Das Mädchen auf dem Eisfeld - Adelaïde Bon - E-Book

Das Mädchen auf dem Eisfeld E-Book

Adelaïde Bon

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Beschreibung

Als sie neun ist, spricht ein Mann sie im Hauseingang an und missbraucht sie. Sie schafft es, ihren Eltern davon zu erzählen, sie gehen zur Polizei. Sie lächelt weiterhin, was ist schon passiert, sie wächst in einer privilegierten Familie auf – doch nichts kann die Leere füllen, den Selbsthass betäuben, den sie in sich spürt und mit enormer Energie zu verbergen versucht. Erst als erwachsene Frau bringt sie den Begriff Vergewaltigung mit dem Erlebnis in Verbindung, das sie so perfekt von sich abgekapselt hat und das doch ihr Leben so radikal bestimmt. Und erst jetzt kann der Prozess der Heilung wirklich einsetzen. Hochreflektiert und mit starken Bildern macht Adélaïde Bon die Unermesslichkeit einer solchen Verletzung erfahrbar.

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Über das Buch

Als sie neun ist, spricht ein Mann sie im Hauseingang an und missbraucht sie. Sie schafft es, ihren Eltern davon zu erzählen, sie gehen zur Polizei. Sie lächelt weiterhin, was ist schon passiert, sie wächst in einer privilegierten Familie auf – doch nichts kann die Leere füllen, den Selbsthass betäuben, den sie in sich spürt und mit enormer Energie zu verbergen versucht. Erst als erwachsene Frau bringt sie den Begriff Vergewaltigung mit dem Erlebnis in Verbindung, das sie so perfekt von sich abgekapselt hat und das doch ihr Leben so radikal bestimmt. Und erst jetzt kann der Prozess der Heilung wirklich einsetzen. Hochreflektiert und mit starken Bildern macht Adélaïde Bon in ihrem Buch die Unermesslichkeit einer solchen Verletzung erfahrbar.

Adélaïde Bon

Das Mädchen auf dem Eisfeld

Aus dem Französischen von Bettina Bach

Hanser Berlin

Für Dr. Muriel Salmona, für die Ermittlerin mit dem langen Atem, für alle Opfer von Gewalttaten, meine Heldinnen

Wenn die Verbrechen sich häufen,

werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden

unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr.

Auch die Schreie fallen wie der Sommerregen.

Bertolt Brecht, aus:

»Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt«

Hat sie sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt, ist sie sich mit der Zunge über die Zähne gefahren, mit der Hand durchs Haar? Hat sie selbst ihre Unterhose hochgezogen, das rote Trägerkleid in Ordnung gebracht, die weiße Bluse zurechtgezupft, oder hat er es gemacht? Sie hat ihn angesehen und mit dem Kopf genickt wie diese kleinen Hunde auf der Hutablage hinten im Auto. Ich bin lieb, ich bin hübsch, ich mag das, du bist mein Freund, du magst meinen dicken Po, du tust mir gut, ich bin eine Naschkatze, ich sage niemandem was davon, es ist unser Geheimnis, versprochen, ich sage niemandem was. Worte, die er ihr eingeredet hat und an die sie sich nicht erinnert, genauso wenig wie an das, was er ihr angetan hat.

Sie nimmt die weiße Papiertüte mit den Karamellbonbons und die Dose Goldfischfutter, die sie auf der blanken Ecke einer Treppenstufe abgestellt hatte, wieder in die Hand.

Etwas ist gekippt, der Fußboden oder sie selbst, das weiß sie nicht, sie konzentriert sich darauf, die Treppe hochzugehen.

Als er ruft, dreht sie sich vor der Tür noch mal um, wiederholt ihr Versprechen mit einem Nicken.

Sie legt sich aufs Bett, versucht eine Träne mit der Zungenspitze aufzufangen. Als die Dielen im Flur knarren, nimmt sie ihr Buch in die Hand. Heimatlos, von Hector Malot.

Bringt dich das Buch zum Weinen?, fragt ihr Vater. Vielleicht macht er sich Sorgen, weil sie sich still und leise in ihr Zimmer geschlichen hat, ohne wie sonst lautstark reinzustürmen, ohne die Wohnungstür zuzuknallen, ohne ihnen irgendwas zu erzählen.

Ihr Kopf bewegt sich. Von links nach rechts. Von rechts nach links.

Ist was passiert?

Ihr Kopf bewegt sich. Von oben nach unten. Von unten nach oben.

