Das Lied der Zelle - Siddhartha Mukherjee - E-Book

Das Lied der Zelle E-Book

Siddhartha Mukherjee

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Beschreibung

Als im späten 16. Jahrhundert der englische Universalgelehrte Robert Hooke und der holländische Tuchhändler Antonie van Leeuwenhoek durch ihre handgefertigten Mikroskope blickten, sahen sie etwas, was der Biologie und der Medizin ein radikal neues Konzept hinzufügte und beide Wissenschaften für immer veränderte: Komplexe lebende Organismen bestehen aus winzigen, in sich geschlossenen und sich selbst regulierenden Einheiten. Unsere Organe, unsere Physiologie, unser Selbst - Herz, Blut, Gehirn - sind aus diesen kleinen Teilen aufgebaut: den Zellen. Sie ermöglichen all unsere komplexen Körperfunktionen: Immunabwehr, Fortpflanzung, Empfindungsvermögen, Kognition und Erneuerung. Die Schattenseite ist die ungemeine Zerstörungskraft dysfunktionaler Zellen, die einen Körper seiner Lebensfähigkeit berauben können.  Mukherjee erzählt vom enormen Potenzial unseres vertieften Verständnisses der Zellphysiologie und -pathologie. Es hat eine Revolution in Biologie und Medizin ausgelöst, transformative Medikamente hervorgebracht und Menschen verändert.

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Das Lied der Zelle

Siddhartha Mukherjee ist praktizierender Onkologe am Columbia University Medical Center und Autor. Für sein Buchdebüt Der König aller Krankheiten: Krebs – eine Biographie erhielt er 2011 den Pulitzer Preis. Auch Das Gen – eine sehr persönliche Geschichte war ein weltweiter Erfolg. Als Experte auf dem Gebiet der Krebs- und Stammzellforschung veröffentlicht er regelmäßig in The New Yorker und der New York Times. Dr. Mukherjee lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in New York.

Als im späten 16. Jahrhundert der englische Universalgelehrte Robert Hooke und der holländische Tuchhändler Antonie van Leeuwenhoek durch ihre handgefertigten Mikroskope blickten, sahen sie etwas, was der Biologie und der Medizin ein radikal neues Konzept hinzufügte und beide Wissenschaften für immer veränderte: Komplexe lebende Organismen bestehen aus winzigen, in sich geschlossenen und sich selbst regulierenden Einheiten. Unsere Organe, unsere Physiologie, unser Selbst - Herz, Blut, Gehirn - sind aus diesen kleinen Teilen aufgebaut: den Zellen. Sie ermöglichen all unsere komplexen Körperfunktionen: Immunabwehr, Fortpflanzung, Empfindungsvermögen, Kognition und Erneuerung. Die Schattenseite ist die ungemeine Zerstörungskraft dysfunktionaler Zellen, die einen Körper seiner Lebensfähigkeit berauben können. 

Mukherjee erzählt vom enormen Potenzial unseres vertieften Verständnisses der Zellphysiologie und -pathologie. Es hat eine Revolution in Biologie und Medizin ausgelöst, transformative Medikamente hervorgebracht und Menschen verändert.

Siddhartha Mukherjee

Das Lied der Zelle

Wie die Biologie die Medizin revolutioniert -- Medizinischer Fortschritt und der Neue Mensch

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Song of the Cell: An Exploration of Medicine and the New Human im Verlag Scribner, einem Imprint von Simon & Schuster, New York.Einige Namen und identifizierende Details wurden abgewandelt. Abgewandelte Versionen von einigen Passagen, geschrieben von Siddhartha Mukherjee, MD, sind in früheren Ausgaben von The New Yorker, The New York Times Magazine und Cell erschienen.ISBN 978-3-8437-2907-9© 2022 by Siddhartha Mukherjee, MD© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Alle Rechte vorbehaltenLektorat: Dunja ReuleinUmschlaggestaltung: zero-media.net, München und der Neue Mensch nach einer Vorlage von Penguin Random House UKUmschlagmotiv: »Glial Cells of the Mouse Spinal Cord« by Santiago Ramón y Caja © Instituto Cajal, MadridAutorenfoto: © Deborah FeingoldE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

TEIL 1  

Entdeckung

Einleitung

KAPITEL 1  Die ursprüngliche Zelle

KAPITEL 2  Die sichtbare Zelle

KAPITEL 3  Zellen überall

KAPITEL 4  Wenn Zellen krank machen

TEIL 2  

Die Eine und die Vielen

Einleitung

KAPITEL 5  Die organisierte Zelle

KAPITEL 6  Wenn Zellen sich teilen

KAPITEL 7  Die manipulierte Zelle

KAPITEL 8  Die Zelle in der Entwicklung

TEIL 3  

Blut

Einleitung

KAPITEL 9  Die ruhelose Zelle

KAPITEL 10  Die heilende Zelle

KAPITEL 11  Die wachsame Zelle

KAPITEL 12  Die Zelle als Verteidiger

KAPITEL 13  Die urteilsfähige Zelle

KAPITEL 14  Die tolerante Zelle

TEIL 4  

Wissen

KAPITEL 15  Die Pandemie

TEIL 5  

Organe

Einleitung

KAPITEL 16  Die Zelle als Bürger

KAPITEL 17  Die nachdenkliche Zelle

KAPITEL 18  Die Zelle als Dirigent

TEIL 6  

Wiedergeburt

Einleitung

KAPITEL 19  Wenn Zellen sich erneuern

KAPITEL 20  Die Reparaturzelle

KAPITEL 21  Die egoistische Zelle

KAPITEL 22  Das Lied der Zelle

EPILOG

BILDTEIL

Anhang

DANKSAGUNG

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

VORSPIEL

Widmung

Für W. K. und E. K. – zwei der Ersten, die Grenzen überschritten haben

Motto

In der Summe der Teile gibt es nur die Teile. Die Welt muss mit den Augen vermessen werden.– Wallace Stevens1

Physiologisch ist ja das Leben eine fortwährende rhythmische Bewegung der Zellen.– Friedrich Nietzsche2

VORSPIEL

»Die Elementarteile des Organismus«

»Ganz einfach«, sagte er. »Es ist eines der Beispiele dafür, wie ein kritischer Kopf eine Wirkung erzielen kann, die einem anderen bemerkenswert erscheint, und nur, weil er den kleinen Punkt übersehen hat, der die Grundlage für die Schlussfolgerung bildet.

– Sherlock Holmes zu Dr. Watson3

Das Gespräch fand im Oktober 1837 beim Abendessen statt.4 Die Dämmerung war hereingebrochen, und in den Hauptstraßen von Berlin leuchteten schon die Gaslampen. Nur vereinzelt haben sich Erinnerungen an den Abend erhalten. Es wurden keine Notizen gemacht und keine wissenschaftliche Korrespondenz geführt. Uns bleibt nur die Geschichte darüber, wie zwei Freunde – Institutskollegen – bei einer zwanglosen Mahlzeit über Experimente diskutierten und sich über eine entscheidende Idee austauschten. Einer der beiden hieß Matthias Schleiden und war Botaniker. Über seine Stirn zog sich eine auffällige, entstellende Narbe, das Überbleibsel eines früheren Selbstmordversuchs. Bei dem zweiten, dem Zoologen Theodor Schwann, reichten die Koteletten bis zu den Wangen hinunter. Beide arbeiteten an der Berliner Universität unter Leitung des angesehenen Physiologen Johannes Müller.

Schleiden, ein ehemaliger Rechtsanwalt, beschäftigte sich mit Aufbau und Entwicklung von Pflanzengeweben. Im Rahmen seiner »Heusammelei«, wie er sie nannte, hatte er Hunderte von Fundstücken aus dem Pflanzenreich gesammelt: Tulpen, Traubenheide, Fichten, Gräser, Orchideen, Salbei, Linanthus, Erbsen und Dutzende von Lilienarten.5 Seine Sammlung wurde in Botanikerkreisen bewundert.6

An jenem Abend unterhielten sich Schwann und Schleiden über die Phytogenese, den Ursprung und die Entwicklung der Pflanzen. Dabei teilte Schleiden seinem Gegenüber etwas Wichtiges mit: Bei all seinen Pflanzenfunden hatte er eine »Einheitlichkeit« von Aufbau und Struktur beobachtet. Wenn Pflanzengewebe – Blätter, Wurzeln, Keimblätter – sich entwickelte, wurde stets eine auffällige subzelluläre Struktur sichtbar, der Zellkern. (Über die Funktion des Kerns wusste Schleiden nichts, aber er erkannte seinen charakteristischen Aufbau.)

Die größte Überraschung war vielleicht eine weitreichende Einheitlichkeit im Aufbau der Gewebe. Jeder Teil der Pflanze war nach dem Baukastenprinzip aus eigenständigen, unabhängigen Einheiten aufgebaut – den Zellen. »Jede Zelle führt ein Doppelleben«, schrieb Schleiden ein Jahr später. »Das eine ist völlig unabhängig und gehört nur zu ihrer eigenen Entwicklung; das andere folgt daraus insofern, als sie zum Teil einer Pflanze geworden ist.«7

Ein Lebewesen innerhalb des Lebendigen. Ein unabhängiges Lebewesen, eine Einheit, die einen Teil des Ganzen bildet. Ein lebender Baustein, enthalten in dem größeren lebendigen Organismus.

Schwann spitzte die Ohren. Auch ihm war der Zellkern ins Auge gefallen, allerdings in den Zellen eines sich entwickelnden Tiers, nämlich einer Kaulquappe. Und auch er hatte die Einheitlichkeit im mikroskopischen Aufbau der Gewebe von Tieren beobachtet. Die »Einheitlichkeit«, die Schleiden bei den Pflanzenzellen gesehen hatte, war vielleicht ein tieferes Prinzip, das für alles Leben galt.

