Das Mädchen, das im Krieg verloren ging - Rita Peter - E-Book

Das Mädchen, das im Krieg verloren ging E-Book

Rita Peter

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Beschreibung

Ein berührendes Kinderschicksal in der Stunde Null der Bundesrepublik. "Das Mädchen, das im Krieg verloren ging" ist die Geschichte eines kleinen Mädchens aus Pommern, das im Zweiten Weltkrieg unter die unmenschlichen Räder von Vertreibung und Flucht gerät. Eingepfercht in einem Viehwaggon, verfolgt von den russischen Besatzern, beschossen von feindlichen Fliegern und schließlich vergessen und verlassen von der eigenen Mutter, erfährt Renate Menze, was es heißt, wenn man alle Wurzeln verliert und plötzlich weder eine äußere noch eine innere Heimat hat. In diesem Buch wird erzählt, wie ein Kind im und durch den Krieg buchstäblich verloren geht und dennoch von der Wucht der Ereignisse nicht zerstört wird, sondern Schritt für Schritt ins Leben zurückfindet. Die Geschichte der Renate Menze ist nicht nur ein ergreifender persönlicher Schicksalsbericht, sondern zugleich die Geschichte einer ganzen Nachkriegsgeneration, deren Leben auf der Flucht begann.

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Seitenzahl: 323

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Renate Menze / Rita Peter

Das Mädchen, das im Krieg verloren ging

Ein berührendes Kinderschicksal in der Stunde null der Bundesrepublik

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Mädchen, das im Krieg verloren ging ist die Geschichte eines kleinen Mädchens aus Pommern, das im Zweiten Weltkrieg unter die unmenschlichen Räder von Vertreibung und Flucht gerät. Eingepfercht in einem Viehwaggon, verfolgt von den russischen Besatzern, beschossen von feindlichen Fliegern und schließlich vergessen und verlassen von der eigenen Mutter, erfährt Renate Menze, was es heißt, wenn man alle Wurzeln verliert und plötzlich weder eine äußere noch eine innere Heimat hat. In diesem Buch wird erzählt, wie ein Kind im und durch den Krieg buchstäblich verloren geht und dennoch von der Wucht der Ereignisse nicht zerstört wird, sondern Schritt für Schritt ins Leben zurückfindet.

Inhaltsübersicht

Wir fahren heute weit wegSeid froh, dass ihr lebt!Frieden – was ist das?Sammeln, betteln, stehlenAllein gelassenSo geht man nicht mit Menschen umKomm, ich zeig dir was SchönesDu musst weg!EpilogBildteilHistorischer Hintergrund
[home]

Wir fahren heute weit weg

Zieht euch an! Zieht so viel an, wie ihr übereinander tragen könnt. Unterhemden, Strümpfe, Pullover, Hosen, Kleider, alles zwei-, dreimal übereinander, vor allem die warmen Sachen«, befahl uns Mutter, als sie an jenem eiskalten Sonntagmorgen im Winter 1945 zu uns Kindern ins Zimmer kam. »Wir fahren heute mit dem Zug weit weg und kommen so schnell nicht wieder nach Hause.« Ich erschrak. »Warum denn?«, wollte ich wissen. »Fragt nicht, zieht euch an!« Dann ging sie, aber nicht wie sonst in die Küche, um den Ofen anzuheizen, sondern aus dem Haus. Ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Beunruhigt schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf. Wir fahren weg, aber wohin? Und Mutter war so anders heute, ernst und traurig. Wie fast immer in letzter Zeit war ich nachts mehrere Male aufgewacht und hatte sie in ihrem Zimmer räumen und herumlaufen hören. Nun wusste ich, warum. Sie hatte sich für die Abreise vorbereitet.

Es war Mitte Februar 1945. Der Himmel leuchtete blau, die schneebedeckten Beete vor dem Haus glitzerten in der Sonne, lauter kleine weiße Hügel und Mulden. Während die Kirchenglocken läuteten, zog ich mich hastig an: Unterwäsche, Wollstrümpfe, das grauweiß karierte Wollkleid, darüber den weinroten Wollpullover, den dunkelblauen Kleiderrock, meine festen braunen Schnürschuhe. Meine Hände zitterten und ich konnte vor Aufregung kaum atmen. »Das ist so unbequem, ich kann mich nicht bewegen«, stöhnte meine Schwester Hildegard, die sich mit den vielen Kleiderschichten mühte. Ihr drahtiger Körper war in die Stofflagen eingemummt. Sie sah aus wie eine wattierte Puppe. Ihre feinen blonden Haare waren zerzaust, die Haartolle war aufgelöst und hing ihr über die Stirn in das runde Gesicht. Gereizt zerrte sie an den Ärmeln, aus denen ihre kleinen Hände hervorstanden.

