwas zu erschaffen, so wie der Große Schöpfer; zu spielen mit einem Universum aus Papier und ihrem Atem? Doch an diesem Sommertag vermasselt es der Möchtegern-Gott. Der Fischreiher fällt um.

»Verdammt nochmal!«

Sie löst den Vogel wieder auf und versucht es noch einmal, das Papier nun geschmeidiger, da schon einmal gefaltet. Doch es dauert nicht lange und sie wird abgelenkt von einem kleinen Trauerspiel auf der anderen Seite des Wassers. Jenseits des Sees leitet ein Mann mit Bart zwei Gärtner dabei an, eine Bank auf eine Betonplattform zu stellen. Sie ragt umgeben von Schilfrohr auf das Wasser hinaus, und der Mann will die Bank in einem ganz bestimmten Winkel gedreht haben. Als die beiden Helfer gegangen sind, poliert er die Plakette mit seinem Ellbogen. Dann setzt er sich auf die Bank und streicht seine Hose glatt. Sein imposanter Körper passt nicht so recht in Tweed.

Chloe will seine Melancholie einfangen und greift nach einem Stift, stößt dabei aber ihren Kaffeebecher um. Er ergießt sich über einen Stapel Zeichnungen. Sie versucht, die Blätter zu retten und stellt sich dabei reichlich ungeschickt an, überall Kaffee. Ein Mann bleibt stehen, um ihr zu helfen.

»Das ist ganz wunderbar.« In seinen schreibtischweichen Händen hält er die Zeichnung eines kleinen Mädchens. »Ist das deine Tochter?«

»Nein.«

Sein glattrasiertes Gesicht schimmert, er benutzt bestimmt Gesichtscreme.

»Ich bin Mark. Tolles Wetter heute, oder?«

»Wenn du meinst.«

Chloe versucht weiter, die Sauerei zu beseitigen. Die Hitze macht ihr zu schaffen, sie spürt die Schweißtropfen in ihrem Kleid.

Er kratzt sich am Hals. »Bist du Mitglied?«

»Was?«

»Ich meine, kommst du öfter her?«

Sie wird ihm ganz bestimmt nicht erzählen, wie gut sie die Launen des Sees kennt, seine trügerische Ruhe. Sie zieht ihm neckisch die Zeichnung aus der Hand. »Etwas Originelleres ist dir wohl nicht eingefallen?«

Mark lächelt seinen Bauch an; vielleicht hält er das für eine verlegene Geste, charmant. »Okay, tut mir leid. Aber kann ich dich vielleicht in die Orangerie einladen? Oder wie wär’s mit einem neuen Kaffee?«

»Ich muss arbeiten. Tut mir leid.«

Er lässt nicht locker. Er sieht überzeugt und gleichzeitig aufmerksam aus – als ob er sich auf einen Ball fokussieren würde, den er treffen will.

»Zehn Minuten können doch nicht schaden.«

Sie streicht sich über den Schädel, versucht herauszufinden, wie sie den Kampf mit dem halbfertigen Fischreiher gewinnen kann. »Es passt gerade nicht.«

»Gut, war schön, dich kennengelernt zu haben.«

»Ja.«

Er geht, und sie trinkt den Bodensatz ihres Kaffees.

Dann, als sie seinen hübschen Hintern sieht, ruft sie ihm etwas hinterher: eine Zahlenfolge.

Harry sitzt mit seinem Tagebuch auf einer Bank. Auf der aufgeschlagenen Seite sind Beobachtungen über die Riesenseerose festgehalten, die Victoria cruziana. Das Blatt misst nun zwei Meter im Durchmesser; bald wird sie blühen. Harry dreht den Bleistiftstummel zwischen seinen Fingern, dann blickt er auf den verfallenen Torbogen, einen der Zierbauten des Gartens. Ein mittlerer Bogen mit einem kleineren Bogengang auf jeder Seite, so dass drei Tunnel entstehen. Vielleicht kommt Audrey daraus hervor, wenn er die Augen schließt.