In Schwanns Kopf nahm ein noch unfertiger, aber zutiefst radikaler Gedanke Gestalt an, ein Gedanke, der für die Geschichte von Biologie und Medizin zum Wendepunkt werden sollte. Vielleicht schon an diesem Abend, vielleicht auch ein wenig später lud er Schleiden ein (oder drängte ihn möglicherweise sogar), in das Labor seines Anatomiesaals zu kommen, wo er sein Material aufbewahrte. Schleiden blickte durch das Mikroskop. Er konnte es bestätigen: Was den mikroskopischen Aufbau einschließlich des auffälligen Zellkerns anging, sah das entstehende Tier fast genauso aus wie eine Pflanze.8

Tiere und Pflanzen – unterschiedlicher, so schien es, können Lebewesen nicht sein. Und doch hatten sowohl Schwann als auch Schleiden festgestellt, dass ihre Gewebe unter dem Mikroskop geradezu gespenstisch ähnlich aussahen. Schwanns Ahnung war richtig gewesen. Wie er sich später erinnerte, waren die beiden Freunde an jenem Abend in Berlin auf eine allgemeingültige, entscheidende wissenschaftliche Erkenntnis gestoßen: Sowohl Tiere als auch Pflanzen haben eine »gemeinsame Methode, sich durch Zellen zu bilden«.9

Im Jahr 1838 stellte Schleiden seine Beobachtungen in einem umfangreichen Aufsatz mit dem Titel Beiträge zur Phytogenesis zusammen.10 Ein Jahr später folgte Schwann mit seinem Werk über die Zellen der Tiere: Mikroskopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen.11 Tiere und Pflanzen, so Schwanns Feststellung, sind ähnlich organisiert: Jeder Organismus ist ein »Aggregat aus vollständigen Individuen«.

In diesen beiden bahnbrechenden Arbeiten, die in einem Abstand von nur einem Jahr erschienen, wurde die gesamte Welt des Lebendigen auf ein einziges klares Prinzip zurückgeführt. Schleiden und Schwann waren nicht die Ersten, die Zellen gesehen hatten, und sie waren auch nicht die Ersten, die erkannten, dass Zellen die Grundeinheiten der Lebewesen sind. Ihre scharfsinnige Erkenntnis lag vielmehr in der Feststellung, dass für alle Lebewesen ein zutiefst einheitliches Prinzip von Organisation und Funktion gilt. »Ein gemeinsames Band«, so Schwann, verbindet die verschiedenen Reiche des Lebendigen.12

Ende 1838 verließ Schleiden Berlin und nahm eine Stellung an der Universität Jena an.13 Im Jahr 1839 wechselte auch Schwann auf eine Position an der Katholischen Universität im belgischen Leuven.14 Obwohl die beiden aus Müllers Institut in unterschiedliche Richtungen gingen, führten sie weiterhin eine lebhafte Korrespondenz, und ihre Freundschaft blieb bestehen. Ihre bahnbrechenden Arbeiten über die Grundlagen der Zelltheorie lassen sich aber zweifelsfrei auf Berlin zurückführen, wo sie enge Kollegen und Freunde gewesen waren. Sie hatten, wie Schwann es formulierte, die »Elementarteile der Lebewesen« gefunden.

Dieses Buch erzählt die Geschichte der Zelle. Es ist eine Chronik der Entdeckung, dass alle Lebewesen einschließlich des Menschen aus solchen »Elementarteilen« bestehen. Es berichtet darüber, wie organisierte Ansammlungen dieser eigenständigen lebendigen Einheiten – Gewebe, Organe und Organsysteme – durch ihr Zusammenwirken umfassende physiologische Phänomene ermöglichen: Immunität, Fortpflanzung, Empfindungsfähigkeit, Kognition, Reparatur und Verjüngung. Umgekehrt ist es aber auch eine Geschichte darüber, was geschieht, wenn Zellen nicht mehr funktionieren und unser Körper von der Zellphysiologie zur Zellpathologie kippt – wenn die Fehlfunktionen von Zellen die Fehlfunktionen des Organismus auslösen. Und schließlich ist es auch eine Geschichte darüber, wie unsere immer weiter reichenden Kenntnisse über Physiologie und Pathologie der Zellen in Biologie und Medizin eine Revolution auslösten, die zu einer Verwandlung der Medizin und zur Verwandlung von Menschen durch diese Medizin geführt hat.

Zwischen 2017 und 2021 schrieb ich drei Artikel für das Magazin New Yorker.15 Der erste handelte von der Zellmedizin und ihrer Zukunft; insbesondere ging es darin um die Erfindung umprogrammierter T-Zellen, die Krebszellen angreifen. In dem zweiten berichtete ich über eine neue Vorstellung von Krebs, in deren Mittelpunkt der Gedanke von der Ökologie der Zellen steht – es ging nicht um einzelne Krebszellen, sondern um den Krebs an seiner Stelle im Organismus und um die Frage, warum manche Stellen im Körper bösartigen Tumoren offensichtlich eine viel angenehmere Umgebung bieten als andere. Den dritten schrieb ich in der Anfangszeit der Covid-19-Pandemie; darin berichtete ich darüber, wie Viren sich in unseren Zellen und unserem Organismus verhalten und wie wir auf der Grundlage solcher Verhaltensweisen besser verstehen können, warum manche Viren bei Menschen so verheerende physiologische Wirkungen haben.

Irgendwann fragte ich mich, welche thematischen Zusammenhänge zwischen den drei Artikeln bestehen. Im Mittelpunkt stand in allen Fällen die Geschichte der Zellen und ihrer Umgestaltung. Eine Revolution war im Gange, aber es gab auch eine unbeschriebene Vergangenheit (und Zukunft): eine Geschichte über Zellen, über unsere Fähigkeit, Zellen zu manipulieren, und über den Wandel der Medizin, den diese Revolution einleitet.

Aus dem Samen, den ich mit den drei Artikeln gelegt hatte, wuchsen in diesem Buch eigene Stängel, Wurzeln und Ableger. Die Chronik beginnt in den 1660er- und 1670er-Jahren, als ein schüchterner niederländischer Tuchhändler und ein unkonventioneller englischer Universalgelehrter unabhängig voneinander und in einer Entfernung von mehr als 300 Kilometern durch ihre selbst gebauten Mikroskope blickten und die ersten Anzeichen von Zellen entdeckten. Sie setzt sich fort bis zur Gegenwart: Heute verändern Forschende menschliche Stammzellen und verabreichen sie Patienten mit chronischen, potenziell lebensbedrohlichen Krankheiten wie Diabetes oder Sichelzellanämie, und in die zellulären Gehirnschaltkreise von Männern und Frauen mit hartnäckigen neurologischen Krankheiten werden Elektroden eingeführt. Außerdem führt es uns an die Schwelle einer ungewissen Zukunft, in der wissenschaftliche Eigenbrötler (einer von ihnen wurde mit einer dreijährigen Gefängnisstrafe belegt und dem dauerhaften Verbot, Experimente anzustellen) Embryonen mit »redigierten« Genen konstruieren und mit Zelltransplantation die Grenzen zwischen Natürlichem und Künstlichem verschwimmen lassen.

Ich greife auf eine Vielfalt von Quellen zurück: Interviews, Begegnungen mit Patientinnen und Patienten, Spaziergänge mit Forschenden (und ihren Hunden), Institutsbesuche, Blicke durchs Mikroskop, Unterhaltungen mit Krankenschwestern, Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten, historische Quellen, wissenschaftliche Veröffentlichungen und persönliche Briefe. Dabei ist es nicht meine Absicht, eine umfassende Geschichte der Medizin oder der Anfänge der Zellbiologie zu schreiben. Dafür gibt es andere mustergültige Beispiele wie Die Kunst des Heilens: eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute von Roy Porter16, The Birth of the Cell von Henry Harris17 oder Müller’s Lab von Laura Otis. Hier möchte ich darüber berichten, wie der Begriff der Zelle und unsere Kenntnisse über Zellphysiologie nicht nur Medizin und Wissenschaft, sondern auch Biologie, Gesellschaftsstruktur und Kultur verändert haben. Am Ende steht die Geschichte einer Zukunft, in der wir lernen, diesen Bausteinen neue Formen zu geben oder vielleicht sogar synthetische Zellen und Körperteile von Menschen zu erzeugen.

Eine solche Version der Geschichte der Zelle hat zwangsläufig Lücken und Leerstellen. Die Entwicklung der Zellbiologie ist unauflöslich mit den Wegen von Genetik, Pathologie, Epidemiologie, Erkenntnistheorie, Taxonomie und Anthropologie verknüpft. Spezialisten für bestimmte Nischen der Medizin oder Zellbiologie, die das Schwergewicht zu Recht auf ganz bestimmte Zelltypen legen, hätten die gleiche Geschichte vielleicht durch eine ganz andere Brille betrachtet; Botaniker, Bakteriologen und Mykologen werden zweifellos eine angemessene Konzentration auf Pflanzen, Bakterien und Pilze vermissen. Auf all diese Fachgebiete nicht nur flüchtig vorzudringen, würde bedeuten, in Labyrinthe einzutreten, die sich in weitere Labyrinthe verästeln. Viele Aspekte der Geschichte habe ich in Fuß- und Endnoten ausgelagert.18 Ich bitte darum, sie gewissenhaft zu lesen.

Auf unserem ganzen Weg werden wir viele Patienten kennenlernen, darunter einige meiner eigenen. Manche tragen hier einen Namen; andere wollten anonym bleiben, sodass Namen und erkennbare Details weggelassen wurden. Ich empfinde eine unbeschreibliche Dankbarkeit gegenüber diesen Männern und Frauen, die in unbekanntes Gelände vorgedrungen sind und sowohl ihren Körper als auch ihren Geist einem sich immer weiter entwickelnden, ungewissen Feld der Wissenschaft anvertraut haben. Und ich empfinde ein ebenso unbeschreibliches Entzücken, dass ich miterleben kann, wie die Zellbiologie in einer neuen Form der Medizin lebendig wird.

EINLEITUNG

»Wir kommen zuletzt auf die Zelle zurück«

Wie wir uns auch drehen und wenden, wir kommen zuletzt auf die Zelle zurück.

