Der König aller Krankheiten - Siddhartha Mukherjee - E-Book

Der König aller Krankheiten E-Book

Siddhartha Mukherjee

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Beschreibung

»Eine grandiose Kulturgeschichte des Krebses.« SPIEGEL  Krebs ist ein Überlebenskünstler: Er verändert sich, er passt sich an, er entwickelt sich weiter, er wächst. Er ist uns biologisch so nahe, dass wir uns oft selbst zerstören, wenn wir ihn vernichten. Die Suche nach der »Heilung« von Krebs hat sich allmählich zum Maßstab unseres wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritts entwickelt.   In seinem bahnbrechenden und preisgekrönten Buch erzählt der renommierte Onkologe Siddhartha Mukherjee die faszinierende Geschichte der Beziehung zwischen Mensch und Krebs. Wie haben wir ihn uns in der Vergangenheit vorgestellt? Was konnten wir ihm entgegensetzen? Wo stehen wir jetzt im Kampf gegen diese gefräßigste aller Krankheiten? Mukherjee zeigt, wie weit wir bei der Lösung eines der großen Rätsel der Wissenschaft gekommen sind, und gibt einen faszinierenden Ausblick auf unsere zukünftigen Fortschritte.    »Eine brillante Kombination aus Medizin-Krimi und Kriegsgeschichte. Ein Jahrhundertbuch.« STERN  »Ein ganz wunderbares Buch. Nicht nur, weil es so spannend, so elegant, so ungeheuer reich an Wissen ist. Sondern vor allem, weil es auch von der Hoffnung erzählt.« WAMS 

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Das Buch

In seinem bahnbrechenden und preisgekrönten Buch erzählt der renommierte Onkologe Siddhartha Mukherjee die faszinierende Geschichte der Beziehung zwischen Mensch und Krebs. Wie haben wir ihn uns in der Vergangenheit vorgestellt? Was konnten wir ihm entgegensetzen? Wo stehen wir jetzt im Kampf gegen diese gefräßigste aller Krankheiten? Mukherjee zeigt, wie weit wir bei der Lösung eines der großen Rätsel der Wissenschaft gekommen sind, und gibt einen faszinierenden Ausblick auf unsere zukünftigen Fortschritte.

Der Autor

Siddhartha Mukherjee ist praktizierender Onkologe am Columbia University Medical Center und Autor. Für sein Buchdebüt Der König aller Krankheiten: Krebs – eine Biographie erhielt er 2011 den Pulitzer-Preis. Auch Das Gen – eine sehr persönliche Geschichte war ein weltweiter Erfolg. Als Experte auf dem Gebiet der Krebs- und Stammzellforschung veröffentlicht er regelmäßig in The New Yorker und der New York Times.

SIDDHARTHA MUKHERJEE

Der König aller Krankheiten

Krebs – eine Biographie

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2787-7

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2022

© 2010 Siddhartha Mukherjee

© Ullstein Buchverlage GmbH 2022

© für die deutsche Übersetzung DuMont Buchverlag, Köln 2012

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Emperor of All Maladies: A Biography of Cancer (Scribner, New York)

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einer Idee von © Andrea Glanegger

Titelabbildung: Taschenkrebs: © QUAGGA Illustrations, Berlin, 2022; Hintergrund: © FinePic®, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
Einführung
VORBEMERKUNG
PROLOG
Teil 1
»EINE VEREITERUNG DES BLUTES«
»EIN UNGEHEUER, UNERSÄTTLICHER ALS DIE GUILLOTINE«
FARBERS FEHDEHANDSCHUH
EINE PRIVATE PLAGE
ONKOS
SCHWINDENDE SÄFTE
»FERNE SYMPATHIE«
EINE RADIKALE IDEE
DIE HARTE RÖHRE UND DAS SCHWACHE LICHT
FÄRBEN UND STERBEN
VERGIFTETE ATMOSPHÄRE
DIE HERZENSGÜTE DES SHOWBUSINESS
DAS HAUS, DAS JIMMY GEBAUT HAT
Teil 2
»SIE GRÜNDEN VEREINIGUNGEN«
»DIESE NEUEN FREUNDE DER CHEMOTHERAPIE«
»DIE METZGEREI«
EIN ERSTER SIEG
VON MÄUSEN UND MENSCHEN
VAMP
DER TUMOR EINES ANATOMEN
EINE ARMEE AUF DEM VORMARSCH
DER KARREN UND DAS PFERD
»EIN MONDFLUG FÜR DEN KREBS«
Teil 3
»AUF GOTT VERTRAUEN WIR. ALLE ANDEREN MÜSSEN DATEN VORLEGEN.«
»DER LÄCHELNDE ONKOLOGE«
DEN FEIND KENNEN
HALSTEDS ASCHE
KREBSZÄHLEN
Teil 4
»SCHWARZE SÄRGE«
DES KÖNIGS NYLONSTRÜMPFE
»EIN DIEB IN DER NACHT«
»EINE WARNENDE STELLUNGNAHME«
»VERQUERER UND VERQUERER«
»DÜNN WIE SPINNWEBEN«
STAMP
LANDKARTE UND FALLSCHIRM
Teil 5
»EINE GEMEINSAME URSACHE«
UNTER DEN LATERNEN DER VIREN
»DIE JAGD NACH DEM SARC«
DER WIND IN DEN BÄUMEN
EINE RISKANTE VORHERSAGE
DIE KENNZEICHEN VON KREBS
Teil 6
»NIEMAND HAT SICH UMSONST GEQUÄLT«
NEUE WIRKSTOFFE GEGEN ALTE TUMOREN
EINE STADT AUS SCHNÜREN
MEDIKAMENTE, KÖRPER, BEWEISE
EINE VIER-MINUTEN-MEILE
DAS RENNEN DER ROTEN KÖNIGIN
DREIZEHN BERGE
ATOSSAS KRIEG
DANK
ANMERKUNGEN
GLOSSAR
AUSWAHLBIBLIOGRAFIE
BILDNACHWEIS
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Robert Sandler (1945–1948)

und alle vor ihm und nach ihm.

Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, ist früher oder später doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.

Susan Sontag, Krankheit als Metapher

Im Jahr 2010 starben rund sechshunderttausend Amerikaner und mehr als 7 Millionen Menschen weltweit an Krebs. In den Vereinigten Staaten erkrankt jede dritte Frau und jeder zweite Mann an Krebs. Ein Viertel aller Todesfälle in denUSAund etwa fünfzehn Prozent aller Todesfälle weltweit gehen auf Krebs zurück. In einigen Ländern ist Krebs bereits die häufigste Todesursache und steht damit noch vor den Herzerkrankungen.

VORBEMERKUNG

Dieses Buch erzählt die Geschichte des Krebses. Es ist die Chronik einer uralten, einst geheim gehaltenen und nur hinter vorgehaltener Hand erwähnten Krankheit, die sich in ein todbringendes, dauernd seine Form veränderndes Wesen verwandelt hat und in medizinischer, wissenschaftlicher und politischer Hinsicht und nicht zuletzt in ihrer Metaphorik derart bestimmend und alles durchdringend ist, dass Krebs häufig als die Krankheit unserer Generation gilt. Dieses Buch ist im wahrsten Sinne des Wortes eine »Biografie« – ein Versuch, in den Geist dieser unsterblichen Krankheit einzudringen, ihre Persönlichkeit zu verstehen, ihr Verhalten zu entmystifizieren. Letztlich aber geht es mir um eine Frage, die über das rein Biografische hinausreicht: Ist irgendwann in der Zukunft ein Ende des Krebses vorstellbar? Wird es möglich sein, diese Krankheit aus unserem Körper und unserer Gesellschaft endgültig auszumerzen?

Krebs ist nicht eine Krankheit, sondern viele Krankheiten. Wir sprechen kollektiv von »Krebs«, weil allen diesen Krankheiten ein Wesensmerkmal gemeinsam ist: das abnorme Wachstum von Zellen. Und über die biologischen Gemeinsamkeiten hinaus sind die verschiedenen Erscheinungsformen von Krebs von einschneidenden kulturellen und politischen Themen durchdrungen, weshalb es gerechtfertigt scheint, vereinheitlichend über »Krebs« zu schreiben. Da wir uns nicht mit den Geschichten jeder einzelnen Krebsvariante beschäftigen können, habe ich mich bemüht, die großen Themenbereiche herauszuarbeiten, die sich durch diese viertausendjährige Geschichte ziehen.

Dieses Vorhaben, das natürlich gewaltig ist, begann als ein viel bescheideneres Projekt: Im Sommer 2003, als fertiger Facharzt und mit eben abgeschlossener Dissertation auf dem Gebiet der Krebsimmunologie, begann ich mit einer Intensivfortbildung in Krebstherapie (medizinischer Onkologie) am Dana-Farber-Krebsinstitut und am Massachusetts General Hospital in Boston. Ursprünglich hatte ich einen Bericht über dieses Jahr schreiben wollen, sozusagen einen Bericht aus dem Schützengraben der Krebstherapie. Aber das Vorhaben wuchs sich rasch zu einer weitaus umfassenderen Forschungsreise aus, die mich nicht nur in die Tiefen der Wissenschaft und der Medizin, sondern auch in Kultur, Geschichte, Literatur und Politik, in die Vergangenheit und in die Zukunft des Krebses führte.

Im Epizentrum dieser Geschichte stehen zwei Personen – sie lebten zur selben Zeit, waren beide Idealisten, beide Kinder des gewaltigen Aufschwungs von Wissenschaft und Technik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA, und beide wurden vom Sog eines leidenschaftlichen, ja regelrecht besessenen Strebens mitgerissen: Sie wollten die Nation zum »Krieg gegen den Krebs« aufrütteln. Das ist zum einen Sidney Farber, der Vater der modernen Chemotherapie, der in einem Vitaminanalogon zufällig eine wirkungsvolle chemische Substanz zur Krebsbekämpfung entdeckte und von einem universalen Heilmittel gegen den Krebs zu träumen begann. Und das ist zum anderen Mary Lasker, eine einflussreiche Dame der feinen Manhattaner Gesellschaft, deren soziales und politisches Engagement legendär war: Sie schloss sich Farbers jahrzehntelanger Reise an. Aber Lasker und Farber sind nur zwei Beispiele für die Entschlossenheit, die Vorstellungskraft, den Erfindungsreichtum und Optimismus der Generationen von Männern und Frauen, die seit viertausend Jahren gegen den Krebs kämpfen. In gewisser Weise ist dies die Geschichte eines Kriegs – gegen einen Gegner, der gestaltlos, zeitlos und allgegenwärtig ist. Auch hier gibt es Siege und Niederlagen, Feldzüge über Feldzüge, Helden und Hybris, Überleben und Widerstand – und, zwangsläufig, die Verwundeten, die Verurteilten, die Vergessenen, die Toten. Letztlich erscheint Krebs tatsächlich, wie im neunzehnten Jahrhundert ein Chirurg im Vorwort zu einem Buch schrieb, als »der König aller Krankheiten«.

