Gesetze der Medizin - Siddhartha Mukherjee - E-Book

Gesetze der Medizin E-Book

Siddhartha Mukherjee

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Beschreibung

Siddhartha Mukherjee, Pulitzer-Preisträger und Autor des Bestsellers ›Der König aller Krankheiten: Krebs – eine Biographie‹, fragt sich in seinem TED Book, welchen Gesetzen die Medizin gehorcht. Diese Frage begleitete den Arzt Siddhartha Mukherjee über viele Jahre und mit der Zeit konnte er die wesentlichen Prinzipien der Medizin ausmachen und benennen. Dabei geht es beispielsweise um die wichtige Rolle der Intuition beim Erstellen von Diagnosen. Reich an faszinierenden historischen Details und Erfahrungen aus der modernen Medizin ermöglicht Mukherjees Buch uns ein ganz neues Verständnis von Medizin. Ein wichtiges Buch für Ärzte und Patienten.

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Seitenzahl: 75

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Siddhartha Mukherjee

Gesetze der Medizin

Anmerkungen zu einer ungewissen Wissenschaft

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

FISCHER E-Books

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

[Widmung][Motto]Vor Jahren, als Medizinstudent [...][Abb]Im Winter 2000 – ich [...][Abb][Gesetz Eins][Abb][Gesetz Zwei][Abb][Gesetz Drei][Abb]DankDer TED Talk von [...]Kleine Bücher – große Ideen![Mehr Information]

Für Thomas Bayes (1702–1761), der die Unsicherheit mit solcher Sicherheit sah

»Haben Sie vor, sich später beruflich mit magischem Recht zu befassen, Miss Granger?«, fragte Scrimgeour. »Nein, das habe ich nicht«, entgegnete Hermine. »Ich hoffe, dass ich etwas Gutes in der Welt bewirken kann!«

 

J.K. Rowling,Harry Potter und die Heiligtümer des Todes

 

 

 

 

Die Gelehrten früherer Epochen verwendeten einen Großteil ihrer Zeit und ihrer Gedanken darauf, den verborgenen Krankheitsursachen nachzuspüren, malten sich voller Neugier das geheime Wirken der Natur aus und … formten, indem sie all diese sonderbaren Einfälle zusammensetzten, Systeme und Hypothesen, die ihre Nachforschungen von den wahren, förderlichen Kenntnissen über die Dinge ablenkten.

 

John Locke

Vor Jahren, als Medizinstudent in Boston, sah ich einem erfahrenen Chirurgen dabei zu, wie er eine Frau operierte. Der Chirurg, nennen wir ihn Dr. Castle, galt bei den Assistenzärzten als legendär. Er war etwa eins achtzig groß, ließ mit seinem imposanten, formellen Gehabe jeden Anfänger vor Ehrfurcht in den Clogs erzittern, und seine Sprache, ein gedehntes Näseln, wies ihn unverkennbar dem amerikanischen Süden zu. Sein Körper wirkte elastisch – eher Stahldraht als Eisenträger –, als sei seine Statur eigens dazu geschaffen, den Unterschied zwischen Kondition und Kraft zu verdeutlichen. Er begann seine Visite jeden Morgen um fünf Uhr, begab sich um sechs Uhr fünfzehn in die Operationssäle im Untergeschoss und arbeitete dann ununterbrochen bis zum frühen Abend. Die Wochenenden verbrachte er beim Segeln in der Nähe des Ortes Scituate auf einer einmastigen Slup, der er den Spitznamen The Knife verpasst hatte.

