Das Loch - Georg M. Oswald - E-Book

Das Loch E-Book

Georg M. Oswald

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Beschreibung

Neun Erzählungen um die Einsamkeit mitten unter uns - von Bestsellerautor Georg OswaldNachkriegserlebnisse, eine Weihnachtsbescherung, ein gerade verstorbener Hausmeister, der Diebstahl einer Grabvase samt Inhalt, die schwesterliche Ernte von Stachelbeeren im ererbten elterlichen Hause, eine Taufe, eine Künstlerliebe, ein Ausländerabschiebeverfahren und schließlich »Tante Gertis letzter Satz« halten dem Leser den Spiegel vor und klingen noch lange nach.

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© Piper Verlag GmbH, München 2020Das Buch erschien zuerst 1999 bei Knaus in der VerlagsgruppeRandomHouse GmbH, MünchenCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCoverabbildung: FinePic®, München

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Das Loch

Große Bescherung

Requiem für einen Hausmeister

Grabpflege

I.

II.

Ein Brief an Doktor Bärbinder

Die Taufe

Die Puppe

Verfahren

Tante Gertis letzter Satz

Das Loch

Als der Führer in seinem Bunker in Berlin den Heldentod starb, grub mein Onkel Otto in seinem Vorgarten in Moosach ein Loch. Groß war das Loch, das mein Onkel Otto grub. So groß und geräumig, dass der tote Führer bequem darin Platz gefunden hätte.

Das mag auch der Grund gewesen sein, warum mein Onkel Otto das Loch nur sehr widerwillig grub und wohl das Graben sofort eingestellt hätte, wäre nicht seine Frau, meine Tante Sophie, hinter ihm gestanden und hätte auf dem Graben des Loches bestanden.

»Der Führer ist in seinem Bunker in Berlin den Heldentod gestorben, der Amerikaner steht in Garmisch, und du gräbst jetzt ein Loch!« Muss sie, begabt mit praktischer Vernunft, wie sie war, zu meinem Onkel Otto gesagt haben.

Und entweder schweigend oder murrend, entweder mit verzweifeltem oder finsterem Blick, ist mein Onkel Otto hinausgegangen in den Garten, hat einen Spaten genommen und zwischen den Gemüsebeeten begonnen, das Loch, um das es hier geht, zu graben. Und weil meine Tante Sophie nicht nur mit praktischer Vernunft begabt, sondern auch mit – wie man so sagt – gesundem Misstrauen ausgestattet war, ist sie meinem Onkel Otto nachgegangen und hat sich hinter ihm aufgestellt und hat dabei vielleicht sogar die Fäuste in die Hüften gestemmt.

Denn wenn zu jener Zeit auch nicht sicher war, was die nächste Stunde und was der nächste Tag bringen würde – sicher war, dass mein Onkel Otto jetzt und sofort und auf der Stelle ein Loch graben musste. Und zwar ein großes Loch. Am besten ein sehr großes Loch. Und also grub mein Onkel Otto. Und entweder schwieg mein Onkel Otto, als er das Loch grub, oder murrte mein Onkel Otto, als er das Loch grub. Und entweder mit verzweifeltem oder mit finsterem Blick grub mein Onkel Otto das Loch.

Vermutlich war ihm dabei die Vorstellung äußerst unangenehm, die Nachbarn könnten ihn beobachten. Denn hätten ihn die Nachbarn dabei beobachtet, wären sie sicher schadenfroh gewesen oder sogar zornig geworden. »Grab es nur recht tief, das Loch, damit du auch noch mit hineinpasst!« hätten die Nachbarn möglicherweise sogar gerufen, hätten sie ihn beim Graben des Loches beobachtet.

Richtiggehend Angst hätte er bekommen müssen, vor den Nachbarn, mein Onkel Otto – denn immerhin war er ja jahrelang der Blockwart gewesen –, aber dazu hatte er jetzt gar keine Zeit, denn der Führer war in seinem Bunker in Berlin den Heldentod gestorben, der Amerikaner stand in Garmisch, und deshalb musste er jetzt ein Loch graben – gleich, was die Nachbarn dachten.