Ein Haftungsausschluss vorweg: In der Wissenschaft und der Medizin, wo der Vorrang einer ersten Entdeckung größte Bedeutung hat, wird das Gütesiegel des Erfinders oder Entdeckers von einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern und Forschern vergeben. In diesem Buch stehen zwar viele Geschichten von Entdeckungen und Erfindungen, aber einen rechtlichen Anspruch auf Vorrang begründet keine.

Diese Arbeit steht auf fremden Schultern: Sie stützt sich auf andere Bücher, Studien, medizinische Fachzeitschriften, Erinnerungen, Interviews; sie stützt sich auf zahlreiche Beiträge von Gesprächspartnern, auf Bibliotheken, Sammlungen, Archive und Aufsätze. Sämtliche Quellen, die hier benutzt wurden, und die Personen, denen ich zu danken habe, sind am Ende des Buches aufgeführt.

Ein Dank aber kann nicht bis zum Ende warten. Dieses Buch ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit des Krebses, sondern auch eine persönliche Reise – meine Entwicklung zum Onkologen. Sie wäre unmöglich gewesen ohne die Patienten, von denen ich mehr gelernt habe und lerne als von allen anderen. In ihrer Schuld stehe ich für immer.

Diese Schuld verpflichtet. Es versteht sich von selbst, dass bei den Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, die Privatsphäre und Würde der Betroffenen gewahrt bleibt. Nur in Fällen, in denen die Erkrankung ohnehin öffentlich bekannt war (etwa durch frühere Interviews oder Artikel), nenne ich echte Namen. In Fällen aber, von denen die Öffentlichkeit nichts weiß, oder wenn meine Gesprächspartner um Diskretion baten, habe ich falsche Namen verwendet und Daten und Identitäten absichtlich durcheinandergebracht, um etwaige Anhaltspunkte oder Hinweise zu verschleiern. Dennoch sind es echte Patienten und wahre Begegnungen, und ich bitte alle meine Leser, Identitäten und Grenzen zu respektieren.

PROLOG

Wenn die Krankheit verzweifelt ist, kann ein verzweifelt Mittel Nur helfen, oder keins.

William Shakespeare, Hamlet

Krebs beginnt und endet mit dem Menschen. Diese eine elementare Tatsache wird bei aller wissenschaftlichen Abstraktion zuweilen vergessen … Ärzte behandeln Krankheiten, aber sie behandeln auch Menschen, und diese Grundgegebenheit ihrer beruflichen Existenz zieht sie manchmal gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen.

June Goodfield

Am Morgen des 19. Mai 2004 wachte Carla Reed, eine dreißigjährige Vorschullehrerin aus Ipswich, Massachusetts, und Mutter dreier kleiner Kinder, mit Kopfschmerzen auf. »Das war nicht irgendein Kopfweh«, erinnerte sie sich später, »sondern ein betäubender Schmerz. Ein Gefühl, das einem auf der Stelle sagt, dass irgendwas ganz und gar nicht stimmt.«

Schon seit fast einem Monat stimmte etwas nicht mehr. Ende April hatte Carla blaue Flecken auf dem Rücken entdeckt. Sie waren eines Morgens plötzlich da, wie seltsame Stigmata, waren größer geworden und im Verlauf der nächsten Wochen allmählich wieder verblasst, hatten aber Spuren auf der Haut zurückgelassen, die an eine Landkarte erinnerten. Zuerst kaum bemerkt, war ihr Zahnfleisch allmählich heller und schließlich fast weiß geworden. Anfang Mai kam Carla, bis dahin eine lebenslustige, energiegeladene Frau, die es gewohnt war, stundenlang mit Fünf- und Sechsjährigen herumzutollen, kaum noch eine Treppe hinauf. An manchen Tagen konnte sie vor Erschöpfung morgens nicht aufstehen und kroch auf allen vieren durch den Flur von einem Zimmer ins andere. Sie schlief unruhig, zwölf bis vierzehn Stunden, war aber nach dem Aufwachen so erschlagen, dass sie sich zwischendurch immer wieder aufs Sofa legen musste, wo sie wieder einschlief.

Carla war in diesen vier Wochen in Begleitung ihres Mannes zwei Mal bei einer Allgemeinärztin und einer Krankenschwester gewesen, aber nie wurden irgendwelche weiterführenden Untersuchungen gemacht, nie eine Diagnose gestellt. In ihren Knochen traten geisterhafte Schmerzen auf und verschwanden wieder. Die Ärztin hatte keine rechte Erklärung dafür. Vielleicht Migräne, meinte sie und riet Carla zu Aspirin. Vom Aspirin fing Carlas weißes Zahnfleisch zu bluten an.

Die extrovertierte, gesellige und impulsive Carla fand diese Krankheit, die kam und ging, eher erstaunlich als beunruhigend. Sie war ihr Leben lang nie ernsthaft krank gewesen. Das Krankenhaus war ein abstrakter Ort für sie, nie hatte sie einen Facharzt aufgesucht, geschweige denn einen Onkologen. Als Erklärung ihrer Symptome malte sie sich die verschiedensten Ursachen aus – Überarbeitung, Depression, Verdauungsstörungen, Schlafstörungen. Aber irgendein Instinkt in ihr, eine Art sechster Sinn, sagte ihr schließlich, dass sich in ihrem Körper etwas Akutes und Katastrophales zusammenbraute.

Am Nachmittag des 19. Mai ließ Carla ihre drei Kinder in der Obhut einer Nachbarin zurück und fuhr noch einmal in die Praxis, und diesmal bestand sie auf einer Blutuntersuchung. Die Ärztin ordnete also ein Blutbild an. Als der Assistent das Blut abnahm, stutzte er: Das Blut, das aus Carlas Vene kam, war wässrig, blass und wirkte irgendwie verdünnt – es hatte wenig Ähnlichkeit mit normalem Blut.

Carla wartete auf das Ergebnis der Untersuchung, doch an diesem Tag hörte sie nichts mehr. Am nächsten Morgen fuhr sie zum Fischmarkt, und dort erhielt sie einen Anruf.

»Wir müssen Ihnen noch mal Blut abnehmen«, sagte die Sprechstundenhilfe ihrer Ärztin.

»Wann soll ich denn vorbeikommen?«, fragte Carla, in Gedanken schon hektisch bei der Organisation des Tages. Sie weiß noch, dass sie in dem Moment auf die Uhr an der Wand blickte. In ihrem Korb lag ein halbes Pfund Lachsfilet, das zu verderben drohte, wenn es nicht bald in den Kühlschrank käme.

Es sind Banalitäten, aus denen sich Carlas Erinnerungen an ihre Diagnose zusammensetzen: die Wanduhr, die Fahrgemeinschaft, die Kinder, ein Röhrchen blasses Blut, eine verpasste Dusche, der Fisch in der Sonne, der alarmierte Tonfall der Stimme am Telefon. Was sie sagte, weiß Carla gar nicht mehr genau, nur der Tonfall ist ihr im Gedächtnis geblieben: »Kommen Sie sofort«, meint sie gehört zu haben, »kommen Sie sofort.«

Ich erfuhr von Carlas Krankheit am 21. Mai um sieben Uhr morgens in der U-Bahn zwischen Kendall Square und Charles Street in Boston. Der Satz, der auf meinem Piepser flackerte, hatte das Stakkato und die ausdruckslose Wucht eines echten medizinischen Notfalls: Carla Reed/neuer Leukämiefall/14. Stock/bitte sofort aufsuchen, wenn Sie da sind. Als die Bahn aus dem langen dunklen Tunnel herauskam, standen die gläsernen Türme des Massachusetts General Hospital vor mir, und ich konnte die Fenster im vierzehnten Stock sehen.

Carla, stellte ich mir vor, saß jetzt allein in einem dieser Krankenzimmer, entsetzlich allein. Draußen auf der Station hatte die übliche Betriebsamkeit eingesetzt, Röhrchen mit Blut wurden in die Labors im zweiten Stock geschickt, Krankenschwestern und Pfleger eilten mit Blutproben hin und her, Assistenzärzte sammelten Daten für die Morgenbesprechung, Alarmsignale piepten, Berichte wurden gefaxt. Irgendwo in den Tiefen des Krankenhauses wurde ein Mikroskop angeknipst, und unter der Linse zeigten sich die Blutkörperchen in Carlas Blut.

Dass es so ablief, kann ich deshalb mit ziemlicher Sicherheit sagen, weil es, von der Krebsstation ganz oben bis hinunter in den Keller, wo die klinischen Labore sind, immer das ganze Krankenhaus kalt überläuft, wenn ein Patient mit akuter Leukämie eintrifft. Leukämie ist Krebs der weißen Blutkörperchen – Krebs in einer seiner explosivsten und aggressivsten Formen. Eine der Schwestern auf der Station pflegte ihren Patienten zu sagen, dass bei dieser Krankheit »schon ein Schnitt mit einem Blatt Papier ein Notfall« ist.

Für einen angehenden Onkologen ist Leukämie ebenfalls eine besondere Form von Krebs. Sein rasches Fortschreiten, seine Dramatik, sein atemberaubendes, unerbittliches Wachstum erfordern oft drastische Entscheidungen; es ist furchterregend, unter Leukämie zu leiden, furchterregend, sie zu beobachten, und furchterregend, sie behandeln zu müssen. Der von ihr befallene Körper gerät an seine fragile physiologische Grenze – sämtliche Organe und Systeme, Herz, Lunge, Blut, arbeiten hart am Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Die Schwestern setzten mich rasch in Kenntnis: Die Blutuntersuchung bei Carlas Hausärztin hatte eine kritisch geringe Anzahl roter Blutkörperchen ergeben, weniger als ein Drittel des Normalwerts. Und statt gesunder Leukozyten enthielt ihr Blut Millionen großer, bösartiger weißer Blutkörperchen – Blasten, wie sie in der Fachsprache heißen. Als die Hausärztin endlich auf die richtige Diagnose gestoßen war, hatte sie ihre Patientin ins Massachusetts General Hospital eingewiesen.