Sie sitzt zwischen ihren Eltern auf dem weinroten Sofa im Wohnzimmer, ihr Bruder und ihre Schwestern sind verschwunden. Sie starrt auf die Stofftapete, ohne sie zu erkennen, genauso wenig, wie sie ihre eigenen Eltern erkennt. Mit einem Mal ist alles anders geworden, aber was? Jemand spricht mit ihr, doch sie hört es kaum, versteht kaum was. Sie schwebt.

Hinten im Streifenwagen sitzt sie neben ihrem Vater. Die Polizisten schalten das Blaulicht ein, um sie zum Lächeln zu bringen. Sie lächelt. Sie ist lieb. Dabei ist sie gar nicht mehr da, sondern tot. Aber das merkt anscheinend keiner.

Auf der Wache stellt eine Polizistin ihr Fragen, die sie mit Ja oder Nein beantworten soll, sie nickt oder schüttelt den Kopf, je nachdem. Ohne etwas zu fühlen. Die Polizistin schreibt auf, er hat mir an meine Mumu gefasst: vorne und hinten. Er hat meine linke Hand genommen und sie auf sein Glied gelegt.

Man erklärt ihr, sie erstatte Anzeige wegen unsittlicher Berührungen und der Mann im Treppenhaus sei ein Pädophiler. Sie nickt mit dem Kopf.

Sie spürt nicht die Quallen, die sich an jenem Tag in ihr einnisten, die langen, durchsichtigen Tentakel, die in sie eindringen, sie weiß nicht, dass diese Tentakel sie nach und nach in eine Geschichte hineinziehen werden, die nicht ihre Geschichte ist, die sie nicht betrifft. Sie weiß nicht, dass die Medusen sie von ihrem Weg abbringen und in verlassene, unwirtliche Tiefen führen werden, dass sie ihr bei jedem Schritt im Weg sein, ihr alle Kraft nehmen werden. Dass ihre eigene Welt mit jedem Jahr kleiner wird, bis nur noch eine ausweglose Luftblase sie umgibt. Sie weiß nicht, dass sie sich ab sofort im Kriegszustand befindet und die feindliche Armee in ihr haust.

Niemand hat sie gewarnt, niemand hat es ihr erklärt, alle haben geschwiegen.

Die Jahre sind vergangen. Sie haben diesen sonnigen Sonntag im Mai vergessen oder besser gesagt nicht mehr darüber geredet. Auch sie selbst hat nicht mehr dran gedacht.

Natürlich hattest du vorher Streit, Kummer, Wut, Rückschläge und Trauer gekannt. Du wusstest, dass man jemanden sehr liebhaben kann, was ihn nicht davon abhält zu sterben, und dass man hinterher immer noch mit ihm reden kann wie du mit Opa unterm Pflaumenbaum. Dir war klar, dass es unheilbare Krankheiten und unbeantwortbare Fragen gibt. Die Antworten lagen in den vom Tau glitzernden Spinnweben, sie ließen sich nur nicht in Worte fassen. Gott wohnte tief in deinem Herzen und im Summen der Insekten im Frühling. Du bist bis in die höchsten Wipfel geklettert, um zu spüren, wie du dich mit den Bäumen im Wind wiegst. Du hattest einen Schwarm, der zum Fechten ging und für den du ein Bild von den zwölf Kindern, die ihr haben würdet, gemalt hast. Du konntest wahnsinnig bockig sein, dann hast du dich auf den Bürgersteig gehockt und wolltest um keinen Preis mehr aufstehen. Du hattest Hefte, in denen du schöne und witzige Wörter gesammelt hast. Du wolltest Feuerwehrfrau werden, Weltenretterin, eine berühmte Schriftstellerin. Spiegel und dein Aussehen waren dir ganz egal. Du warst neun Jahre alt.

I

Am nächsten Tag erzählt sie ihrem Schwarm davon. Es hat geläutet, die Pause ist vorbei, und sie stehen zusammen neben ihrem Pult – sie weiß, etwas ist gekippt und sie muss es ihm sagen. Ohne seine Antwort abzuwarten, setzt sie sich hin, kerzengerade.

Sie fängt an, sich vollzustopfen, vorher hatte sie einfach gern gegessen – ob ihr bewusst war, dass sie sich mit Essen jetzt nicht mehr nur ernährte, sondern auch beruhigte, weiß ich nicht.