Und irgendwann, nach einer halben oder einer ganzen Stunde, sagte meine Tante Sophie: »Das reicht.« Und das Loch war groß genug und fertig. Und mein Onkel Otto und meine Tante Sophie gingen ins Haus. Und mein Onkel Otto holte seine SA-Uniform aus dem Schrank, und meine Tante Sophie legte sie zusammen. Und ich frage mich, ob sie sie nicht vielleicht in ein Wachstuch eingeschlagen hat. Und mein Onkel Otto legte seine Hakenkreuzbinde und seine Parteiabzeichen auf die Uniform. Und er nahm das Bild des Führers, der in seinem Bunker in Berlin den Heldentod gestorben war, von der Wohnzimmerwand und legte es auf die anderen Sachen. Und als er »Mein Kampf« aus dem Bücherschrank nahm, sagte meine Tante Sophie: »Das nicht, das war unser Hochzeitsgeschenk von der Partei«, und nahm es an sich.

Und dann gingen mein Onkel Otto und meine Tante Sophie wieder hinaus in den Vorgarten, zwischen die Gemüsebeete, wo das Loch war, und legten alles hinein.

Und dann schaufelte mein Onkel Otto das Loch wieder zu, trat die Erde darauf fest und verteilte die Erde darauf so gleichmäßig, dass keiner je im Leben auf die Idee gekommen wäre, an dieser Stelle hätte sich einmal ein Loch befunden.

Mein Onkel Otto und meine Tante Sophie haben dann später nie wieder von dem Loch gesprochen. Nicht miteinander und schon gar nicht mit anderen.

Wer spricht auch schon von so einem Loch. Was kann man von so einem Loch auch schon groß sagen. Wer will sich auch schon an so ein Loch erinnern. Und wer versteht denn heutzutage auch schon, was so ein Loch bedeutet.

Erst viele Jahre später, als mein Onkel Otto bereits lange tot war, ging meine Tante Sophie einmal an die Küchenvitrine und holte hinter den Tellern ein Buch hervor und zeigte mir das »Hochzeitsgeschenk von der Partei«, wie sie es immer noch nannte. Und dann erzählte sie mir mit ganz leiser Stimme – so als sei jemand hier, der sie nicht hören dürfe – die Geschichte, wie mein Onkel Otto in seinem Vorgarten in Moosach das Loch gegraben hatte.

Große Bescherung

Die Bescherung am Heiligen Abend ist für den engsten Kreis der Familie.

Derselbe erweitert sich am ersten Weihnachtsfeiertag um die Großeltern, die alle vier noch lebendig sind.

Diese werden am zweiten Weihnachtsfeiertag durch den Rest der Verwandtschaft verstärkt, der aus einem Großonkel nebst Sohn sowie einer weiteren Großtante besteht.

Die Anreise sämtlicher Gäste erfolgt gegen Mittag.

Auch die vier Großeltern, die es sich am ersten Weihnachtsfeiertag nicht nehmen ließen, spätabends und in teilweise betrunkenem Zustand den Heimweg anzutreten, reisen heute erneut an, da sie gestern abend keinesfalls im Hause übernachten wollten, wegen der Umstände, die das gemacht hätte.

Ab sieben Uhr morgens steht die Mutter Martha in der Küche und kümmert sich um die Gans.

Der Sohn Anton, der neun ist, fragt seine Mutter Martha, woher die Gans kommt.

Der Sohn Bernhard, der zehn ist, antwortet, bevor die Mutter den Mund öffnen kann: »Aus Polen.« Der Sohn Anton verzichtet daraufhin auf die weitere Frage: »Warum aus Polen?«

Er will nicht den Eindruck der Unwissenheit in Bezug auf Selbstverständlichkeiten erwecken.

Stumm beobachtet er, wie die Mutter in die Körperöffnung der Gans hineingreift und einen Plastikbeutel herausholt, der das Herz, den Magen und die Leber des Tieres beinhaltet, alles gefroren. Die Mutter greift ein weiteres Mal in die Gans hinein und holt einen Zettel heraus, auf dem etwas Polnisches steht. »Das ist die Garantie«, sagt die Mutter.

Vater Ludwig schenkt sich um zehn Uhr vormittags ein Weißbier ein. Das tut er sonst nicht, aber heute schon.

Mutter Martha sagt, dass es ein Kreuz ist: Lädt man die Verwandtschaft ein, ist es nichts, lädt man sie nicht ein, ist es auch nichts.

Der Sohn Anton fragt sich, wie sie das wissen kann, wo doch, seit er auf der Welt ist, die Verwandtschaft noch an jedem zweiten Weihnachtsfeiertag gekommen ist, so dass man gar nicht sagen kann, wie es wäre, wenn sie nicht eingeladen würde.

