Das Gen - Siddhartha Mukherjee - E-Book

Das Gen E-Book

Siddhartha Mukherjee

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Beschreibung

Die Geschichte einer der mächtigsten und gefährlichsten Ideen der Menschheit Mukherjee kreiert ein ambitioniertes und faszinierendes Panorama über den Versuch, das menschliche Genom zu entschlüsseln und in unser Erbgut einzugreifen. Es beginnt in einem augustinischen Kloster im Jahr 1856 und führt uns von Darwins Evolutionstheorie über die grausame Eugenik der Nationalsozialisten ins heute und darüber hinaus. Indem er seine eigene Familiengeschichte einwebt, die von tragischen psychischen Erkrankungen geprägt ist, führt Mukherjee uns vor Augen, dass die Forschungsergebnisse aus dem Labor einen immensen Einfluss auf unser echtes Leben haben, auf die Zukunft und die Identätit unserer Kinder. Das Gen ist das ultimative Buch über die Geschichte der Genetik und ermöglicht uns einen ehrlichen und erhellenden Blick in die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit. »Mukherjee verpackt abstrakte, intellektuelle Ideen in emotionale Geschichten.« The Washington Post »Leicht verständlich und unterhaltsam, aber ohne grobe Vereinfachungen verknüpft er geschickt große Ereignisse der Wissenschaft mit seiner eigenen Familiengeschichte.« Deutschlandfunk 

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Das Buch

Pulitzer-Preisträger Siddhartha Mukherjee verfasst ein faszinierendes Panorama über den Versuch, das menschliche Genom zu entschlüsseln und in unser Erbgut einzugreifen. Er webt seine eigene Familiengeschichte ein, die von tragischen psychischen Krankheiten geprägt ist. So führt er uns vor Augen, dass die Forschungsergebnisse aus dem Labor einen immensen Einfluss auf unser echtes Leben haben, auf die Zukunft und die Identität unserer Kinder.

Der Autor

Siddhartha Mukherjee ist praktizierender Onkologe am Columbia University Medical Center und Autor. Für sein Buchdebüt Der König aller Krankheiten: Krebs – eine Biographie erhielt er 2011 den Pulitzer-Preis. Auch Das Gen – eine sehr persönliche Geschichte war ein weltweiter Erfolg. Als Experte auf dem Gebiet der Krebs- und Stammzellforschung veröffentlicht er regelmäßig in The New Yorker und der New York Times.

SIDDHARTHA

MUKHERJEE

Das

Gen

Eine sehr persönliche Geschichte

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2782-2

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Februar 2023

© 2016 Siddhartha Mukherjee

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH 2023

© der deutschen Übersetzung S. Fischer Verlag, Frankfurt 2019

S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2022

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Gene: An Intimate History (Scribner, New York)

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von Jaya Miceli

Umschlagmotiv: © By Jaya Miceli, Jacket Art: Gabriel Orozco: »Light Signs #3 (Korea)« (1995) light box, plastic sheet, vinyl decals, 100.01 × 100.01 × 19.69 cm, Collection Walker Art Center, Minneapolis, T. B. Walker Acquisition Fund, 1996, © FinePic®, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Zitate
PROLOG
Familien
TEIL 1
Die »fehlende Vererbungslehre«
TEIL 2
»In der Summe der Teile gibt es nur die Teile«
TEIL 3
»Die Träume der Genetiker«
TEIL 4
»Der Mensch ist erstes Ziel der Wissenschaft«
TEIL 5
Hinter den Spiegeln
TEIL 6
Post-Genom
EPILOG
Bheda, Abheda
Bildteil
Danksagung
Glossar
Anmerkungen
Bibliographie
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Priyabala Mukherjee (1906 – 1985), die die Gefahren kannte; und für Carrie Buck (1906 – 1983), die sie erlebte.

Eine genaue Bestimmung der Vererbungsgesetze wird die Weltsicht des Menschen und seine Macht über die Natur vermutlich stärker verändern als jeder andere Fortschritt in der Naturerkenntnis, der absehbar ist.

William Bateson1

Wir Menschen sind letztlich nur Träger von Genen. Auf ihrem Weg reiten sie auf uns von Generation zu Generation, gerade so, wie man Pferde zu Tode reitet. Die Gene denken nicht in Kategorien von Gut und Schlecht. Wir haben Glück oder Pech mit ihnen, aber sie wissen nichts davon. Denn wir sind nicht mehr als ein Mittel zum Zweck. Für die Gene zählt nur, was für sie selbst den größten Nutzen bringt.

Haruki Murakami, 1Q842

DAS GEN

PROLOG

Familien

… mit euch beiden geht nämlich der Stamm eurer Eltern nicht zu Ende …

Menelaos in Homer, Odyssee1

They fuck you up, your mum and dad.

They may not mean to, but they do.

They fill you with the faults they had

And add some extra, just for you.

Philip Larkin, »This Be The Verse«2

Im Winter 2012 fuhr ich von Delhi nach Kalkutta, um meinen Cousin Moni zu besuchen. Mein Vater kam als Begleiter und Reiseführer mit, aber er brütete finster vor sich hin, versunken in einem geheimen Kummer, den ich nur vage ahnte. Mein Vater ist der jüngste von fünf Brüdern, und Moni ist der erstgeborene Sohn seines ältesten Bruders. Im Alter von vierzig Jahren wurde Moni 2004 mit der Diagnose Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen (eine »Irrenanstalt«, wie mein Vater es nennt). Ständig steht er unter Medikamenten – schwimmt in einem Meer diverser Antipsychotika und Beruhigungsmittel – und wird von Pflegern gebadet, gefüttert und rund um die Uhr beaufsichtigt.

Mein Vater hat Monis Diagnose nie akzeptiert. Jahrelang hat er einen einsamen Kampf gegen die behandelnden Psychiater seines Neffen geführt in der Hoffnung, dass er sie von ihrer kolossalen Fehldiagnose überzeugen könne oder Monis zerrüttete Psyche auf wundersame Weise von selbst heilen würde. Zweimal hat mein Vater die Klinik in Kalkutta aufgesucht – einmal ohne Vorankündigung, weil er hoffte, seinen Neffen verwandelt vorzufinden, wie er insgeheim hinter den verschlossenen Türen ein ganz normales Leben führte.

Aber mein Vater wusste – ebenso wie ich – , dass hinter diesen Besuchen mehr steckte als nur verwandtschaftliche Zuneigung. Denn Moni ist in der Familie meines Vaters nicht der einzige mit einer psychischen Erkrankung. Von den vier Brüdern meines Vaters haben zwei – zwar nicht Monis Vater, aber zwei seiner Onkel – diverse psychische Zusammenbrüche erlitten. Offenbar kommt bei den Mukherjees Wahnsinn schon mindestens seit zwei Generationen vor, und die Weigerung meines Vaters, Monis Diagnose zu akzeptieren, beruht zumindest teilweise auf der grauenvollen Erkenntnis, dass ein Keim dieser Krankheit auch in ihm schlummern könnte wie Giftmüll.

Rajesh, der drittälteste Bruder meines Vaters, starb 1946 im Alter von erst zweiundzwanzig Jahren in Kalkutta. Angeblich bekam er eine Lungenentzündung, nachdem er zwei Abende im Winterregen trainiert hatte – aber diese Infektion war lediglich der Höhepunkt einer anderen Erkrankung. Rajesh war einst der verheißungsvollste der Brüder gewesen – der geschickteste, geschmeidigste, charismatischste, dynamischste, von meinem Vater und seiner Familie meistgeliebte und -vergötterte.

Zehn Jahre zuvor, 1936, war mein Großvater gestorben – ermordet nach einem Streit über Glimmerbergwerke – , und meine Großmutter hatte allein fünf Jungen aufziehen müssen. Rajesh war zwar nicht der Älteste, war aber recht mühelos in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Obwohl er damals erst zwölf Jahre alt war, hätte man ihn für 22 halten können: Schon damals dämpfte Ernsthaftigkeit seine stürmische Intelligenz, wandelte sich die prekäre Selbstsicherheit des Jugendlichen zum Selbstvertrauen eines Erwachsenen.

Im Sommer 1946 hatte Rajesh jedoch begonnen, sich seltsam zu benehmen, wie mein Vater sich erinnerte, ganz so, als ob in seinem Gehirn etwas durchgebrannt wäre. Die auffallendste Persönlichkeitsveränderung waren seine Stimmungsschwankungen: Gute Neuigkeiten lösten unbändige Freudenausbrüche aus, die er nur in immer akrobatischeren sportlichen Übungen austoben konnte, während schlechte Nachrichten ihn in tiefe Verzweiflung stürzten. Die Gefühle waren im jeweiligen Kontext durchaus normal, nicht aber ihre extreme Ausprägung. Bis zum Winter verstärkten sich Häufigkeit und Ausschlag dieser Stimmungsschwankungen. Die in Rage und Überschwang ausartenden Energieausbrüche wurden ebenso häufiger und heftiger wie der anschließende starke Trübsalssog. Er verfiel ins Okkulte, organisierte zu Hause Séancen und Planchettesitzungen oder traf sich mit Freunden um Mitternacht zum Meditieren in einem Krematorium. Ich weiß nicht, ob er Drogen nahm – in den 1940er Jahren gab es in Kalkuttas Chinatown reichlich Opium aus Birma und afghanisches Haschisch, womit ein junger Mann seine Nerven beruhigen konnte – , aber mein Vater erinnert sich, dass sein Bruder völlig verändert war: mal ängstlich, mal draufgängerisch, mal himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt, an einem Morgen gereizt, am nächsten überglücklich. (Das Wort überglücklich bedeutet umgangssprachlich etwas recht Harmloses: eine Steigerung von Glück. Es kennzeichnet aber auch eine Grenze, eine Warnung, einen Randbereich der Besonnenheit: Jenseits von überglücklich gibt es, wie wir noch sehen werden, kein Über-überglücklichsein, sondern nur noch Wahnsinn und Manie.)