»Wo bleibt ihr denn?«, drängte Mutter, die soeben zur Haustür hereingekommen war und nach uns sah. Sie musterte uns kurz, ging zum Schrank und nahm für Hildegard und mich jeweils noch ein Kleid, für Klaus noch einen Pullover heraus. »Das zieht ihr darüber«, sagte sie und drückte uns die Kleidungsstücke in die Hände. Ich wollte nicht mehr. Mir war heiß und ich fühlte mich unangenehm eingeschnürt, wagte aber nicht zu widersprechen. Also zwängte ich mich in das dunkelblaue Hängerchen, dass die Nähte krachten. Dann half ich meinem kleinen Bruder Klaus, der noch immer in Unterwäsche dastand, beim Anziehen. Er war sechs Jahre alt und stumm vor Angst, bleich, seine Lippen bebten. Seine abstehenden Ohren schimmerten rosa im Gegenlicht der Februarsonne, die durch das Fenster schien. Der blonde Pony über den hoch weggeschorenen Haaren hing ihm in die Augen. Ich zog ihm zwei Paar Strümpfe an, ließ ihn in zwei Hosen steigen, zerrte sie an ihm hoch, ungeduldig, fieberhaft. Dann streifte ich ihm zwei Pullover über. Gepolstert mit den vielen Stoffschichten wirkte der kleine zierliche Junge unbeholfen und unförmig. Krampfhaft klammerte er sich an meiner Schulterfest, während ich vor ihm hockte und ihm die Schnürsenkel band. Er fing an zu weinen, weil ihn die Schuhe drückten.

Inzwischen packte Mutter Wäsche, Kleidung und Geschirr in den großen Lederkoffer und trieb uns an. »Schnell, schnell. Macht doch! Wir müssen noch die Tiere füttern.« Sie hatte einen karierten Schal um die dunkelblonden Haare geschlungen, wodurch ihre teigigen Wangen noch mehr hervortraten. Ihre blauen Augen blitzten entschlossen. Den fülligen Körper in mehrere Kleider und in Vaters grauen doppelreihigen Wollüberzieher eingepackt, ihr offenes Bein bis zu den Knöcheln dick bandagiert, so stapfte sie nach hinten in den Garten zu den Ställen. Ich lief hinterher. Wir stopften den Kaninchen Heu in die Ställe, Mutter schüttete mehrere Eimer Weizen in den Hühnerschlag. Dann warfen wir beide dem Schaf einige Ballen Raufutter in den Koben und ließen überall die Türen offen.

»Schade um die schöne Wolle«, seufzte Mutter, als wir zum Haus zurückgingen. Das Schaf sollte in den nächsten Wochen geschoren werden.

In der Ferne hörte man Kanonendonner. Die Russen waren schon weit nach Westpommern vorgedrungen. Sie standen kurz vor unserer Stadt – vor Greifenberg. »Schnell, schnell!« Mutter holte den Leiterwagen vor die Haustüre und wir wuchteten den großen und zwei kleine Koffer hinein. In ihrer Handtasche verstaute sie Fotos, Ausweise und ihren Schmuck, den sie in Papier gewickelt und in Wollknäueln versteckt hatte. Dann packte sie die Tasche zwischen die Koffer. »Meine Puppe?« Hildegard blickte Mutter flehend an.