Vater Ludwig trinkt in einem Zug das halbe Weißbier aus, rülpst beim Abstellen des Glases und wird von Mutter Martha ermahnt, die Kinder seien anwesend und es sei Weihnachten.

Vater Ludwig beschwichtigt sie, indem er ihr zustimmt: Die alten Leute wären besser woanders aufgehoben, aber man könne nicht so sein.

Im ganzen Haus riecht es nach der bratenden Gans und dem kochenden Blaukraut.

Die Söhne Anton und Bernhard sitzen unter dem Christbaum und spielen mit ihren Geschenken.

Beide sind schön angezogen mit ihren Bundlederhosen.

Sohn Anton trägt dazu rote Strümpfe und ein rot-weiß kariertes Hemd. Sohn Bernhard blaue Strümpfe und ein blau-weiß kariertes Hemd.

Sohn Anton hat sich vom Vater einen Zug für seine elektrische Eisenbahn gewünscht, einen TEE mit Lok.

Er hat drei Wagen bekommen, aber keine Lok.

Der Vater sagt, das muss reichen.

Sohn Anton weiß, sein Vater würde ihm keine drei Wagen schenken, wenn ihm nicht ein Großvater die Lok schenken würde.

Das sagt er natürlich nicht.

Er tut so, als verberge er seine Enttäuschung, um seinen Vater zu erfreuen.

Sohn Anton und Sohn Bernhard erwarten die Ankunft der Verwandten gierig, denn seit zwei Tagen werden sie ununterbrochen beschenkt und sind es daher bereits gewöhnt.

Am Heiligen Abend war die Bescherung der Eltern, am ersten Weihnachtsfeiertag war kleine Bescherung, weil sich die Großeltern die große Bescherung für den zweiten Weihnachtsfeiertag aufheben wollten, weil dann auch Großonkel Kurt, der Onkel Kurt genannt wird, mit seinem Sohn Walter und Großtante Sophie, die Tante Sophie genannt wird, dabei sind, so dass es sich lohnt.

Die Anreise der Verwandtschaft vollzieht sich um elf Uhr am Vormittag in Onkel Kurts goldfarbenem BMW.

Vorne sitzen Onkel Kurt am Steuer und sein Sohn Walter auf dem Beifahrersitz.

Hinten sitzen Oma Rosemarie und Tante Sophie, links und rechts von Opa Eduard.

Oma Erika und Opa Schorsch kommen mit der S-Bahn, weil in dem goldfarbenen BMW von Onkel Kurt nicht genug Platz ist, und Onkel Kurt mit Oma Rosemarie, Tante Sophie, Opa Eduard und Walter immer zusammen ist, mit Oma Erika und Opa Schorsch hingegen nur am zweiten Weihnachtsfeiertag.

Mutter Martha, die Tochter von Oma Erika und Opa Schorsch, ist deshalb eifersüchtig. Sie will, dass ihre Eltern die gleiche Anerkennung genießen wie Oma Rosemarie und Opa Eduard, die Eltern Vater Ludwigs. Aber das geht nicht, denn sind Oma Rosemarie und Opa Eduard auch nicht gerade etwas Besseres als Oma Erika und Opa Schorsch, so sind sie doch zumindest aus der Stadt und haben – das weiß jeder – im Rahmen ihrer Möglichkeiten Lebensart.

Oma Erika und Opa Schorsch hingegen mögen nach dem Krieg gewisse Vorteile durch ihre räumliche und wesensbedingte Nähe zur Landwirtschaft gehabt haben, die durch ihre strikte Weigerung, mit der Zeit zu gehen, aber längst überholt und mehr als aufgewogen sind, das ist bekannt.

Sohn Anton und Sohn Bernhard bleiben an der Tür stehen, als die Verwandten aus dem goldfarbenen BMW von Onkel Kurt aussteigen.

Mutter Martha und Vater Ludwig gehen zur Einfahrt und nehmen die Begrüßung vor.

Diese gelingt ohne größere Schwierigkeiten weil Oma Erika und Opa Schorsch noch nicht anwesend sind und deshalb die Anzahl der Rücksichten, Begrüßungsreihenfolge und -herzlichkeit betreffend, überschaubar bleibt, auch die angemessen gewichtete Verteilung von Respekt bereitet im Augenblick keine weiteren Probleme, sie erfolgt entsprechend der unausgesprochen bestehenden Rangfolge der Verwandten. Die Rangfolge lautet: Oma Rosemarie, Opa Eduard, Onkel Kurt, Tante Sophie, Walter.