Bevor Rajesh die Lungenentzündung bekam, hatte er von seinem außergewöhnlich erfolgreichen Abschneiden bei den Collegeprüfungen erfahren und war in Hochstimmung für zwei Tage und Nächte verschwunden, angeblich um zu »trainieren«. Bei seiner Rückkehr hatte er hohes Fieber und Halluzinationen.

Erst Jahre später wurde mir während des Medizinstudiums klar, dass Rajesh sich damals wahrscheinlich in einer akuten manischen Phase befunden hatte. Sein Nervenzusammenbruch war die Folge eines beinahe lehrbuchmäßigen Falles von manischer Depression – einer bipolaren Störung.

• • •

Jagu, der zweitjüngste Bruder meines Vaters, zog 1975 zu uns nach Delhi, als ich fünf Jahre alt war. Auch seine psychische Verfassung war labil. Er war groß und spindeldürr, hatte etwas Düsteres im Blick, eine verfilzte Mähne und ähnelte einem bengalischen Jim Morrison. Anders als Rajesh, bei dem sich seine Erkrankung erst im Alter von über zwanzig Jahren gezeigt hatte, war Jagu von Kind an verhaltensauffällig. Er war im Umgang mit Menschen unbeholfen, gegenüber allen außer meiner Großmutter verschlossen und konnte weder einer Arbeit nachgehen noch allein leben. Bis 1975 kamen tiefgreifendere, kognitive Probleme hinzu: Erscheinungen, Wahnvorstellungen und Stimmen im Kopf, die ihm sagten, was er zu tun habe. Er entwickelte unzählige Verschwörungstheorien: Ein Bananenverkäufer, der seine Früchte vor unserem Haus anbot, mache heimlich Aufzeichnungen über sein Verhalten, glaubte Jagu. Häufig sprach er mit sich selbst und leierte wie besessen erfundene Zugverbindungen herunter (»Von Shimla nach Howrah mit Kalka Mail, umsteigen in Howrah in den Shri Jagannath Express nach Puri«). Gelegentlich war er noch zu außerordentlichen Ausbrüchen von Zuneigung fähig – als ich zu Hause einmal versehentlich eine venezianische Vase zerbrach, an der meine Mutter sehr hing, verbarg er mich unter seinem Bettzeug und erklärte ihr, er habe »einen Haufen Geld« versteckt, wovon er »tausend« Vasen als Ersatz kaufen könne. Diese Episode war symptomatisch: Psychose und Konfabulationen reichten selbst bis in seine Zuneigung zu mir hinein.

Anders als bei Rajesh, bei dem es nie eine medizinische Diagnose gab, stellte ein Arzt Ende der 1970er Jahre bei Jagu Schizophrenie fest, verordnete ihm aber keine Medikamente. Jagu blieb weiterhin zu Hause, halb versteckt im Zimmer meiner Großmutter (die bei uns wohnte, wie es in vielen indischen Familien üblich war). Wieder einmal – und diesmal doppelt grausam – gefordert, machte meine Großmutter sich zu Jagus Beschützerin. Nahezu zehn Jahre lang herrschte zwischen meinem Vater und ihr ein brüchiger Waffenstillstand, und Jagu lebte unter ihrer Obhut, nahm seine Mahlzeiten in ihrem Zimmer ein und trug Kleidung, die sie für ihn nähte. Abends, wenn er besonders unruhig und von seinen Ängsten und Wahnvorstellungen geplagt war, brachte sie ihn zu Bett wie ein Kind und legte ihm die Hand auf die Stirn. Nach ihrem Tod 1985 verschwand er aus unserem Haus und ließ sich nicht mehr zur Rückkehr überreden. Bis zu seinem Tod 1998 lebte er in einer Sekte in Delhi.

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Mein Vater wie auch meine Großmutter waren überzeugt, Jagus und Rajeshs psychische Erkrankungen seien durch die apokalyptische Teilung Indiens und Pakistans ausgelöst, vielleicht sogar verursacht worden – ein traumatisches politisches Ereignis, das sich in ihrem persönlichen psychischen Trauma niedergeschlagen habe. Für sie war klar, dass die Teilung nicht nur Nationen, sondern auch Seelen hatte zerbrechen lassen. Auch in Saadat Hasan Mantos »Toba Tek Singh« – der wohl bekanntesten Kurzgeschichte über die Teilung – lebte der verrückte, an der indisch-pakistanischen Grenze erwischte Held in einem Niemandsland zwischen klarem Verstand und Wahnsinn.3 In Jagus und Rajeshs Fall glaubte meine Großmutter, die Unruhen und die Entwurzelung durch die Übersiedlung von Ostbengalen nach Kalkutta habe sie ihren seelischen Halt verlieren lassen, wenn auch auf spektakulär unterschiedliche Art und Weise.

Rajesh war 1946 nach Kalkutta gekommen, als die Stadt gerade den Verstand verloren hatte – und am Ende ihrer Nerven, Liebe und Geduld angelangt war. Damals füllte bereits ein stetiger Zustrom von Männern und Frauen aus Ostbengalen – die diese politischen Erschütterungen früher zu spüren bekommen hatten als ihre Nachbarn – die niedrigen Mietshäuser in der Umgebung des Bahnhofs Sealdah. Zu dieser armseligen Schar gehörte auch meine Großmutter: Sie hatte eine Dreizimmerwohnung auf der Hayat Khan Lane, nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt, ergattert. Die Miete von 55 Rupien – nach heutigen Maßstäben nur 1 US-Dollar – hatte für ihre Familie ein Vermögen bedeutet. Von den übereinander liegenden Zimmern schaute man auf eine Müllhalde. Aber die winzige Wohnung hatte immerhin Fenster und eine Dachterrasse, von der die Jungen die Geburt einer neuen Stadt und einer neuen Nation miterleben konnten. An den Straßenecken flammten leicht Unruhen auf. Im August 1946 kam es zu einem besonders heftigen Gewaltausbruch zwischen Hindus und Muslimen (später als Great Calcutta Killing bezeichnet), bei dem fünftausend Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben wurden.

In diesem Sommer hatte Rajesh die Welle der Gewalt bei den aufgebrachten Menschenmassen miterlebt. Hindus hatten Muslime aus ihren Läden und Büros in Lalbazar gezerrt und ihnen auf der Straße bei lebendigem Leib die Eingeweide herausgerissen, und Muslime hatten sich auf den Fischmärkten in der Nähe vom Rajabazar und der Harrison Road mit ebenso unbändiger Grausamkeit revanchiert. Kurz nach diesen Unruhen hatte Rajesh einen Nervenzusammenbruch erlitten. Die Stadt hatte sich stabilisiert und erholt, aber Rajesh hatte bleibende Schäden davongetragen. Kurz nach den August-Massakern trat bei ihm ein Schub von Wahnvorstellungen auf. Er wurde immer ängstlicher und ging häufiger abends zum Sport. Darauf folgten die manischen Phasen, die gespenstischen Fieberschübe und seine fatale letzte Erkrankung.

Meine Großmutter war der festen Überzeugung, dass der Wahnsinn bei Rajesh auf seine Ankunft in der Stadt und bei Jagu auf den Verlust seiner Heimat zurückzuführen sei. In seinem Dorf Dehergoti bei Barisal hatte Jagu bei Freunden und Familie seelischen Halt gefunden. Wenn er durch die Reisfelder gelaufen oder in den Teichen geschwommen war, hatte er so unbekümmert und verspielt wirken können wie alle anderen Kinder – beinahe normal. In Kalkutta war er verkümmert wie eine aus ihrem natürlichen Lebensraum gerissene, entwurzelte Pflanze. Er hatte das College abgebrochen, nur noch in der Wohnung am Fenster gesessen und ins Leere gestarrt. Sein Denken war immer wirrer, sein Reden immer unzusammenhängender geworden. Während Rajesh sich in Extreme geflüchtet hatte und nachts in der Stadt umhergeschweift war, hatte Jagu sich stumm in sein Zimmer zurückgezogen und sich freiwillig zu Hause eingeschlossen.

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Diese seltsame Klassifizierung psychischer Erkrankungen (Rajesh als Stadtvariante und Jagu als Landvariante seelischen Zusammenbruchs) war bequem, so lange sie sich aufrechterhalten ließ – geriet jedoch ins Wanken, als auch Monis psychische Gesundheit nachließ. Er war kein »Teilungskind«, war nie entwurzelt worden, sondern hatte sein ganzes Leben in der Geborgenheit seines Zuhauses in Kalkutta verbracht. Dennoch nahm seine seelische Entwicklung ähnliche Formen an wie bei Jagu. In seiner Jugend traten erste Wahnvorstellungen auf, und er begann Stimmen zu hören. Sein Isolationsbedürfnis, seine ungeheuerlichen Konfabulationen, sein Orientierungsverlust und seine Verwirrtheit – all das erinnerte gespenstisch an den Niedergang seines Onkels. Als Jugendlicher besuchte Moni uns einmal in Delhi. Wir sollten zusammen ins Kino gehen, aber er schloss sich oben im Badezimmer ein und weigerte sich fast eine Stunde lang, herauszukommen, bis meine Großmutter ihn schließlich herausholte. Als sie ins Badezimmer kam, versteckte er sich zusammengekauert in einer Ecke.

Eine Gruppe von Schlägern verprügelte Moni 2004 – angeblich weil er in einem öffentlichen Park uriniert hatte (mir erklärte er, eine innere Stimme habe ihm befohlen: »Pinkele hier, pinkele hier«). Einige Wochen später beging er ein »Verbrechen«, das so skurril und seltsam war, dass man es nur als Beleg für den Verlust seiner geistigen Gesundheit werten konnte: Man erwischte ihn beim Flirten mit der Schwester eines dieser Schläger (wieder erklärte er, die Stimmen hätten es ihm befohlen). Sein Vater bemühte sich vergebens, einzugreifen; diesmal wurde Moni so heftig verprügelt, dass er Platzwunden an Lippe und Stirn davontrug und im Krankenhaus behandelt werden musste.