Sie hat alles, um glücklich zu sein. Eine sehr privilegierte, behütete Kindheit. Sie ist gesund, hübsch, intelligent. Sie wohnt in Paris. Im Winter läuft sie Ski, im Sommer fährt sie ans Meer, besucht Museen im Ausland. Ihre Familie lebt in einem der besseren Viertel, sie ist gut erzogen, kann sich benehmen. Dazu ist sie hellhäutig, Französin seit Morvan I, Herrscher der Bretagne, und Karl dem Großen, im katholischen Glauben und zur Nächstenliebe erzogen, einer ihrer Großväter ist fürs Vaterland gestorben. Ihr Vater ist erfolgreich, ihre Mutter ebenfalls. Eltern mit interessanten, verantwortungsvollen, einträglichen Berufen und einem regen gesellschaftlichen Leben. Vielbeschäftigte, unbeholfene, zärtliche und sehr liebevolle Eltern.

Wenn sie allein ist, spricht sie mit einem riesigen weißen Yeti, den nur sie sehen kann, und mit ihrem alten Bären Pandi Panda. Sie beschützen sie, bei ihnen findet sie Trost. Sie lutscht noch am Daumen. Auf der Straße oder wenn zu viele Leute da sind, nimmt sie oft den Yeti an die Hand, schließlich kann sie nicht immer alles allein machen.

An manchen Tagen reden die Dinge in ihrer Umgebung miteinander, und sie kann eine ganze Stunde reglos im Badezimmer bleiben und zuhören, wie sie sich in ihrem Kopf unterhalten.

In manchen Nächten, wenn sie träumt, bricht etwas in ihren Traum ein, jahrelang, eine bestimmte Stelle ihres Körpers fängt an, sich zu drehen, immer schneller und schneller, der Strudel wird größer und saugt sie ein, die Umrisse ihres Körpers zerfasern nach und nach, verwischen, sie kann den Blick nicht davon abwenden, ihr ganzer Körper ist eine einzige sich drehende und einstürzende Sandwüste, der Sand ist zähflüssig, ihr Mund füllt sich damit, sie findet nirgends Halt, rutscht aus, löst sich auf, und dann, wenn der Strudel den ganzen Traum erfasst hat, kurz bevor sie endgültig aufhört zu existieren, schreit sie. Sie schreckt aus dem Schlaf. Lauscht. Sie fürchtet, tatsächlich geschrien und ihre Eltern geweckt zu haben. Ihr Traum hat etwas furchtbar Schmutziges, und sie darf nicht drüber reden.

Im nächsten Frühling ist sie zehn. Sie trägt ein weißes Kapuzen-T-Shirt und ist froh, dass ihr ausnahmsweise die Rundkragen und gesmokten Kleider erspart geblieben sind. Da macht ihr eine Wichtigtuerin, die zu den Angesagten auf dem Schulhof gehört, ein Kompliment über ihre Kleidung, und sie ist ganz aus dem Häuschen, kann es gar nicht fassen, denn sie findet sich dick und hässlich, eine Versagerin. Sie kann sich nur noch im Blick der anderen sehen.

Auf dem Geburtstagsfest einer Freundin wird Verstecken gespielt. Ihr Schwarm zieht sie hinter einen dicken Vorhang im Wohnzimmer. Er sieht sie an, sie wird rot, sein Mund kommt näher, ihr Atem stockt, sie schließt die Augen, wird dann plötzlich ganz steif. Etwas ist in sie gefahren, hat sie gepackt, etwas Ekliges, sie spürt es im ganzen Körper, eine so furchterregende Kälte, dass sie sich nicht beschreiben lässt.

Enttäuscht geht er weg, um eine andere zu küssen.

Ihre Mutter geht mit ihr zu einer Ernährungsberaterin, weil sie so zugenommen hat. Sie soll alles aufschreiben, was sie isst, aber manches schreibt sie lieber nicht auf, sie vertuscht die Mengen, springt beim Tischabdecken als Erste auf, lächelnd, hilfsbereit, dann isst sie in der Küche heimlich die Teller leer, verputzt die Reste, um sich zu betäuben.

Mit jedem Tag breiten sich die Quallen weiter aus.

Ihre Mutter bringt sie zu einem großen Polizeirevier an der Seine. Die Polizisten geben ihr einen dicken Ordner voller Fotos von Männern, sie soll sie sich gut ansehen. Liebend gern würde sie sagen, der war’s, doch die Gesichter sagen ihr nichts, rufen keine Erinnerung wach. Sie traut sich nicht zu fragen, ob die Hunderte von Männern auf dem Papier, die sie ansehen, auch alle Pädophile sind.