»Entschuldige die Verspätung. Ich habe ein Geschenk für dich.« Sie hält ihm ihren rostorangen Schal entgegen, feinstes Musselin. Doch nirgends hört er ihre elegante Eile, keine Absätze auf Beton. Nur ein großer künstlicher Riss, der sich durch die pseudo-romanische Ruine zieht.

»Audrey?«, flüstert er. »Au?«

Er sucht sie schon den ganzen Morgen – an der Pagode, dem Tropenhaus. Er weiß, dass er die Zeit, diese paar entscheidenden Sekunden, nicht zurückdrehen kann, doch verzweifelte Menschen klammern sich an magisches Denken. Ein Wunder würde mehr Sinn ergeben als das hier, diese Abwesenheit.

Harry nimmt eine Packung Montecristos aus der Tasche und zündet sich eine Zigarre an. Durch den Rauchschleier hindurch studiert er den Efeu; er klettert über Ziegel, die so tun, als würden sie verfallen. Ein Steinbrocken lehnt an der Wand: ein römisches Relief eines bärtigen Mannes und zweier Frauen. Eine von ihnen hat Flügel, ihre Körperhaltung so, dass Harry sich fragt, ob sie wartet oder geht. Er blickt zurück auf sein Notizbuch.

Die Victoria hat immer Hunger. Düngen am besten mit Lehm vermischt mit Blut, Fisch und Gräten.Zu Düngebällchen formen.In der Sonne trocknen lassen.

»Hal! He, du taube Nuss!«

Turnschuhe klatschen im Rhythmus krummer Beine auf den Boden. Ein Kind rennt den Pfad entlang; ihr fallen Blumen herunter, hinter ihr eine Spur flatternder Blüten. Sie hat mattbraunes Haar in zwei Zöpfen, die beige Cordhose ist bis über die Knie hochgekrempelt. Selbst von hier aus kann Harry die Matschflecken sehen. Sie wird langsamer. In ihren Hüften liegt kein Schwung, noch keine Andeutung weiblicher Formen. Dieses Mädchen, acht Jahre alt, begreift noch nicht die Schwierigkeiten der Schönheit. Es ist vielmehr ein jungenhaftes, eckiges Springen, als würde sie sich bereit machen, eine Runde Brennball zu spielen.

Bei Harry angelangt, ist ihr Gesicht rot vom Rennen und von der Freude darauf, jemandem etwas zu schenken.

»Milly! Du sollst doch keine Blumen pflücken!«

»Für dich, zum Aufheitern! Hübsch, oder?« Sie sucht seinen Blick, dann starrt sie auf seine Schuhe. »Sie waren schon abgebrochen, ehrlich.«

Rhododendron war Harry schon immer zu bunt, ihm fehlt die Würde der Rose, das Geheimnisvolle einer Orchidee. Doch Milly schaut ihn mit so erwartungsvollen Augen an, wie sie nur ein Kind haben kann. Seit fünf Wochen löchert sie ihn schon über Details von Audreys Beerdigung, doch bisher konnte er ihr nur erzählen, welche Lieder gesungen wurden und wie die Servietten aussahen: »Durch die Kirchenfenster konnte man das Meer sehen.« Milly streckt ihm immer noch Rhododendron entgegen, als ob diese Blüten alles wiedergutmachen könnten. Er kann es nicht ertragen. Er bückt sich und drückt seine Zigarre auf dem Weg aus, damit sie seine Augen nicht sieht. Der Rest ist für später. Noch auf einem Knie nimmt er die Blumen.

»Da bleibt uns jetzt wohl nichts anderes übrig, Liebes, wir müssen Wasser holen.«

Sie lassen den verfallenen Torbogen hinter sich. Milly schlurft in ihren Turnschuhen.

»Ich hab’ dich überall gesucht. Wo warst du denn?«

»Ich habe nach dem Philadelphus geschaut.«

Sie schaut ihn eifrig an. »Der, der nach Orange und Jasmin duftet?«

»Genau.«

Sie macht einen kleinen Freudensprung, um ihren Erfolg zu feiern. »Was lesen wir heute?«

»Wie wär’s mit Kampf um die Insel?«

Ein paar Stunden später setzt Harry seine Mütze auf und spaziert die Straßen vor dem Garten entlang. Es ist ein süßer, warmer Abend. Durch herumliegenden Abfall und Straßenstaub geht er an Häusern und Gewohnheiten vorbei: ein flimmernder Fernseher, ein gemeinsames Abendessen. Das Indigo des Himmels wird immer dunkler, und er hört einen Mann in einer fremden Sprache singen – ein muslimisches Gebet oder eine Beschwörung. In der Ferne hört man einen Zug, einen Laster, zerrissen durch Geschrei. Streit dringt aus einem offenen Fenster.