Die Prügel sollten eine läuternde Wirkung haben (seine Peiniger behaupteten bei der polizeilichen Vernehmung, sie hätten lediglich »die Dämonen aus Moni« austreiben wollen), aber die krankhaften Stimmen in seinem Kopf wurden nur noch kühner und nachdrücklicher. Nach einem weiteren Zusammenbruch mit Halluzinationen und zischenden inneren Stimmen wurde er im Winter desselben Jahres in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung erfolgte teilweise freiwillig, wie Moni mir sagte: Ihm ging es weniger um seelische Gesundung als um einen Zufluchtsort. Diverse Psychopharmaka bewirkten allmählich eine Besserung, die offenbar aber nie ausreichte, um seine Entlassung zu rechtfertigen. Einige Monate nach Monis Einweisung starb sein Vater. Seine Mutter war bereits seit einigen Jahren tot, und seine einzige Schwester lebte weit entfernt. Daher beschloss er, in der Anstalt zu bleiben, teils wohl, weil er nicht wusste, wohin er sonst hätte gehen sollen. Für Moni war die längst veraltete Bezeichnung »Irrenasyl« erschreckend zutreffend: Es war der einzige Ort, der ihm die in seinem Leben fehlende Geborgenheit und Sicherheit bot. Er war ein Vogel, der sich freiwillig in einen Käfig geflüchtet hatte.

Als mein Vater und ich ihn 2012 besuchten, hatte ich Moni seit nahezu zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Trotzdem erwartete ich, dass ich ihn wiedererkennen würde. Aber der Mann, den ich im Besuchsraum traf, hatte so wenig Ähnlichkeit mit meiner Erinnerung an meinen Cousin, dass es sich auch um einen Fremden gehandelt haben könnte – wenn der Pfleger nicht seinen Namen bestätigt hätte. Er war übermäßig gealtert und wirkte mit 48 ganze zehn Jahre älter. Die Psychopharmaka hatten ihn körperlich verändert, er ging unsicher und schwankend wie ein Kind und sprach nicht mehr schnell und überschwänglich wie früher, sondern zögernd und stoßweise. Er spie die Worte so plötzlich und überraschend heftig aus wie einen unappetitlichen Bissen Essen, den man ihm in den Mund gesteckt hatte. An meinen Vater oder mich erinnerte er sich kaum. Als ich meine Schwester erwähnte, fragte er, ob ich sie geheiratet habe. Unser Gespräch verlief so, als ob ich ein Reporter gewesen wäre, der aus heiterem Himmel aufgetaucht war, um ihn zu interviewen.

Das Auffallendste an seiner Krankheit war jedoch nicht der Sturm in seinem Kopf, sondern sein stumpfer Blick. Das bengalische Wort Moni bedeutet »Juwel« und bezeichnet gemeinhin etwas unbeschreiblich Schönes: das Funkeln im Auge. Aber genau das war bei Moni erloschen. Die beiden funkelnden Lichtpunkte in seinen Augen waren matt geworden und beinahe völlig verschwunden, als hätte jemand sie mit einem winzigen Pinsel grau übermalt.

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Während meiner gesamten Kindheit und Jugend spielten Moni, Jagu und Rajesh in der Vorstellungswelt meiner Familie eine übergroße Rolle. In einem halbjährigen Flirt mit jugendlicher Angst hörte ich auf, mit meinen Eltern zu sprechen, weigerte mich, Hausaufgaben zu machen, und warf meine alten Bücher fort. Zutiefst beunruhigt schleppte mein Vater mich zu dem Arzt, der bei Jagu Schizophrenie diagnostiziert hatte. Verlor jetzt auch sein Sohn den Verstand? Als bei meiner Großmutter zu Beginn der 1980er Jahre das Gedächtnis nachließ, nannte sie mich oft versehentlich Rajeshwar – Rajesh. Anfangs korrigierte sie sich noch, rot vor Verlegenheit, aber nachdem sie ihre letzten Bindungen zur Realität gelöst hatte, schien sie diesen Fehler beinahe absichtlich zu machen, als ob sie den Reiz des Verbotenen dieser Phantasie entdeckt hätte. Bei der vierten oder fünften Verabredung mit meiner jetzigen Frau Sarah erzählte ich ihr von den gespaltenen Persönlichkeiten meines Cousins und meiner beiden Onkel. Gegenüber einer zukünftigen Partnerin war es nur fair, sie zu warnen.

Mittlerweile waren in meiner Familie Vererbung, Krankheit, Normalität, Familie und Identität wiederkehrende Gesprächsthemen geworden. Obwohl meine Eltern wie die meisten Bengalen Verdrängung und Verleugnung zu einer Kunst erhoben hatten, waren Fragen zu dieser besonderen Geschichte unvermeidlich. Moni, Rajesh, Jagu – drei Leben, geprägt von verschiedenen Geisteskrankheiten. Es war kaum vorstellbar, dass hinter dieser Familiengeschichte keine erbliche Komponente steckte. Hatte Moni ein Gen oder mehrere Gene geerbt, die ihn anfällig gemacht hatten – dieselben Anlagen, aufgrund derer unsere Onkel erkrankt waren? Gab es weitere Verwandte mit anderen Varianten psychischer Erkrankungen? Mein Vater hatte mindestens zweimal in seinem Leben psychotische Episoden erlebt – beide Male ausgelöst durch den Verzehr von Bhang (in Fett gelösten, zerstoßenen Cannabisblüten, die zu religiösen Festen in ein schäumendes Getränk gerührt werden). Standen diese Episoden in einem Zusammenhang mit der Familiengeschichte?

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Schwedische Forscher veröffentlichten 2009 eine umfangreiche internationale Studie, die Tausende Familien und zigtausend Männer und Frauen einbezog. Sie hatten Familien mit einer generationenübergreifenden Geschichte psychischer Erkrankungen untersucht und eindrucksvolle Belege dafür gefunden, dass bei bipolaren Störungen und Schizophrenie ein starker genetischer Zusammenhang bestand. In einigen der beschriebenen Familien gab es eine ganz ähnliche Geschichte psychischer Krankheiten wie in meiner: Ein Kind litt an Schizophrenie, eines seiner Geschwister an einer bipolaren Störung und ein Neffe oder eine Nichte ebenfalls an Schizophrenie. Weitere Studien untermauerten 2012 diese Ergebnisse, erhärteten den Zusammenhang zwischen diesen psychischen Erkrankungen und der Familiengeschichte und warfen tiefgreifende Fragen nach deren Entstehung, Epidemiologie, Auslösern und Ursachen auf.4

Zwei dieser Studien las ich einige Monate nach meiner Rückkehr aus Kalkutta an einem Wintermorgen in der New Yorker U-Bahn. Auf der anderen Seite des Mittelgangs drängte ein Mann in grauer Pelzmütze seinen Sohn, eine graue Pelzmütze aufzusetzen. In der 95. Straße schob eine Mutter einen Kinderwagen mit Zwillingen herein, die nach meinem Empfinden in der gleichen Tonlage schrien.

Die Studie war auf merkwürdige Art tröstlich und beantwortete einige der Fragen, die meinen Vater und meine Großmutter so gequält hatten, warf aber auch eine Fülle neuer Fragen auf: Wenn Monis Krankheit genetisch bedingt war, warum waren mein Vater und seine Schwester verschont geblieben? Welche »Auslöser« hatten diese Prädispositionen zum Tragen gebracht? Inwieweit erwuchsen Jagus und Monis Erkrankungen aus »natürlicher Veranlagung« (also einer genetischen Disposition) beziehungsweise aus »äußeren Faktoren« (wie Unruhen, Konflikten und traumatischen Erlebnissen)? Könnte mein Vater Träger dieser Krankheitsdisposition sein? Und ich ebenfalls? Was wäre, wenn ich genau über diesen Gendefekt Bescheid wissen könnte? Würde ich mich oder meine beiden Töchter testen lassen? Würde ich sie über die Resultate informieren? Was wäre, wenn sich herausstellen sollte, dass nur eine von ihnen Trägerin dieses Merkmals wäre?

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Während sich meine Familiengeschichte psychischer Erkrankungen wie ein roter Faden durch mein Denken zog, lief auch meine wissenschaftliche Arbeit als Krebsforscher auf die Normalität und Anomalität von Genen hinaus. Krebs ist vielleicht eine völlige Perversion der Genetik – ein Genom, das sich mit krankhafter Besessenheit vermehrt. Dieses Genom als selbstreplizierende Maschinerie vereinnahmt die Physiologie einer Zelle und führt zu einer gestaltverändernden Krankheit, die wir trotz erheblicher Fortschritte nach wie vor nicht zu behandeln oder zu heilen vermögen.

Den Krebs zu erforschen bedeutet jedoch auch, sein Gegenteil zu erforschen, wie mir klar wurde. Welcher Code steht für Normalität, bevor er durch den Krebs korrumpiert wird? Was leistet das normale Genom? Wie erhält es die Konstanz, die uns erkennbar ähnlich macht, und die Variation, die uns erkennbar unterschiedlich macht? Wie sind Konstanz und Variation oder Normalität und Anomalität definiert und im Genom festgeschrieben?

Was wäre, wenn wir lernen würden, unseren genetischen Code gezielt zu verändern? Wenn es solche Technologien gäbe, wer würde sie kontrollieren, wer ihre Sicherheit gewährleisten? Wer wären die Herren und wer die Opfer dieser Technik? Wie würde die Aneignung und Kontrolle dieses Wissens – und sein unvermeidliches Eindringen in unser privates und gesellschaftliches Leben – unsere Sicht der Gesellschaft und unserer Kinder sowie unser Selbstverständnis verändern?

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Dieses Buch befasst sich mit Entstehung, Ausbreitung und Zukunft einer der wirkmächtigsten und gefährlichsten Ideen der Wissenschaftsgeschichte: des Gens, der Grundeinheit der Vererbung und sämtlicher biologischen Informationen.