In der fünften Klasse darf jeder, der möchte, in Geschichte ein Referat über ein selbstgewähltes Thema halten. Sie sucht sich den Holocaust aus. Stundenlang sitzt sie in der Stadtteilbibliothek, sieht sich sanfte Gerippe in gestreiften Pyjamas und mit erloschenem Blick an, die den Fotografen der Roten Armee ihr zahnloses Lächeln schenken. Ihren Eltern verschweigt sie, dass sie Nacht und Nebel ausgeliehen hat, wartet, bis sie einmal nachmittags allein ist, um sich den Film anzusehen. Ihr Referat ist so ausführlich, dass es vier Unterrichtsstunden dauert und die Geschichtslehrerin sich besorgt bei ihren Eltern meldet.

Nach außen hin ist sie quirlig und aufgeweckt, doch sobald sie außer Sichtweite ist, steckt sie sich etwas in den Mund. Sie lacht viel, vielleicht mehr als früher, denn ihr ist so schwer ums Herz, dass sie sich mit aller Macht auf die Freude stürzt, wenn sie am Horizont erscheint.

Wieder geht sie mit ihrer Mutter zum großen Polizeirevier an der Seine. Ein Polizist führt sie in einen abgedunkelten Raum: Hinter einer halb verglasten Wand sitzen fünf Typen mit verschlossenen Mienen, sehen sie an. Sie hat große Angst. Der Polizist beruhigt sie, das ist ein Spionspiegel, sie können dich nicht sehen. Sie versteht ihn nicht, ein Spion im Spiegel, zwingt sich zu lächeln, etwas näher zu treten und die Männer zu mustern. Sie würde sich ja gern nützlich machen, aber auch diese Gesichter sagen ihr nichts.

An diesem oder vielleicht einem anderen Tag soll sie den Kopf des Mannes im Treppenhaus beschreiben. Welche Form hatte sein Gesicht? War es oval, länglich? Und der Haaransatz? Auf dem Bildschirm eines großen grauen Computers erscheinen Einzelteile aus einem merkwürdigen Katalog, Kinne, Nasen, Augen, Stirnen, Wangen, Münder, Ohren, Augenbrauen, und nach einer langen gemeinsamen Anstrengung entsteht am Ende ein seltsames Gesicht, das Gesicht eines Toten, ohne jeden Zusammenhang, ohne alles. Noch ein Gesicht, das ihr nichts sagt.

Von ihrer katholischen Erziehung bleiben nur der Teufel und seine Versuchungen hängen, die Sünden, das Auge Gottes, das alles sieht und auf sie gerichtet ist, die Hölle. Aus den Predigten über den Primat des Geistigen hört sie den Hass auf den Körper und die Ablehnung der Sinne heraus. Wie beruhigend. Sie verachtet ihren Körper und empfindet ihn als auferlegtes Vehikel, ein Schlammloch. Hoffentlich ist ihre Seele mit Gott vereint, rein und jungfräulich und hat nichts mit diesem von Satan bewohnten Körper zu tun.

Sie befriedigt sich oft selbst, im Sinne des lateinischen Begriffs, manus stupratio, besudelt sich mit ihrer Hand. Sie weiß nicht mehr, wie es angefangen hat, noch, woher diese immer gleichen Gesten stammen. Sie kann sie nicht benennen. Sobald sie allein ist, kommt der Teufel und zieht ihre Unterhose runter. Dann schlägt sie sich mechanisch, zwanghaft mit der Hand auf die Scham, bis es brennt und wehtut und sie in eine dumpfe, glibberige Erstarrung verfällt. Sie kann niemandem davon erzählen, denn sie weiß, dass es böse ist, aber unterdrücken kann sie es auch nicht. Sie braucht das Schweben danach. In der Kirche meidet sie die hohlen Augen der geschnitzten Teufelchen auf den Säulenkapitellen, denn sie sehen sie mit einem hämischen Lachen an. Sie ist eine von ihnen. Sie bestraft ihren Körper, indem sie ihn mit Essen vollstopft, ihn schlägt, versucht, ohne ihn zu leben, und sie betet, de profundis clamo ad te Domine, betet mit aller Inbrunst ihres jungen Herzens, damit Gott ihr zu Hilfe kommt. De profundis clamo ad te Domine. De profundis clamo ad te Domine. De profundis clamo, clamo, clamo ad te Domine. De profundis.