– Rudolf Virchow, 185819

Im November 2017 musste ich zusehen, wie mein Freund Sam P. starb. Seine Zellen hatten gegen seinen Körper rebelliert.20

Im Frühjahr 2016 hatte man bei Sam ein bösartiges Melanom diagnostiziert. Der Krebs hatte zuerst die Form einer Warze von der Größe einer schwarzvioletten Münze mit einem dunklen Hof gehabt und lag in der Nähe seiner Wange. Seine Mutter Clara, eine Malerin, hatte die Stelle zum ersten Mal während eines spätsommerlichen Urlaubs auf Block Island bemerkt. Sie hatte ihm zugeredet – und später gebettelt und gedroht –, er solle den Fleck von einem Hautarzt untersuchen lassen, aber Sam war ein viel beschäftigter, aktiver Sportjournalist. Er schrieb für eine große Zeitung und hatte kaum Zeit, sich Sorgen wegen eines lästigen Flecks auf der Wange zu machen. Als ich ihn im März 2017 sah und untersuchte – ich war nicht sein Onkologe, aber ein Freund hatte mich gebeten, ihn mir anzusehen –, war der Tumor zu einer daumengroßen länglichen Masse herangewachsen, und in der Haut gab es Hinweise auf Metastasen. Als ich die Geschwulst berührte, zuckte er vor Schmerz zusammen.

Auf Krebs zu stoßen, ist etwas ganz anderes, als mitzuerleben, wie beweglich er ist. Das Melanom war quer über Sams Gesicht in Richtung des Ohrs gewandert. Bei genauerem Hinsehen hatte es Spuren seines Wegs hinterlassen wie eine Fähre, die durch das Wasser fährt: Das Kielwasser bestand aus kleinen dunkelroten Tropfen.

Selbst Sam, der Sportjournalist, der sich während seines ganzen Lebens mit Tempo, Beweglichkeit und Gelenkigkeit beschäftigt hatte, war erstaunt darüber, mit welcher Geschwindigkeit das Melanom voranschritt. Wie, so fragte er mich hartnäckig – wie, wie, wie –, hatte eine Zelle, die jahrzehntelang vollkommen still in seiner Haut gelegen hatte, plötzlich die Fähigkeiten erworben, durch sein Gesicht zu wandern und sich dabei explosiv zu vermehren?

Doch Krebszellen »erfinden« all diese Fähigkeiten nicht. Sie bilden sich nicht neu, sondern reißen die Macht an sich – oder genauer gesagt, werden diejenigen Zellen, die am besten überleben, wachsen und Metastasen bilden können, auf natürliche Weise selektioniert. Die Gene und Proteine, mit deren Hilfe Zellen die zum Wachstum erforderlichen Bausteine erzeugen, werden von den Genen und Zellen zweckentfremdet, mit denen ein Embryo an den ersten Lebenstagen sein schnelles Größenwachstum vorantreibt. Die Wege, auf denen eine Krebszelle sich im Körper über größere Entfernungen bewegt, leiten sich von denen ab, mit denen Zellen, zu deren Wesen die Beweglichkeit gehört, herumwandern. Die Gene, die eine ungezügelte Zellteilung ermöglichen, sind veränderte, mutierte Formen von Genen, die in normalen Zellen für die Zellteilung sorgen. Krebs ist, kurz gesagt, nichts anderes als Zellbiologie, sichtbar gemacht in einem pathologischen Spiegel. Als Onkologe bin ich zuallererst Zellbiologe – allerdings einer, der die normale Welt der Zellen so betrachtet, als wäre sie in einem Spiegel auf den Kopf gestellt.

Im Vorfrühling 2017 erhielt Sam ein Medikament, das seine eigenen T-Zellen zu einer Armee machen sollte, damit sie die Rebellenarmee, die in seinem Körper heranwuchs, bekämpfen konnten. Bedenken wir einmal: Sams Melanom und seine T-Zellen hatten jahre- oder vielleicht jahrzehntelang nebeneinanderher gelebt und sich gegenseitig im Wesentlichen nicht beachtet. Der bösartige Tumor war für das Immunsystem unsichtbar. Jeden Tag waren Millionen T-Zellen an seinem Melanom vorübergeschwommen und einfach weitergewandert – Zaungäste, die ihre Gesichter von der Katastrophe der Zellen abgewandt hatten.

Der Wirkstoff, den man Sam verschrieben hatte, sollte möglichst den Tumor sichtbar machen, sodass seine T-Zellen das Melanom als »fremden« Eindringling erkannten und ihn ganz ähnlich abwehrten, wie sie es mit Mikroorganismen taten. Die passiven Zaungäste sollten zu aktiven Kämpfern werden. Wir veränderten die Zellen in seinem Körper so, dass das zuvor Unsichtbare sichtbar wurde.

Die Entdeckung dieses medizinischen »Enthüllungsmechanismus« war der Höhepunkt eines gewaltigen Fortschritts der Zellbiologie, der bis in die 1950er-Jahre zurückreicht: Allmählich verstand man, mit welchen Mechanismen die T-Zellen zwischen Selbst und Nichtselbst unterscheiden; man identifizierte die Proteine, an denen die Immunzellen fremde Eindringlinge erkennen; und erkannte, auf welchen Wegen unsere normalen Zellen sich vor den Angriffen dieses Wahrnehmungssystems schützen und Krebszellen sich unsichtbar machen; dann entwickelte man Moleküle, die den Krebszellen ihre Tarnkappe rauben. Jede Erkenntnis baute auf früheren Erkenntnissen auf und wurde von den Zellbiologen in harter Arbeit gewonnen.

Praktisch sofort nachdem die Behandlung bei Sam begonnen hatte, lief in seinem Körper ein Bürgerkrieg ab. Seine T-Zellen wussten jetzt über den Krebs Bescheid und wurden gegen seine bösartigen Zellen in die Schlacht geschickt, wobei ihre Rache weitere Rachekreisläufe in Gang setzte. Eines Tages wurde die rote Geschwulst auf seiner Wange heiß, weil die Immunzellen den Tumor besiedelt und einen Kreislauf der Entzündungen in Gang gesetzt hatten; anschließend brachen die bösartigen Zellen ihre Zelte ab und machten sich davon, wobei sie nur ein glimmendes, ersterbendes Lagerfeuer zurückließen. Als ich ihn einige Wochen später sah, waren die längliche Masse und die kleinen Flecken dahinter verschwunden. Stattdessen fand ich nur noch den sterbenden Überrest eines Tumors vor, eingeschrumpft wie eine große Rosine. Eine Remission hatte stattgefunden.

Wir feierten bei Kaffee und Schokodragees. Die Remission hatte Sam nicht nur körperlich verändert, sondern ihm psychisch Auftrieb gegeben. Zum ersten Mal seit Wochen sah ich, wie die Sorgenfalten in seinem Gesicht sich glätteten. Er lachte.

Aber dann kam die Wende. Der April 2017 war ein grausamer Monat. Die T-Zellen, die seinen Tumor angegriffen hatten, richteten sich nun gegen die Leber und lösten eine Autoimmun-Hepatitis aus, eine Leberentzündung, die sich mit immununterdrückenden Medikamenten kaum unter Kontrolle halten ließ. Im Oktober erfuhren wir, dass der Krebs – der sich noch wenige Wochen zuvor in Remission befunden hatte – es sich in Haut, Muskeln und Lunge gut gehen ließ; er hatte sich in neuen Organen versteckt und Nischen gefunden, in denen er den Angriff der Immunzellen überleben konnte.

Sam hielt während all dieser Siege und Niederlagen eine eiserne Würde aufrecht. Sein ätzender Humor wirkte zeitweilig wie eine eigene Form des Gegenangriffs, als wollte er den Krebs austrocknen. Als ich ihn eines Tages an seinem Schreibtisch im Newsroom besuchte, fragte ich ihn, ob er mir in einem privaten Raum – vielleicht in der Herrentoilette – zeigen könne, wo die neuen Tumore aufgetreten waren. Darauf lachte er fröhlich. »Bis wir in der Toilette sind, ist er schon wieder an einen neuen Ort gewandert. Sieh ihn dir lieber da an, wo er jetzt ist.«

Die Ärzte schwächten den Immunangriff ab, um die Autoimmun-Hepatitis unter Kontrolle zu bringen, aber nun begann der Krebs wieder zu wachsen. Sie begannen erneut mit der Immuntherapie zur Bekämpfung des Krebses, und die heftige Hepatitis kehrte wieder. Es war, als würde man einer Art bestialischer Kriegsführung zusehen: Legte man die Immunzellen an die Leine, zerrten sie an ihren Ketten und wollten angreifen und töten, ließ man sie los, griffen sie unterschiedslos den Krebs und die Leber an. Sam starb an einem Wintermorgen, wenige Monate nachdem ich zum ersten Mal seinen Tumor betastet hatte. Am Ende hatte das Melanom gewonnen.

Im Jahr 2019 nahm ich an einem stürmischen Nachmittag an der University of Pennsylvania in Philadelphia an einer Tagung teil. In einem Hörsaal in einem Backsteingebäude an der Spruce Street hatten sich fast 1000 Forschende, Ärzte, Ärztinnen und wissenschaftliche Mitarbeiter von Biotechnologieunternehmen versammelt. Sie sollten über Fortschritte auf einem kühnen medizinischen Neuland diskutieren: über die Heilung von Krankheiten mithilfe genetisch abgewandelter, in Menschen verpflanzter Zellen. Es gab Vorträge über die Modifikation von T-Zellen, über neue Viren, die Gene in Zellen transportieren können, und über die nächsten wichtigen Schritte bei der Zelltransplantation. Die Sprache auf und hinter dem Podium hörte sich an, als wären Biologie, Robotertechnik, Science-Fiction und Alchemie an einem wilden Abend zusammengetroffen und hätten ein frühreifes Kind hervorgebracht. »Neustart des Immunsystems.« »Therapeutische Umgestaltung von Zellen.« »Langfristiges Fortbestehen verpflanzter Zellen.« Die Tagung handelte von der Zukunft.