Die Assistenzärzte bewunderten Castle nicht nur seiner präzisen Technik wegen, sondern auch aufgrund der Qualität seiner Lehre. Andere Chirurgen mögen freundlichere, sanftere Instruktoren gewesen sein, doch der Schlüssel zu Castles Lehrmethode war ein überragendes Selbstvertrauen. Er war als Chirurg technisch dermaßen versiert – beherrschte sein Metier so meisterhaft –, dass er den Studenten den Großteil der Operation überließ, wohl wissend, dass er ihre Fehler schon vorhersehen oder gleich darauf korrigieren konnte. Wenn ein Anfänger während einer Operation ein Gefäß verletzte, hätte ein weniger versierter Chirurg sofort nervös eingegriffen, um es zu verschließen. Castle dagegen trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme, sah den Assistenten fragend an und wartete seine Reaktion ab. Kam der Faden zu spät, war Castles Hand – mit der Schnelligkeit und Präzision einer Falkenkralle – sofort zur Stelle, um das blutende Gefäß abzuklemmen und es dann höchstpersönlich zu flicken. Dabei schüttelte er den Kopf, wie um leise »zu klein, zu spät« vor sich hin zu murmeln. Niemals wieder habe ich erlebt, dass gestandene Assistenzärzte, erwachsene Männer und Frauen mit sechs oder acht Jahren Operationserfahrung, durch ein Kopfschütteln dermaßen vernichtet wurden.

Der Fall an dem besagten Morgen war eine Frau um die fünfzig mit einem Tumor mittlerer Größe im unteren Darmbereich. Wir sollten wie üblich um sechs Uhr fünfzehn beginnen, aber der Assistenzarzt, der den Fall übernehmen sollte, hatte sich überraschend krankgemeldet. Schnell wurde ein anderer Assistenzarzt angepiept. Er kam unverzüglich in den OP geeilt und streifte die Handschuhe über. Castle trat vor die Computertomographie-Scans, die über dem fluoreszierenden Leuchtkasten hingen, betrachtete sie eine Weile schweigend und bewegte dann kaum merklich den Kopf, das Signal für den ersten Schnitt. Es folgte ein ehrfürchtiger Moment, als der Assistenzarzt seine Rechte ausstreckte und die Schwester ihm das Skalpell reichte. Die Operation begann ohne Zwischenfall.

Etwa eine halbe Stunde später verlief die Operation noch immer absolut nach Plan. Einige Chirurgen operierten gern zu lauter Musik – beliebt waren Rock’n Roll und Brahms –, Castle jedoch zog die Stille vor. Der Assistenzarzt arbeitete schnell und gut. Castle hatte ihm lediglich den Rat gegeben, den Schnitt zu vergrößern, um den Bauchraum ganz freizulegen. »Was man nicht benennen kann, das kann man auch nicht schneiden«, sagte er.

Doch dann nahm der Fall eine unerwartete Wendung. Als der Arzt sich anschickte, den Tumor herauszuschneiden, leckten mit einem Mal die umliegenden Blutgefäße. Zuerst war es nur ein Tröpfeln, dann folgten etliche Spritzer. In wenigen Minuten war etwa ein Teelöffel Blut in das Operationsfeld gelaufen und behinderte die Sicht. Das sorgfältig freigelegte Gewebe war von einer roten Flut überschwemmt. Castle stand an der Seite, die Hände gefaltet, und sah zu.

Der Assistenzarzt war sichtlich irritiert. Der Schweiß auf seiner Stirn spiegelte die Blutlache vor ihm. »Leidet die Patientin an einer Blutungsstörung?«, fragte er, zunehmend verzweifelt. »Musste sie blutverdünnende Medikamente einnehmen?« Normalerweise hätte er am Vorabend das Krankenblatt der Patientin studiert und sich die Fragen selbst beantworten können – aber er hatte ja auf die Schnelle einspringen müssen.

»Und wenn Sie es nicht wüssten?«, sagte Castle. »Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass auch ich es nicht weiß?« Seine Hände hatten bereits in den Bauchraum der Frau gegriffen und das Gefäß geschlossen. Die Patientin war gerettet, der Assistenzarzt aber mit den Nerven am Ende.

Doch dann schien sich zwischen Castle und seinem Assistenzarzt ein kleiner Erkenntnisblitz entzündet zu haben, einem Lichtbogen gleich. Der Assistenzarzt änderte seinen Ansatz. Er trat an das Kopfende des Operationstisches, um sich mit dem Anästhesisten auszutauschen. Dieser bestätigte ihm, dass die Anästhesie angemessen und die Patientin sicher sediert war. Dann kehrte er zum Operationsfeld zurück und tupfte das restliche Blut mit Gaze auf. Er schnitt, soweit möglich, um die Blutgefäße herum, wobei er ihren Verlauf mit der Spitze seiner Babcock-Pinzette nachzeichnete oder sie überaus zartfühlend mit den Fingern trennte, als säubere er die Saiten einer Stradivari. Kam er einem Blutgefäß zu nah, drehte er die Klinge des Skalpells auf die flache Seite und sezierte mit den Händen, oder er setzte das Messer weiter außen an, damit das Gefäß unberührt blieb. Es dauerte erheblich länger, aber die Blutung hatte aufgehört. Eine Stunde später, während Castle beifällig nickte, schloss der Assistenzarzt den Einschnitt. Der Tumor war entfernt.