»Das geht nicht!«, hieß es. »Wir haben keinen Platz. Nur das Allernötigste.«

Seit einer Woche war eine alte Frau, eine Flüchtende aus Ostpreußen, bei uns einquartiert. Zwei Männer vom Roten Kreuz hatten sie bei uns abgeliefert und unserer Mutter bedeutet, dass die Frau Schreckliches mitgemacht haben musste. »Neji, neji, neji!« In ihrem ostpreußischen Tonfall wehrte sich die Alte, zu uns ins Haus zu kommen. Sie weinte und schrie nach ihren Töchtern, nach ihrem Mann, »Ania, Hedwig, Rosa, Paul«. Das weiße Haar hing ihr in Strähnen unter dem dunklen Kopftuch heraus. Ihre trüben, blauen Augen waren rot gerändert und zuckten erregt. Der braune Mantel, den sie trug, war zerrissen, ihre Strümpfe und Schuhe verdreckt. Sie war abgemagert bis auf die Knochen, wirkte kraftlos und gebrechlich. Unter ihrem Arm trug sie einen holzscheitgroßen, gepökelten Schinken, an dem sie sich festhielt, als hinge ihr Leben daran. Das Fleisch roch ranzig. Die Maden krochen daraus hervor, doch die Alte ließ den Schinken nicht aus der Hand und hielt ihn sogar umklammert, während sie schlief. Sie war vollkommen verwirrt, wusste nicht mehr, wie sie hieß und woher sie kam. In den ersten Nächten, in denen sie bei uns war, schrie sie manchmal markerschütternd, stand auf, rüttelte an der verschlossenen Haustüre und legte sich nach einer Weile wieder erschöpft hin. Nach drei, vier Tagen beruhigte sie sich; von da an dämmerte oder stierte sie vor sich hin. In dieser Woche schlief ich nachts nur noch stundenweise. Ich hatte Angst und stand unter Daueranspannung, ständig wachsam – ein Zustand, den ich kaum beschreiben kann und den ich so nie wieder erlebt habe.

Als wir unsere Habseligkeiten auf dem Leiterwagen verstaut hatten, zogen wir unsere Mäntel, Mützen und Handschuhe an. Dann holte Mutter die Frau aus der Wohnstube und versuchte ihr zu erklären, dass wir fliehen. Sofort geriet die Alte in Panik, fing wieder an zu klagen und zu schreien und stemmte sich gegen sie. »Neji, neji, ich geh nich mehr, ich blejib.« Da packte Mutter sie entschlossen an den Schultern und schob sie auf den Hof. »Wir haben keine Zeit mehr, gute Frau! Sie müssen sich jetzt hier hinsetzen«, sagte sie, drückte die Alte auf den großen Koffer im Leiterwagen und nahm die Deichsel. Als wir schließlich Richtung Bahnhof loszogen, fingen die Kirchenglocken wieder an zu läuten. Die Sonne schien mir ins Gesicht, der Schnee knirschte unter meinen Schuhen und die Luft war so kalt, dass meine Augen tränten. Mir war schwer ums Herz. »Was soll aus den Tieren werden?«, dachte ich. »Wo fahren wir nur hin?« Ich blickte zu meiner Mutter hin, die den beladenen Handwagen über die verschneite Straße zog. Klaus lief auf seinen kurzen Beinen neben ihr her und hielt sich ängstlich an der Deichsel fest. Hildegard und ich folgten hinter dem Wagen.

Sie war so klein geworden, unsere große Familie. Vor vier Jahren war meine Schwester Erika an Scharlach gestorben, vor einem Jahr waren meine älteste und meine jüngste Schwester derselben Krankheit erlegen. Seit vergangenem Herbst war mein Vater im Krieg, an der Ostfront. Und nun gingen wir, das übrig gebliebene Häuflein, fort von zu Hause und wussten nicht, wohin? Was würde aus uns werden? Ich ahnte nicht, dass wir an diesem Morgen unser Zuhause für immer verlassen sollten, aber ich spürte die Bedeutung dieser Stunde.

Unsere gesamte Straße war an diesem Sonntag im Aufbruch. Vor den verschneiten Gärten standen Handkarren und bepackte Wägen. Hektisch hasteten Frauen aus ihren Häusern, machten wieder kehrt, um das, was sie vergessen hatten, zu holen. Ein letzter Zug, hieß es, fahre an diesem Sonntag noch Richtung Westen. Ein Mann vom Ordnungsstreifdienst kam entlang und herrschte die Aufbrechenden an. »Was fällt euch ein? Ihr habt euch ruhig zu verhalten! Keiner verlässt den Ort!« Doch niemand kümmerte sich um seine Anweisungen. Bis zuletzt hatten Hitler und sein Generalstab am

»Endsieg« festgehalten. »Jeder Quadratmeter Heimatboden wird verteidigt«, hatte die Parole gelautet. Jede Flucht oder Evakuierung war verboten gewesen. Nun konnte der Durchhaltewahn, der die Menschen bis zum Schluss in Schach gehalten hatte, nichts mehr ausrichten. Die Russen standen vor der Stadt und trieben die Zivilbevölkerung Hals über Kopf in die Flucht.