Auf dem langen kahlen Gang vor Carlas Zimmer, im antiseptischen Glanz des mit Chlorbleiche gewischten Bodens, ging ich hastig die Liste der Laboruntersuchungen durch, die nun durchgeführt werden mussten, und probte im Geist das Gespräch, das ich mit Carla würde führen müssen. Selbst mein Mitgefühl, erkannte ich mit schlechtem Gewissen, hatte etwas Eingeübtes und Automatisches. Ich war im zehnten Monat meiner Fortbildung in Onkologie, eines intensiven zweijährigen klinischen Programms, mit dem Krebsspezialisten ausgebildet werden, und ich hatte das Gefühl, am tiefsten Punkt angelangt zu sein. In diesen zehn unbeschreiblich bedrückenden und schwierigen Monaten waren mir Dutzende Patienten gestorben, und ich fürchtete, allmählich abzustumpfen gegen den Tod und die Trostlosigkeit – als hätte mich die dauernde emotionale Belastung immunisiert.

An diesem Krankenhaus waren wir insgesamt sieben junge Ärzte, die an dem Ausbildungsprogramm teilnahmen. Auf dem Papier hatten wir Eindrucksvolles vorzuweisen: Abschlusszeugnisse der medizinischen Fakultäten von fünf verschiedenen Universitäten und von vier Universitätskrankenhäusern, insgesamt sechsundsechzig Jahre medizinischer und wissenschaftlicher Ausbildung, zwölf Doktorate. Nichts davon hatte uns auch nur im Entferntesten auf diese Ausbildung vorbereitet. Medizinstudium, diverse Assistenzzeiten, Facharztausbildung waren physisch und emotional zermürbend gewesen, aber die ersten Monate dieses Ausbildungsprogramms in der Onkologie ließen die Erinnerungen daran verblassen, als sei alles Frühere ein Kinderspiel gewesen, der Kindergarten unserer Ausbildung.

Krebs bestimmte unser ganzes Leben. Er drang in unser Denken ein, er besetzte unsere Erinnerungen, er schlich sich in jedes Gespräch, jede Überlegung ein. Und wenn schon wir als Ärzte uns vom Krebs vereinnahmt fühlten, hatten unsere Patienten den Eindruck, dass die Krankheit ihr Leben regelrecht auslöschte. In Alexander Solschenizyns Roman Krebsstation entdeckt Pawel Nikolajewitsch Rusanow, ein noch junger Mann Mitte vierzig, eine Geschwulst am Hals und wird sofort in die Krebsstation irgendeiner namenlosen Klinik im kalten Norden des Landes eingewiesen. Die Diagnose Krebs – nicht die Krankheit als solche, sondern das bloße Stigma – wird für Rusanow zum Todesurteil. Die Krankheit nimmt ihm seine Identität. Sie steckt ihn in einen Patientenkittel (ein tragikomisches, grausames Kostüm, nicht weniger entwürdigend als Gefängniskleidung) und übernimmt die absolute Kontrolle über alles, was er tut. Die Diagnose Krebs, muss Rusanow erfahren, bedeutet die Inhaftierung in einem grenzenlosen Medizin-Gulag, einem Staat, der noch aggressiver und lähmender ist als der, aus dem er kommt. (Solschenizyn mochte diese absurd totalitäre Krebsklinik als Parallele zu dem absurd totalitären Staat draußen verstanden haben, aber als ich einmal eine Frau mit invasivem Gebärmutterhalskrebs auf diese Parallele ansprach, sagte sie sarkastisch: »Ich habe leider keine Metaphern gebraucht, um dieses Buch zu lesen. Die Krebsstation war wirklich mein Gefängnis, mein totalitäres Regime.«)

Als Arzt, der den Umgang mit Krebspatienten lernt, bekam ich diese Gefangenschaft nur am Rande zu spüren. Aber selbst an der Peripherie war ich mir seiner Macht bewusst – der gespannten, beharrlichen Anziehungskraft, die alles und jeden in den Bannkreis des Krebses zieht. Ein Kollege, der das Ausbildungsprogramm eben abgeschlossen hatte, nahm mich während meiner ersten Woche beiseite, um mir einen Rat zu geben. »Was wir hier tun, nennt sich Immersivausbildung«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Man lernt, indem man in die Praxis eintaucht. Leider meint ›eintauchen‹ in Wirklichkeit ›untertauchen‹. Sieh zu, dass du nicht ertrinkst. Lass dich nicht vollständig vereinnahmen, hab auch noch ein Leben außerhalb der Klinik. Du wirst es brauchen, sonst verschlingt es dich.«

Aber es war unmöglich, sich nicht vollständig vereinnahmen zu lassen. Auf dem Parkplatz der Klinik, einer kalten, mit Flutlicht ausgeleuchteten Betonfläche, saß ich spätabends, nach der letzten Visite, wie betäubt in meinem Auto und versuchte Ordnung in meine Gedanken zu bringen; das Radio blubberte unbeachtet vor sich hin, während ich mich zwanghaft bemühte, die Ereignisse des Tages zu rekapitulieren. Die Geschichten meiner Patienten gingen mir an die Nieren, die Entscheidungen, die ich getroffen hatte, verfolgten mich. War es sinnvoll, einem sechsundsechzigjährigen Apotheker mit Lungenkrebs, bei dem alle anderen Therapieversuche versagt hatten, noch einmal zu einer Chemotherapie zu raten? War es besser, eine sechsundzwanzigjährige Frau mit Hodgkin-Lymphom mit einer bewährten, wirksamen Medikamentenkombination zu behandeln und damit das Risiko einzugehen, dass sie unfruchtbar wurde, oder sollte man lieber eine Kombination wählen, die kaum erprobt war, aber ihre Fruchtbarkeit vielleicht erhielt? Sollte eine spanischsprachige Mutter dreier Kinder, die an Darmkrebs litt, in eine neue klinische Studie aufgenommen werden, auch wenn sie kaum die formale und verklausulierte Sprache der Einwilligungserklärung verstand?

»Eingetaucht« in die Klinikroutine und den alltäglichen Umgang mit Krebs, konnte ich die Leben und die Schicksale meiner Patienten nur in grellbunten Details sehen, wie in einem Fernseher mit übersteuertem Kontrast. Ich konnte keinen Schritt zurücktreten, um die größeren Zusammenhänge zu erkennen. Instinktiv war mir bewusst, dass das, was ich erlebte, Teil eines viel umfassenderen Kampfes gegen den Krebs war, dessen Umrisse aber weit außerhalb meiner Wahrnehmung lagen. Wie jeder Anfänger sehnte ich mich danach, die vergangene Geschichte kennenzulernen, und wie jeder Anfänger war ich nicht in der Lage, sie mir vorzustellen.

Als ich aber aus der seltsamen Trostlosigkeit dieser beiden Ausbildungsjahre wieder auftauchte, stellten sich mir umso drängender die Fragen nach dem größeren Bild: Wie alt ist Krebs? Wann und wo hat unser Kampf gegen ihn angefangen? Oder, wie mich Patienten oft gefragt hatten: Wo stehen wir im »Krieg« gegen den Krebs? Wie sind wir so weit gekommen? Ist ein Ende in Sicht? Ist dieser Krieg überhaupt zu gewinnen?

Erst nur ein Versuch, Antworten auf diese Fragen zu finden, wuchs das Buch bald darüber hinaus. Ich tauchte in die Geschichte des Krebses ein, um dieser nicht fassbaren Krankheit eine Gestalt zu geben. Ich nutzte die Vergangenheit, um die Gegenwart zu erklären. In der Isolation und der Wut einer sechsunddreißigjährigen Patientin mit Brustkrebs in Stadium III klang ein fernes Echo von Atossa an, der Königin von Persien, die ihre kranke Brust mit Tüchern verbarg und sie schließlich in einem Anfall nihilistischer, aber weitblickender Wut wahrscheinlich von einem Sklaven abschneiden ließ. Der Wunsch einer Patientin, ich solle ihr den von Krebs zerfressenen Magen herausschneiden und dabei »nichts auslassen«, wie sie es formulierte, erinnerte mich an den perfektionistischen Chirurgen William Halsted, der, immer in der Hoffnung, die Heilungschancen zu verbessern, je mehr Gewebe er entfernte, im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert dem Krebs mit immer umfangreicheren, immer entstellenderen Operationen beikommen wollte.

Unter diesen medizinischen, kulturellen und metaphorischen Versuchen, den Krebs aufzuhalten, brodelte das biologische Verständnis der Krankheit – ein Verständnis, das sich von einem Jahrzehnt zum anderen oft radikal verändert hat. Krebs ist, wie wir heute wissen, eine Krankheit, die durch das unkontrollierte Wachstum einer einzelnen Zelle entsteht. Das Wachstum wiederum ist eine Folge von Mutationen, von Veränderungen in der DNA speziell solcher Gene, die wucherndes Zellwachstum in Gang setzen. In einer normalen Zelle sind Zellteilung und Zelltod durch effiziente genetische Steuerungsmechanismen reguliert. In einer Krebszelle sind diese Steuerungsmechanismen gestört, und es entsteht eine Zelle, die nicht mehr zu wachsen aufhört.

Dass dieser scheinbar einfache Mechanismus – unbegrenztes Zellwachstum – der Kern dieser maßlosen, vielgestaltigen Krankheit sein kann, zeugt von der unermesslichen Macht des Zellwachstums. Die Zellteilung ermöglicht uns Organismen zu wachsen, uns anzupassen, zu genesen, uns zu reparieren – also zu leben. Verläuft sie aber verzerrt und ungebremst, so sind es die Krebszellen, die wachsen und gedeihen, sich anpassen, genesen, sich reparieren – sie leben auf Kosten unseres Lebens. Krebszellen können schneller wachsen und sind anpassungsfähiger als gesunde Zellen. Sie sind eine perfektere Version unser selbst.