Auf den langen Autofahrten mit ihrer Familie legt sie hinten auf der Rückbank die Stirn an die Scheibe, schaut in die Ferne, verletzt sich in ihrem Innern, irgendwo da, wo ihre Gedanken sich auflösen, ihr selbst fremd werden, wo ihre Träumereien weder Hand noch Fuß haben, und während ihre Eltern im Radio Klassik hören und ihr Bruder und ihre Schwestern sich zanken, driftet sie weg.

Im Wochenendhaus auf dem Land zieht sie sich in die Stille ihres Zimmers zurück und liest. Sie liest alles Mögliche, viel. Manchmal reißt sie sich von ihrer Lektüre los, hat Schmerzen am Hals, im Kiefer, so schreckliche Schmerzen, dass sie den Kopf unters Kissen steckt, um einen lauten Schrei auszustoßen, ihn rauszuwürgen, auszuspucken, damit sie ihn endlich los ist, sie reißt den Mund auf, strengt sich wahnsinnig an, doch nichts kommt raus, nie, kein bisschen Luft, kein Laut, gar nichts. Also schluckt sie die Schmerzen runter, ihr ist schlecht und sie liest weiter. Seite um Seite tröstet sie sich, vergisst sich, flieht.

Sie versucht nett zu sein, niemanden zu enttäuschen. Und wird dabei immer trauriger, weiß aber nicht warum. Sie lächelt, lügt, laviert sich durch. Schämt sich. Keiner soll was mitbekommen, keiner soll was ahnen, sie darf sich nichts anmerken lassen.

Mit dreizehn knutscht ein Junge auf einer Party mit ihr. Sie kann es nicht fassen, dass er sie ausgesucht hat, gibt sich so große Mühe, dass ihr die Zunge wehtut und ihre Mundwinkel einreißen, trotzdem langweilt sie sich. Sie schreibt ihm glühende Postillen, auf die sie keine Antwort bekommt, die Kluft zwischen ihren heißen Worten und ihrem verspannten Kiefer ist ihr nicht bewusst.

Ihrer drei Jahre älteren Schwester ist sie sehr nahe. Manchmal hilft sie ihr, sich abends aus der Wohnung zu stehlen, sie lenkt die Eltern im kritischen Augenblick ab, wenn ihre Schwester zur Wohnungstür schleicht. Nachts wacht sie auf, wenn ihre Schwester nach Hause kommt, kuschelt sich rasch auf ihr Bett und hört ihren Geschichten zu, mit welchen Tricks man in die Disco gelassen wird, wenn man noch nicht alt genug ist, Lästereien über das Outfit von diesem oder jenem Mädchen, über Jungs, über Pärchen, die sich finden, auseinandergehen, die Ausflüchte des Herzens.

Sie geht in die Theater-AG und entdeckt nach und nach ihre Liebe für die Bühne. Erzählt allen, dass sie später Schauspielerin sein will. Auf der Bühne muss sie nicht tun, als ob, darf sie tausend Gesichter haben, wirft sie sich einer anderen mit Haut und Haar in die Arme, lebt sich aus. Auf der Bühne lernt sie eine Intensität und Selbstverständlichkeit kennen wie nirgendwo sonst, vielleicht ist es aber auch nur Lebensfreude?

Sie sammelt keine Wörter mehr, im Altgriechisch-Unterricht hat sie gelernt, sie abzuleiten, ihren mit der Geschichte der Menschheit verwobenen Wurzeln zu folgen.

Eines Tages geht ihr der Sinn des Wortes Pädophiler auf, und sie ist erschüttert. Jemand, der Kinder mag. Plötzlich schießt ihr ein Satz durch den Kopf, ein Satz wie eine Ohrfeige, ein verquerer Satz, den der Mann auf der Treppe gesagt hat.

Ich bin dein Freund.

Am liebsten hätte sie ihr Pult zertrümmert, die Wörterbücher verbrannt, gebrüllt, wie verlogen die Sprache sei, doch auch diesmal löscht sie das Feuer, kaum dass es aufflackert. Sie fürchtet sich sehr vor diesen plötzlichen Wutanfällen, erstickt sie im Keim, danach rennt sie in die Küche oder zur Bäckerei und begräbt sie unter einem Stück Baguette.

Sie hat entdeckt, dass die Bedeutung mancher Wörter sich im Lauf der Zeit ins Gegenteil verkehrt hat, aber noch hinterfragt sie nicht, weshalb man dann genau diese Wörter verwendet.