Wollte man Oma Erika und Opa Schorsch in diese Rangfolge aufnehmen, würde Oma Erika vor Opa Schorsch kommen, aber hinter Tante Sophie, Opa Schorsch immerhin noch vor Walter, aber bestimmt an keiner Stelle weiter vorne.

Oma Erika, die es, nach allgemeinem Urteil, in ihrem Leben nicht gut getroffen hat und die nach demselben zu mehr in der Lage gewesen wäre, leidet unter ihrem eigenen schlechten Ansehen, das so schlecht ist, weil das von Opa Schorsch noch viel schlechter ist.

Opa Schorsch ist, weil er so oft blau ist, sehr schlecht angesehen. Zwar ist der besser angesehene Opa Eduard auch oft blau, kann es sich aber leisten, denn er hat, das steht fest, im Rahmen seiner Möglichkeiten Format.

Alles in allem betrachtet, ist es nur gut, dass Oma Erika und Opa Schorsch mit der S-Bahn kommen, dann gibt es keine Reibereien.

Übrigens hat Opa Schorsch keinen Grund zur Beschwerde, denn ist er auch schlecht angesehen, so rangiert er doch noch vor Walter. Walter ist als Sohn von Onkel Kurt, der ein Bruder von Opa Eduard ist, ein Vetter von Vater Ludwig, wird aber nicht als solcher bezeichnet, denn Walter ist geistig nicht auf der Höhe.

Über Walters tragisches Schicksal wird nicht gesprochen, jeder kennt es, selbst die Söhne Anton und Bernhard.

Wird es, was ganz selten vorkommt, doch angesprochen, wird es nur als Walters tragisches Schicksal bezeichnet.

Walters tragisches Schicksal ist es, im Alter von vier Jahren mit dem Tretroller vor ein Auto gekommen zu sein. Das Auto hat Walter umgefahren, er ist mit dem Kopf auf den Asphalt geschlagen, anschließend zwei Wochen ohne Bewusstsein im Krankenhaus gelegen, und seitdem er wieder aufgewacht ist, ist er geistig nicht auf der Höhe.

Oma Rosemarie, Opa Eduard, Onkel Kurt, Tante Sophie und Walter kommen langsam ins Haus.

Die Damen schreiten voran, die Herren entladen den Kofferraum von Onkel Kurts goldfarbenem BMW, der die Bescherungsgegenstände birgt.

Sie kommen hinter den Damen her, alle drei mit mächtigen Paketen bepackt, die zum Schutz und zur Tarnung in Plastiktüten mit den Aufdrucken Woolworth, Kaufhof und Hertie gehüllt sind.

Die Damen verursachen zusammen mit Mutter Martha anhaltenden Begrüßungslärm.

Sohn Anton und Sohn Bernhard stehen erwartungsfroh lächelnd in der Haustür, Sohn Anton versteht nur die in höchster Tonlage gesprochenen Wörter: gell, ja, schön, Mühe, Freude, Martha, jedes Jahr.

Vater Ludwig ist wieder ins Haus gegangen, das Weißbier austrinken und Platz schaffen unter dem Christbaum für die große Bescherung.

In dem geräumigen Esszimmer hat Mutter Martha die Festtafel gedeckt, der Christbaum steht nebenan im Wohnzimmer.

An der Haustür angekommen, werden die Damen auch von Sohn Anton und Sohn Bernhard artig begrüßt.

Als erste Oma Rosemarie: »Grüß dich Gott, Oma Rosemarie!«

Beide machen, wie es die Mutter Martha verordnet hat, einen feschen Diener.

Oma Rosemarie fährt mit beiden Händen beiden durchs Haar und sagt: »Zwei ganz fesche Buben.«

Sohn Anton und Sohn Bernhard halten beide die Arme hinter dem Rücken verschränkt und grinsen gesund.

Dann geht es weiter: »Grüß dich Gott, Tante Sophie!«, fescher Diener, »Grüß dich Gott, Opa Eduard!«, fescher Diener, »Grüß dich Gott, Onkel Kurt!«, fescher Diener, »Servus, Walter!«

Mutter Martha weist an: »Anton, sei ein fescher Kavalier, hilf der Oma Rosemarie aus dem Mantel. Bernhard, sei ein fescher Kavalier, hilf der Tante Sophie aus dem Mantel.«

Oma Rosemarie übernimmt nun, indem sie sich neben dem Christbaum aufstellt, das Regiment.