Zehn Jahre war ich alt, als wir von zu Hause fortmussten, Hildegard war zwei Jahre jünger. Seit Wochen waren Flüchtlingstrecks durch unsere Stadt gezogen. Pferdewagen, voll gepackt mit Kisten, Betten und Säcken. Vorne saßen Männer, Frauen, Kinder, dicht gedrängt. Ein Strom, der nicht mehr abriss. Wie gebannt beobachtete ich diesen Pulk von Flüchtenden und ich ahnte, dass etwas Entsetzliches auf uns zurollte. »Haut bloß ab!«, schrien sie von ihren Wagen herunter. »Die Russen vergewaltigen euch und schlagen euch tot.« Noch mehr als diese Flüchtenden mit ihren Schreckensmeldungen ängstigten mich die Kolonnen von Gefangenen, die, begleitet von bewaffneten Soldaten, immer wieder durch die Stadt getrieben wurden: Männer, verdreckt und in abgerissenen Kleidern, hohlwangig, mit zerschundenen Gesichtern und flackernden, irren Augen. Was kam da auf uns zu? Von Tag zu Tag stieg die Anspannung. Einmal konnte ich hören, wie Mutter leise mit der Nachbarin, mit Frau Kagel, in der Küche redete. Später wurde mir klar, dass sie die Vorbereitungen zur Flucht getroffen hatten. Die Nachbarin war hochschwanger und wartete jeden Tag auf die Niederkunft. In der Nacht zum Sonntag, an dem wir flohen, brachte sie ihr siebtes Kind zur Welt, ein Mädchen. Unsere Mutter war bei der Geburt dabei. Am Morgen stand auch die Wöchnerin vor der Tür ihres Hauses. Mit ihrer Kinderschar, dem Neugeborenen, dick eingepackt im Kinderwagen, und ihren schnell zusammengerafften Habseligkeiten zog sie mit uns los. Damals konnte ich nicht ermessen, welche Kräfte die Nachbarin aufgebracht hatte, um zu fliehen. Und ich hatte keine Vorstellung von dem, was uns bevorstand – natürlich nicht. Wir waren am Anfang unseres Marsches ins Ungewisse, auf dem ich erfahren sollte, was Menschen aushalten und wozu sie fähig sind, um zu überleben. Der Auszug aus unserem Haus in Greifenberg war für mich nicht nur ein Abschied von der Heimat, sondern auch ein Abschied von der Kindheit.

Ich traute meinen Augen nicht, als wir am Bahnhof ankamen. Hunderte von Menschen standen mit ihren Handwägen, Koffern und Rucksäcken auf dem schmalen Bahnsteig und warteten auf den Zug, der in den nächsten Stunden kommen und in den Westen fahren sollte. Wie sollten all diese Leute Platz finden? Mutter versuchte, uns einen Weg näher an das Gleis zu bahnen, aber es war kein Durchkommen. Aus dem Gewühl tauchte plötzlich Großmutter Menze, Vaters Mutter, mit Tante Elli und Tante Emma, zweien ihrer Töchter, auf. Sie wohnten nahe am Bahnhof und waren aus Neugier gekommen, Schaulustige, die den Menschenauflauf beobachten wollten. Als sie uns entdeckten, lachten die beiden Tanten höhnisch. »Ach, ihr lauft auch davon! Auch Feiglinge, wie?«, spottete Elli. Großmutter war empört. Drohend, mit vorwurfsvoller Miene baute sie sich vor uns auf. »Was fällt dir ein, einfach abzuhauen. Das macht man nicht!«, schimpfte sie auf unsere Mutter ein. »Das kannst du deinem Mann nicht antun, der an der Front ausharrt. So schlimm wird es schon nicht werden.« Mutter holte tief Luft. »Ich weiß, was ich mache«, entgegnete sie gefasst und klar. »Wenn ihr glaubt, es kann euch nichts passieren, dann bleibt. Aber wir gehen. Also lasst uns jetzt in Ruhe.« Sie drehte sich um und ließ die Schwiegermutter und Schwägerinnen stehen.

Es war die große Stunde meiner Mutter. Sie war entschieden, dass sie mit uns aus Greifenberg wegwollte, ehe die Rote Armee hier einfiel. Energisch und bestimmt nahm sie das Unternehmen in die Hand. Was sie anordnete und erledigte, wirkte durchdacht und geplant. Sie schien zu wissen, was im Chaos des Aufbruchs zu tun war. Das gab mir Sicherheit. Ich bewunderte sie und war stolz auf sie.