Wir gingen schweigend aus dem Operationssaal. »Vielleicht möchten Sie sich jetzt das Krankenblatt ansehen«, sagte Castle. Sein charakteristisches Näseln hatte eine zärtliche Note. »Mit perfekten Informationen fällt es leicht, perfekte Entscheidungen zu fällen. Die Medizin jedoch verlangt von uns perfekte Entscheidungen anhand von Informationen, die alles andere als perfekt sind.«

* * *

In diesem Buch geht es um Informationen, Unvollkommenheit, Ungewissheit und die Zukunft der Medizin. Als ich im Herbst 1995 meine medizinische Ausbildung begann, schien unser Lehrplan den Erfordernissen der Disziplin durchaus Rechnung zu tragen: Ich studierte Zellbiologie, Anatomie, Physiologie, Pathologie und Pharmakologie. Am Ende der vier Jahre konnte ich die fünf Äste des Gesichtsnervs aufzählen, wusste die chemischen Reaktionen zu beschreiben, die während des Proteinstoffwechsels in den Zellen vonstatten gehen, sowie Teile des menschlichen Körpers zu benennen, die zu besitzen mir überhaupt nicht bewusst gewesen war. Jetzt fühlte ich mich bestens für die medizinische Praxis gerüstet.

Doch im weiteren Verlauf meiner Ausbildung – vom intern, über den resident bis hin zum fellow mit Spezialisierung in Onkologie, und schließlich als praktizierender Onkologe – hatte ich zunehmend das Gefühl, dass mir ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung fehlte. Ja, ich brauchte die Prinzipien der Zellbiologie, um zu begreifen, warum beispielsweise eine Blutplättchen-Transfusion bei den meisten Patienten nur zwei Wochen vorhält (Blutplättchen überleben nur etwa zwei Wochen im Körper). Dank meiner anatomischen Kenntnisse konnte ich mir erklären, warum ein Mann nach einem chirurgischen Eingriff mit gelähmtem Unterkörper aus der Narkose erwacht war (eine abnorme Arterie, die das untere Rückgrat versorgt, war von einem Blutgerinnsel blockiert worden, was im Rückgrat, nicht im Gehirn, zu einem »Schlaganfall« geführt hatte). Eine Gleichung aus der Pharmakologie rief mir ins Gedächtnis, warum ein bestimmtes Antibiotikum viermal täglich, sein naher molekularer Verwandter dagegen nur einmal am Tag verabreicht wurde (die beiden Chemikalien zerfallen im Körper unterschiedlich schnell).

Doch derlei Informationen hätte ich auch in einem Buch nachlesen oder mittels eines einzigen Klicks im Internet finden können. Was mir fehlte, war die Information, wie ich mit der Information verfahren sollte – zumal, wenn sie unvollkommen, unvollständig oder ungewiss war. War es richtig, eine vierzigjährige Frau mit akuter Leukämie einer aggressiven Knochenmarktransplantation zu unterziehen, wenn ihre Gesundheit rasch abnahm? Lehrbücher und veröffentlichte klinische Studien hatten nur scheinbar eine Antwort parat. In diesem Fall lautete die Standardmeinung, dass Patienten bei nachlassender Gesundheit und Leistungsfähigkeit keine Transplantation erhalten sollten. Was aber war, wenn diese Antwort gerade für diese Frau mit dieser Krankengeschichte in dieser speziellen Notlage nicht geeignet war? Was war, wenn die Leukämie selbst den raschen Verfall verursachte? Wenn sie mich fragen würde, welche Prognose sie habe, könnte ich natürlich eine Überlebensrate zitieren, die ich einer Studie entnommen hatte – doch was war, wenn sie zu den sogenannten Ausreißern gehörte?