Ich verwende hier das Adjektiv »gefährlich« mit Bedacht. Drei grundlegend destabilisierende wissenschaftliche Begriffe schwirren durch das 20. Jahrhundert und teilen es in drei ungleiche Teile: Atom, Byte und Gen.5 Jeder von ihnen warf bereits im 19. Jahrhundert seine Schatten voraus, trat aber erst im 20. Jahrhundert voll zutage. Jeder begann als abstraktes wissenschaftliches Konzept, das sich ausweitete und in vielfältige menschliche Diskursbereiche eindrang – und dabei Kultur, Gesellschaft, Politik und Sprache veränderte. Die mit Abstand wichtigste Parallele zwischen diesen drei Begriffen ist jedoch konzeptioneller Art: Jeder steht für eine nicht weiter reduzierbare Einheit – den Baustein, die grundlegende Organisationseinheit – eines größeren Ganzen: Das Atom ist die Grundeinheit der Materie, das Byte (oder »Bit«) die der digitalisierten Information und das Gen die der Vererbung und der biologischen Information.*

* Unter Byte verstehe ich eine recht komplexe Idee, die über das bekannte Computerbyte hinaus auch die allgemeinere, rätselhafte Vorstellung umfasst, dass sämtliche komplexen Informationen der natürlichen Welt sich als Summierung aus Einzelteilen beschreiben oder codieren lassen, die nicht mehr als einen »An-« und »Aus-Status« beinhalten. Eine eingehendere Beschreibung dieser Idee und ihrer Auswirkungen auf Naturwissenschaften und Philosophie bietet James Gleick, Information: Geschichte, Theorie, Flut. Besonders plastisch vertrat der Physiker John Wheeler diese Theorie in den 1990er Jahren: »… jedes ›Es‹ – jedes Elementarteilchen, jedes Kraftfeld und selbst das Raum-Zeit-Kontinuum – leitet seine Funktion, seine Bedeutung und seine Existenz … aus Ja-Nein-Antworten, binären Alternativen, Bits ab …; kurz, alle physischen Dinge sind informationstheoretischen Ursprungs.« (John A. Wheeler, »It from Bit«, in: ders., At Home in the Universe, New York 1994, S. 296). Das Byte oder Bit ist eine Erfindung des Menschen, aber die zugrundeliegende Theorie digitalisierter Information ist ein wunderbares Naturgesetz.

Wieso verleiht dieses Merkmal – die kleinste Teileinheit eines größeren Ganzen zu sein – diesen speziellen Ideen eine solche Macht und Kraft? Die einfache Antwort lautet: Materie, Information und Biologie sind hierarchisch organisiert, den kleinsten Teil zu kennen ist daher entscheidend für das Verständnis des Ganzen. Wenn der Dichter Wallace Stevens schreibt: »In der Summe der Teile gibt es nur die Teile«, meint er damit das grundlegende Strukturgeheimnis der Sprache: Man kann die Bedeutung eines Satzes nur entschlüsseln, indem man jedes einzelne Wort entziffert – aber ein Satz enthält mehr Bedeutung als jedes einzelne Wort.6 Ebenso ist es bei Genen. Ein Organismus ist natürlich wesentlich mehr als seine Gene, um ihn aber zu begreifen, muss man zunächst seine Gene verstehen. Als der niederländische Biologe Hugo de Vries in den 1890er Jahren auf die Vorstellung des Gens stieß, erfasste er sofort intuitiv, dass dieses Konzept unser gesamtes Verständnis der natürlichen Welt umwälzen würde. »Jede Art erscheint uns … als ein äußerst komplizirtes Bild, die ganze Organismenwelt aber als das Ergebnis unzähliger verschiedener Kombinationen und Permutationen von relativ wenigen Faktoren. … Wie Physik und Chemie auf die Moleküle und Atome zurückgehen, so haben die biologischen Wissenschaften zu diesen Einheiten durchzudringen, um aus ihren Verbindungen die Erscheinungen der lebenden Welt zu erklären.«7

Atom, Byte und Gen vermitteln ein grundlegend neues wissenschaftliches und technisches Verständnis ihres jeweiligen Systems. Das Verhalten der Materie – warum Gold glänzt und Wasserstoff sich mit Sauerstoff verbindet – lässt sich ohne ihre atomare Beschaffenheit nicht erklären. Ebenso wenig begreift man die komplexe Computertechnik – die Beschaffenheit von Algorithmen oder die Speicherung oder Verstümmelung von Daten – , ohne den Strukturaufbau digitalisierter Informationen zu verstehen. »Aus Alchimie konnte erst Chemie werden, als man deren Grundeinheiten entdeckt hatte«, erklärte ein Wissenschaftler im 19. Jahrhundert.8 In diesem Buch vertrete ich, dass es ebenso unmöglich ist, die Biologie und Evolution von Organismen und Zellen – oder auch Krankheiten, Verhalten, Temperament, ethnische Unterschiede, Identität oder Geschicke des Menschen – zu verstehen, ohne sich zunächst mit dem Konzept des Gens auseinanderzusetzen.

Hier geht es noch um ein zweites Problem. Die Atomphysik zu verstehen war eine notwendige Voraussetzung, um die Materie zu manipulieren (und so die Atombombe zu erfinden). Unser Verständnis der Gene hat es uns ermöglicht, mit beispielloser Geschicklichkeit und Macht Organismen zu manipulieren. Der genetische Code ist, wie sich herausgestellt hat, erstaunlich simpel: Es gibt nur ein Molekül, das unsere Erbinformation trägt, und nur einen Code. »Daß die fundamentalen Erscheinungen der Vererbung sich als so außerordentlich einfach erwiesen haben, bestärkt uns in der Hoffnung, es möge schließlich doch noch gelingen, ins Innere der Natur einzudringen«, schrieb der einflussreiche Genetiker Thomas Morgan. »Ihre vielzitierte Unergründlichkeit hat sich als eine Illusion erwiesen, die hervorgerufen wurde durch unsere Unwissenheit.«9

Unser Wissen über Gene ist mittlerweile so ausgereift und profund, dass wir sie nicht mehr nur im Reagenzglas untersuchen und verändern können, sondern auch im angestammten Umfeld menschlicher Zellen. Gene befinden sich in Chromosomen, langen, strangartigen Gebilden, die in Zellen enthalten sind und zigtausend zu Ketten aneinandergereihte Gene aufweisen.* Menschen besitzen insgesamt 46 solcher Chromosomen, jeweils 23 von jedem Elternteil. Die gesamten Erbinformationen eines Organismus bezeichnet man als Genom (das man sich vorstellen kann wie eine Enzyklopädie sämtlicher Gene mit Fußnoten, Anmerkungen, Anweisungen und Verweisen). Das menschliche Genom umfasst 21 000 bis 23 000 Gene mit den Grundanweisungen für die Entwicklung, Reparatur und Erhaltung des menschlichen Körpers. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Gentechnik so schnell weiterentwickelt, dass wir mittlerweile entschlüsseln können, wie mehrere dieser Gene räumlich und zeitlich operieren, um diese komplexen Funktionen zu ermöglichen. Gelegentlich schaffen wir es auch, manche Gene gezielt so zu manipulieren, dass sich ihre Funktion verändert, was zu anderen menschlichen Zuständen, physiologischen Merkmalen und somit anderen Menschen führt.

* Bei manchen Bakterien können Chromosomen kreisförmig sein.

Eben durch diesen Übergang – von Erklärung zu Manipulation – findet die Genetik weit über Wissenschaftskreise hinaus Widerhall. Die Forschung, wie Gene die menschliche Identität, Sexualität oder Persönlichkeit beeinflussen, ist eine Sache. Die Vorstellung, durch Genmanipulation Identität, Sexualität oder Verhalten zu verändern, ist etwas völlig anderes. Das Erstere beschäftigt vielleicht Psychologieprofessoren und ihre Kollegen der Neurowissenschaften. Das zweite, mit Verheißung und Gefahren befrachtete Anliegen sollte uns alle beschäftigen.

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Während ich dieses Buch schreibe, lernen mit Genomen ausgestattete Organismen, die Erbmerkmale der mit Genomen ausgestatteten Organismen zu manipulieren. Damit meine ich Folgendes: Allein in den letzten vier Jahren von 2012 bis 2016 haben wir Technologien entwickelt, die es uns ermöglichen, das menschliche Genom gezielt und dauerhaft zu verändern (die sorgfältige Evaluierung dieser »Genomtechnologie« auf Sicherheit und Zuverlässigkeit steht allerdings noch aus). Gleichzeitig haben die Fähigkeiten, die Zukunft und den Werdegang eines Individuums auf der Grundlage des Genoms vorherzusagen, dramatische Fortschritte gemacht (die tatsächliche Vorhersagekraft dieser Techniken ist jedoch noch nicht bekannt). Mittlerweile können wir menschliche Genome »lesen« und »schreiben«, wie es vor drei bis vier Jahren noch unvorstellbar war.

Man muss nicht Molekularbiologie, Philosophie oder Geschichte studiert haben, um zu erkennen, dass ein Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse einem Sprung in den Abgrund gleichkommt. Sobald wir das in einzelnen Genomen codierte Schicksal verstehen (auch wenn wir es nur mit Wahrscheinlichkeit, nicht mit Sicherheit vorhersagen können) und über die Technologie zur gezielten Veränderung dieser Wahrscheinlichkeiten verfügen (selbst wenn sie ineffizient und mühsam ist), verändert sich unsere Zukunft grundlegend. George Orwell schrieb einmal, wenn ein Kritiker das Wort Mensch benutze, beraube er es seiner Bedeutung. Ich halte es nicht für Übertreibung, zu sagen: Unsere Fähigkeit, menschliche Genome zu verstehen und zu manipulieren, verändert unsere Vorstellung davon, was es bedeutet, »Mensch« zu sein.