Fünf Häuser weiter übt ein Junge am Klavier Tonleitern, ein Telefon klingelt. Eine rote Katze läuft auf einer Backsteinmauer entlang und springt dann auf den Vorplatz von Audreys Haus. Ihre Wohnung ist Teil eines historischen Villenblocks mit Blick auf den botanischen Garten. Harry wischt sich mit der Faust über die Augen, die vor Tränen brennen. Er starrt auf das Stück Schotter zwischen dem Zaun und dem Gebäude – das Fenster von Audreys Badezimmer.

Er hatte immer gedacht, er sei ein guter Mensch; wer tut das auch nicht? Wie dumm wir doch alle sind, denkt er, so sehr damit beschäftigt, unseren Standpunkt zu vertreten, dass wir darüber vergessen, unseren Einfluss zu hinterfragen, die Verheerung. »Was wir uns nur alle vormachen«, murmelt er.

Hinter den Lamellen einer Holzjalousie kämpft Jonah mit dem Bettzeug. In der Luft hängt stickig seine Schlaflosigkeit, sein verzweifeltes Kissenaufschütteln. Die Füße über den Bettrand hängend schmeißt er die Kissen aus dem Bett, legt sich auf den Rücken, dann auf den Bauch, steht dann auf und geht ins Bad. Er trampelt vom einen ins nächste Zimmer, macht alle Lichter an, nur im T-Shirt. Seine untere Körperhälfte ist nackt, so schutzlos wie die eines Kindes.

Ein paar Stunden später sieht es aus, als wäre eingebrochen worden. Audrey würde nörgeln, dass Jonah nicht nach Schuhen und Handtaschen sortiert, nicht nach Winter- und Sommerkleidung, aber er packt endlich ihre Sachen in schwarze Säcke: das Nachthemd, das über der Heizung lag, die Seidenkleider und BHs, die Schuhe aus Schlangenleder von ihrer Mutter, die sie nie anzog. Seit der Beerdigung hatten ihm Freunde ihre Hilfe dabei angeboten, ihn mit ihrer Liebenswürdigkeit tyrannisiert, doch das hier muss er alleine machen. In jedem Teil steckt eine Erinnerung – ein Abend unterwegs, eine Taufe, ein Picknick. Sogar dieser Pullover … er hat noch ihre Form, wie sie zufrieden auf dem Sofa lümmelt.

Um drei Uhr morgens ist Jonahs Trauer ein langsamer Tanz unter Wasser. Jeder Raum fühlt sich flüssig an. Im Wohnzimmer liegt ein roter Überwurf, ein Tauschhandel im Urlaub, bestickt mit winzigen runden Spiegeln. Wenn er blinzelt, liegt Audrey auf diesem Sofa, ihre Glieder im Glas gebrochen und gespiegelt. Auf jedem Stuhl sieht er sie nackt sitzen. Da drüben, auf dem weißen Sessel … doch als er sich umdreht, sieht er nur einen Rotweinfleck, verschüttet von ihrem Vater bei einem Abendessen 1999. Er hatte seine neue Freundin dabei; wie hieß sie noch, Michelle? Der Klavierhocker ist leer. Die Noten zu Bowies ›Space Oddity‹ liegen auf einem Klavier, das unter der Last von Zeitungen und ungeöffneter Post ächzt. Das Klavier, ein Boyd London, war Audreys Geschenk für ihn zu ihrem fünften Hochzeitstag; damals war es viel mehr als eine unordentliche Ablage. Daneben führt der Flur in ihr Arbeitszimmer, wo immer noch Post-its am Schreibtisch kleben, ihre Regale sind vollgestopft mit Dokumenten. Jonah hat schon ihre persönlichen Papiere durchwühlt auf der Suche nach einem Abschiedsbrief oder wenigstens einem Lebewohl: eine Filmempfehlung, irgendein Schnipsel, der ihr Gespräch weiterführt. An die Wand sind Farbmuster in Pink- und Fliedertönen gemalt. Statt Quadraten hatten Jonah und Audrey mit den Testern Worte gemalt, alles Namen: Bella, Amy, Violet.