Das Geheimnis beim Kampf gegen den Krebs besteht also darin, dass wir dahinterkommen, wie sich diese Mutationen in den dafür anfälligen Zellen verhindern lassen, oder Mittel und Wege finden, die mutierten Zellen zu eliminieren, ohne das normale Wachstum dabei zu beeinträchtigen. Die Kürze dieser Aussage steht in krassem Gegensatz zur Monumentalität der Aufgabe. Bösartiges Wachstum und gesundes Wachstum sind genetisch so eng verwandt, dass ihre Entflechtung eine der größten wissenschaftlichen Herausforderungen der Menschheit sein könnte. Krebs ist unserem Genom eingebaut: Die Gene, die den normalen Zellteilungsmechanismus außer Kontrolle geraten lassen, sind keine Fremdkörper in uns, sondern mutierte, verzerrte Versionen der Gene, die für lebenswichtige Zellfunktionen zuständig sind. Krebs ist ein wesentlicher Bestandteil unserer heutigen Gesellschaft: In dem Maße, wie wir unser Leben als Spezies verlängern, setzen wir unausweichlich auch bösartiges Wachstum in Gang (Mutationen in Krebsgenen nehmen mit dem Alter zu; demnach ist Krebs eine inhärente Begleiterscheinung des Alterns). Wenn wir nach Unsterblichkeit streben, so gilt dasselbe, in pervertiertem Sinn, auch für die Krebszelle.

Wie genau eine künftige Generation lernen kann, die eng verschlungenen Stränge gesunden und bösartigen Wachstums zu entflechten, bleibt ein Rätsel. (»Das Universum«, pflegte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der englische Biologe J. B. S. Haldane zu sagen, »ist nicht nur verrückter, als wir denken, es ist auch verrückter, als wir es uns vorstellen können«: Dasselbe gilt für die Wege der Wissenschaft.) Eines aber ist gewiss: Wie auch immer die Geschichte weitergeht, sie wird stets Kerne der Vergangenheit enthalten. Sie wird geprägt sein von Erfindergeist, Anpassungsfähigkeit und Ausdauer gegen den, wie ein Autor ihn nannte, »unbarmherzigsten und heimtückischsten Feind« unter den Krankheiten der Menschheit. Aber im gleichen Maß wird sie geprägt sein von Hybris, Arroganz und Bevormundung, von Missverständnissen, falschen Hoffnungen und Medienrummel um eine Krankheit, von der noch vor dreißig Jahren kühn behauptet wurde, in ein paar Jahren werde sie »heilbar« sein.

In dem mit steriler Luft klimatisierten, kahlen Klinikzimmer führte Carla ihren eigenen Krieg gegen den Krebs. Als ich zu ihr kam, saß sie in eigentümlicher Ruhe auf ihrem Bett, eine Lehrerin, die sich Notizen macht. (»Aber was für Notizen?«, sagte sie später. »Ich habe nur immer wieder dieselben Gedanken aufgeschrieben.«) Ihre Mutter, die sich noch in der Nacht ins Flugzeug gesetzt hatte und direkt vom Flughafen kam, stürzte mit roten Augen, den Tränen nahe, ins Zimmer und saß dann stumm, sich mechanisch vor und zurück wiegend, auf einem Stuhl am Fenster. Schwestern und Ärzte, alle mit Mundschutz und Kitteln, kamen und gingen, eine Infusion zur Verabreichung von Antibiotika wurde gelegt, aber Carla nahm das hektische Treiben ringsum nur noch verschwommen wahr.

Ich erklärte ihr die Situation, so gut ich konnte. Vor ihr liege ein Tag voller Untersuchungen, eine Rennerei von einem Labor zum nächsten. Ich nähme eine Knochenmarkpunktion vor. Die Pathologen müssten weitere Untersuchungen anstellen. Aber die vorläufigen Untersuchungsergebnisse ließen vermuten, dass Carla an akuter lymphatischer Leukämie erkrankt sei. Bei Kindern sei das eine der häufigsten Krebserkrankungen, bei Erwachsenen komme sie eher selten vor. Und sie sei – hier machte ich eine kleine Pause und blickte auf, um meinen Worten Gewicht zu verleihen – häufig heilbar.

Heilbar. Carla nickte, als dieses Wort fiel, ihr Blick wurde konzentrierter. Unausweichliche Fragen standen im Raum. Wie heilbar? Wie hoch waren die Überlebenschancen? Wie lange würde die Behandlung dauern? Ich setzte ihr die Aussichten auseinander. Wenn die Diagnose sich bestätigte, würden wir sofort mit Chemotherapie beginnen. Die Therapie würde mehr als ein Jahr dauern. Die Heilungschancen lägen bei dreißig Prozent.

Wir sprachen eine Stunde miteinander, vielleicht länger. Es war halb zehn Uhr vormittags. Unter uns war unterdessen die Stadt vollends aufgewacht. Die Tür fiel hinter mir zu, als ich ging; ein Luftstoß fegte mich hinaus und schloss Carla in ihrem Krankenzimmer ein.

Teil 1

»VON SCHWARZER FÄRBUNG, OHNE HITZE…«

Bei der Lösung eines derartigen Problems ist es entscheidend, ob man rückwärts denken kann. Es ist dies eine sehr nützliche Fertigkeit, noch dazu eine sehr einfache, aber man wendet sie kaum an.

Sherlock Holmes, in Sir Arthur Conan Doyle,

Eine Studie in Scharlachrot

»EINE VEREITERUNG DES BLUTES«

Die berühmtesten Ärzte eilten herbei, besahn sich den Fall, disputierten mancherlei, kassierten den Lohn, und dann sprachen sie nur: »Für diese Krankheit gibt es keine Kur.«

Hilaire Belloc

Ihre Linderung ist tägliches Erfordernis, ihre Heilung glühende Hoffnung.

William Castle, über die Leukämie, 1950

An einem Dezembermorgen im Jahr 1947 wartete Sidney Farber in einem feuchten, vier mal sechs Meter großen Labor in Boston ungeduldig auf ein Päckchen aus New York. Das »Labor« war kaum mehr als das Kabuff eines Chemikers, ein schlecht belüfteter Raum im Souterrain, beinahe abgeschoben in den Hinterhof des Kinderkrankenhauses. Hundert Meter weiter erwachten die Krankenstationen langsam zum Leben. Kinder in weißen Hemden wälzten sich unruhig in schmalen schmiedeeisernen Klinikbetten, Ärzte und Schwestern eilten geschäftig von einem Saal zum nächsten, prüften Fieberkurven, notierten Anweisungen, gaben Medikamente aus. Nur in Farbers Labor, einem düsteren Kasten voller Glasgefäße und chemischer Substanzen, der über eine Flucht von eiskalten Fluren mit dem Hauptgebäude verbunden war, herrschte apathische Stille. Es roch scharf nach Formalin. Hier unten waren keine Patienten, nur Leichen und Gewebeproben von Patienten, die durch die Tunnels zur Obduktion beziehungsweise Untersuchung hergebracht wurden. Farber war Pathologe. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Proben zu präparieren und zu analysieren, Autopsien durchzuführen, Zellen zu identifizieren und Krankheiten zu diagnostizieren – Patienten behandelte er nicht.

Farbers Spezialgebiet war die pädiatrische Pathologie, die Erforschung von Kinderkrankheiten. Seit bald zwanzig Jahren hielt er sich in diesen Kellerräumen auf, festgenagelt an sein Mikroskop, und hatte sich durch die akademischen Ränge bis zum Leiter der Pathologie des Kinderkrankenhauses emporgearbeitet. Doch allmählich entfremdete er sich dieser Disziplin, die sich für die Toten mehr interessiert als für die Lebenden. Es befriedigte ihn immer weniger, Krankheit nur aus den Kulissen zu betrachten und nie einen lebenden Patienten zu berühren und zu behandeln. Er war die Gewebeproben und Zellen leid. Er fühlte sich gefangen, einbalsamiert in seinem Glaskabinett.

Deshalb hatte sich Farber zu einem radikalen beruflichen Wechsel entschlossen. Statt durch die Mikroskoplinse tote Gewebeproben zu betrachten, wollte er den Sprung hinauf ins Leben der Klinik über ihm wagen – von der mikroskopischen Welt, die er so gut kannte, in die lebensgroße Welt der Patienten und Krankheiten. Er wollte versuchen, das in der pathologischen Praxis gesammelte Wissen nutzbringend anzuwenden, um neue therapeutische Maßnahmen zu entwickeln. Das Päckchen aus New York enthielt mehrere Fläschchen mit einer gelben kristallinen Substanz namens Aminopterin. In der zaghaften Hoffnung, damit die Ausbreitung von Leukämie bei Kindern zu stoppen, hatte er sie sich in sein Bostoner Labor schicken lassen.

Hätte Farber mit einem der Kinderärzte, die in den Stationen über ihm Dienst taten, über die Wahrscheinlichkeit gesprochen, dass je ein Medikament gegen Leukämie entwickelt würde, hätten sie sicher abgewinkt. Die Leukämie bei Kindern faszinierte, verwirrte, frustrierte die Ärzte seit mehr als hundert Jahren. Die Krankheit war sorgfältigst analysiert, systematisiert, klassifiziert und untergliedert worden; die stockfleckigen ledergebundenen Bücher in der Bibliothek des Kinderkrankenhauses, Andersons Pathologie oder Boyds Pathologie der inneren Krankheiten, zeigten Seite um Seite Abbildungen von Leukämiezellen mitsamt ausgeklügelten Taxonomien, die sie beschrieben. Doch je mehr man wusste, desto stärker wurde das Gefühl von ärztlicher Ohnmacht. Die Krankheit war zu einem Objekt fruchtloser Faszination geworden – eine Figur in einem Wachsmuseum; in allen Einzelheiten war sie studiert und fotografiert worden, doch in der Praxis der Behandlung war man keinen Schritt weiter. »Auf Ärztekongressen gab es jede Menge Anlässe, sich mit Kollegen in die Haare zu geraten«, erinnerte sich ein Onkologe, »aber ihren Patienten half das gar nichts.« So wurde ein Patient mit akuter Leukämie mit viel Aufhebens in der Klinik aufgenommen, sein Fall bei der Visite mit professoralem Bombast diskutiert, dann wurde, wie ein Ärzteblatt trocken vermerkte, »die Diagnose gestellt, die Transfusion vorgenommen und der Patient zum Sterben nach Hause geschickt«.