Das Atom liefert ein Organisationsprinzip der modernen Physik – und eröffnet uns die verlockende Aussicht, Materie und Energie zu kontrollieren. Das Gen liefert ein Organisationsprinzip der modernen Biologie – und eröffnet uns die verlockende Aussicht, unseren Körper und unser Schicksal zu kontrollieren. Eingebettet in die Geschichte des Gens ist das »Streben nach ewiger Jugend, der faustische Mythos einer abrupten Schicksalswende und der Flirt unseres Jahrhunderts mit der Vervollkommnung des Menschen«.10 Eben das steht im Zentrum dieser Geschichte.

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Dieses Buch ist sowohl chronologisch als auch thematisch gegliedert. Der große Bogen ist historisch. Es beginnt 1864 mit den Erbsen in Mendels Gemüsegarten in einem mährischen Kloster, wo das »Gen« entdeckt wurde, aber bald wieder in Vergessenheit geriet (das Wort Gen tauchte erst Jahrzehnte später auf). Diese Geschichte überschneidet sich mit Darwins Evolutionstheorie. Das Gen faszinierte britische und US-amerikanische Reformer, die durch genetische Manipulation die Evolution und Emanzipation des Menschen zu beschleunigen hofften. Diese Vorstellung eskalierte bis zu ihrem makabren Zenith im nationalsozialistischen Deutschland in den 1940er Jahren, wo die Eugenik als Rechtfertigung für abscheuliche Experimente missbraucht wurde und in Freiheitsentzug, Zwangssterilisation, Euthanasie und Massenmord gipfelte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg revolutionierte eine Reihe von Entdeckungen die Biologie. Die DNA wurde als Träger der Erbinformation identifiziert und das »Wirken« eines Gens mechanistisch beschrieben: Gene codieren chemische Botschaften für die Produktion von Proteinen, die letztlich Form und Funktion ermöglichen. James Watson, Francis Crick, Maurice Wilkins und Rosalind Franklin entdeckten die dreidimensionale Struktur der DNA und erstellten das ikonenhafte Bild der Doppelhelix. Der aus drei Buchstaben bestehende genetische Code wurde entschlüsselt.

In den 1970er Jahren führten zwei Technologien zu Umwälzungen in der Genetik: die Gensequenzierung und das Klonieren – das »Lesen« und »Schreiben« von Genen (Klonieren umfasst eine Fülle von Verfahren, um Gene aus Organismen zu extrahieren, im Reagenzglas zu manipulieren, Genhybriden zu erzeugen und diese millionenfach in lebenden Zellen zu kopieren). Ab den 1980er Jahren nutzten Humangenetiker diese Technologien zur Kartierung und Identifizierung von Genen, die mit Krankheiten wie Chorea Huntington und Mukoviszidose in Zusammenhang stehen. Die Identifizierung dieser mit Krankheiten verknüpften Gene läutete eine neue Ära genetischen Managements ein, da sie entsprechende Untersuchungen des Fötus und im Fall von gesundheitsschädlichen Mutationen eine Abtreibung ermöglichten. (Eltern, die ihr ungeborenes Kind auf Down-Syndrom, Mukoviszidose, Tay-Sachs-Syndrom haben testen lassen, und Frauen, die sich selbst beispielsweise auf die Tumorsuppressorgene BRCA1 oder BRCA2 haben untersuchen lassen, sind bereits in dieser Ära angekommen. Gendiagnosen, genetisches Management und Genoptimierung liegen keineswegs in ferner Zukunft, sondern sind schon jetzt in unserer Gegenwart verankert.)

Bei menschlichen Krebsarten wurden zahlreiche Genmutationen festgestellt, was zu einem tiefgreifenderen Verständnis dieser Krankheit führte. Diese Bemühungen gipfelten im Humangenomprojekt, einem internationalen Forschungsprojekt zur Kartierung und Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms. Eine vorläufige Sequenz des menschlichen Genoms wurde 2001 veröffentlicht. Das Genomprojekt inspirierte wiederum Bestrebungen, genetische Grundlagen für Variationen und das »Normalverhalten« von Menschen zu erforschen.

Zugleich drang das Gen in Diskurse über Rasse, Rassendiskriminierung und »Rassenintelligenz« vor und lieferte erstaunliche Antworten auf einige der wichtigsten Fragen, die in unserer Politik und Kultur kursierten. Es bewirkte einen Wandel in unserem Verständnis von Sexualität, Identität und Entscheidungsmöglichkeiten und berührte damit manche der drängendsten Fragen im Privatbereich.*

* Manche Themen wie gentechnisch veränderte Organismen (GMOs), die Zukunft von Genpatenten, der Einsatz von Genen in Arzneimittelforschung und Biosynthese und die Entwicklung neuer genetischer Spezies verdienen eine eigene Behandlung und liegen außerhalb des Rahmens dieses Buches.

Hinter all diesen Entwicklungen verstecken sich weitere Geschichten, aber in diesem Buch geht es auch um ganz persönliche Erfahrungen – um meine eigene Geschichte. Vererbung ist für mich kein abstrakter Begriff. Rajesh und Jagu sind tot. Moni lebt in einer psychiatrischen Einrichtung in Kalkutta. Aber ihr Leben und ihr Tod hatten auf mein Denken als Wissenschaftler, Gelehrter, Historiker, Arzt, Sohn und Vater einen größeren Einfluss, als ich es mir je hätte vorstellen können. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht über Vererbung und Familie nachdenke.

Besonderen Dank schulde ich meiner Großmutter. Sie überlebte den Kummer über ihr Vermächtnis nicht – konnte ihn nicht überleben – , aber sie akzeptierte das schwächste ihrer Kinder und beschützte es vor dem Willen der Starken. Mit unverwüstlicher Widerstandskraft überstand sie die Wechselfälle der Geschichte – den Wechselfällen der Vererbung setzte sie jedoch mehr als das entgegen: einen Anstand, dem nachzueifern wir, ihre Nachfahren, nur hoffen können. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

TEIL 1

Die »fehlende Vererbungslehre«

Die Entdeckung und Wiederentdeckung der Gene (1865 – 1935)

Diese fehlende Vererbungslehre, diese unerschlossene Wissensquelle im Grenzbereich der Biologie und Anthropologie, die bis heute praktisch ebenso unerschlossen ist wie zu Platons Zeiten, ist für die Menschheit in Wahrheit zehnmal wichtiger als die gesamte Chemie und Physik und jede in Technik und Industrie angewandte Wissenschaft, die jemals entdeckt wurde und entdeckt werden wird.

Herbert G. Wells, Mankind in the Making1

Jack: Ja, aber du sagtest selbst, eine ernste Erkältung sei nicht erblich.

Algernon: Früher war sie es nicht, ich weiß – jetzt ist sie’s. Die Wissenschaft verbessert die Dinge fortwährend …

Oscar Wilde, Bunbury2

Der Klostergarten

Nun kennen sich gerade die Erforscher der Vererbung bestens auf ihrem Gebiet aus, abgesehen davon, daß sie nicht wissen, was ihr Gebiet ist. Sie kamen, so vermute ich, in jenem Unterholz zur Welt und haben dort ihr ganzes Leben zugebracht und es gründlich durchstöbert, ohne an sein Ende zu gelangen. Das heißt, sie haben alles erforscht bis auf die Frage, was sie da eigentlich erforschen.

Gilbert K. Chesterton,

Eugenik und andere Übel3

Frage … die Sträucher der Erde, die werden dich’s lehren …

Hiob 12,8

Ursprünglich hatte das Kloster Nonnen beherbergt, und die Augustinermönche hatten – wie sie oft beklagten – in wesentlich üppigeren Verhältnissen und großzügigeren Räumlichkeiten in einer großen Abtei auf der Anhöhe im Herzen der mittelalterlichen Stadt Brünn (Brno) gelebt. Die Stadt war im Laufe von vier Jahrhunderten rund um das Kloster gewachsen und hatte sich an den Hängen und darüber hinaus im Flachland mit Bauernhöfen und Weiden ausgebreitet. Die Mönche waren 1783 bei Kaiser Joseph II. in Ungnade gefallen: Er hatte rundheraus erklärt, die Immobilie mitten in der Stadt sei viel zu wertvoll für sie – und hatte ihnen ein baufälliges Gemäuer am Fuß des Hügels in Altbrünn zugewiesen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Umsiedlung wurde noch durch den Umstand verschlimmert, dass die Mönche in ein ursprünglich für Frauen errichtetes Kloster ziehen mussten. In den Sälen hing der dumpfe Geruch feuchten Mörtels, und das Gelände war von Gras, Dornengestrüpp und Unkraut überwuchert. Der einzige Vorzug dieser Anlage aus dem 14. Jahrhundert – die kalt wie ein Schlachthaus und karg wie ein Gefängnis war – bestand in einem rechteckigen Garten mit schattenspendenden Bäumen, Steintreppen und einer langen Allee, wo die Mönche in stiller Abgeschiedenheit spazieren gehen und meditieren konnten.

Die Ordensbrüder machten das Beste aus ihrer neuen Unterkunft. Sie richteten im zweiten Stock wieder eine Bibliothek mit angrenzendem Studierzimmer ein und statteten sie mit Lesetischen, einigen Lampen und einer wachsenden Sammlung von annähernd zehntausend Büchern aus, darunter auch die neuesten Werke zu Naturgeschichte, Geologie und Astronomie (die Augustiner sahen glücklicherweise keinen Konflikt zwischen Religion und weiten Teilen der Naturwissenschaften; sie begrüßten diese vielmehr als weiteren Beleg für das Wirken der göttlichen Ordnung in der Welt).4 Zudem legten sie einen Weinkeller an und bauten darüber ein bescheidenes Refektorium mit Deckengewölbe. Im zweiten Stock schliefen die Mönche in einem Schlafsaal mit abgetrennten Zellen.