Im Bad nestelt er an einer Schachtel Haarnadeln herum, an einem kleinen ringbehängten Schmuckbaum, an ihrem Make-up. Dann sieht er ihren Bademantel hinten an der Tür hängen, in der Tasche noch ein benutztes Taschentuch. Als er ihn in den Sack im Flur packt, ist jedes Geräusch lauter, als es sein sollte: das Tropfen des Wasserhahns, das Klatschen seiner Füße auf den Dielen, der Reißverschluss ihrer Moleskin-Stiefel.

»Palimpsest.«

Audrey hatte ihn aufgeweckt, um ihm das zu sagen.

»Was?«

»Nummer vierzehn waagrecht. ›Pergament, dessen Inschrift zur erneuten Beschriftung abgeschabt wurde‹« Sie schüttelte ihr Kissen auf. »Ich weiß … ich bin genial.«

»Es ist drei Uhr morgens …«

»Ich bin aufgewacht, und plötzlich war es einfach da. Komisch, das Unterbewusstsein.«

Sie lehnte sich hinüber zu der Schachtel Taschentücher, putzte ihre Nase. »Erinnere mich daran, morgen eine Karte für deinen Dad zu besorgen. Er hat am Dienstag Geburtstag …«

Als Jonah durch die Müllsäcke watet, pochen seine Waden.

Bei ihm wurde das Restless-Legs-Syndrom diagnostiziert. Seine Muskeln zucken und zünden, doch weitere Schlafmittel wurden ihm verweigert. So fühlt er sich wie ein Fremder im eigenen Körper. Zu oft hat er bis fünf Uhr morgens Unterrichtspläne zusammengestellt, während seine Knie immer wieder gegen den Tisch stießen wie ein ausschlagendes Pferd.

Jonah fängt an zu verstehen, dass es wohl auch eine physische Loslösung geben muss, wenn man Witwer wird. Ein Geflecht, das sich über Jahre hinweg gebildet hat, wird nun auseinandergerissen, ihre vielen Schichten werden von seiner Brust, seiner Leiste, seinen Fingern gelöst. Als er endlich ins Bett geht, stellt er sich vor, wie Audreys Gewicht eine Kuhle in der Matratze bildet. Da, die Wärme ihres Rückens an seinem Bauch.

Sie dreht sich um und macht ein Auge auf. »Liebst du mich?«

»Ja.«

Sie macht das Auge zu. »Eine Tasse Tee wäre schön.«

Auf dem Nachttisch steht ein Foto seiner Frau in einer olivgrünen Wildlederjacke. Sie wusste genau, wie sie den Kopf schieflegen musste, nur ein bisschen, der Blick so unpassend zur maßgeschneiderten Kleidung, eine Einladung, dieses kleine Stückchen näher zu kommen. Mehr als alles andere wünscht sich Jonah, mit ihr zu sprechen. Er wünscht sich, dass das Telefon klingelt und sie über nichts reden, einfach nur, um den stillen Gedanken seiner Frau zuzuhören. Er wünschte, er hätte ihr Atmen aufgezeichnet, damit er es im Dunkeln hören könnte. Einfach nur der Klang ihres Schlafs, wie ihre Lunge sich bewegt.

Jonah quält sich aus dem Bett und schaltet das Radio ein. Es ist sechs Uhr morgens. Er hofft, von den Nachrichten abgelenkt zu werden, doch hört auf einmal Gospel. »Oh Happy Day.« Weit entfernt hört er die Dusche auf der anderen Seite der Wand. Er pult an der Erinnerung herum wie an einer schorfigen Wunde, dabei weiß er genau, dass das nicht gut enden kann. Audrey hatte gehofft, das herabstürzende Wasser würde ihre Tränen verbergen, doch er konnte sie trotzdem hören. Er sah sie vor sich, der Mund offen, die Stirn gegen die Fliesen gepresst.