Kurz nach der Wiedervereinigung fährt sie in den Osterferien zusammen mit ihrer Familie nach Ostdeutschland. Sie verbringt einen Tag im Frauen-KZ Ravensbrück, und als sie die Zeugenaussagen von Überlebenden liest, zerbricht für sie nach und nach die beruhigende Illusion, dass Bosheit und Gewalt eine männliche Domäne sind. In den Geschichtsbüchern wurden die Kriege immer nur von Männern geführt, und in naivem Selbstschutz hatte sie Brutalität ausschließlich Männern zugeschrieben. In Ravensbrück bringt die Grausamkeit und Perversität der KZ-Aufseherinnen sie zum Schaudern. Vielleicht ist es ja gar nicht so, dass Satan ihr schmutzige Gedanken einflüstert, sondern sie selbst ist Satan?

An manchen Tagen sitzt sie still mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett, ihre Beine sind ihr fremd, verständnislos betrachtet sie ihren Körper, fügt ihm Schmerzen zu, um sich zu vergewissern, dass sie ihn wirklich spürt, dass er zu ihr gehört. Sie erkennt sich nicht.

Und oft, wenn ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt sind, sieht sie ihren Körper. Am Boden zerschmettert, ein paar Meter von ihr entfernt. Diese Bilder lassen sie kalt, sie stellt sie nicht in Frage, fasst sie nicht in Worte. Sie findet sich damit ab.

Im Sportunterricht stört ihr Körper sie, sie hasst den Blutgeschmack hinten im Rachen, wenn sie läuft, hasst ihre geröteten Wangen, hasst, wie ihr Bewusstsein so sehr mit physischen Empfindungen beschäftigt ist, dass sie gar nicht mehr denken kann. Nur selten schafft sie es, einen Ball zu fangen, denn wenn man ihr einen zuwirft, erstarrt sie. Beim Tanzen ist sie zu oft geistig abwesend, um sich die Choreografien zu merken, also stellt sie sich ganz nach hinten und imitiert die anderen, ohne dass jemand es merkt.

Wenn die Mädchen zum Stadion gehen – an ihrer katholischen Privatschule gibt es nur wenige Jungen, und die haben den Status von Halbgöttern –, wenn sie also zum Stadion am Eingang des Bois de Boulogne gehen, treffen sie dort oft auf dieselben zwei oder drei Exhibitionisten, die den wohlerzogenen jungen Mädchen ihren Schwanz zeigen.

An solchen Tagen fleht sie darum, dass sie keinen Dauerlauf machen müssen, dass die Lehrerin am Anfang der Stunde nicht verlegen stammelt, äh,na ja, also am Ende der Bahn schaut ihr einfach weg, okay? Denn wenn sie laufen müssen, stellt sie sich bei jedem Schritt die Blicke vor, die auf ihr liegen – sie stellt sie sich vor, weil sie sie nicht sehen kann, sie schaut krampfhaft auf den ockerfarbenen Boden –, und dann fühlt sie sich schmutzig, so schmutzig, ihre gerötete Haut kribbelt und macht alle auf sie aufmerksam, die, die nach ihr geifern, dann kommt die erste Kurve, sie hat nicht hochgeschaut, kriegt kaum noch Luft, rennt an ihnen vorbei, spürt ihre beängstigenden Blicke, ihre schwieligen Hände, ihre feuchten Penisse überall, dabei haben sie sich gar nicht gerührt, stehen immer noch hinterm Gitter, sie rennt weiter, wie in Zeitlupe, als müsste sie die Füße gewaltsam vom Boden reißen, noch eine Kurve, sie hasst es, dass ihr Hintern derartig wabbelt, dass die Typen das Gewabbel zu sehen kriegen, dann entfernt sie sich wieder, bekommt wieder Luft, noch eine Kurve, eine weitere, und das Ganze wieder von vorn, immer und immer wieder an ihnen vorbei. Nach einer Weile spürt sie nichts mehr, fragt sich, wie ihre Beine es fertigbringen, ohne sie zu laufen.

In der zehnten Klasse hat sie einen älteren Freund, einen aus der elften. Sie sind allein bei ihm zu Hause, gehen ins Elternschlafzimmer, legen sich unbeholfen aufs Bett, knutschen, pressen sich aneinander, atmen ihren Geruch ein, ihnen wird warm, beide haben Angst und sind erregt, er zieht sie aus, berührt ihr Geschlecht mit den Fingern. Kaum hat er ihr den Slip über die Beine gezogen, krampft sie sich zusammen, etwas zerbricht, etwas Ekelhaftes breitet sich in ihrer Scheide, ihrer Kehle aus, kaum hat er ihr Geschlecht berührt, hasst sie ihn so sehr, dass sie ihn totschlagen könnte. Im nächsten Moment ist sie weggedriftet, bleibt reglos liegen. Verlegen lässt er von ihr ab. Sie entschuldigt sich, zieht sich an und geht. Am Tag danach macht sie telefonisch Schluss.