Im Oktober 1843 trat ein junger Mann aus einer schlesischen Bauernfamilie in das Kloster ein.5 Er war klein, kurzsichtig, hatte ein ernstes Gesicht und neigte zur Korpulenz. Am geistlichen Leben bekundete er kein sonderliches Interesse – war aber wissbegierig, handwerklich geschickt und ein begabter Gärtner. Das Kloster bot ihm ein Zuhause und einen Ort, an dem er lesen und lernen konnte. Am 6. August 1847 empfing er die Priesterweihe. Sein Taufname war Johann, aber die Mönche gaben ihm den Ordensnamen Gregor Johann Mendel.

Der junge Novize fand bald in die gleichmäßige Routine des Klosterlebens. Im Rahmen seiner Ausbildung studierte er 1845 an der Theologischen Lehranstalt Brünn Theologie, Geschichte und Naturwissenschaften. Die Unruhen von 1848 – die blutigen Revolutionen, die die gesellschaftliche, politische und religiöse Ordnung in Frankreich, Dänemark und Deutschland erschütterten – gingen weitgehend an ihm vorüber wie fernes Donnergrollen.6 Nichts in Mendels Anfangsjahren deutete auch nur im Entferntesten auf den revolutionären Naturwissenschaftler hin, zu dem er sich entwickeln sollte. Er war diszipliniert, fleißig und ehrerbietig – ein Mann, der sich an die Gepflogenheiten der Ordensleute anpasste. Das einzige Anzeichen von Auflehnung gegen Autoritäten bestand in seiner gelegentlichen Weigerung, in Studentenmütze zum Unterricht zu erscheinen. Auf Ermahnung seiner Oberen beugte er sich jedoch.

Im Sommer 1848 nahm Mendel seine seelsorgerische Arbeit in einer Brünner Pfarrei auf, die er nach allen Berichten äußert unbefriedigend erledigte. Mendel war von »einer unüberwindlichen Scheu«, wie sein Abt erklärte, brachte auf Tschechisch (der Sprache der meisten Pfarrkinder) kaum ein Wort heraus, war als Priester wenig inspirierend und zu empfindsam, um die Arbeit mit den Armen emotional zu verkraften.7 Noch im selben Jahr hatte Mendel einen perfekten Ausweg gefunden: Er bewarb sich als Lehrer für Mathematik, Naturwissenschaften und Griechisch am Gymnasium in Znaim (Znojmo) und erhielt die Stelle auf hilfreiches Drängen seiner Abtei – allerdings hatte die Sache einen Haken.8 Da die Schule wusste, dass er keine Lehrerausbildung genossen hatte, verlangte sie, dass Mendel die externe Lehramtsprüfung in Naturwissenschaften absolvieren solle.

Im Frühjahr 1850 legte Mendel voller Eifer die schriftliche Prüfung in Brünn ab – und reichte in Geologie eine ausgesprochen miserable Arbeit ein (als »trocken, unklar und verschwimmend« bezeichnete ein Prüfer Mendels Leistung in diesem Fach).9 Anfang August reiste er während einer Hitzewelle von Brünn nach Wien, um sich dort der mündlichen Prüfung zu stellen.10 Am 16. August erschien er vor seinen Prüfern in den Naturwissenschaften. Diesmal schnitt er noch schlechter ab – in Biologie. Als er die Säugetiere beschreiben und klassifizieren sollte, kritzelte er eine unvollständige und absurde Taxonomie hin, in der er Gattungen ausließ, andere erfand, Kängurus mit Bibern und Schweine mit Elefanten in einen Topf warf. Einer der Prüfer monierte: »… von einer Kunstsprache macht er keinen Gebrauch, indem er alle Tiere bloß mit dem deutschen Familiennamen bezeichnet, ohne irgendeiner systematischen Nomenklatur sich zu bedienen.«11 Mendel fiel durch.

Mit diesen Prüfungsergebnissen kehrte er nach Brünn zurück. Das Verdikt der Prüfer war eindeutig: Wenn Mendel die Lehrerlaubnis erhalten wollte, brauchte er eine weitergehende naturwissenschaftliche Ausbildung – ein umfangreicheres Studium, als sein Kloster es ihm in Bibliothek oder Garten vermitteln konnte. Unterstützt von Empfehlungs- und Bittbriefen seiner Abtei bewarb Mendel sich um einen Studienplatz an der Universität Wien und wurde angenommen.

Im Winter 1851 stieg Mendel in den Zug, um sich an der Universität einzuschreiben. Damit begannen seine Probleme mit der Biologie – und die der Biologie mit ihm.

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Der Nachtzug von Brünn nach Wien fuhr durch eine atemberaubend kahle Winterlandschaft – gefrorene Äcker und Weingärten, zu eisblauen Venen erstarrte Kanäle und vereinzelte Bauernhäuser in der mitteleuropäischen Finsternis. Die halb von Eis bedeckte Thaya zog sich träge durch das Land, und allmählich kamen die Donauinseln in Sicht. Zu Mendels Zeit dauerte die knapp 150 Kilometer weite Fahrt etwa vier Stunden. Aber am Morgen seiner Ankunft war es, als sei er in einem neuen Kosmos aufgewacht.

Die Naturwissenschaften waren damals in Wien von knisternder Spannung und Leben erfüllt. An der Universität, nur wenige Kilometer von seiner Unterkunft in der Invalidenstraße entfernt, erfuhr Mendel die geistige Taufe, die er in Brünn so eifrig angestrebt hatte. Physik lehrte der Respekt einflößende Österreicher Christian Doppler, der Mendels Mentor, Professor und Idol wurde. Der hagere, scharfzüngige Physiker hatte als Neununddreißigjähriger 1842 aufgrund mathematischer Überlegungen erklärt, die Tonhöhe (oder Lichtfarbe) sei nicht konstant, sondern hänge von Standort und Geschwindigkeit des Beobachters und der Signalquelle ab.12 Ein Geräusch von einer Quelle, die sich schnell auf den Hörer zubewege, werde komprimiert und als höherer Ton wahrgenommen, während das Geräusch einer sich schnell entfernenden Quelle sich tiefer anhöre. Skeptiker hatten eingewandt: Wie könne dasselbe Licht derselben Lampe von unterschiedlichen Betrachtern in unterschiedlichen Farben wahrgenommen werden? Aber Doppler platzierte 1845 einige Trompeter auf einem Eisenbahnzug und ließ sie während der Fahrt einen bestimmten Ton spielen.13 Ungläubig lauschte das auf dem Bahnsteig versammelte Publikum, als es von dem schnell herannahenden Zug einen höheren Ton und von dem sich entfernenden Fahrzeug einen tieferen Ton hörte.

Doppler behauptete, Schall und Licht verhielten sich nach universellen Naturgesetzen – auch wenn diese der Intuition gewöhnlicher Betrachter oder Hörer zutiefst zuwiderliefen. Wenn man genau hinschaue, seien all die chaotischen, komplexen Phänomene der Welt das Ergebnis höchst organisierter Naturgesetze, die wir nur gelegentlich durch Intuition oder Wahrnehmung erkennen könnten. Häufiger sei aber ein durch und durch künstliches Experiment – wie Trompeter auf einem vorbeifahrenden Zug – erforderlich, um diese Gesetzmäßigkeiten zu verstehen und zu demonstrieren.

Mendel fand Dopplers Experimente und Demonstrationen gleichermaßen faszinierend wie frustrierend. Sein Hauptfach, Biologie, erschien ihm als wilder, überwucherter Garten ohne jegliche systematische Organisationsprinzipien. Oberflächlich betrachtet, gab es Ordnung in Hülle und Fülle – vielmehr eine Fülle von Ordnungen. Die vorherrschende Disziplin der Biologie war die Taxonomie, ein ausgeklügelter Versuch, alle Lebewesen in verschiedene Kategorien einzuordnen: Reiche, Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten. Dieses ursprünglich Mitte des 18. Jahrhunderts von dem schwedischen Botaniker Carl von Linné entwickelte System war rein deskriptiv, nicht mechanistisch.14 Es beschrieb, wie man die Lebewesen auf der Erde klassifizieren konnte, ohne ihrer Organisation eine zugrundeliegende Logik zuzuschreiben. Ein Biologe mochte sich dagegen fragen, warum Lebewesen auf diese Art kategorisiert wurden. Was sorgte für ihre Konstanz: Was hielt Elefanten oder Kängurus davon ab, sich in Schweine oder Biber zu verwandeln? Welchen Mechanismen folgte die Vererbung? Warum oder wie brachte Gleiches Gleiches hervor?

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Diese Frage hatte Naturwissenschaftler und Philosophen seit Jahrhunderten beschäftigt. Bereits der griechische Gelehrte Pythagoras – halb Wissenschaftler, halb Mystiker – , der um 530 v. Chr. in Kroton lebte, hatte eine der frühesten und weithin anerkannten Theorien aufgestellt, um die Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern zu erklären. Im Kern behauptete er, der männliche Samen sei Hauptträger der Erbinformation (»Gleichheit«). Diese Information sammele der Samen, indem er durch den Körper eines Mannes fließe und dabei mystische Ausdünstungen aus jedem Körperteil aufnehme (die Augen trügen ihre Farbe bei, die Haut ihre Textur, die Knochen ihre Länge usw.). Im Laufe seines Lebens entwickele sich der Samen eines Mannes zu einer mobilen Bibliothek eines jeden Körperteils – zu einem kondensierten Destillat seiner selbst.

Diese – buchstäblich fruchtbare – Selbstinformation gebe der Mann beim Geschlechtsverkehr in den weiblichen Körper ab. Im Schoß der Mutter reife der von ihr genährte Samen zu einem Fötus heran. Bei der Fortpflanzung (wie bei jeder anderen Form der Produktion) herrschte nach Pythagoras’ Ansicht eine klare Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau. Der Vater trug die wesentliche Information zur Entstehung eines Fötus bei, der Mutterleib lieferte die Nahrung, damit diese Information an ein Kind weitergegeben werden konnte. Diese Theorie bezeichnete man später als Spermismus und betonte damit die zentrale Rolle des Spermiums für die Festlegung sämtlicher Merkmale eines Fötus.