Seit ihrer Entdeckung steckte das Studium der Leukämie in Ratlosigkeit und Verzweiflung fest. Am 19. März 1845 beschrieb der schottische Arzt John Bennett den ungewöhnlichen Fall eines achtundzwanzigjährigen Dachdeckers, der eine rätselhafte Schwellung der Milz aufwies. »Er ist von dunkler Komplexion«, schrieb Bennett über seinen Patienten, »und im Allgemeinen gesund und ausgewogen; nach eigener Aussage habe ihn vor zwanzig Monaten bei jeglicher Anstrengung eine große Trägheit befallen, welche bis zum heutigen Tage anhalte. Im vergangenen Juni bemerkte er eine Geschwulst in der linken Seite seines Unterleibs, die bis vor vier Monaten stetig an Größe wuchs und seither unverändert geblieben ist.«

Die Geschwulst des Dachdeckers mochte ihre endgültige Größe erreicht haben, seine körperliche Schwäche aber wuchs rasant. Im Verlauf der folgenden Wochen taumelte Bennetts Patient von einem Symptom zum nächsten, bekam Fieber, Blutungen, jähe Schmerzattacken im Unterleib – erst langsam, dann in immer rascherer Folge suchte ihn ein Anfall nach dem anderen heim, und bald lag der Dachdecker, dem unterdessen auch in den Achselhöhlen, den Leisten und am Hals Geschwulste gewachsen waren, im Sterben. Er wurde, wie damals üblich, mit Aderlässen und Einläufen behandelt, die natürlich nichts halfen. Bei der Obduktion einige Wochen später war Bennett überzeugt, er habe die Ursache all dieser Symptome gefunden: Das Blut seines Patienten strotzte von weißen Blutkörperchen. (Weiße Blutkörperchen, der Hauptbestandteil von Eiter, zeigen typischerweise die Reaktion auf eine Entzündung an, und Bennett schloss daraus, dass der Dachdecker einer Infektion erlegen sei.) »Der folgende Fall scheint mir deshalb besonders wertvoll«, schrieb er selbstbewusst, »da er zum Beweis für das Vorhandensein von echtem Eiter dienen wird, welcher innerhalb des gesamten Gefäßsystems sich bildet.«*

* Von der Verbindung zwischen Mikroorganismen und Infektion wusste man zwar noch nichts, doch der Zusammenhang zwischen Eiter und Blutvergiftung, Fieber und Tod, häufig infolge eines Abszesses oder einer Wunde, war Bennett sehr wohl bekannt.

Es wäre eine völlig zufriedenstellende Erklärung gewesen, wäre es Bennett gelungen, einen Eiterherd zu entdecken. Bei der Leichenöffnung suchte er alle Gewebe und Organe gründlich nach Anzeichen eines Abszesses, einer Wunde ab, entdeckte aber keine Spur einer Infektion. Das Blut sei offensichtlich aus eigenem Antrieb verdorben – »suppuriert« –, schrieb er, es habe sich ohne erkennbare Ursache in echten Eiter umgewandelt. »Eine Vereiterung des Blutes«, nannte Bennett seinen Fall. Und dabei beließ er es.

Natürlich irrte er sich mit seiner spontanen »Vereiterung« des Blutes. Gut vier Monate nachdem Bennett die Krankheit des Dachdeckers beschrieben hatte, veröffentlichte der vierundzwanzigjährige deutsche Forscher Rudolf Virchow einen Bericht, in dem er einen Fall beschrieb, der frappierende Ähnlichkeiten mit Bennetts Fall aufwies. Virchows Patientin war eine Köchin Mitte fünfzig. In ihrem Blut hatten sich die weißen Blutkörperchen explosionsartig vermehrt und dichte, breiige Klumpen in ihrer Milz gebildet. Bei der Autopsie hatten die Pathologen vermutlich nicht einmal ein Mikroskop gebraucht, um die auf dem Rot treibende dicke milchige Schicht weißer Blutkörperchen zu erkennen.

Virchow, der von Bennetts Fall wusste, konnte sich dessen Theorie nicht anschließen. Blut, wandte er ein, habe keinen Grund, sich aus heiterem Himmel in irgendetwas zu verwandeln. Außerdem machten ihm die ungewöhnlichen Symptome zu schaffen: Woher diese enorme Milzvergrößerung? Weshalb war keine Wunde, kein Eiterherd im Körper zu entdecken? Virchow fragte sich, ob das Blut selbst abnorm sei. Da er keine zusammenfassende Erklärung fand und weil er nach einem Namen für das Leiden suchte, entschied sich Virchow letztlich für »weißes Blut«, was nichts anderes ist als die konkrete Beschreibung der Millionen weißen Blutkörperchen, die er unter dem Mikroskop gesehen hatte. 1847 wandelte er den Namen in den wissenschaftlicher klingenden Begriff »Leukämie« um, der von leukos, dem griechischen Wort für »weiß«, abgeleitet ist.

Die Umbenennung der Krankheit von der blumigen »Vereiterung des Blutes« in das prosaische »weiße Blut« kommt einem nicht gerade wie ein genialer wissenschaftlicher Wurf vor, doch auf das Verständnis der Leukämie hatte sie eine nachhaltige Wirkung. Eine Krankheit ist ja im Moment ihrer Entdeckung eine fragile Idee, eine Gewächshausblüte – in diesem Stadium wird sie oft unverhältnismäßig stark von Namen und Klassifizierungen beeinflusst. (Mehr als hundert Jahre später, Anfang der 1980er Jahre, zeugte eine andere Namensänderung – von gay related immune disease [GRID] zu acquired immunodeficiency syndrome [AIDS] – ebenfalls von einem einschneidenden Umdenken.*) Virchow verstand die Leukämie so wenig wie Bennett, doch anders als dieser behauptete er auch nicht, sie zu verstehen. Seine Erkenntnis lag ausschließlich im Negativen: Indem er mit allen vorgefassten Meinungen aufräumte, bereitete er das Feld für ein freies Nachdenken.

* Die Identifizierung des HI-Virus als Krankheitserreger und seine rasante Ausbreitung rund um den Globus entkräftete sehr schnell die anfangs beobachtete – und vorurteilsbehaftete – Beobachtung, nur Homosexuelle seien davon betroffen.

Die Bescheidenheit des Namens (und die ihr zugrunde liegende Zurückhaltung, was sein Verständnis der Ursachen betraf) veranschaulichte Virchows Einstellung gegenüber der Medizin. Der junge Professor für Pathologie an der Universität Würzburg begnügte sich nicht mit der Benennung der Leukämie, sondern begann mit einem Projekt, das weit darüber hinausgriff und ihn für den Rest seines Lebens beschäftigte: die Beschreibung menschlicher Krankheiten auf zellularer Ebene.

Es war ein Ergebnis von Frustration: Virchow hatte 1843 promoviert, zu einem Zeitpunkt, als praktisch jede Krankheit auf das Wirken irgendwelcher unsichtbaren Kräfte wie Miasmen, Neurosen, schlechte Körpersäfte, Hysterien zurückgeführt wurde. Weil er mit dem, was er nicht sehen konnte, nicht weiterkam, wandte sich Virchow – mit revolutionärem Eifer – dem zu, was er sehen konnte: Zellen unter dem Mikroskop. 1838 hatten der Botaniker Matthias Schleiden und der Physiologe Theodor Schwann postuliert, alle lebenden Organismen bestünden aus Grundbausteinen, den Zellen. Virchow übernahm und erweiterte diesen Gedanken und machte sich daran, eine auf zwei Grundsätzen basierende »Zelltheorie« der menschlichen Biologie zu entwickeln. Erstens: Menschen (ebenso wie alle Tiere und Pflanzen) bestehen aus Zellen. Zweitens: Diese Zellen gehen (durch Teilung) aus anderen Zellen hervor – omnis cellula e cellula, wie er es formulierte.

Diese zwei Grundsätze mochten grob vereinfachend sein, doch sie ermöglichten Virchow, seine entscheidende Hypothese über die Natur menschlichen Wachstums zu formulieren: Wenn Zellen nur aus anderen Zellen hervorgehen, kann Wachstum lediglich auf zweierlei Art erfolgen, entweder durch Zunahme der Zellenanzahl oder durch Zunahme der Zellengröße – Virchow sprach von Hyperplasie und Hypertrophie. Bei Letzterer bleibt die Zahl der Zellen gleich, stattdessen wächst jede einzelne Zelle – wie ein Ballon, der aufgeblasen wird. Die Hyperplasie hingegen bedeutet Wachstum durch vermehrte Zellteilung. Damit konnte er jedes wachsende menschliche Gewebe als Hypertrophie oder Hyperplasie beschreiben. Bei erwachsenen Menschen und Tieren nehmen Fett und Muskeln in der Regel durch Hypertrophie zu. Leber, Blut, Darm und Haut hingegen wachsen alle durch Hyperplasie – aus Zellen werden mehr und immer mehr Zellen, omnis cellula e cellula.

Diese Erklärung war überzeugend, und sie führte zu einem neuen Verständnis nicht nur des normalen, sondern auch des krankhaften Wachstums. Wenn der Herzmuskel gezwungen ist, gegen eine Blockade in der austretenden Aorta anzuarbeiten, reagiert er oft damit, dass er, um mehr Kraft zu erzeugen, jede Muskelzelle wachsen lässt – bis das Herz schließlich so vergrößert ist, dass es nicht mehr normal funktionieren kann: ein Beispiel für eine pathologische Hypertrophie.

Umgekehrt – und entscheidend für diese Geschichte – stieß Virchow bald auf die Krankheit, die exemplarisch für die pathologische Hyperplasie ist: Krebs. Bei der Betrachtung von Krebstumoren durchs Mikroskop entdeckte er wucherndes Zellwachstum – Hyperplasie in extremer Form. Und bei der Untersuchung der Architektur von Krebsgeschwüren gewann er den Eindruck, dass sie häufig ein Eigenleben führten, als hätte sich ein neuer, geheimnisvoller Wachstumstrieb der Zellen bemächtigt: Das war kein normales Zellwachstum, sondern ein ganz neues, anders geartetes Wachstum. Vorausahnend (wenngleich noch ohne Wissen um den Mechanismus) sprach Virchow von Neoplasie, was die Entstehung von neuem, unerklärtem, deformiertem Gewebe meint – ein Wort, das sich durch die gesamte Geschichte des Krebses zieht.*

* Virchow hat den Begriff nicht geprägt, lieferte aber eine umfassende Beschreibung von Neoplasie.