In ihrer Klasse ist eine Neue, Sigrid, mit lilafarbenen Doc Martens und bitterbösem Humor. Dann gibt es da noch Marine, die das Schuljahr wiederholt und von der alle wissen, dass ihr Vater ihre Mutter erschossen hat, als Marine klein war, alle bewundern sie für ihre Schlagfertigkeit, ihre Unverschämtheit. Zusammen bilden sie eine wilde Dreierbande. Jede ist in einer anderen Clique, trotzdem setzen sie sich oft zu dritt ab, gehen für ein paar Stunden ins Café, diskutieren über Gott und die Welt, rauchen, schärfen ihren Widerspruchsgeist und lachen, sie lachen über alles, diese Mädchen, die sich auf Anhieb gut verstanden haben.

Marine verschweigt ihnen ihre von Gefängnisbesuchen getaktete Kindheit, die Heimkehr ihres Vaters, des Mörders, vor wenigen Monaten, Marine sprüht vor Fröhlichkeit und Intelligenz.

Adélaïde verschweigt den Mann im Treppenhaus, sie denkt nie an ihn, lebt ein paar Meter weiter oben, im Stockwerk darüber, wird mit jedem Tag ausgelassener, wilder, ein Wirbelwind, sie lacht, kann nicht ruhig sitzen.

Sigrid vertraut ihnen an, dass ihre große Schwester vor fünf Jahren vergewaltigt und umgebracht worden ist. Sigrid will nicht getröstet werden, sie erwartet keine Reaktion, ein einziges Mal hat sie davon gesprochen, der Ehrlichkeit halber.

Die sprudelnde Marine stirbt zwei Tage nach Schuljahresende, an Magersucht, Alkohol, Schlaftabletten und auswegloser Traurigkeit.

Sigrid wechselt die Schule, sie verlieren sich aus den Augen.

Jahre später wirft die nationale DNA-Datenbank, zu deren Einrichtung Sigrids Vater beigetragen hat, mein Leben über den Haufen.

Da erinnere ich mich an unsere unglaubliche Dreierbande, an unsere Amazonenwünsche, unsere wirren Träume, unsere wilde und reine Freude.

Kurz vor dem Ende der Sommerferien fährt sie mit dem Mofa über die Landstraße, ihre beste Freundin sitzt hinter ihr und hält sich an ihr fest, als am Ende einer Kurve der Lieferwagen eines Blumenladens auftaucht. Schädelfraktur, gebrochenes Handgelenk, Schädel-Hirn-Trauma, fünf Vorderzähne weniger, sie ist wie leblos. Ihre Freundin unverletzt und tief erschüttert.

Sie kommt auf die Intensivstation. In dem von zugezogenen Vorhängen aufgeteilten Raum hört man die Bettnachbarn, ohne sie zu sehen, und das beruhigende Metronom der zusammen im Krankenhaus liegenden Herzen bestimmt den Takt der Stunden. In einer Nacht, wenige Meter von ihr entfernt, dreht ein Herz durch, Piepen, hektische Schritte, das Piepen verstummt, das Bett wird weggerollt. Und eines Nachts macht sie sich dann auf den Weg.

Kein Wort kann dieses Zwischenreich erfassen, das man mangels eines besseren Ausdrucks Nahtod-Erfahrung nennt. Ich habe öfter versucht, davon zu erzählen, aber wie soll man das Zeitlose, das Ewige, Unantastbare, die Zärtlichkeit in Worte fassen? Wie diese Erfahrung verstehen, ohne sie zu reduzieren, zu zähmen? Trotzdem war dieser Moment der glücklichste meines Lebens, und das Wissen, dass ich dorthin zurückkehren werde, ist mir an harten Tagen ein Trost.

In jener Nacht hat mich eine alle Sinne überfordernde Wahrnehmungsschärfe am Leben gehalten – das Geschmacksfeuerwerk beim Biss in einen Apfel, der Duft von zwischen den Fingern zerriebenen Tannennadeln und die pulsierende, feuchte Wärme einer Handvoll fetter Erde.