Aber auch die Gegenwart war anwesend. Nur wenige Reihen vor mir saß Emily Whitehead. Sie war damals 14, ein Jahr älter als meine ältere Tochter. Sie hatte zerzauste braune Haare, trug ein gelb-schwarzes Hemd zu dunklen Hosen und befand sich im siebten Jahr der Remission einer Leukämie. »Sie hat sich gefreut, dass sie einen Tag nicht zur Schule musste«, sagte mir Tom, ihr Vater. Emily lächelte bei dem Gedanken.

Emily wurde als Patientin Nummer 7 am Children’s Hospital of Philadelphia (CHOP) behandelt.21 Fast alle Zuhörer im Publikum kannten sie oder hatten von ihr gehört: Sie hatte die Geschichte der Zelltherapie verändert. Im Mai 2010 hatte man bei Emily eine akute lymphoblastische Leukämie (ALL) diagnostiziert. Von dieser Form der Leukämie, einer der am schnellsten fortschreitenden Krebserkrankungen überhaupt, sind vorwiegend kleine Kinder betroffen.

Die ALL-Behandlung ist eine der heftigsten Chemotherapiemethoden, die man jemals entwickelt hat: Man verabreicht eine Kombination aus sieben oder acht Wirkstoffen, von denen manche direkt in die Rückenmarksflüssigkeit injiziert werden und Krebszellen abtöten sollen, die sich im Gehirn und Rückenmark verstecken. Die Kollateralschäden der Behandlung – dauerhafte Taubheitsgefühle in Fingern und Zehen, Gehirnschäden, Wachstumsverlangsamung und lebensbedrohliche Infektionskrankheiten, um nur einige zu nennen – sind oftmals furchterregend, durch die Therapie werden aber rund 90 Prozent der jungen Patienten und Patientinnen geheilt. Emilys Erkrankung gehörte leider zu den restlichen zehn Prozent: Sie sprach auf die Standardtherapie nicht an. 16 Monate nach Behandlungsbeginn erlitt sie einen Rückfall. Sie wurde für eine Knochenmarktransplantation – die einzige Heilungsmöglichkeit – vorgemerkt, aber während sie auf einen geeigneten Spender wartete, verschlechterte sich ihr Zustand.

»Die Ärzte haben mir gesagt, ich sollte nicht googeln«, erzählte mir Emilys Mutter Kari. »Aber natürlich habe ich genau das getan.«

Was sie im Netz fand, ließ es ihr kalt den Rücken herunterlaufen: Unter Kindern, die einen frühen Rückfall oder zwei Rückfälle erleiden, überlebt fast keines. Als Emily Anfang März 2012 in die Kinderklinik kam, waren nahezu alle Organe von bösartigen Zellen durchsetzt. Ihr betreuender Arzt war der Kinderonkologe Stephan Grupp, ein sanftmütiger, stämmiger Mann mit ausdrucksvollem Schnauzbart. Er nahm sie in eine klinische Studie auf.

Im Rahmen der Versuche erhielt Emily Infusionen mit ihren eigenen T-Zellen. Diese Zellen waren aber durch Gentherapie in Waffen verwandelt worden, die Krebszellen erkennen und abtöten konnten. Anders als bei Sam, bei dem man die Immunität mit Medikamenten innerhalb des Organismus aktiviert hatte, waren Emilys T-Zellen entnommen und außerhalb des Körpers herangezüchtet worden. Mit dieser Behandlungsform hatten der Immunologe Michel Sadelain vom Sloan Kettering Institute in New York und Carl June von der University of Pennsylvania Pionierarbeit geleistet; dabei hatten sie auf früheren Arbeiten des israelischen Wissenschaftlers Zelig Eshhar aufgebaut.

Wenig mehr als 100 Meter von der Stelle entfernt, an der wir saßen, befand sich die sogenannte Station für Zelltherapie, eine bunkerähnliche abgeschlossene Einrichtung mit Stahltüren, keimfreien Räumen und Brutschränken. Dort verarbeiteten technische Teams die Zellen, die man im Rahmen der klinischen Studien bei Dutzenden von Patientinnen und Patienten gesammelt hatte, und brachten sie dann in riesigen Tiefkühlschränken unter. Jeder Schrank trug den Namen einer Gestalt aus der Fernseh-Comicserie Die Simpsons, ein Teil von Emilys Zellen war in Krusty der Clown eingefroren. Ein weiterer Teil ihrer Zellen war genetisch so abgewandelt worden, dass sie ein Gen ausprägten, das die Leukämie erkennen und abtöten sollte; diese Zellen wurden im Labor gezüchtet, bis ihre Zahl exponentiell anstieg, und anschließend wieder ins Krankenhaus gebracht, wo man sie Emily per Infusion verabreichte.

Während der Infusionen, die sich über drei Tage hinzogen, ereignete sich nicht viel. Emily lutschte an einem Eis am Stiel, während Dr. Grupp die Zellen in ihre Blutgefäße tropfen ließ. Abends ging sie mit ihren Eltern zum Übernachten zu einer Tante, die in der Nähe wohnte. Die ersten beiden Abende spielte sie und ritt huckepack auf ihrem Vater. Am dritten Tag kam der Zusammenbruch: Sie musste erbrechen und bekam beunruhigend hohes Fieber. Eilig brachten ihre Eltern sie wieder ins Krankenhaus. Dort ging es rapide bergab. Die Nieren versagten. Emily wechselte zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit, das Multiorganversagen stand kurz bevor.

»Nichts schien noch einen Sinn zu haben«, erzählte mir Tom. Seine sechsjährige Tochter wurde auf die Intensivstation verlegt, wo ihre Eltern und Grupp die ganze Nacht an ihrem Bett blieben.

Der Arzt und Wissenschaftler Carl June, einer der Miterfinder dieser Therapieform, erklärte mir geradeheraus: »Wir haben geglaubt, sie würde sterben. Ich habe an den Verwaltungsleiter der Universität eine E-Mail geschrieben und ihm mitgeteilt, dass eines der ersten Kinder, die wir behandelt hatten, sterben würde. Die Studie war gescheitert. Ich habe die E-Mail im Entwurfsordner gespeichert, aber nie auf Senden geklickt.«

Die technischen Assistenten der Universität arbeiteten die ganze Nacht, um die Ursache des Fiebers aufzuspüren. Anzeichen für eine Infektion fanden sie nicht, aber sie stießen auf eine erhöhte Konzentration bestimmter Moleküle im Blut: Zytokine, Signale, die bei einer aktiven Entzündung ausgeschüttet werden. Insbesondere die Menge eines Zytokins, Interleukin 6 (IL-6) genannt, lag um das Tausendfache über dem Normalwert. Während die T-Zellen die Krebszellen abtöteten, schütteten sie eine Riesenwelle dieser chemischen Botensubstanzen aus, wie eine aufgewühlte Menschenmenge, die bei Ausschreitungen flammende Flugblätter verteilt.

Jetzt kam June eine seltsame Wendung des Schicksals zu Hilfe: Seine eigene Tochter litt an jugendlicher Arthritis, einer entzündlichen Erkrankung. Er wusste von einem neuen Medikament, das IL-6 blockiert und erst vier Monate zuvor von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen worden war. In letzter Not schrieb Grupp eilig einen Antrag an die Krankenhausapotheke und bat um die Genehmigung, die neue Therapie außerhalb des normalen Anwendungsbereichs einsetzen zu dürfen. Noch am gleichen Abend erteilte das Gremium seine Zustimmung, und Grupp spritzte Emily in der Intensivstation eine Dosis des IL-6-Blockers.

Zwei Tage später, an ihrem siebten Geburtstag, wachte Emily auf. »Bumm«, sagte Dr. June und gestikulierte mit den Händen. »Bumm«, sagte er noch einmal. »Es ist einfach dahingeschmolzen. Als wir 23 Tage später eine Knochenmarkbiopsie vorgenommen haben, sahen wir eine vollständige Remission.«

»Ich habe nie einen Patienten gesehen, der so krank war und dem es so schnell besser ging«, sagte mir Grupp.

Die beherzte Behandlung von Emilys Krankheit und ihre verblüffende Genesung waren für das Fachgebiet der Zelltherapie die Rettung. Die Remission hat bei Emily Whitehead bis heute angehalten. In ihrem Knochenmark und ihrem Blut ist kein Krebs mehr nachzuweisen. Sie gilt als geheilt.

»Wenn Emily gestorben wäre, hätten wir wahrscheinlich die ganze Studie beendet«, sagte mir June. Es hätte die Krebstherapie um vielleicht zehn Jahre oder noch mehr zurückgeworfen.

Während einer Tagungspause schlossen Emily und ich uns einer Besichtigungstour über das Klinikgelände an. Geleitet wurde sie von Dr. Bruce Levine, einem Kollegen von Dr. June. Er ist der Gründungsdirektor der Einrichtung an der Pennsylvania State University, an der die T-Zellen abgewandelt werden, die Qualitätskontrolle durchlaufen und sich dann vermehren. Er war einer der Ersten, die Emilys Zellen in die Hand bekamen. Die technischen Assistenten arbeiteten dort einzeln oder zu zweit, erledigten Aufgaben, optimierten Protokolle, transferierten Zellen zwischen Brutschränken und sterilisierten ihre Hände.

Die Einrichtung hätte auch gut ein kleines Denkmal für Emily sein können. Die Wände waren mit Fotos von ihr übersät: Die achtjährige Emily mit Zöpfen; Emily mit zehn und einem Schild in der Hand; Emily mit zwölf und fehlenden Vorderzähnen, lächelnd neben Präsident Barack Obama. Irgendwann während des Rundgangs sah ich, wie die echte Emily aus dem Fenster zum Krankenhaus gegenüber blickte. Sie konnte fast in das Zimmer auf der Intensivstation sehen, in dem sie nahezu einen Monat gefangen gewesen war.

Der Regen prasselte herab und zog Streifen aus Tröpfchen über die Fenster.