Einige Jahrzehnte nach Pythagoras’ Tod nutzte der Dichter Aischylos diese seltsame Logik für eine der ungewöhnlichsten Rechtfertigungen von Muttermord. Das zentrale Thema seines Stückes Die Eumeniden ist der Prozess gegen Orest, den König von Argos, wegen Mord an seiner Mutter Klytaimnestra. In den meisten Kulturen galt Muttermord als Akt höchster moralischer Verderbtheit. In den Eumeniden führt Apollo, der Orest in dessen Mordprozess verteidigt, ein erstaunlich originelles Argument an: Er erklärt, die Mutter sei für Orest nicht mehr als eine Fremde. Eine Schwangere sei lediglich ein glorifizierter Brutapparat, ein Infusionsbeutel, aus dem Nährstoffe durch die Nabelschnur in das Kind tropfen. Der eigentliche Ahn aller Menschen sei der Vater, dessen Samen »Ähnlichkeit« übertrage. »Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin, / Sie hegt und trägt den eingesäten Samen nur; / Es zeugt der Vater, aber sie bewahrt das Pfand, / Dem Freund die Freundin.«15

Die offenkundige Asymmetrie dieser Vererbungstheorie – wonach der Vater sämtliche »Erbanlagen« beiträgt und die Mutter in ihrem Schoß die anfängliche »Hege und Pflege« leistet – störte die Anhänger des Pythagoras offenbar nicht; vielleicht gefiel sie ihnen sogar. Pythagoräer waren geradezu besessen von der mystischen Geometrie des Dreiecks. Der Satz des Pythagoras – nach dem sich im rechtwinkligen Dreieck die Länge der Hypotenuse mathematisch aus der Länge der beiden anderen Seiten ableiten lässt – war bereits indischen und babylonischen Geometern bekannt, war aber später untrennbar mit Pythagoras verbunden (nach dem er benannt wurde).16 Seine Schüler sahen darin den Beweis, dass solche geheimen mathematischen Muster – »Harmonien« – überall in der Natur schlummerten. Eifrig bemüht, die Welt durch dreieckige Linsen zu sehen, behaupteten sie, auch bei der Vererbung sei die Dreiecksharmonie am Werk. Mutter und Vater bildeten zwei unabhängige Seiten und das Kind die dritte – die biologische Hypotenuse zu den Linien der Eltern. Und ebenso wie sich die dritte Seite des Dreiecks nach einer strengen mathematischen Formel arithmetisch aus den beiden anderen Seiten ableiten lasse, erwachse ein Kind aus den Einzelbeiträgen der Eltern: den Erbanlagen des Vaters und der Hege und Pflege der Mutter.

Ein Jahrhundert nach Pythagoras’ Tod griff Platon 380 v. Chr. diese Metapher auf.17 In einer der faszinierendsten Passagen seines Werkes Der Staat – die er teils bei Pythagoras entlehnte – argumentierte er, wenn Kinder die arithmetischen Ableitungen ihrer Eltern seien, ließe sich die Formel zumindest prinzipiell knacken: Aus perfekten Elternkombinationen, die sich zu perfekt abgestimmten Zeiten paarten, könnten vollkommene Kinder hervorgehen. Es gebe also einen »Vererbungssatz«, der lediglich auf seine Entdeckung warte. Wenn eine Gesellschaft diese Gesetzmäßigkeit aufdecke und die demnach ratsamen Kombinationen durchsetze, könne sie die Produktion der fähigsten Kinder gewährleisten – und eine Art numerologischer Eugenik in Gang setzen: »Und wenn eure Wächter diese nicht kennen und die Bräute den Jünglingen zur unrechten Zeit zugesellen, so wird das weder schöne noch glückliche Kinder geben«, schloss Platon.18 Sobald die Wächter seines Staates, dessen herrschende Elite, die »Gesetze der Geburt« erst einmal entschlüsselt hätten, würden sie sicherstellen, dass in Zukunft nur noch solche harmonischen »glücklichen« Verbindungen zustande kämen. Aus der genetischen Utopie würde sich eine politische Utopie entwickeln.

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Es bedurfte eines so präzisen analytischen Denkers wie Aristoteles, um Pythagoras’ Vererbungstheorie systematisch zu zerpflücken. Aristoteles war zwar kein sonderlich glühender Verehrer der Frauen, glaubte jedoch fest daran, Beweise als Grundlage der Theoriebildung zu nutzen. Also schickte er sich an, die Vorzüge und Probleme des »Spermismus« anhand experimenteller Daten aus der biologischen Welt zu überprüfen. Das Ergebnis, eine kompakte Abhandlung mit dem Titel Von der Zeugung und Entwicklung der Tiere wurde für die Humangenetik ebenso grundlegend wie Platons Der Staat für die politische Philosophie.19

Aristoteles verwarf die Idee, nur der männliche Samen, also das Sperma, trage die Erbanlagen. Scharfsinnig stellte er fest, dass Kinder Merkmale ihrer Mutter und Großmütter (wie auch ihres Vaters und ihrer Großväter) erben und diese Merkmale sogar Generationen überspringen, also in einer Generation verschwinden, aber in der nächsten wieder auftauchen können. »Es werden auch von Krüppelhaften Krüppelhafte erzeugt, so von Hinkenden Hinkende, von Blinden Blinde und überhaupt in widernatürlichen Dingen ähnliche, oft auch mit angeborenen Zeichen, wie mit Malen und Narben behaftete. Sogar schon bis in’s dritte Glied hat sich derartiges gezeigt; so hatte einer ein Mal am Arme, der Sohn besaß es nicht, der Enkel aber hatte es an derselben Stelle, wenngleich undeutlich. … Es zeigt sich dies auch nach mehreren Geschlechtern, wie bei einer, welche in Elis mit einem Mohren sich einließ; die Tochter wurde nämlich keine Mohrin, wohl aber deren Kind.«20 Ein Enkel konnte mit der Nase oder Hautfarbe der Großmutter zur Welt kommen, obgleich keiner seiner Eltern dieses Merkmal besaß – ein Phänomen, das sich durch Pythagoras’ Schema rein patrilinearer Vererbung praktisch nicht erklären ließ.

Zudem stellte Aristoteles Pythagoras’ Vorstellung einer »Wanderbibliothek« in Frage, wonach der Samen auf dem Weg durch den Körper Erbinformationen sammele und von jedem Körperteil geheime »Anweisungen« erhalte. »Manches haben auch die Eltern noch nicht zu der Zeit, wo sie erzeugen, zum Beispiel die grauen Haare oder den Bart«, stellte Aristoteles scharfsichtig fest – dennoch geben sie diese Merkmale an ihre Kinder weiter.21 Zuweilen handelte es sich bei den vererbten Eigenheiten nicht einmal um körperliche Merkmale, sondern beispielsweise um eine bestimmte Art zu gehen, ins Leere zu starren oder sogar um eine Gemütsverfassung. Aristoteles argumentierte, solche – nicht materiellen – Züge könnten sich nicht im Samen materialisieren. Und schließlich brachte er gegen Pythagoras’ Theorie noch ein Argument vor, das vielleicht das offenkundigste und selbstverständlichste war: sie könne die weibliche Anatomie nicht erklären. Wie solle das Sperma des Vaters die Anweisungen »absorbieren«, die Geschlechtsteile seiner Tochter hervorzubringen, obwohl doch in seinem Körper keines dieser Teile vorhanden sei, fragte er. Pythagoras’ Theorie konnte jeden Aspekt der Genese erklären bis auf den wichtigsten: die Genitalien.

Aristoteles bot eine alternative Erklärung an, die für seine Zeit erstaunlich radikal war: Vielleicht trügen weibliche ebenso wie männliche Individuen tatsächlich Stoff zu einem Fötus bei – eine Art weiblichen Samens. Und vielleicht entstehe der Fötus durch gemeinsame Beiträge männlicher und weiblicher Teile. Auf der Suche nach Analogien bezeichnete Aristoteles den männlichen Beitrag als »Anstoß der Bewegung« und meinte dies nicht wörtlich, sondern eher im Sinne von Anweisung, Information – oder Code, um einen modernen Begriff zu verwenden. Der tatsächliche stoffliche Austausch beim Geschlechtsverkehr stehe lediglich für einen obskureren, rätselhafteren Austausch. Eigentlich spiele der Stoff keine Rolle, denn was vom Mann an die Frau überginge, sei nicht Materie, sondern eine Botschaft. Der männliche Samen enthalte die Anweisungen zur Entstehung eines Kindes, wie der Bauplan eines Architekten die Vorgaben für ein Gebäude oder die Handwerkskunst eines Zimmermanns die Kenntnisse zur Bearbeitung eines Holzstücks beitrügen. »Ebenso geht auch von dem Zimmermann kein Theil hinweg und zu dem als Stoff dienenden Holz hin, noch befindet sich ein Theil der Zimmermannskunst in dem werdenden Werke, sondern die Gestalt und die Form kommt von jenem vermittelst der Bewegung in den Stoff hinein … Auf ähnliche Weise gebraucht die Natur in den Männchen, die da Samen von sich geben, den Samen wie ein Werkzeug.«22

Der weibliche Samen liefere dagegen den physischen Rohstoff für den Fötus – das Holz für den Zimmermann, den Mörtel für den Bau: Stoff und Füllmaterial des Lebens. Nach Aristoteles’ Ansicht bestand das weibliche Material aus dem Menstruationsblut, aus dem der männliche Samen ein Kind forme. (Heutzutage mag diese Behauptung abwegig klingen, aber auch sie erwuchs aus Aristoteles’ gründlicher Logik. Da das Ausbleiben der Menstruation mit der Empfängnis zusammenfiel, vermutete er, der Fötus müsse aus dem Regelblut gemacht werden.)