Ein Bahnbeamter im Dienstanzug arbeitete sich durch die Menschenmenge zu uns durch. Ich kannte den Mann vom Sehen. Manchmal, wenn ich meinem Vater das Mittagessen in die Arbeit gebracht hatte, hatte er sich in der Lagerhalle des Güterbahnhofs aufgehalten, ein blonder Hüne mit freundlichem Gesicht. Er grüßte uns, neigte sich zu unserer Mutter hinab und flüsterte ihr etwas zu. Sie lauschte aufmerksam, nickte mehrmals mit dem Kopf und bedankte sich. Alle Leute um uns blickten auf den Mann in Dienstkleidung und auf Mutter. »Geht ganz langsam und unauffällig zum Ende des Bahnsteigs«, raunte sie uns zu und deutete mit ihrem Blick die Richtung an, in die wir uns bewegen sollten. »Leiterwagen und Koffer lassen wir hier.« Wie beiläufig nahm sie ihre Handtasche aus dem Wagen, schob die Nachbarin und uns Kinder vor sich her und hakte ihren Arm unter den der alten Ostpreußin. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. Kaum setzten wir uns in Bewegung, schlossen sich die Umstehenden an und der ganze Pulk zog wie eine Herde hinter uns her.

Immer voller wurde der Bahnhof, Menschenmassen strömten herbei, nicht nur Greifenberger, auch Flüchtlinge, die eben hier angekommen waren und hofften, noch wegzukommen, ehe die Russen einfielen. Da sirrten die Gleise und wir sahen, wie der Güterzug langsam auf den Bahnhof zurollte. Ein langer Zug mit geschlossenen Güterwaggons, mit Viehwagen ohne Dach und Plattenwagen, auf denen normalerweise Baumstämme transportiert wurden. Schlagartig brach Panik aus. Alles drängte zum Gleis und sobald die ersten Waggons ankamen, ließen die Menschen ihr Gepäck fallen, stürzten auf den Zug zu, sprangen auf die Plattenwagen und wälzten sich durch die geöffneten Waggontore. Nun gab es kein Halten mehr. Jeder wollte nur fort, fort. Die Leute schlugen und stießen sich. Mütter schrien nach ihren Kindern, die sie verloren hatten. Kinder weinten nach den Müttern. Wer hinfiel, wurde von der Masse einfach überrollt.

Plötzlich tauchte vor uns wieder der Bahnbeamte auf. »Folgt mir!«, rief er uns zu und rempelte mit seinen Ellbogen eine Schneise zum nächsten Güterwaggon frei. Wir stürzten hinter ihm her und klammerten uns an unsere Mutter. Er stemmte sich gegen den Pulk, der uns nachströmte und uns niederzuwalzen drohte, hob uns Kinder in den Wagen, half Mutter, der Nachbarin und der alten Ostpreußin beim Einstieg und hievte den Kinderwagen zu uns hoch. Ich zitterte und keuchte. Taumelnd schlug ich gegen die Wagenwand, rappelte mich schnell hoch, wurde geschoben, getreten, gepresst. Alles kreischte und schrie. Immer mehr Menschen drängten in den Wagen, bis wir eng gequetscht aneinander standen und niemand mehr hineinpasste. Verzweifelte klammerten sich außen an die Wagenwände, als sie erkannten, dass sie nicht mehr in den Zug kamen, andere stießen sie vom Inneren des Wagens weg, rissen sie herunter. Entsetzliche Szenen spielten sich ab.

Inzwischen kreisten Aufklärungsflugzeuge über Greifenberg, die Front rückte von Stunde zu Stunde näher. Dann verriegelte jemand das Waggontor und nach einer Weile, es muss um die Mittagszeit gewesen sein, rollte der Zug langsam los. »Gott sei Dank! Mutter, wir Geschwister, Nachbarin Kagel und ihre Kinder, die alte Ostpreußin, wir waren alle im Zug!« Ich atmete durch.

Mindestens 50, vielleicht sogar 60 Leute waren im Waggon eingepfercht, Frauen, Kinder und alte Männer. Es war ein Viehwagen mit Bretterwänden, ohne Fenster und oben offen. Nach einer Weile, als sich die Insassen etwas beruhigt hatten, versuchte Mutter sich Gehör zu verschaffen. »Herhören, alle herhören«, rief sie mehrmals und wartete, bis das Stimmengewirr abebbte. »Wir haben eine Wöchnerin hier, die vergangene Nacht entbunden hat. Sie muss liegen.« Und sie bat alle Mitfahrenden, ihre Taschen und Rucksäcke zur Verfügung zu stellen, damit man der Frau ein Lager bauen konnte.