Ich fragte mich, wie sie sich wohl fühlte. Mir war klar, dass es im Krankenhaus drei Versionen von ihr gab: die Emily, die heute in der Schule freihatte und hierhergekommen war; die Emily auf den Bildern, die in der Intensivstation gelebt hatte und fast gestorben wäre; und die Emily, die tiefgefroren nebenan im Gefrierschrank Krusty der Clown lag.

»Kannst du dich daran erinnern, wie du ins Krankenhaus gekommen bist?«, fragte ich.

»Nein«, sagte sie und starrte hinaus in den Regen. »Ich weiß nur noch, wie ich entlassen wurde.«

Während ich zusah, wie Sams Krankheit fortschritt und sich zurückzog, und als ich dann die bemerkenswerte Genesung von Emily Whitehead miterlebte, wusste ich es genau: Ich wurde Zeuge der Geburt einer neuen Art der Medizin, bei der man Zellen als Hilfsmittel zur Bekämpfung von Krankheiten zweckentfremdet – man könnte von Zelltechnik sprechen. Gleichzeitig handelte es sich aber auch um die Neuauflage einer jahrhundertealten Geschichte. Wir sind aus Zelleinheiten aufgebaut. Unsere Verletzlichkeit erwächst aus der Verletzlichkeit von Zellen. Unsere Fähigkeiten, Zellen (im Fall von Sam wie auch von Emily Immunzellen) zu verändern oder zu manipulieren, ist zur Grundlage einer neuartigen Medizin geworden – aber diese Medizin ist noch im Entstehen begriffen. Die Vertiefung unserer Kenntnisse über Zellen führte zur Geburt der Zellmedizin, und die wiederum wird den Verlauf unserer Zukunft verändern. Eigentlich ist das schon geschehen. Hätten wir gewusst, wie wir Sams Immunzellen effizienter gegen sein Melanom hätten einsetzen können, ohne den Autoimmunangriff in Gang zu setzen: Wäre er dann heute noch am Leben und würde, den Spiralblock in der Hand, für eine Zeitschrift seine Sportberichte schreiben?

Zwei neue Menschen, zwei Beispiele für die Manipulation und Umgestaltung von Zellen. Bei Emily reichte unser Wissen über die biologischen Eigenschaften der T-Zelle anscheinend aus, um eine tödliche Krankheit seit über einem Jahrzehnt und hoffentlich für ihr ganzes weiteres Leben in Schach zu halten. Bei Sam dagegen fehlten uns offensichtlich noch einige entscheidende Kenntnisse darüber, wie man die Angriffe der T-Zellen auf den Krebs und auf das eigene Ich ins Gleichgewicht bringen kann.

Was wird die Zukunft bringen? Eines möchte ich klarstellen: Ich verwende überall in diesem Buch und auch in seinem Titel die Formulierung »neuer Mensch«. Das meine ich in einem genau umrissenen Sinn. Es geht mir ausdrücklich nicht um die »neuen Menschen«, die in Science-Fiction-Zukunftsvisionen vorkommen: mit KI verbesserte, von Robotern unterstützte, mit Infrarot ausgestattete, blaue Pillen schluckende Lebewesen, die fröhlich die realen wie auch die virtuellen Welten bevölkern wie Keanu Reeves im schwarzen Gewand. Und ich meine auch nicht die »transhumanen« Menschen mit verbesserten Fähigkeiten, die über jene, die wir derzeit besitzen, hinausgehen.

Vielmehr meine ich einen erneuerten Menschen mit abgewandelten Zellen, der (im Wesentlichen) aussieht wie du und ich. Eine Frau mit lähmenden, hartnäckigen Depressionen, deren Nervenzellen (Neuronen) mit Elektroden stimuliert werden. Ein kleiner Junge, der sich einer experimentellen Knochenmarktransplantation mit genetisch veränderten Zellen unterzieht und damit von der Sichelzellenkrankheit geheilt wird. Ein Typ-1-Diabetiker, bei dem seine eigenen, modifizierten Stammzellen das Hormon Insulin produzieren und damit im Blut eine normale Konzentration der Glucose, des Treibstoffs unseres Organismus, aufrechterhalten. Ein Achtzigjähriger, dem man nach mehreren Herzinfarkten ein Virus spritzt, damit es sich in seiner Leber ansiedelt und auf Dauer den Cholesterinspiegel niedrig hält und damit die Verstopfung der Arterien verhindert, sodass die Gefahr einer weiteren Beeinträchtigung des Herzens sinkt. Ich meine meinen Vater, dem eingepflanzte Neuronen oder ein neuronenstimulierendes Gerät einen stabileren Gang verschafft, sodass er nicht den Sturz erleidet, der zu seinem Tod führt.

Ich finde solche »neuen Menschen« und die zellbiologischen Methoden zu ihrer Schaffung weitaus spannender als ihre imaginären Science-Fiction-Entsprechungen. Wir haben diese Menschen verändert, um Leiden zu lindern. Dazu haben wir eine Wissenschaft genutzt, die mit unvorstellbarer Mühe und Liebe geschaffen und gestaltet werden musste, aber auch eine Technologie, die so genial ist, dass sie fast unwirklich erscheint: Man verschmilzt eine Krebszelle mit einer Immunzelle und erzeugt so eine unsterbliche Zelle, die Krebs heilen kann; oder man entnimmt eine T-Zelle aus dem Körper eines kleinen Mädchens, verändert sie mit einem Virus, macht sie so zur Waffe gegen Leukämie und schleust sie wieder in den Organismus ein. Solche neuen Menschen werden wir in praktisch jedem Kapitel dieses Buchs kennenlernen. Und wir werden nicht nur erfahren, wie man Körper und Körperteile mit Zellen neu aufbaut, sondern wir werden die neuen Menschen auch in Gegenwart und Zukunft wiedertreffen: in Cafés, Supermärkten, Bahnhöfen und Flughäfen; in Wohnvierteln und in unserer eigenen Familie. Wir werden sie unter unseren Verwandten und Großeltern, unseren Eltern und Geschwistern finden – und vielleicht auch in uns selbst.

In noch nicht einmal zwei Jahrhunderten – vom Ende der 1830er-Jahre, als die Wissenschaftler Matthias Schleiden und Theodor Schwann die Ansicht vertraten, dass alle Tier- und Pflanzengewebe aus Zellen bestehen, bis zum Frühjahr von Emilys Genesung – verbreitete sich in Biologie und Medizin eine radikal neue Vorstellung, die beide Wissenschaften in allen Aspekten berührte und für alle Zeiten veränderte: Jedes komplexe Lebewesen ist eine Ansammlung winziger abgegrenzter, sich selbst regulierender Einheiten – lebender Kammern, wenn man so will, oder »lebender Atome«, wie der niederländische Mikroskopiker Antoni van Leeuwenhoek sie 1676 nannte.22 Jeder Mensch ist ein Ökosystem aus solchen lebendigen Einheiten. Wir sind Ansammlungen von Pixeln, zusammengesetzte Gebilde, deren Dasein das Ergebnis einer zusammenwirkenden Anhäufung ist.

Wir sind eine Summe von Teilen.

Die Entdeckung der Zellen und das neue Bild vom menschlichen Organismus als Ökosystem von Zellen führten auch zur Entstehung einer neuen Form der Medizin, deren Grundlage die therapeutische Veränderung von Zellen war. Oberschenkelhalsbruch, Herzstillstand, Immunschwäche, Alzheimer-Demenz, AIDS, Lungenentzündung, Lungenkrebs, Nierenversagen, Arthritis – sie alle sind der neuen Vorstellung entsprechend die Folge, wenn Zellen oder Zellsysteme nicht normal funktionieren. Und alle kann man als Schauplätze einer Zelltherapie betrachten.

Der Wandel der Medizin, der durch unsere neuen Kenntnisse über Zellbiologie möglich wurde, lässt sich ganz grob in vier Kategorien einteilen.

Die erste betrifft die Anwendung von Medikamenten, chemischen Substanzen oder physikalischer Stimulation mit dem Ziel, die Eigenschaften der Zellen zu beeinflussen – ihre Interaktionen, ihre Kommunikation und ihr Verhalten. Antibiotika gegen Krankheitserreger, Chemotherapie und Immuntherapie gegen Krebs, Neuronenstimulation mit Elektroden zur Beeinflussung der Nervenschaltkreise gehören zu dieser Kategorie.

In die zweite Kategorie fällt die Übertragung von Zellen zwischen Organismen (einschließlich der Rückübertragung in den eigenen Körper); Beispiele sind Bluttransfusion, Knochenmarktransplantation und In-vitro-Befruchtung (IVF).

Die dritte umfasst den Einsatz von Zellen zur Synthese einer Substanz wie Insulin oder Antikörper, die dann zu therapeutischen Zwecken verwendet wird.

Die vierte Kategorie ist erst in jüngster Zeit hinzugekommen: die genetische Abwandlung von Zellen mit nachfolgender Transplantation zur Erzeugung von Zellen, Organen und Organismen mit neuen Eigenschaften.

Manche dieser Therapieverfahren, darunter Antibiotika und Bluttransfusion, haben in der medizinischen Praxis einen so festen Platz, dass wir sie kaum als »Zelltherapie« wahrnehmen. Ihren Ursprung haben sie aber in unseren Kenntnissen über Zellbiologie (die Keimtheorie war, wie wir in Kürze genauer erfahren werden, eine Erweiterung der Zelltheorie). Manch andere, so die Immuntherapie gegen Krebs, sind Entwicklungen des 21. Jahrhunderts. Wieder andere, beispielsweise die Infusion abgewandelter Stammzellen zur Diabetesbehandlung, sind ganz neu und gelten als experimentell. Aber all diese Verfahren, ob alt oder neu, sind »Zelltherapie«, denn sie basieren entscheidend auf unseren Kenntnissen über die Biologie der Zellen. Und jeder Fortschritt hat den Weg der Medizin ebenso verändert wie unsere Vorstellungen davon, was es heißt, ein Mensch zu sein und als Mensch zu leben.