Mutter Martha geht derweilen in die Küche und kümmert sich um die Gans.

Oma Rosemarie weist Opa Eduard und Vater Ludwig mit plötzlich dienstlicher Schärfe an, die Geschenke für die große Bescherung von den Plastiktüten zu befreien und unter dem Christbaum aufzubauen, jedoch nicht, bevor Sohn Anton und Sohn Bernhard durch mehrfaches, schnelles Händeklatschen verscheucht worden sind.

Sohn Anton und Sohn Bernhard laufen zu ihrem Zimmer, dem Bubenzimmer, das sich am Ende des Flurs befindet, der einen Knick macht, hinter dem man sich verstecken und luren kann.

Luren heißt bei Sohn Anton und Sohn Bernhard das verbotene Zuschauen bei etwas, das man nicht sehen darf.

Hinter dem Knick im Flur, den sie selbst das Lur-Eck nennen, bleiben Sohn Anton und Sohn Bernhard sofort stehen und postieren sich so, dass sie ins Wohnzimmer und zum Christbaum hinsehen können, selbst jedoch nicht als Lurer bemerkt werden.

Aus der Ferne betrachtet, fällt Sohn Anton auf, kann man die Menschen besser im Ganzen sehen, besonders, wenn sie so umfangreich sind, wie Oma Rosemarie.

Oma Rosemarie trägt mit Absicht ein schlicht und gerade geschnittenes Kleid, das mit großen, dunkelroten Rosen und saftiggrünen Blättern auf hellrotem Untergrund bedruckt ist, denn das passt zu ihrem Namen, sagt sie.

Um den Hals und auf der Brust hat sie eine lange Kette aus dicken, weißen Perlen, wie alle Frauen in der Verwandtschaft bei feierlichen Anlässen.

Ihre grauen Haare sind hochgesteckt mit vielen Nadeln, die man, wenn man genau hinsieht, erkennen kann. In ihrer Nähe riecht es nach Haarspray.

Opa Eduard mault »jajajajaja!«, als Oma Rosemarie nach dem Verschwinden von Sohn Anton und Sohn Bernhard hinter dem Lur-Eck ihren Befehl, Beseitigung der Plastiktüten, erneuert, denn er hat seinen sandbraunen Trenchcoat noch nicht ausgezogen und ist noch nicht dazu gekommen, seinen dazu passenden Pepitahut abzunehmen, schon muss er Oma Rosemaries Anordnungen ungesäumt folgen.

Vater Ludwig ist derweil bereits auf allen vieren unter dem Christbaum.

Es werden zwei Geschenkpyramiden, die einander sehr ähneln, aufgebaut, indem Opa Eduard die aus den Plastiktüten gepackten Geschenkpakete Vater Ludwig gibt, der sie gemäß den Anweisungen der Oma Rosemarie auftürmt.

Die übrige Verwandtschaft sitzt unterdessen in den Wohnzimmersitzmöbeln und schaut.

Tante Sophie, die zweiundsiebzig ist, raucht Kette.

Eine Zigarette, die sie Walter anbietet, schlägt dieser aus.

»Walter, magst ein Weißbier?« fragt Mutter Martha, kurz aus der Küche kommend.

Walter mag ein Weißbier.

Nachdem Vater Ludwig und Opa Eduard Oma Rosemarie angezeigt haben, die Geschenkpyramiden seien fertig, verkündet diese, der sofortigen großen Bescherung stünde nichts mehr entgegen, sobald Opa Eduard nur endlich seinen Mantel ausgezogen und seinen Hut abgenommen habe. Da kommt Mutter Martha aus der Küche, Knödel und Blaukraut seien bald fertig, ebenso die Gans, und hält dagegen, eine große Bescherung sei erst möglich, wenn auch Oma Erika und Opa Schorsch anwesend seien.

Daraufhin schweigt Oma Rosemarie, ihr Gesicht trägt einen Ausdruck strenger Missbilligung.

Sohn Anton und Sohn Bernhard, noch immer hinter dem Lur-Eck, blicken sich, neugierig, wie dieser Zusammenstoß ausgehen wird, an.

In diesem Moment klingelt das Telefon, im nachhinein lässt sich sagen: wie gerufen.

Mutter Martha hebt ab, sagt in längeren Abständen viermal kurz »ja« und hängt ein.