Als die Dusche abgedreht wurde, klopfte Jonah sachte an die Tür, aber sie machte das Radio an. Es war Gospel, auf voller Lautstärke, ihre Tränen gegen die grelle Hoffnung der Musik. Happy days, dieses ständige Gerede über glückliche Zeiten. Audrey musste geraucht haben – ein Häuflein Zigarettenstummel türmte sich draußen vor dem Fenster. Vom Geruch, der unter der Badezimmertür durchsickerte, wurde Jonah übel.

Es war jedes Mal anders. Die erste Fehlgeburt war ›verhalten‹ – so nannten sie es. Der tote Fötus wurde beim Ultraschall entdeckt, zehn unfassbare, starre Minuten. Sie müssen sich irren. Da muss ein Herzschlag sein. Jonah flog von Kopenhagen nach Hause, er war dort mit seinem zweiten Album auf Tour. Zerknittert vom Flug kam er heim und fand sie auf dem Boden ihres Arbeitszimmers sitzen.

»Ich sollte sie bitten, noch einmal zu schauen – vielleicht ist das Ultraschallgerät kaputt.«

Er ging in die Hocke. »Mein Gott, Au, es tut mir so leid.«

»Am Montag habe ich einen Termin zur Ausschabung.«

»Das ist ja noch eine ganze Woche …«

»Ich habe immer wieder gefragt, ob ein Herzschlag da ist. Aber sie haben nur am Gerät herumgefummelt und auf die zweite Meinung gewartet. Sie wollten mir nicht antworten.«

Er küsst ihre feuchten Wimpern, ihre nassen Wangen. Mit der stärker werdenden Sonne wollte sie, dass er sie hier liebte, in dem Zimmer, das sie für ihr Kind geplant hatten. Sie wollte, dass er die Stille in ihr ausfüllte. Ihm war bewusst, dass der Fötus langsam versteinerte, und doch sehnte er sich danach, Teil dieser unerklärlichen Verbindung zwischen Mutter und Kind zu sein.

Sie ließ ihn weit genug herein, dass er verstehen konnte, nur ein bisschen. Audrey war so zerbrechlich, dass er nicht versuchte zu kommen. Wie sie sich so an die Bestärkung des anderen Körpers klammerten, wollte er nur still in ihr sein, wieder und wieder Liebe lernen.

Einige Monate darauf waren sie im Urlaub auf Sizilien. Jonah erinnert sich an das Schwimmen im Meer, ihre sandigen Füße auf den weißen Laken, das Versprechen, dass sie bald eine Familie gründen würden. Er war erstaunt, wie unverwüstlich ihr Körper war. Ihre Narben erblühten, als sie die Furchen ihres Verlusts erkundeten und sich einander näher wiederfanden. Ja sagten.

Die zweite Fehlgeburt hatte sie im Badezimmer. Jonah sank auf die Knie und schöpfte den winzigen Fötus aus der Toilette. Er hielt ihn in der Hand, die Fruchtblase intakt, vielleicht zwei Zentimeter lang.

»Es ist gut, dass du sie auch mal halten kannst«, sagte sie. »Stell dir vor, sie neun Wochen so zu tragen. Das«, flüsterte sie seiner ausgebreiteten Hand zu, »das ist dein Dad.«

Jonah hatte Angst, das letzte bisschen, das sie von ihrem Kind noch hatten, zu zerquetschen. Sollte er zu diesem Überrest einer Schwangerschaft etwas sagen? Oder schweigen? Er schämte sich dafür, dass er sich fragte, was wohl darin war: ein Knäuel DNA und Potential; eine Vorstellung von dem, was sein könnte, die ihnen beiden gefallen hatte. Oder ein missgestaltetes schwänziges Ungeheuer.

Es dauerte über ein Jahr, bis Audrey wieder schwanger wurde.

In dieser Zeit ging ihnen das Geld von Jonahs Plattenlabel aus. Er vertrat einen Freund, der an einer Schule Musikunterricht gab.