Als Virchow 1902 starb, hatten sich alle diese Beobachtungen nach und nach zu einer neuen Krebstheorie gefügt. Krebs, wusste man jetzt, ist eine auf pathologischer Hyperplasie beruhende Krankheit, bei der die Zellen einem autonomen Teilungsimpuls gehorchen. Die anomale, unkontrollierte Zellteilung erzeugt wucherndes Gewebe (Tumoren), das in Organe eindringt und normales Gewebe zerstört. Tumoren können auch von einem Ort zum anderen wandern und auf diese Weise Ausläufer, Metastasen genannt, an entfernten Orten wie Knochen, Gehirn oder Lunge erzeugen. Bekannt war ferner, dass Krebs in verschiedenen Formen auftritt, als Brust-, Magen-, Haut- und Gebärmutterhalskrebs, als Leukämien und Lymphome. Auf zellularer Ebene aber sind alle diese Krankheiten miteinander eng verbunden. In jedem Fall unterliegen die Zellen dem gleichen charakteristischen, unkontrollierbaren, krankhaften Teilungszwang.

Dank diesem Verständnis kehrten Pathologen, die sich Ende der 1880er Jahre mit der Leukämie befassten, nun zu Virchows Arbeit zurück. Leukämie war also keine Vereiterung, sondern eine Neoplasie des Blutes. Bennetts ursprüngliche abstruse Idee hatte ein ganzes Beet für abstruse Ideen unter den Wissenschaftlern eröffnet, die nach allen möglichen aus Leukämiezellen hervorbrechenden unsichtbaren Parasiten und Bakterien gesucht hatten – und erwartungsgemäß fündig geworden waren. Doch als die Pathologen aufhörten, nach Entzündungsherden zu fahnden, und ihr Augenmerk wieder der Krankheit als solcher zuwandten, fielen ihnen die offensichtlichen Analogien zwischen Leukämiezellen und den Zellen anderer Krebsarten auf. Leukämie, erkannten sie, ist eine bösartige Wucherung weißer Blutkörperchen: Krebs in flüssiger Form.

Mit dieser bahnbrechenden Erkenntnis bekam das Studium der Leukämie mit einem Mal Richtung und Klarheit und machte rasante Fortschritte. Um 1900 wusste man, dass die Krankheit in mehreren Erscheinungsformen auftritt. Die eine ist chronisch und indolent, das heißt nicht schmerzhaft, zersetzt aber langsam das Knochenmark und die Milz, wie in Virchows ursprünglichem Fall (später chronische Leukämie genannt). Die andere ist akut und aggressiv, fast eine andere Krankheit in ihrer Persönlichkeit, charakterisiert durch Fieberattacken, jähe Blutungen und eine atemberaubende Zellwucherung – wie es bei Bennetts Patient der Fall war.

Diese zweite Version der Erkrankung, akute Leukämie genannt, untergliedert sich in zwei weitere Formen je nach dem Typus der vom Krebs betroffenen Zellen. Normale weiße Blutkörperchen lassen sich grob in zwei Zelltypen unterteilen: Myeloidzellen und Lymphozyten. Die akute myeloische Leukämie (AML) ist ein Krebs der myeloiden Zellen. Die akute lymphatische Leukämie (ALL) ist ein Krebs der Vorläuferzellen von Lymphozyten. (Krebsarten, die reife Lymphozyten betreffen, nennen wir maligne Lymphome.)

Bei Kindern trat am häufigsten die ALL auf und führte meist sehr schnell zum Tod. 1860 beschrieb Michael Anton Biermer, ein Student Virchows, den ersten bekannten Fall dieser Form von Leukämie bei Kindern. Maria Speyer, die energiegeladene, lebhafte, verspielte fünfjährige Tochter eines Würzburger Zimmermanns, wurde zuerst in der Klinik untersucht, weil sie mit einem Mal lethargisch geworden war und ihre Haut rätselhafte Blutergüsse aufwies. Am nächsten Morgen hatte sie Fieber und einen steifen Hals, was dazu führte, dass Marias Vater Biermer um einen Hausbesuch bat. Dieser kam am Abend, entnahm Maria einen Tropfen Blut, untersuchte ihn bei Kerzenschein unter dem Mikroskop und entdeckte in dem Präparat Millionen Leukämiezellen. Maria schlief unruhig bis in die Nacht hinein. Tags darauf, am späten Nachmittag, als Biermer seinen Kollegen enthusiastisch mehrere Proben eines »exquisiten Falles von Leukämie« zeigte, erbrach Maria hellrotes Blut und verlor das Bewusstsein. Als Biermer abends wiederkam, war das Kind seit mehreren Stunden tot. Von den ersten Symptomen über die Diagnose bis zum Tod hatte die gnadenlose, galoppierende Krankheit nicht mehr als drei Tage gedauert.

Obwohl nicht annähernd so aggressiv wie Maria Speyers Leukämie, war Carlas Krankheit aus anderen Gründen frappierend. Bei Erwachsenen enthält ein Mikroliter Blut im Schnitt fünftausend weiße Blutkörperchen; in Carlas Blut waren es neunzigtausend weiße Blutkörperchen pro Mikroliter – rund zwanzigmal so viel wie normal. Fünfundneunzig Prozent davon waren Blasten: bösartige Lymphozytenvorstufen, die mit rasender Geschwindigkeit gebildet wurden, aber nicht zu Lymphozyten ausreifen konnten. Wie bei manchen anderen Krebsarten tritt bei akuter lymphatischer Leukämie zusätzlich zur Wucherung von Krebszellen eine rätselhafte Hemmung der normalen Zellreifung auf. So werden Vorläuferzellen im Übermaß erzeugt, die aber nicht heranreifen und deshalb ihre eigentliche Aufgabe, die Erkennung und Bekämpfung von Mikroben, nicht erfüllen können. Carlas Immunsystem war, bei allem Überfluss, praktisch lahmgelegt.

Die weißen Blutkörperchen werden im Knochenmark gebildet. Die mittels Biopsie entnommene Probe von Carlas Knochenmark, die ich am Tag nach unserer ersten Begegnung unter dem Mikroskop sah, war ganz und gar abnorm. Knochenmark, das oberflächlich betrachtet amorph aussieht, ist in Wahrheit ein hoch organisiertes Gewebe – eigentlich ein Organ –, das für die Blutbildung zuständig ist. Typischerweise enthält entnommenes Mark Knochennadeln, und darin befinden sich Inseln heranwachsender Blutkörperchen – sozusagen die Kinderstuben für die Bildung von frischem Blut. In Carlas Mark war diese Struktur komplett zerstört. Schicht um Schicht bösartiger Blasten erfüllte den gesamten Knochenmarkraum und hatte die gesamte Anatomie und Architektur ausgelöscht, für die Blutbildung war kein Platz mehr.

Carla stand am Rand eines physiologischen Abgrunds. Die Zahl der roten Blutkörperchen war dermaßen gesunken, dass das Blut den Körper nur noch unzulänglich mit Sauerstoff versorgte (rückblickend ist klar, dass ihre Kopfschmerzen das erste Anzeichen eines Sauerstoffmangels waren). Die für die Blutgerinnung zuständigen Thrombozyten oder Blutplättchen waren nahezu völlig verschwunden, was die Ursache der Blutergüsse war.

Die Behandlung erforderte höchste Raffinesse. Um die Leukämie zu besiegen, war eine Chemotherapie dringend geboten, doch deren Nebenwirkung war zwangsläufig eine starke Dezimierung der noch verbliebenen normalen Blutkörperchen. Um sie zu retten, mussten wir sie erst einmal tiefer in den Abgrund stoßen. Der einzige Ausweg führte für Carla mitten hindurch.

Sidney Farber wurde 1903, ein Jahr nach Virchows Tod in Berlin, in Buffalo, New York, geboren. Sein Vater, Simon Farber, ein ehemaliger Kahnführer, war Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus Polen nach Amerika ausgewandert und arbeitete bei einer Versicherung. Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen am Ostrand der Stadt in einem in sich eng verflochtenen, nach außen abgeschotteten, vielfach ärmlichen jüdischen Viertel, dessen Bewohner Ladenbesitzer, Fabrikarbeiter, Buchhalter und Hausierer waren. Die Farber-Kinder, gnadenlos auf Erfolg getrimmt, mussten ausgezeichnete schulische Leistungen bringen. Oben durfte Jiddisch gesprochen werden, unten gab es nur Deutsch und Englisch. Farber senior brachte oft Lehrbücher nach Hause, die er auf dem Esstisch verteilte; dann musste sich jedes Kind eines aussuchen und durcharbeiten und ihm dann ausführlich darüber Bericht erstatten.

Sidney, das dritte von vierzehn Kindern, blühte in dieser Atmosphäre hoher Erwartungen auf. An der Universität von Buffalo studierte er zwei Hauptfächer, Biologie und Philosophie, die er 1923 abschloss, und um sein Studium zu finanzieren, spielte er in Ballorchestern Geige. Da er fließend Deutsch konnte, studierte er danach in Heidelberg und Freiburg etliche Semester Medizin, kehrte in die USA zurück und fand dank seiner exzellenten Zeugnisse einen Studienplatz an der medizinischen Fakultät der Harvard University in Boston. (Diese Rundreise von New York über Heidelberg nach Boston war nichts Ungewöhnliches: Mitte der zwanziger Jahre bekamen jüdische Studenten in den USA oft keinen Platz an den medizinischen Fakultäten und gingen für eine Weile nach Europa, auch nach Deutschland, um dann in der Heimat ihr Medizinstudium abzuschließen.) So kam Farber als Außenseiter nach Harvard. Seine Kollegen fanden ihn arrogant und unausstehlich, aber auch er, der bereits bekannten Lehrstoff noch einmal von vorne lernen musste, schien unter der Situation zu leiden. Er war höflich, gewissenhaft, peinlich genau, steif in seiner Erscheinung und seinen Eigenarten, herrisch im Auftreten. Wegen seiner Neigung, in förmlichen Anzügen in die Vorlesungen zu kommen, hing ihm sehr schnell der Spitzname Four-Button Sid an.

Seine fachärztliche Ausbildung in der Pathologie beendete Farber Ende der zwanziger Jahre und wurde der erste Vollzeit-Pathologe am Bostoner Kinderkrankenhaus. Er verfasste eine wunderbare Studie über die Klassifizierung von Tumoren bei Kindern und ein Lehrbuch, The Postmortem Examination (»Die Leichenöffnung«), das weithin als Klassiker auf seinem Gebiet galt. Mitte der dreißiger Jahre stand er, fest etabliert in den Hinterhöfen des Krankenhauses, in dem Ruf, ein herausragender Pathologe zu sein – ein »Leichenarzt«.