Im Jahr 1922 wurde ein Vierzehnjähriger mit Typ-1-Diabetes aus dem Koma aufgeweckt – oder eigentlich neu geboren –, indem man ihm Insulin aus der Bauchspeicheldrüse eines Hundes verabreicht hatte. Als Emily Whitehead 2010 ihre Infusion mit CAR-T-Zellen (chimeric antigen receptor cells, Zellen mit Antigenrezeptor-Chimären) erhielt, oder als zwölf Jahre später die ersten Patienten mit Sichelzellanämie überlebten und mit genetisch veränderten Blutstammzellen von ihrer Krankheit befreit wurden, erlebten wir einen Übergang vom Jahrhundert des Gens zu einem sich anschließenden und sich mit ihm überschneidenden Jahrhundert der Zelle.23

Eine Zelle ist die Einheit des Lebens. Aber das wirft eine weiter reichende Frage auf: Was ist eigentlich »Leben«? Es dürfte eines der metaphysischen Dilemmata in der Biologie sein, dass wir uns immer noch damit herumschlagen, genau das zu definieren, was uns definiert. Eine Definition des Lebens kann sich nicht auf eine einzelne Eigenschaft gründen. Der ukrainische Biologe Serhiy (oder Sergey, wie er oft genannt wurde) Tsokolov formulierte es so: »Jede Theorie, Hypothese oder Sichtweise macht sich Definitionen des Lebens in Übereinstimmung mit ihren eigenen wissenschaftlichen Interessen und Voraussetzungen zu eigen. Es gibt im wissenschaftlichen Diskurs Hunderte von funktionierenden, üblichen Definitionen des Lebens, aber über keine davon konnte man einen Konsens herstellen.«24 (Und Tsokolov, der leider 2009 auf dem Höhepunkt seiner intellektuellen Laufbahn starb, konnte ein Lied davon singen, denn für ihn war die Angelegenheit besonders ärgerlich: Er war Astrobiologe; in seiner Forschung ging es darum, Leben außerhalb der Erde zu finden. Aber wie kann man Leben finden, wenn Wissenschaftler Schwierigkeiten haben, den Begriff überhaupt zu definieren?)

Die Definition des Lebens ist nach heutigem Stand so etwas wie eine Speisekarte. Sie besteht nicht aus einem Posten oder einer einzigen Eigenschaft, sondern aus einer ganzen Reihe von Dingen, einer Gruppe von Verhaltensweisen, einer Abfolge von Prozessen. Damit man einen Organismus als lebendig bezeichnen kann, muss er in der Lage sein, sich fortzupflanzen, zu wachsen, Stoffwechsel zu betreiben, sich auf Reize einzustellen und ein inneres Milieu aufrechtzuerhalten. Komplexe, vielzellige Lebewesen besitzen darüber hinaus »emergente« Eigenschaften, wie man sie nennen könnte25: Eigenschaften, die aus Systemen von Zellen erwachsen wie die Mechanismen, sich gegen Verletzungen und eingedrungene Lebewesen zu verteidigen, Organe mit spezialisierten Funktionen, physiologische Systeme der Kommunikation zwischen Organen, ja sogar Empfindungsfähigkeit und Kognition. Dass all diese Eigenschaften letztlich in den Zellen oder Zellsystemen angesiedelt sind, ist kein Zufall. In einem gewissen Sinn kann man Leben also als den Besitz von Zellen definieren und Zellen als Gebilde, die Leben besitzen.26

Eine solche rekursive Definition ist nicht unsinnig. Hätte Tsokolov sein erstes astrobiologisches Wesen kennengelernt – beispielsweise einen ektoplasmatischen Alien von Alpha Centauri – und sich gefragt, ob er/sie/es »lebendig« ist oder nicht, hätte er überprüfen können, ob dieses Wesen der Liste der Eigenschaften von Lebewesen entspricht. Er hätte aber das Wesen auch fragen können: »Hast du Zellen?« Sich Leben ohne Zellen vorzustellen, ist schwierig, und ebenso ist es unmöglich, sich Zellen ohne Leben auszumalen.

Diese Tatsache macht vielleicht deutlich, wie wichtig die Geschichte der Zellen ist: Wir müssen Zellen verstehen, wenn wir den Körper des Menschen verstehen wollen. Wir brauchen sie, um die Medizin zu verstehen. Vor allem aber brauchen wir die Geschichte der Zellen, um die Geschichte des Lebens und unseres eigenen Ichs zu erzählen.

Was ist eine Zelle überhaupt? In einem eng gefassten Sinn ist sie eine selbstständige lebende Einheit, die als Decodierungsapparat für ein Gen tätig wird. Gene liefern Anweisungen – einen Code, wenn man so will – für den Aufbau der Proteine, jener Moleküle, die in einer Zelle praktisch alle Tätigkeiten verrichten. Proteine ermöglichen biologische Reaktionen, koordinieren Signale innerhalb der Zelle, bilden ihre Strukturelemente und schalten Gene ein oder aus, um so die Identität, den Stoffwechsel, das Wachstum und den Tod der Zelle zu steuern. Sie sind in der Biologie die zentralen Funktionsträger, die Molekülmaschinen, die Leben ermöglichen.27 Die Gene mit dem Code zum Aufbau der Proteine liegen in der Desoxyribonukleinsäure (DNA), einem doppelsträngigen, spiralförmigen Molekül, das in den Molekülen seinerseits in wurstförmigen Gebilden verpackt ist, den Chromosomen. Soweit wir wissen, ist DNA in jeder lebenden Zelle vorhanden (außer sie wurde von der Zelle ausgestoßen). In der Wissenschaft hat man vielfach nach Zellen gesucht, in denen nicht DNA, sondern andere Moleküle – beispielsweise RNA – die Anweisungen tragen, aber bisher hat man solche Zellen mit RNA-codierten Anweisungen nie gefunden.

Mit Decodierung meine ich, dass Moleküle innerhalb einer Zelle bestimmte Abschnitte der genetischen Information ablesen wie Musiker in einem Orchester, die ihre Stimme aus einer Partitur spielen; auf diese Weise prägen sich die Anweisungen aus den Genen – das individuelle Lied der Zelle – physisch in Form von Proteinen aus. Oder einfacher gesagt: Ein Gen trägt die Information, die Zelle entschlüsselt diese Information. Eine Zelle wandelt also Informationen mithilfe des genetischen Codes in Proteine um. Ein Gen ohne Zelle lebt nicht – es ist eine Bauanleitung in einem unbeteiligten Molekül, eine Musikpartitur ohne Musiker, eine einsame Bibliothek, in der niemand die Bücher liest. Erst die Zelle verleiht einer Gruppe von Genen materielles und physisches Dasein. Man könnte sagen: Die Zelle belebt die Gene.

Aber eine Zelle ist nicht nur eine Gen-Decodierungsmaschine. Nachdem sie die genetische Information umgesetzt und eine bestimmte Gruppe von Proteinen synthetisiert hat, die in ihren Genen codiert sind, wird die Zelle zu einer Integrationsvorrichtung. Sie nutzt die Proteine (und die von ihnen erzeugten biochemischen Produkte) und verbindet sie miteinander: Durch Koordination ihrer Funktionen und Verhaltensweisen (Bewegung, Stoffwechsel, Signalübertragung, Lieferung von Nährstoffen an andere Zellen, Beobachtung fremder Objekte) erzeugt sie die Eigenschaften des Lebens. Und dieses Verhalten manifestiert sich seinerseits als Verhalten des Lebewesens. Der Stoffwechsel eines Organismus geht auf den Stoffwechsel der Zelle zurück. Die Fortpflanzung eines Organismus geht auf die Fortpflanzung einer Zelle zurück. Reparatur, Überleben und Tod eines Organismus gehen auf Reparatur, Überleben und Tod von Zellen zurück. Das Verhalten eines Organs oder eines Organismus wurzelt im Verhalten einer Zelle. Das Leben eines Organismus wurzelt im Leben einer Zelle.

Und schließlich ist die Zelle eine Teilungsmaschine. Moleküle in ihrem Inneren – wiederum Proteine – setzen den Prozess der Genomverdoppelung in Gang. Der innere Aufbau der Zelle ändert sich. Die Chromosomen, in denen das genetische Material der Zelle physisch angesiedelt ist, teilen sich. Zellteilung treibt Wachstum, Reparatur, Regeneration und letztlich die Fortpflanzung voran, alles grundlegende, definierende Merkmale des Lebens.

Ich habe mich während meines ganzen Lebens den Zellen gewidmet. Jedes Mal, wenn ich eine davon strahlend, glitzernd und lebendig unter dem Mikroskop sehe, erlebe ich wieder den gleichen Nervenkitzel wie damals, als ich zum ersten Mal eine Zelle betrachtete. An einem Freitagnachmittag im Herbst 1993, ungefähr eine Woche nachdem ich als Doktorand an das Institut von Alain Townsend an der Universität Oxford gekommen war, um Immunologie zu studieren, hatte ich die Milz einer Maus zerkleinert und die blutige Masse zusammen mit Faktoren, mit denen ich die T-Zellen stimulieren wollte, auf eine Petrischale gestrichen. Das Wochenende verging, und am Montagmorgen schaltete ich das Mikroskop ein. Der Raum war so schwach erleuchtet, dass man nicht einmal die Vorhänge zuziehen musste – in der Stadt Oxford herrschte immer gedämpftes Licht (wenn das wolkenlose Italien ein für Teleskope gemachtes Land ist, dann ist das neblige, düstere England wie geschaffen für Mikroskope). Ich legte die Schale unter das Objektiv. Unter der Zellkulturnährlösung lagen Massen durchsichtiger, nierenförmiger T-Zellen, und die besaßen etwas, was ich nur als inneres Glühen und leuchtende Üppigkeit bezeichnen kann – die Anzeichen für gesunde, aktive Zellen. (Wenn Zellen sterben, lässt das Glühen nach; dann schrumpfen sie und werden körnig oder pyknotisch, um den Jargon der Zellbiologen zu benutzen.)

»Als ob Augen mich ansehen«, flüsterte ich mir selbst zu. Und zu meinem Erstaunen bewegte sich die T-Zelle: Gezielt und voller Absicht suchte sie eine infizierte Zelle, die sie beseitigen und töten konnte. Sie war lebendig.