»Ich glaube nicht, dass das das Richtige für dich ist«, sorgte Audrey sich. »Dein Talent –«

»Aber ich muss doch Geld verdienen. Wenn das Baby kommt –«

»Ich habe heute Morgen meine Tage bekommen.«

Sie stand am Spülbecken, die Arme voller Schaum. Er legte das Geschirrhandtuch weg und massierte ihre Schultern.

»Als Lehrer wäre der Druck weg. Das dritte Album schreibe ich trotzdem, versprochen.«

Im September 2002 schrieb er sich für eine Weiterbildung zum Lehrer ein, und Audrey hörte mit dem Rauchen auf. Im März darauf war sie schwanger. Als sie die drei Monate erreicht hatten, das Hochgefühl des Ultraschalls, fing sie an zu planen, wie sie das Arbeitszimmer in ein Kinderzimmer umwandeln könnte, aber ein paar Wochen später hatte sie wieder eine Fehlgeburt. Dort fing die richtige Trauer an. Er führte sie in schicke Restaurants aus oder kaufte ihr die neuesten Bücher ihrer Lieblingsautoren. Aber sie konnte nur noch meckern. Warum hatte er die Klospülung noch nicht repariert, oder die Glühbirne gewechselt … und warum lag der Stapel Korrekturen in der Küche herum? Ihre Freunde beschwichtigten ihn, dass sie eine hormonbedingte Depression durchmachte, aber sie weigerte sich, zum Arzt zu gehen.

Es ist anders, denkt Jonah, seine Frau zu verlieren, verglichen damit, ein ungeborenes Kind zu verlieren. Doch in jeder Trauer liegt die Zerstörungskraft dessen, was fehlt, und etwas, das Menschen zu Fremden macht. Es passierte auch ihnen. Die letzten drei Monate weinte Audrey nicht mehr unter der Dusche. Stattdessen hört sie üppige Barockmusik: Bach oder Vivaldi. Vielleicht versuchte sie, das Haus mit der Musik zu füllen, die er nicht mehr spielte.

Jonah spielt die Szenen in seinem Kopf ab, als könnte er die Vergangenheit neu schreiben. Doch die Worte, die sie möglicherweise verletzt haben, kann er nicht ändern. Die Nachrichten kommen, und die Dusche wird abgedreht. Er dreht sich um und sieht, wie Audrey die Badezimmertür öffnet. Sie ist nackt, nass. Das Trugbild seiner Frau geht auf ihn zu und legt ihm einen tropfnassen Arm um den Hals. Sie reibt ihr Gesicht an seine Wange, und endlich berühren ihre Lippen seine. Was ist das für ein Kuss? Der, den er sich in ihrem Fehlen vorstellt. Er schmeckt nach Rauch und Tränen. Bin ich alleine in diesem Kuss?, fragt er. Sie verschwindet.

Ein Ort für Verlorenes

Jonah läuft einen Gang entlang, der nach Pommesfett und Politur stinkt. Im Klassenzimmer angelangt, zeigt er seinen Schülern, wie man eine reine Quinte in einen Molldreiklang vermindert, doch durch seine Schlaflosigkeit fühlt sich alles weit weg an, wie die Kopie einer Kopie einer Kopie. Die Stunden ziehen sich glasig hin. Geräusche stechen zu ihm hindurch, sein Fuß auf dem Klavierpedal, die Kreide, die einen Notenschlüssel an die Tafel kratzt.

Nur noch eine Woche bis zu den Sommerferien. Jonah ist seinen Verpflichtungen so gut wie möglich nachgekommen, ist jeden Tag nach Paddington gependelt, um ein paar Teenagern Musikunterricht für ihre Prüfungen zu geben. Auf seinem Schreibtisch liegt seine beige Schultertasche, überall Tintenflecken, sie sieht aus, als gehöre sie einem Schüler. Letzten September hatte er noch gehofft, er würde damit immer noch kreativ wirken, wie ein Rebell. Wie lächerlich, dass er sich einmal darum gekümmert hat, was die Leute von ihm denken. Die Glocke kreischt.