Doch die Sehnsucht, Patienten zu behandeln, ließ ihn nicht los. Und im Sommer 1947, als er in seinem Kellerlabor saß, kam ihm eine Erleuchtung, und er beschloss, sich unter allen Krebsarten auf eine bestimmte zu konzentrieren, eine der eigenartigsten und hoffnungslosesten Varianten, die kindliche Leukämie. Um den Krebs insgesamt zu verstehen, überlegte er, musste man ganz unten anfangen, in seinem Keller, auf der untersten Ebene seiner Komplexität. Und trotz ihrer zahlreichen Besonderheiten besaß die Leukämie für den Wissenschaftler eine ausgesprochen verlockende Eigenschaft: Sie war messbar.

Wissenschaft beginnt mit dem Zählen. Um ein Phänomen zu begreifen, muss es der Wissenschaftler zuerst beschreiben; um es objektiv beschreiben zu können, muss er es erst vermessen. Wenn aus der Krebsmedizin eine exakte Wissenschaft werden sollte, galt es, den Krebs irgendwie auf verlässliche, reproduzierbare Art zu messen.

Darin unterscheidet sich die Leukämie von nahezu jeder anderen Krebsart. In einer Welt vor der Computer- und der Kernspintomografie war es praktisch unmöglich, Größenveränderungen an einem festen inneren Tumor in der Lunge oder der Brust ohne chirurgischen Eingriff zu bestimmen: Was man nicht sah, ließ sich nicht messen. Nur die Leukämie, die frei im Blut zirkuliert, ließ sich ebenso leicht bestimmen wie die Blutkörperchen – man musste nur eine Blut- oder Knochenmarkprobe entnehmen und unter dem Mikroskop untersuchen.

Wenn sich Leukämie messen lässt, überlegte Farber weiter, dann kann auch jeder Eingriff von außen, etwa in Form einer im Körper zirkulierenden chemischen Substanz, nach seiner Wirksamkeit beim lebenden Patienten beurteilt werden. Man kann Zellen im Blut wachsen oder absterben sehen und daran Erfolg oder Misserfolg eines Medikaments ermessen. Man kann, dachte Farber, ein »Experiment« mit Krebs durchführen.

Er war begeistert von seinem Einfall. In den vierziger und fünfziger Jahren waren junge Biologen wie elektrisiert von der Idee, simple Modelle zum Verständnis komplexer Phänomene zu benutzen. Komplexität ließ sich am besten begreifen, wenn man sich von unten nach oben vorarbeitete: Einzeller wie Bakterien konnten die Mechanismen in riesigen, vielzelligen Lebewesen wie dem Menschen offenbaren. Was für E. coli (ein mikroskopisch kleines Bakterium) gelte, erklärte der französische Biochemiker Jacques Monod 1954 hochfliegend, müsse auch für Elefanten stimmen.

In Farbers Augen war die Leukämie der Inbegriff dieses biologischen Paradigmas. Von diesem simplen, atypischen Krebs ließen sich Rückschlüsse auf die weitaus komplexere Welt anderer Krebsarten ziehen: Das Bakterium würde ihn lehren, über den Elefanten nachzudenken. Farber war von seinem Naturell her ein schneller, häufig impulsiver Denker. Und auch in diesem Fall machte er einen schnellen, instinktiven Sprung. Das Päckchen aus New York wurde ihm ins Labor geliefert, und als er es aufriss und die Glasfläschchen mit chemischen Substanzen herausnahm, wird er sich nicht klargemacht haben, dass er in diesem Moment einen ganz neuen Weg in der Krebsforschung erschloss.

»EIN UNGEHEUER, UNERSÄTTLICHER ALS DIE GUILLOTINE«

Die medizinische Bedeutung der Leukämie stand von jeher in keinem Verhältnis zur Häufigkeit ihres Auftretens … Tatsächlich ließen die bei der systemischen Behandlung der Leukämie auftretenden Probleme erkennen, in welche Richtungen die Krebsforschung insgesamt unterwegs war.

Jonathan Tucker,

Ellie: A Child’s Fight Against Leukemia

Es gab wenig Erfolge bei der Behandlung von metastasiertem Krebs … In der Regel konnte man nur zuschauen, wie der Tumor größer wurde und der Patient immer kleiner.

John Laszlo,

The Cure of Childhood Leukemia: Into the Age of Miracles

Sidney Farbers Päckchen mit chemischen Substanzen traf zufällig zu einer Zeit ein, die in besonderer Weise ein Wendepunkt in der Medizingeschichte war. In den späten vierziger Jahren ergoss sich ein regelrechtes Füllhorn pharmazeutischer Entdeckungen über die Laboratorien und Kliniken des ganzen Landes. Die höchste Verehrung wurde den Antibiotika zuteil. Penizillin, dieses kostbare Medikament, das während des Zweiten Weltkriegs bis zum letzten Tröpfchen gemolken werden musste (1939 wurde es sogar aus dem Urin der mit Penizillin behandelten Patienten zurückgewonnen, um auch noch das letzte Molekül nutzen zu können), wurde Anfang der Fünfziger in Viertausend-Liter-Fässern hergestellt. 1942 verschickte Merck seine erste Lieferung Penizillin, gerade fünfeinhalb Gramm: Diese Menge stellte die Hälfte des gesamten Antibiotikabestands in Amerika dar. Ein Jahrzehnt später wurde Penizillin in Massen produziert, so dass der Preis auf vier Cent pro Dosis gesunken war, nicht einmal ein Sechzehntel dessen, was ein Liter Milch kostete.

Dem Penizillin folgten neue Antibiotika: 1947 Chloramphenicol, 1948 Tetracyclin. Im Winter 1949, als aus einem Klumpen Schimmel aus dem Stall eines Hühnerzüchters ein weiteres wundertätiges Antibiotikum, das Streptomycin, gewonnen wurde, machte das Nachrichtenmagazin Time mit der Schlagzeile auf: »Die Heilmittel sind in unserem Hinterhof!« In einem Backsteingebäude am anderen Ende des Klinikgeländes, in Farbers eigenem Hinterhof, züchtete der Mikrobiologe John Enders Polioviren in rollenden Plastikflaschen – der erste Schritt auf dem Weg zu den Sabin-Salk-Polioimpfstoffen. In atemberaubendem Tempo wurden neue Wirkstoffe entwickelt: Mehr als die Hälfte der Medikamente, die 1950 regelmäßig verschrieben wurden, war ein Jahrzehnt früher noch völlig unbekannt gewesen.

Vielleicht noch einschneidender als diese Wundermittel war, dass Krankheit an sich aufgrund besserer hygienischer Bedingungen und eines verbesserten Gesundheitswesens ihr Gesicht drastisch veränderte. Typhus, eine Infektion, die innerhalb von Wochen ganze Bezirke auslöschen konnte, zog sich im selben Maß zurück, wie in etlichen Städten dank massiver Anstrengungen der Stadtverwaltung die katastrophalen Bedingungen der Wasserversorgung beseitigt wurden. Sogar die Tuberkulose, die berüchtigte »weiße Pest« des neunzehnten Jahrhunderts, schwand dahin: Zwischen 1910 und 1940 sank die Zahl der Erkrankungen um mehr als die Hälfte, was weitgehend einer Verbesserung der Kanalisation und des Gesundheitswesens zu verdanken war. Binnen eines halben Jahrhunderts stieg die Lebenserwartung der Amerikaner von siebenundvierzig auf achtundsechzig Jahre – ein größerer Sprung, als in mehreren Jahrhunderten zuvor erreicht worden war.

Die beeindruckenden Erfolge der Nachkriegsmedizin veranschaulichen, welche einschneidenden Veränderungen Wissenschaft und Technik im amerikanischen Leben bewirkten. Die Zahl der Krankenhäuser wuchs – zwischen 1945 und 1960 wurden landesweit fast tausend neue Kliniken eröffnet; zwischen 1935 und 1952 stieg die Zahl der stationär aufgenommenen Patienten auf mehr als das Doppelte, von 7 auf 17 Millionen im Jahr. Und mit der Verbesserung der medizinischen Versorgung wuchsen auch die Ansprüche an die Medizin: Man erwartete Heilung. Ein Student formulierte es so: »Wenn ein Arzt einem Patienten sagen muss, dass es für seine Krankheit kein spezifisches Heilmittel gibt, wird der Patient sich mit Recht gekränkt fühlen, oder er fragt sich, ob der Arzt wirklich auf der Höhe der Zeit ist.«

In den neuen, hygienischen Wohnsiedlungen begann eine junge Generation von Heilung zu träumen – von einem Dasein frei von Krankheit und Tod. Eingelullt von der Vorstellung erreichbarer Langlebigkeit, stürzte man sich in den Kauf langlebiger Konsumgüter: Autos von Schiffsgröße, Freizeitkleidung aus Nylon, Fernseher, Radio, Ferienhäuser, Golfclubs, Grillstationen, Waschmaschinen. In Levittown, einer rasch wachsenden Vorstadtsiedlung, die auf einem ehemaligen Kartoffelacker auf Long Island entstand – einem symbolischen Utopia –, war »Krankheit« auf einer Liste von »Sorgen« bereits hinter »Finanzen« und »Kindererziehung« auf Platz drei zurückgefallen. Tatsächlich wurde die Kindererziehung in bisher unbekanntem Ausmaß zu einem nationalen Anliegen. Die Fruchtbarkeit nahm stetig zu – 1957 kam in den USA alle sieben Sekunden ein Kind zur Welt. Außerdem sah sich die »Überflussgesellschaft«, wie der Wirtschaftswissenschaftler John Galbraith sie beschrieb, als ewig jung, was die Garantie ewiger Gesundheit mit einschloss: die unbesiegbare Gesellschaft.

Aber von allen Krankheiten hatte sich nur Krebs geweigert, in den Fortschritt mitzumarschieren. War ein Tumor lokal begrenzt, also auf ein einziges Organ oder Körperteil beschränkt, so dass er sich chirurgisch entfernen ließ, bestand eine Chance auf Heilung. Exstirpationen, wie solche Operationen genannt wurden, waren ein Vermächtnis der beeindruckenden Fortschritte der Chirurgie im neunzehnten Jahrhundert. So konnte ein einzelner bösartiger Knoten in der Brust mittels einer radikalen Mastektomie, die der große Chirurg William Halsted in den 1890er Jahren am Johns-Hopkins-Krankenhaus eingeführt hatte, entfernt werden. Nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden Krebszellen auch mittels lokaler Bestrahlung zerstört.