Jahre später war es dann nicht weniger spannend und faszinierend, die zellbiologische Revolution mitzuerleben, die sich bei Menschen abspielte. Als ich Emily Whitehead in einem neonbeleuchteten Korridor vor dem Hörsaal der University of Pennsylvania zum ersten Mal begegnete, war mir, als hätte sie mir gestattet, in ein Tor einzutreten, das Zukunft und Vergangenheit verbindet. In meiner Ausbildung hatte ich mich zunächst mit Immunologie, dann mit Stammzellforschung und schließlich mit Krebsbiologie beschäftigt, bevor ich zum medizinischen Onkologen wurde.28 Emily verkörperte all diese vergangenen Leben: nicht nur meines, sondern – noch wichtiger – das Leben und die Anstrengungen vieler Tausend Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die während Tausenden von Tagen und Nächten in Tausende von Mikroskopen geblickt hatten. Sie verkörperte unseren Wunsch, zum leuchtenden Herz der Zelle vorzudringen und seine endlos fesselnden Rätsel zu lüften. Und sie verkörperte unser sehnliches Bestreben, Zeugen der Geburt einer neuen Medizin zu werden, der Zelltherapie, deren Grundlage die von uns entschlüsselte Physiologie der Zellen ist.

Den umgekehrten Schauer erlebte ich, als ich meinen Freund Sam in seinem Krankenzimmer besuchte und zusehen musste, wie er Woche für Woche von Remission und Rückfällen gequält wurde. Dieses Mal erlebte ich das Gegenteil: nicht Begeisterung, sondern das Bewusstsein dafür, wie viel noch zu lernen und zu wissen blieb. Als Onkologe beschäftige ich mich mit Zellen, die außer Rand und Band geraten sind; Zellen, die Räume besetzen, in denen sie nichts zu suchen haben; Zellen, die sich unkontrolliert teilen. Solche Zellen stören genau die Verhaltensweisen, die ich in diesem Buch beschreibe, und werfen sie über den Haufen. Ich versuche zu verstehen, warum und wie das geschieht. Gewissermaßen bin ich ein Zellbiologe, der in einer auf dem Kopf stehenden Welt gefangen ist. Die Geschichte der Zellen ist in das Geflecht meines wissenschaftlichen und persönlichen Lebens verwoben.

Während ich zwischen den ersten Monaten des Jahres 2020 bis 2022 eifrig schrieb, fraß sich die Covid-19-Pandemie wie ein Flächenbrand um den Erdball. Mein Krankenhaus, meine Wahlheimat New York und mein Heimatland wurden von Kranken und Toten überschwemmt. Im Februar 2020 waren die Intensivbetten am Columbia University Medical Center, an dem ich arbeite, vollständig belegt. Patienten erstickten an ihren eigenen Ausscheidungen, während mechanische Beatmungsgeräte Luft in ihre Lungen pumpten und wieder heraussaugten. Der Vorfrühling des Jahres 2020 war eine besonders düstere Zeit: New York war nicht mehr wiederzuerkennen – die Stadt hatte sich in eine windumtoste Metropole mit leeren Bürgersteigen und Straßen verwandelt, in der Menschen sich vor anderen Menschen versteckten. Fast ein Jahr später, im April und Mai 2021, rollte die tödlichste Welle über Indien. Dort wurden Leichen auf Parkplätzen, in abgelegenen Gassen, in Slums und auf Kinderspielplätzen verbrannt. In den Krematorien brannte das Feuer so oft und so heftig, dass die Metallroste, auf denen die Toten lagen, korrodierten und schmolzen.

Ich selbst saß anfangs in einem Arbeitszimmer im Krankenhaus, und später, als die Krebsklinik bis auf ein Mindestmaß heruntergefahren wurde, isolierte ich mich zu Hause mit meiner Familie. Ich starrte aus dem Fenster zum Horizont und dachte immer noch an Zellen. An Immunität und ihre Schwachpunkte. Die Virologin Akiko Iwasaki von der Yale University erklärte mir, der wichtigste von SARS-CoV2 (dem severe acute respiratory syndrome coronavirus 2, meist kurz »Corona« genannt) ausgelöste Krankheitsprozess sei eine »immunologische Fehlzündung« – eine Regulationsstörung der Immunzellen.29 Ich hatte den Begriff zuvor noch nie gehört, aber er hatte für mich eine große Durchschlagskraft: Auch diese Pandemie war im Kern eine Krankheit der Zellen. Ja, da war das Virus, aber Viren sind ohne Zellen untätig und leblos. Erst unsere Zellen hatten die Seuche zum Leben erweckt. Wenn wir die Pandemie verstehen wollten, mussten wir uns wieder darauf konzentrieren, nicht nur die Eigenheiten des Virus, sondern auch die Immunzellen und ihre Fehlfunktionen zu verstehen.

Eine Zeit lang schien es so, als würde jeder Weg und Umweg meiner Gedanken mich immer wieder zurück zu den Zellen führen. Ich weiß nicht genau, inwieweit ich dieses Buch ins Leben gebracht habe und inwieweit dieses Buch von mir gefordert hat, es zu schreiben.

In Der König aller Krankheiten habe ich von den drängenden Bestrebungen berichtet, eine Heilung für Krebs zu finden oder ihm vorzubeugen. In Das Gen ging es um die Bestrebungen, den Code des Lebendigen zu entschlüsseln. Das Lied der Zelle nimmt uns mit auf eine ganz andere Reise: Wir wollen das Leben unter dem Gesichtspunkt seiner einfachsten Einheit verstehen – der Zelle. Dieses Buch handelt nicht von der Suche nach Heilung oder von der Entschlüsselung eines Codes. Einen einzelnen Feind gibt es nicht. Die Menschen, die darin vorkommen, wollen das Leben verstehen, indem sie Anatomie, Physiologie und Verhalten einer Zelle verstehen, aber auch ihre Wechselwirkungen mit umgebenden Zellen. Die Musik einer Zelle. Und medizinisch streben sie danach, eine Zelltherapie zu finden, die Bausteine der Menschen zu nutzen, um Menschen neu aufzubauen und zu reparieren.

Deshalb konnte ich mich nicht für eine chronologische Darstellung entscheiden, sondern ich musste einen ganz anderen Aufbau wählen. Jeder Teil des Buchs greift eine grundlegende Eigenschaft komplexer Lebewesen auf und befasst sich mit ihrer Geschichte. Jeder Teil ist eine kleine historische Darstellung – eine Chronologie der Entdeckungen. Jeder Teil beleuchtet eine grundlegende Eigenschaft des Lebendigen (Fortpflanzung, Selbstständigkeit, Stoffwechsel), die ihre Wurzeln in einem bestimmten System von Zellen hat. Und in jedem Teil ist von der Geburt einer neuen zellbiologischen Methode die Rede (zum Beispiel von Knochenmarktransplantation, In-vitro-Befruchtung, Gentherapie, Tiefer Hirnstimulation, Immuntherapie), die aus unseren Kenntnissen über Zellen erwächst und unsere Vorstellungen über Aufbau und Funktionsweise der Menschen infrage stellt. Das Buch selbst ist eine Summe von Teilen: Historische und persönliche Geschichten, Physiologie und Pathologie, Vergangenheit und Zukunft werden zu einem Ganzen versponnen. Es ist, wenn man so will, ein Aufbau aus Zellen.

Als ich dieses Projekt im Winter 2019 in Angriff nahm, wollte ich das Buch ursprünglich Rudolf Virchow widmen. Ich war eingenommen von diesem zurückhaltenden, progressiven Mann der leisen Töne30, einem Arzt und Wissenschaftler, der sich den pathologischen gesellschaftlichen Kräften seiner Zeit widersetzte, das freie Denken befürwortete, ein Vorreiter des öffentlichen Gesundheitswesens war, Rassismus verabscheute, eine eigene Fachzeitschrift herausbrachte, sich einen einzigartigen, selbstsicheren Weg durch die Medizin bahnte und die Fundamente für die Erforschung der Krankheiten in Organen und Geweben legte, die sich auf Fehlfunktionen von Zellen stützten – die »Zellularpathologie«, wie er sie nannte.31

Aber am Ende kam ich auf einen Patienten und Freund zurück, dessen Krebs mit einer neuartigen Immuntherapie behandelt wurde, und auf Emily Whitehead – beide haben uns Wege zu neuen Erkenntnissen über Zellen und Zelltherapie eröffnet. Sie gehörten zu den Ersten, die unsere Bemühungen miterlebten, Zellen für die Therapie nutzbar zu machen und die Zellularpathologie in eine Zellmedizin zu verwandeln – was zum Teil gelungen ist, zum Teil aber auch nicht. Ihnen und ihren Zellen ist dieses Buch gewidmet.

TEIL 1  Entdeckung

Einleitung

Wir beide, du und ich, waren anfangs nur einzelne Zellen.

Unsere Gene sind – allerdings nur geringfügig – unterschiedlich. Unsere Körper haben sich auf unterschiedlichen Wegen entwickelt. Unsere Haut, unsere Haare, unsere Knochen, unser Gehirn, alle sind unterschiedlich aufgebaut. Unsere Lebenserfahrungen unterscheiden sich stark. Ich habe zwei Onkel durch eine seelische Krankheit verloren. Meinen Vater habe ich durch einen Teufelskreis im Gefolge eines Sturzes verloren. Ein Knie durch Arthritis. Einen Freund – viele Freunde – durch Krebs.

Aber obwohl zwischen unseren Körpern und unseren Erfahrungen so große Lücken klaffen, haben du und ich zwei Eigenschaften gemeinsam. Erstens ist jeder von uns aus einem Embryo hervorgegangen, der aus einer einzigen Zelle bestand. Und zweitens sind aus dieser einen Zelle viele geworden – die Zellen, die deinen und meinen Körper bevölkern. Wir sind aus den gleichen materiellen Einheiten aufgebaut wie zwei unterschiedliche Materieklumpen, die aus den gleichen Atomen bestehen.