Im Lehrerzimmer liest der Mathelehrer Zeitung und leckt vor jedem Umblättern seinen Finger an. Jonah muss sich deshalb eine Viertelstunde in der Toilettenkabine einsperren. Funktionier einfach, betet er sich vor, konzentrier dich. Nach der Mittagspause vertritt er einen kranken Sportlehrer und beaufsichtigt das heruntergekommene Schwimmbecken, das Trommelfell platzt ihm fast vom Geschrei und Gequieke. Mit bellender Stimme schimpft er ein paar Kinder. In seinem Hals steckt Wut. Nicht wiederzuerkennen.

»Ich bin wütend.« Er spricht es aus, abends bei seinem Psychologen. Sein Hausarzt hat ihn hergeschickt, er hat darauf bestanden.

»Ich dachte, sie würde darüber hinwegkommen. Dass wir es wieder versuchen. Wie konnte ich nur so blöd sein? Ich hätte auf einer Therapie bestehen sollen.«

Paul Ridley betrachtet ihn nachdenklich.

»Habe ich schon erzählt, dass ich Audreys Bank schon habe? Kate, eine Freundin von ihr …« Jonah hält inne, setzt wieder an. »Sie hat Beziehungen.«

Er wendet den Blick ab von den hervorspringenden Augenhöhlen, den auffallend blonden Wimpern.

Der Psychologe lehnt sich vor. »Ich frage mich, ob Sie auf noch irgendjemanden wütend sind?«

»Sie meinen sie?«

Stille.

Paul Ridley atmet durch die Nase ein. »Egal, ob Selbstmord oder ein Unfall, ich kann mir vorstellen, dass Sie sich alleingelassen fühlen.«

»Sie hat drei Kinder verloren.«

»Sie aber auch.«

Jonah denkt an all die Worte, von denen er sich wünscht, sie gesagt zu haben. Er war nicht genug. Nie. Ein Mann von dürftiger Liebe, magerem Können. Er denkt an seine Unfähigkeit; sein Scheitern, seine Frau am Leben zu halten. Sie glücklich zu machen.

Milly spaziert durch den Garten. Ab und zu hebt sie etwas Müll auf, so wie Harry es ihr gezeigt hat. Sie kennt jeden der Wege gut, sogar manche der Leute: die Mutter im Kunstpelzmantel mit Kinderwagen – sie kommt immer nach der Schule; das alte Ehepaar, das oben im Tropenhaus sitzt. Mit Butterbroten auf den Knien hoffen sie, dass die Luftfeuchtigkeit ihre Arthritis lindert. Eine Frau sitzt immer auf derselben Bank und löst das Kreuzworträtsel in der Times. Ein Stück weiter, beim King William’s Temple, sitzt noch ein regelmäßiger Besucher: ein Fotograf mit Stativ. Mit hochgekrempelten Ärmeln fokussiert er seine Linse auf den gewundenen Stamm eines toskanischen Olivenbaums. Er löst aus. Milly bückt sich nach einer leeren Flasche und einem Zigarettenstummel.

Im Kirschenhain ist die Blüte längst vorbei, und Milly kann die vielen Taschentücher und Lutscherstiele kaum halten. Vor dem Temperierten Haus sitzt eine Frau auf einer Bank und zeichnet. Milly bleibt stehen und studiert die Form ihres geschorenen Kopfes, den schwarz gefärbten Bürstenhaarschnitt. Irgendetwas an ihren mageren Gliedern, ihrer zerbrechlichen Haltung kommt ihr bekannt vor.

Sie ist vielleicht Ende zwanzig. Aus ihrer Stofftasche ragt ein großes Buch mit den Lettern Modigliani heraus. Plötzlich klingelt die Tasche.

Die Frau geht ran. »Nein, Mark. Ich kann heute Abend nicht. Ich muss arbeiten.«

Stille.

»Nein.«

Sie dreht ihren Körper, als versuche sie, den Anrufer mit ihrer Schulter abzuschirmen. Sie legt das Handy ab, schaut auf ihre Zeichnung und atmet, als würde sie beten. Milly kommt näher, aber die Frau knüllt die Seite zusammen. Milly wird schwach, als wäre sie so zart und dünn wie eine Ausschneidepuppe.