In seiner Aufteilung des männlichen und weiblichen Beitrags in »Stoff« und »Botschaft« irrte Aristoteles zwar, aber abstrakt hatte er eine der grundlegenden Wahrheiten der Vererbung durchaus erfasst. Die Vererbung, wie Aristoteles sie sah, bestand im Wesentlichen aus der Weitergabe von Informationen, die dann genutzt wurden, um einen Organismus von Grund auf aufzubauen: Aus Botschaft entstand Stoff. Und wenn ein Organismus heranreifte, brachte er wiederum männliche oder weibliche Keimzellen hervor – verwandelte also Stoff wieder in Botschaft. Statt des pythagoräischen Dreiecks war hier also ein Kreis oder Zyklus die Basis: Form zeugte Information, die wiederum Form hervorbrachte. Jahrhunderte später scherzte der Biologe Max Delbrück, Aristoteles hätte posthum den Nobelpreis verdient – für die Entdeckung der DNA.23

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Wenn die Erbanlagen aber als Information weitergegeben wurden, wie war diese dann codiert? Das Wort Code ist abgeleitet vom lateinischen caudex, der Bezeichnung für die hölzernen Wachstafeln, in die Schreiber ihre Texte ritzten. Worin bestand nun der caudex der Vererbung? Was wurde wie transkribiert? Wie wurde der Stoff verpackt und von einem Körper in den anderen transportiert? Wer verschlüsselte den Code und wer übersetzte ihn so, dass ein Kind daraus entstand?

Die einfallsreichste Antwort auf diese Fragen war zugleich die einfachste: Sie verzichtete vollständig auf einen Code und behauptete, das Sperma enthalte bereits einen Miniaturmenschen, einen voll ausgebildeten, aber eingeschrumpften Fötus, der, in einem winzigen Paket zusammengekauert, darauf warte, nach und nach zu einem Baby anzuschwellen. Variationen dieser Theorie finden sich in mittelalterlichen Mythen und Volksweisheiten. So nutzte der deutsch-schweizerische Alchemist Paracelsus die Minimensch-im-Sperma-Theorie zu der Behauptung, wenn man menschlichen Samen mit Pferdedung erwärme und über die normale Gestationszeit von vierzig Wochen in Morast vergrabe, erwachse daraus letztlich ein Mensch, wenngleich mit einigen monströsen Merkmalen.24 Die Empfängnis eines normalen Kindes sei lediglich die Übertragung dieses Minimenschen vom Sperma des Vaters in den Mutterleib. Dort dehne sich der Homunculus zur Größe des Fötus aus. Es gebe keinen Code, sondern nur eine Verkleinerung.

Der seltsame Reiz dieser Vorstellung – der sogenannten Präformationslehre – beruhte auf ihrer endlosen Rekursivität. Da der Homunculus heranreifen und eigene Kinder hervorbringen würde, musste er vorgeformte Mini-Homunculi in sich tragen, in Menschen enthaltene winzige Menschen wie eine endlose Reihe russischer Puppen (Matrjoschka), eine lange Kette, die von der Gegenwart zurück bis zu Adam, dem ersten Menschen, und bis weit in die Zukunft reichte. Den Christen des Mittelalters vermittelte die Existenz einer solchen Menschenkette ein äußerst wirkmächtiges und ursprüngliches Verständnis der Erbsünde. Da in den gegenwärtigen Menschen bereits alle zukünftigen vorhanden waren, musste jeder von uns im entscheidenden Moment der Erbsünde in Adams Körper präsent gewesen sein – »in den Lenden unserer Ureltern schwimmend«, wie ein Theologe schrieb.25 Sündhaftigkeit war also schon Tausende Jahre vor unserer Geburt in uns eingebettet – unmittelbar von Adam an seine Nachkommen weitergegeben. Wir alle tragen diesen Makel – nicht etwa, weil unser früher Urahn in jenem fernen Paradiesgarten in Versuchung geraten war, sondern weil jeder von uns in Adams Körper tatsächlich die verbotene Frucht gekostet hatte.

Die Präformationstheorie besaß zudem den Reiz, dass sie das Problem der Dechiffrierung umging. Selbst wenn frühe Biologen eine Verschlüsselung – die Umwandlung eines menschlichen Körpers in eine Art Code (durch Osmose im Sinne von Pythagoras) – für möglich halten konnten, überstieg der umgekehrte Vorgang, die Entschlüsselung dieses Codes, jegliches Vorstellungsvermögen. Wie konnte etwas so Komplexes wie ein Mensch aus der Verschmelzung von Samen und Eizelle hervorgehen? Dieses gedankliche Problem erübrigte sich durch den Homunculus. Wenn ein Kind bereits vorgeformt war, bestand seine Entstehung lediglich in einer Expansion – in der biologischen Variante einer aufblasbaren Puppe. Es bedurfte keines Schlüssels und keiner Chiffre zu seiner Entschlüsselung. Für die Genese eines Menschen war nicht mehr erforderlich, als Wasser zuzugeben.

Die Theorie war so verlockend – so anschaulich – , dass selbst die Erfindung des Mikroskops dem Homunculus nicht den erwarteten Todesstoß versetzen konnte. Der niederländische Physiker und Mikroskopentwickler Nicolas Hartsoeker entwarf 1694 das Bild eines solchen Miniwesens mit großem Kopf, das in Embryonalhaltung im Spermium kauerte.26 Ein anderer niederländischer Mikroskopist behauptete 1699, er habe in menschlichem Sperma eine Fülle von Homunculi entdeckt. Wie bei jeder anthropomorphen Phantasie – etwa dem menschlichen Gesicht, das im Mond zu erkennen ist – vergrößerten die Linsen der Vorstellungskraft die Theorie nur noch weiter: Im 17. Jahrhundert mehrten sich die Bilder von Homunculi, die im Schwanz des Spermiums das menschliche Haar und in dessen Kopfteil einen winzigen menschlichen Schädel sahen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts galt die Präformationstheorie als logischste und stimmigste Erklärung für die Vererbung bei Mensch und Tier. Menschen erwuchsen aus kleinen Menschen wie große Bäume aus kleinen Ablegern. »In der Natur gibt es keine Zeugung«, schrieb der niederländische Wissenschaftler Jan Swammerdam 1669, »es gibt nur Vermehrung.«27

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Allerdings ließ sich nicht jeder davon überzeugen, dass in Menschen endlos viele Miniaturmenschen eingebettet seien. Der Haupteinwand gegen die Präformationstheorie war, dass während der Embryogenese etwas vorgehen musste, was im Embryo völlig neue Teile entstehen ließ. Menschen warteten nicht vorgefertigt und eingeschrumpft auf ihre Expansion. Sie mussten sich von Grund auf entwickeln und dabei spezifische Anweisungen nutzen, die in Spermium und Eizelle enthalten waren. Gliedmaßen, Torso, Gehirn, Augen, Gesicht – sogar Temperament und ererbte Neigungen – mussten jedes Mal, wenn ein Embryo sich zu einem Fötus entfaltete, neu geschaffen werden. Die Genese erfolgte … nun ja – eben durch Genese.

Welcher Impuls oder welche Anweisung ließ aus Samen und Eizelle den Embryo und den fertigen Organismus entstehen? Der Berliner Embryologe Caspar Wolff bemühte sich 1768 um eine raffinierte Antwort und brütete ein Leitprinzip aus – vis essentialis corporis nannte er es – , das die Reifung eines befruchteten Eis zum Menschen progressiv lenkte.28 Wie Aristoteles stellte auch Wolff sich vor, ein Embryo enthalte eine Art verschlüsselter Information – einen Code – , bei der es sich nicht bloß um eine Miniaturversion eines Menschen, sondern um Anweisungen handele, einen solchen von Grund auf zu erzeugen. Abgesehen von einem lateinischen Namen für ein vages Prinzip konnte Wolff keine genaueren Angaben machen. Die Anweisungen verschmölzen irgendwie in der befruchteten Eizelle, argumentierte er blumig. Dann käme die vis essentialis ins Spiel und forme wie eine unsichtbare Hand aus dieser Masse eine menschliche Gestalt.

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Während Biologen, Philosophen, Theologen und Embryologen über weite Teile des 18. Jahrhunderts heftige Debatten über Präformationstheorie und die »unsichtbare Hand« führten, mochte es verzeihlich sein, dass flüchtige Betrachter von alledem recht unbeeindruckt blieben. Schließlich war das alles nichts Neues. »Schon in früheren Jahrhunderten haben die jetzt wieder zutage getretenen Gegensätze bestanden«, klagte ein Biologe im 19. Jahrhundert zu Recht.29 Tatsächlich griff die Präformationstheorie weitgehend die Annahme des Pythagoras auf, dass im Sperma sämtliche Informationen für die Entwicklung eines neuen Menschen enthalten seien. Und die »unsichtbare Hand« war wiederum nur eine aufpolierte Variante der aristotelischen Idee, dass die Vererbung in Form von Botschaften zur Hervorbringung von Stoffen erfolge (die »Hand« übertrug die Anweisungen, einen Embryo zu formen).

Mit der Zeit sollten sich beide Theorien auf spektakuläre Weise zugleich als richtig und falsch erweisen. Sowohl Aristoteles als auch Pythagoras hatten teils recht und unrecht. Aber im frühen 19. Jahrhundert hatte es den Anschein, als ob alle Bemühungen auf dem gesamten Gebiet der Vererbung und Embryogenese in einer Sackgasse endeten. Die größten Naturkundler und Biologen der Welt, die über das Problem der Vererbung nachgedacht hatten, waren kaum über die kryptischen Überlegungen zweier Männer hinausgekommen, die zweitausend Jahre zuvor gelebt hatten.

»Das Geheimnis der Geheimnisse«

… They mean to tell us all was rolling blind

Till accidentally it hit on mind

In an albino monkey in a jungle,

And even then it had to grope and bungle,

Till Darwin came to earth upon a year …

Robert Frost, »Accidentally on Purpose«30

Im Winter 1831, als Mendel noch die Schule besuchte, ging der junge Theologe Charles Darwin an Bord der Zehn-Kanonen-Brigg HMSBeagle