Woraus bestehen wir? Manche antiken Denker glaubten, wir würden aus Menstruationsblut erschaffen, das sich zu einem Körper verfestigt. Andere glaubten, wir seien vorgeformt – kleine Miniwesen, die sich im Lauf der Zeit aufblähten wie Luftballons in Menschengestalt, die für einen Festtagsumzug aufgeblasen werden. Manche meinten, die Menschen seien aus Schlamm und Flusswasser geformt worden. Manche glaubten, wir würden uns im Mutterleib allmählich aus kaulquappenähnlichen Wesen in Geschöpfe mit Fischmaul und schließlich in Menschen verwandeln.

Würden wir aber durch ein Mikroskop auf deine und meine Haut oder deine und meine Leber blicken, so würden wir feststellen, dass sie auffallend ähnlich sind. Und wir würden erkennen, dass wir tatsächlich alle aus lebendigen Einheiten aufgebaut sind: den Zellen. Die erste Zelle brachte mehr Zellen hervor, aus denen durch Teilung noch mehr Zellen entstanden, bis sich allmählich unsere Leber, unser Darm und unser Gehirn bildeten, all die komplizierten anatomischen Elemente des Organismus.

Wann wurde uns klar, dass Menschen tatsächlich aus eigenständigen, lebenden Einheiten zusammengesetzt sind? Oder dass diese Einheiten die Grundlage aller Funktionen bilden, die ein Organismus erfüllen kann – mit anderen Worten: dass unsere Physiologie letztlich in der Physiologie der Zellen wurzelt? Und umgekehrt: Seit wann gehen wir davon aus, dass unser medizinisches Schicksal und unsere Zukunft untrennbar mit den Veränderungen in diesen lebenden Einheiten verbunden sind? Dass unsere Krankheiten die Folge einer Zellularpathologie sind?

Solchen Fragen – und damit auch der Geschichte einer Entdeckung, die Biologie, Medizin und unseren Begriff vom Menschen betraf und radikal veränderte – wenden wir uns als Erstes zu.

KAPITEL 1  Die ursprüngliche Zelle

Eine unsichtbare Welt

Aechtes Wissen ist sich des Nicht-Wissens bewußt.

– Rudolf Virchow in einem Brief an seinen Vater, 184232

Zunächst einmal müssen wir dankbar sein, dass Rudolf Virchow so eine leise Stimme hatte.33 Virchow wurde am 13. Oktober 1821 im preußischen Pommern (das heute zwischen Polen und Deutschland aufgeteilt ist) geboren. Sein Vater Carl war Bauer und Stadtkämmerer. Über seine Mutter Johanna Virchow, geborene Hesse, wissen wir nur wenig. Rudolf war ein gewissenhafter, intelligenter Student – nachdenklich, aufgeweckt und sprachbegabt. Er lernte Deutsch, Französisch, Arabisch und Latein und wurde für seine Studienleistungen ausgezeichnet.

Mit 18 Jahren schrieb er an der Oberschule einen Aufsatz mit der Überschrift »Ein Leben voller Arbeit und Mühe ist keine Last, sondern eine Wohltat« und begann, sich auf eine Berufslaufbahn im Klerus vorzubereiten. Er wollte Pastor werden und vor einer Gemeinde predigen. Aber Virchow machte sich Sorgen wegen seiner schwachen Stimme. Glaube erwuchs aus der Stärke der Inspiration, und Inspiration aus der Stärke der Redekunst. Aber wenn nun niemand hören konnte, was er von der Kanzel vermittelte? Da schienen ihm Medizin und Wissenschaft für einen zurückhaltenden, fleißigen, sanftmütigen Jungen passender zu sein. Nachdem er 1839 das Abitur gemacht hatte, erhielt er ein Militärstipendium und studierte Medizin am Friedrich-Wilhelms-Institut in Berlin.

Die Welt der Medizin, in die Virchow Mitte des 19. Jahrhunderts eintrat, gliederte sich mehr oder weniger in zwei Disziplinen: Anatomie und Pathologie. Die erste war relativ weit entwickelt, die zweite dagegen steckte noch in einem ziemlichen Kuddelmuddel. Die Anatomen hatten Form und Aufbau des menschlichen Körpers seit dem 16. Jahrhundert zunehmend genau beschrieben. Der bekannteste Anatom aller Zeiten war der flämische Wissenschaftler Andreas Vesalius, der als Professor an der Universität im italienischen Padua arbeitete.34 Der Sohn eines Apothekers kam 1533 nach Paris, wo er Chirurgie studierte und praktizierte. Dabei stellte er fest, dass in der chirurgischen Anatomie ein völliges Durcheinander herrschte. Es gab nur wenige Lehrbücher und keinen systematischen Bauplan des menschlichen Körpers. Die meisten Chirurgen und ihre Studenten stützten sich im weitesten Sinne auf die anatomischen Lehren des römischen Arztes Galen, der von 129 bis 216 n. Chr. gelebt hatte. Galens jahrhundertealte Abhandlungen über die Anatomie des Menschen stützten sich auf Untersuchungen an Tieren. Sie waren vollkommen veraltet und in vielen Fällen regelrecht falsch.

Der Keller des Pariser Hospitals Hôtel-Dieu, wo man verwesende Leichen sezierte, war ein muffiger, unbelüfteter, spärlich erleuchteter Raum, in dem halbwilde Hunde unter den Tischen herumstreiften und an allem knabberten, was herunterfiel – Vesalius bezeichnete einen solchen Anatomiesaal einmal als »Fleischmarkt«. Die Professoren »saßen auf erhöhten Stühlen und gackerten wie die Dohlen«, schrieb er; gleichzeitig hackten die Assistenten wahllos auf die Leichen ein und zerrten Organe und andere Körperteile heraus, als würden sie die Watte aus einem Plüschspielzeug ziehen.35

»Die Ärzte versuchten nicht einmal, zu schneiden«, schrieb Vesalius verbittert, »und die Barbiere, denen man das Handwerk der Chirurgie übertragen hatte, waren zu unwissend und verstanden die Schriften der Professoren über das Sezieren nicht … Sie zerhacken einfach die Dinge, die ihnen nach Anweisung des Arztes gezeigt werden, und der, der selbst nie Hand an das Schneiden gelegt hat, steuert das Boot einfach mit seinen Kommentaren – und das nicht ohne Hochmut. So werden alle Dinge falsch gelehrt, und die Tage vergehen mit törichten Disputen. Den Zuschauern des Tumults werden weniger Tatsachen vorgelegt, als ein Metzger sie einem Arzt auf seinem Fleischmarkt zeigen könnte.« So gelangte er zu dem düsteren Schluss: »Abgesehen von den acht Bauchmuskeln, die schrecklich zugerichtet und in der falschen Reihenfolge waren, hatte mir nie jemand einen Muskel gezeigt, ebenso wenig einen Knochen und noch viel weniger die Abfolge der Nerven, Venen und Arterien.«

Frustriert und verwirrt entschloss sich Vesalius, einen eigenen Atlas des menschlichen Körpers zu erstellen. Oft zog er zweimal am Tag durch die Leichenhäuser in der Nähe des Krankenhauses und suchte nach Toten, die er in sein Labor bringen konnte. Die Gräber auf dem Friedhof der Unschuldigen, die häufig der Luft ausgesetzt waren, sodass die Leichen bis auf die Knochen verwesten, lieferten ihm ausgezeichnet erhaltenes Material für seine Zeichnungen des Skeletts. Und als Vesalius am Gibet de Montfaucon vorüberkam, dem riesigen dreistöckigen Galgen von Paris, sah er dort tote Sträflinge hängen. Heimlich nahm er frisch gehenkte Leichen mit, deren Muskeln, innere Organe und Nerven noch so weit intakt waren, dass er sie Schicht für Schicht abtragen und die Lage der Organe aufzeichnen konnte.

Die gewissenhaften Zeichnungen, die Vesalius im Lauf der nächsten zehn Jahre anfertigte, bedeuteten für die anatomische Erforschung des Menschen eine Umwälzung.36 Nebenbei schnitt er auch das Gehirn in horizontale Scheiben wie eine Melone, die von der Spitze her aufgeschnitten wird; auf diese Weise schuf er Bilder, wie sie ganz ähnlich auch ein moderner Computertomograf (CT) erzeugen würde. Bei anderen Gelegenheiten präparierte er die Blutgefäße über den Muskeln, oder er schnitt die Muskeln lappenförmig auf wie eine Reihe anatomischer Fenster, durch die er die darunter liegenden Oberflächen und Schichten betrachten konnte.

Den Bauch des Menschen zeichnete er, wie man ihn von unten nach oben sehen würde, also aus der gleichen Perspektive, in der auch der italienische Maler Andrea Mantegna den Leichnam Christi im 15. Jahrhundert in seinem Bild Die Beweinung Christi dargestellt hatte; das Bild teilte er in Scheiben auf, wie ein Magnetresonanztomograf (MRT) sie darstellen würde. In Zusammenarbeit mit dem Maler und Drucker Jan van Kalkar schuf er die bis dahin detailliertesten und genauesten Zeichnungen der menschlichen Anatomie. Seine Arbeiten veröffentlichte er 1543 in dem siebenbändigen Werk De Humani Corporis Fabrica (»Über den Aufbau des menschlichen Körpers«).37 Das Wort Fabrica (»Gewebe«) im Titel war ein Hinweis auf Sichtweise und Zweck: Der menschliche Organismus wurde hier nicht als Geheimnis betrachtet, sondern als physisches Material; nicht als Geist, sondern als Gewebe. Das Werk war zum Teil ein medizinisches Lehrbuch mit fast 700 Abbildungen, zum Teil auch eine wissenschaftliche Abhandlung mit Darstellungen und Diagrammen, die für die nachfolgenden Jahrhunderte die Grundlagen für anatomische Untersuchungen an Menschen bildeten.

Zufällig erschien das Werk im gleichen Jahr, in dem auch der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus seine »Anatomie des Himmels« herausbrachte, das denkwürdige Buch De revolutionibus orbium coelestium