Danach fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Beim Aufwachen hat ihr Körper unerklärlicherweise seine Bewegungsfähigkeit wiedererlangt. Beim Aufwachen bekommt sie Angst. Nur Verrückte halten sich für Gott. Sie macht dicht. Das, was sie in dieser Nacht erlebt hat, kann nicht sein, ist nicht real, was hat das also zu bedeuten? Dass sie verrückt ist. Das liebende Licht und die Sanftheit und die unermessliche Weite behält sie für sich, spricht nicht darüber.

Ihr Zustand stabilisiert sich, sie wird von der Intensivstation auf die Neurologie verlegt. Sie möchte wissen, wie sie aussieht, aber ihre Mutter tut so, als hätte sie ihre Puderdose vergessen, und die Krankenschwestern behaupten, in diesem Stockwerk seien die Spiegel alle fest an den Wänden montiert.

Einmal schafft sie es, nachts aufzustehen, mit den am Arm baumelnden Infusionen geht sie ins Bad, schaltet das Licht ein. Jemand sieht sie im Spiegel an. Jemand mit einem seltsam blauen und geschwollenen Gesicht, einem blutigen Mund mit Zahnlücken.

Sie tauscht ihr Lächeln gegen ein Gebiss und wird so mit fünfzehneinhalb Jahren gezwungen, mit dem Daumenlutschen aufzuhören. Ihre Mutter hatte alles versucht, damit sie sich nicht mehr benahm wie ein Riesenbaby: bitteren Nagellack, Daumenverband, sie hatte ihr sogar ein Meerschweinchen geschenkt, unter der Bedingung, dass sie endgültig damit aufhörte, doch als das Meerschweinchen auf dem Land nach kurzer Zeit im Magen einer Katze landete, hatte sie wieder angefangen, am Daumen zu lutschen, beschämt und erleichtert über diesen Trost in Reichweite, der ihr von nun an verwehrt sein wird.

Zurück in der Schule, tauscht sie die engen Jeans und ihre ersten Absatzschuhe gegen Kuschelpullis aus, weite Hosen und lange Holzfällerhemden, die sie sich ständig über den Po zieht. Ihre rotblonden Haare trägt sie in einem strengen Dutt.

Jedes Mal wenn sie sich in einem Schaufenster oder Spiegel sieht, macht sie sich runter. Wenn ihre Mutter und ihre Schwestern mit ihr Kleider kaufen gehen, weint sie jedes Mal in der Umkleidekabine. Sie möchte so gern sein wie sie, aber dann probiert sie eine Hose an und kriegt sie nicht zu, oder sie geht zu, aber die Taille ist so riesig, dass es keinen Gürtel dafür gibt. Nichts passt mehr.

Im Unterricht kann sie sich nicht konzentrieren, sie bleibt an den Blicken der Lehrer hängen, an ihren eigenen Mitschriften auf dem karierten Papier, an ihrem Stift, sie kritzelt zu Grimassen verzerrte Gesichter auf den Rand, füllt die Stille aus, den Leerraum, klammert sich am Pult fest, setzt sich zur Wehr, aber jedes Mal schlägt ohne Vorwarnung eine stumme, schwarze Welle über ihr zusammen, und dann treibt sie in einem Zwischenreich, abwesend, in der Schwebe.

Eines Abends erzählen ihre Eltern Freunden irgendeine Geschichte, die Freunde lachen darüber, ach ja, Adélaïde, die Außerirdische der Familie! Keiner ahnt, wie verletzend dieser Satz für sie ist, die von ihnen allen getrennt lebt und so gern dazugehören möchte.

Das ganze Jahr verbringt sie weinend auf der Schultoilette, frisst sich voll und kotzt alles wieder aus, hasst sich mit aller Macht, aber nach außen hin lächelt sie mit ihrem Gebiss, ist gut in der Schule, spielt die Tapfere. Im selben Jahr fängt sie an, sich zu ohrfeigen, mit den Fäusten auf ihren Kopf einzuhämmern, ihn gegen die Wand zu schlagen, sich den perfekten Selbstmord auszumalen, einen als Unfall getarnten, über jeden Verdacht erhabenen Selbstmord. Diese Fantasien behält sie für sich, genau wie ihre Medusen, sie versucht sie um jeden Preis auf eine Zone zu begrenzen, die roh ist und unbegreiflich, redet sich ein, dass es zwei unterschiedliche Welten gibt, die des niederträchtigen, verräterischen Körpers und die des lebhaften, reinen, frohen Geistes.