Wissenschaftlich gesehen aber war und blieb der Krebs ein Buch mit sieben Siegeln, ein rätselhaftes Gebilde, das man am besten im Ganzen herausschnitt, denn einen Tumor aufgrund weitergehender medizinischer Erkenntnisse zu behandeln war nicht möglich. Um Krebs zu heilen (falls er überhaupt heilbar war), hatten Ärzte nur zwei Strategien zur Verfügung: den Tumor chirurgisch zu entfernen oder ihn mit Röntgenstrahlen zu verbrennen – eine Wahl zwischen kaltem Messer und heißen Strahlen.

Im Mai 1937, fast genau ein Jahrzehnt, bevor Farber mit chemischen Substanzen zu experimentieren begann, veröffentlichte die Zeitschrift Fortune ein »Panoramabild« der Krebsmedizin. Der Bericht war alles andere als beruhigend: »Das erschreckende Fazit lautet, dass kein neues Prinzip der Therapie oder auch der Vorbeugung entdeckt wurde … Zwar sind die Methoden der Behandlung wirkungsvoller und humaner geworden. Anstelle brutaler Operationen ohne Betäubung und ohne keimfreie Bedingungen haben wir heute moderne, schmerzlose Eingriffe mit neuester, äußerst verfeinerter Technik. Die Gewebezerstörung mit den ätzenden Mitteln, die sich tief ins Fleisch vergangener Generationen von Krebspatienten fraßen, ist veraltet, seitdem es die Strahlentherapie mittels Röntgenstrahlen und Radium gibt … Doch es bleibt die Erkenntnis, dass die ›Heilung‹ von Krebs nur auf zweierlei Wegen versucht wird – Entfernung und Zerstörung des erkrankten Gewebes [durch chirurgischen Eingriff beziehungsweise durch Bestrahlung]. Nichts anderes hat sich bewährt.«

Der Fortune-Artikel trug den Titel »Krebs: Die Große Dunkelheit«, und die »Dunkelheit« war von den Verfassern ebenso politisch wie medizinisch gemeint. Nicht nur wegen der unlösbaren medizinischen Mysterien rund um die Krankheit sei die Krebsmedizin in eine Sackgasse geraten, sondern auch wegen der systematischen Vernachlässigung der Krebsforschung: »Es gibt in den USA lediglich zwei Dutzend Fonds, die für eine Grundlagenforschung zu Krebs zur Verfügung stehen. Ihre Kapitalausstattung bewegt sich von $ 500 bis zu runden zwei Millionen, insgesamt aber machen die Gelder zur Finanzierung der Krebsforschung gewiss nicht mehr als fünf Millionen Dollar aus … Ein Drittel dieser Summe gibt die Öffentlichkeit bereitwillig an einem einzigen Nachmittag für ein wichtiges Football-Match aus.«

Die Sparsamkeit bei der Finanzierung der Krebsforschung stand in krassem Gegensatz zur Geschwindigkeit, mit der die Krankheit selbst an Bekanntheit zunahm. Natürlich war Krebs auch im neunzehnten Jahrhundert aufgetreten und erkennbar gewesen, doch hatte er sich meist im Schatten viel weiter verbreiteter Krankheiten verborgen. 1899, als Roswell Park, ein berühmter Chirurg aus Buffalo, vermutet hatte, der Krebs werde eines Tages Pocken, Typhus und Tuberkulose überholen und zur primären Todesursache in den USA werden, war seine Aussage als »verblüffende Prophezeiung« quittiert worden, als berufsbedingt übertriebene Spekulation – schließlich operierte der Mann Tag und Nacht Tumoren. Doch am Ende des Jahrzehnts wurde seine Aussage immer weniger verblüffend und mit jedem Tag prophetischer. Abgesehen von ein paar vereinzelten Ausbrüchen, gab es kaum noch Typhus. Auch die Pocken gingen zurück; 1949 wurde in den USA der letzte Pockenfall registriert. Der Krebs hatte unterdessen bereits begonnen, sich in der Rangliste der Todesursachen nach vorn zu arbeiten: Zwischen 1900 und 1916 nahm die Zahl der krebsbedingten Todesfälle um 29,8 Prozent zu und überholte die Tuberkulose; 1926 stand der Krebs in den USA hinter den Herzerkrankungen an zweiter Stelle der Todesursachen.

»Krebs: Die Große Dunkelheit« war nicht der einzige Versuch, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Im Mai desselben Jahres veröffentlichte Life einen eigenen Bericht über die Krebsforschung, dessen Tonfall ebenso drängend war. Die New York Times brachte im April und im Juni jeweils einen Bericht über steigende Krebsraten. Als im Juli 1937 der Krebs auch im Nachrichtenmagazin Time auftauchte, grassierte das Interesse der Medien am so genannten »Krebsproblem« auf einmal wie eine Seuche.

In den USA waren seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in regelmäßigen Abständen Forderungen nach einer systematischen, landesweit konzertierten Aktion gegen den Krebs laut geworden und wieder verebbt. 1907 kam eine Gruppe von Krebschirurgen im New Willard Hotel in Washington zusammen und gründete eine Organisation, die American Association for Cancer Research, um beim Kongress Lobbyarbeit für eine Aufstockung der Mittel für die Krebsforschung zu betreiben. 1910 hatte die Vereinigung Präsident Taft so weit, dass er gewillt war, dem Kongress die Schaffung eines nationalen Instituts für die Krebsforschung vorzuschlagen. Doch trotz anfänglichen Interesses an dem Vorhaben verliefen die Pläne in Washington nach wenigen Umsetzungsversuchen wieder im Sand, in erster Linie weil es an politischer Unterstützung mangelte.

Ende der 1920er, zehn Jahre nachdem Taft seinen Vorschlag auf den Tisch gelegt hatte, fand die Krebsforschung einen unerwarteten neuen Verfechter, Matthew Neely, einen ebenso hartnäckigen wie leidenschaftlichen ehemaligen Anwalt aus Fairmont, West Virginia, der kurz zuvor in den Senat gewählt worden war. Neely hatte relativ wenig Erfahrung in der Wissenschaftspolitik, doch die auffällige Zunahme der Krebstoten in den vergangenen zehn Jahren – von 70 000 im Jahr 1911 auf 115 000 im Jahr 1937 – war auch ihm nicht entgangen. Neely forderte den Kongress auf, fünf Millionen Dollar als Belohnung »für jede Information, die zur Ausrottung von Krebs beim Menschen führt«, auszusetzen.

Es war eine unbedarfte Strategie – das wissenschaftliche Äquivalent eines in der Dienststelle des Sheriffs aufgehängten Fahndungsfotos –, und sie zog entsprechend unbedarfte Reaktionen nach sich. Innerhalb von Wochen war Neelys Büro in Washington überschwemmt mit Briefen von Quacksalbern und Wunderheilern, die jedes erdenkliche Heilmittel gegen Krebs vorstellten: Abreibungen, Kräftigungsmittel, Salben, balsamgetränkte Taschentücher, Cremes und Weihwasser. Entnervt von den Reaktionen, genehmigte der Kongress für Neelys Gesetzesvorlage zur Krebsbekämpfung schließlich ein Budget, das so stark gekürzt war, dass es beinahe komisch wirkte, nämlich $ 50 000, genau ein Prozent der ursprünglich geforderten Summe.

1937 startete der unermüdliche Neely in seiner zweiten Amtsperiode als Senator einen weiteren Versuch, den Krebs auf nationaler Ebene zu bekämpfen, diesmal gemeinsam mit Senator Homer Bone und dem Abgeordneten Warren Magnuson. Der Krebs war unterdessen viel stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Artikel in Fortune und Time hatten Furcht und Unbehagen geschürt, und die Politiker fühlten sich gedrängt, konkret darauf zu reagieren. Im Juni wurde auf einer gemeinsamen Konferenz von Repräsentantenhaus und Senat ein entsprechendes Gesetz entworfen, und nach den ersten Anhörungen passierte der Entwurf im Eiltempo den Kongress und wurde am 23. Juli 1937 in gemeinsamer Sitzung einstimmig verabschiedet. Zwei Wochen später, am 5. August, unterzeichnete Präsident Roosevelt den National Cancer Institute Act.

Dieses Gesetz gab den Startschuss zu einer neuen wissenschaftlichen Einrichtung, dem amerikanischen Krebsforschungszentrum NCI, dessen Aufgabe es ist, Forschungsvorhaben zu koordinieren und Betroffene umfassend zu informieren.*Ein wissenschaftlicher Beirat wurde in Krankenhäusern und Universitäten rekrutiert, und im beschaulichen Bethesda, nur wenige Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt, entstand zwischen Laubengängen und Gärten ein Gebäudekomplex mit modernsten Laboren, funkelnden Fluren und Vortragssälen. »Die Nation stellt ihre Truppen auf, um den Krebs zu besiegen, die größte Geißel, die jemals über die menschliche Rasse gekommen ist«, verkündete Senator Bone bei der Grundsteinlegung am 3. Oktober 1938 zuversichtlich. Nach fast zwei Jahrzehnten weitgehend vergeblicher Anstrengungen schien endlich ein koordiniertes nationales Krebsbekämpfungsprogramm angelaufen zu sein.

* 1944 wurde das NCI den NIH, den National Institutes of Health, eingegliedert, ein erster Schritt auf dem Weg zur Gründung weiterer Krankheitsforschungszentren in den folgenden Jahrzehnten.

Dies alles war ein kühner, mutiger Schritt in die richtige Richtung. Zu Beginn des Winters 1938, nur Monate nach der Einweihung des NCI-Geländes in Bethesda, wurde der Kampf gegen den Krebs von den Erschütterungen eines anderen Krieges überschattet. In Deutschland hatte die systematische Verfolgung der Juden bereits begonnen. Im Spätwinter waren überall in Asien und Europa militärische Konflikte ausgebrochen. 1939 wurde aus den Scharmützeln der Zweite Weltkrieg, und im Dezember 1941 erfasste der globale Flächenbrand auch die USA.

Mit dem Krieg mussten die Prioritäten ganz neu gesetzt werden. Aus dem U. S. Marine Hospital in Baltimore, das eines Tages, so die Hoffnung des NCI