»Außerdem«, fügte sie hinzu, »sollten wir versuchen, dass die Kinder zu ihren Müttern rücken und die Familien zusammenkommen können.« Wieder brachen Unruhe und Lärm aus. Mütter riefen, Kinder schrien, versuchten, sich zu den Ihrigen zu schieben, durchzudrängen und -zuwinden. Gleichzeitig wurden Rucksäcke, Beutel, Stoffbündel und eine Decke in die Ecke gereicht, in der unsere Mutter stand und die Sachen auf dem Boden schichtete. Bald war Nachbarin Kagel gebettet. Erschöpft und bleich, aber erleichtert lag sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Ihre sechs Kinder saßen um sie herum und der Kinderwagen stand neben ihr. Nebenan hatte Mutter sich einen Platz geschaffen. Sie wollte bei der Nachbarin sein, sich um die Freundin und ihr Neugeborenes kümmern.

Im Laufe der Zeit zeigte sich, dass manche der Insassen keinerlei Verpflegung mitgebracht hatten. Mutter appellierte an alle, den Proviant untereinander aufzuteilen. »Manche haben nichts zu essen dabei. Die sollten wir nicht zusehen lassen, vor allem die Kinder nicht«, erklärte sie. »Wir wollen alle überleben und sollten jetzt zusammenhalten.« »Was fällt dir ein!«, empörten sich manche und beschimpften sie. »Du hast uns hier nichts zu sagen! Wer bist du überhaupt?« Die meisten aber gaben von ihrem Essen ab, froh, dass eine da war, die sich kümmerte und dafür sorgte, dass es in diesem Wagen einigermaßen menschlich zuging. »Für die, die nichts mithaben«, murmelten manche und reichten ihre Vorräte weiter. Mutter sorgte dafür, dass von dem zusammengelegten Proviant die Kinder zuerst bekamen und die Schüchternen nicht leer ausgingen.

Sie war stark in ihrer Rolle als Respektsperson. Kritik und Angriffe konnten ihr nicht viel anhaben. Sie hatte klare Vorstellungen, wie diese eingepferchte Notgemeinschaft organisiert werden musste, damit es einigermaßen gerecht zuging, und sie setzte sie durch. Wenn der Zug anhielt und über die Brüstung des Wagens ein Eimer Wasser und geschnittenes Brot gereicht wurden, achtete sie darauf, dass jeder etwas bekam. Natürlich waren viele gierig und wollten mehr. Manche stritten um jeden Kanten Brot, um jeden Schluck Wasser. Aber mit ihrer klaren und distanzierten Art konnte Mutter Auswüchse in Schach halten.

Später erfuhr ich, dass in anderen Waggons Menschen regelrecht übereinander herfielen, als Verpflegung hineingereicht wurde. Männer rasteten aus. Es gab Schlägereien. Dass in unserem Wagen kein Hauen und Stechen losging, obwohl die Stimmung oft prekär war, verdankten wir unserer Mutter. Sie hatte eine Aufgabe übernommen, die uns schützte.

Der Zug fuhr über Gülzow auf die Insel Wollin Richtung Swinemünde. Dort sollten wir mit der Fähre über die Swine gesetzt werden. Normalerweise dauerte die Fahrt auf dieser Strecke zwei Stunden, wir waren mehrere Tage unterwegs. Obwohl wir eng zusammengepfercht waren, froren wir. Es war eisig kalt. Von unten kroch die Kälte hoch, über uns war der freie Himmel. Während der Fahrt sah ich, wie Männer mit Steigeisen an den Strommasten hochkletterten, an denen wir vorbeirollten, und die Leitungen kappten. Der Zug ratterte über eine Brücke. Kurz darauf donnerte eine Explosion, der Wagen bebte, krachende Einsturzgeräusche dröhnten durch die Luft. Hinter uns war die Brücke gesprengt worden, um die Russen aufzuhalten. Wir fuhren meist nur nachts. Tagsüber hielten wir im Wald, wo wir stundenlang warteten, um von den Tieffliegern nicht gesichtet und beschossen zu werden. Stand der Zug still, dann hörte man die Kampfgeräusche. Bomben detonierten, Schüsse krachten, der Kanonendonner kam näher.

Weil im Waggon viele stehen mussten und nur ein Teil sitzen konnte, wechselten wir uns ab. Aus Sackbündeln und Tornistern, die bei der Sammelaktion für das Lager der Nachbarin übrig geblieben waren, hatte Mutter sich ein Podest gebaut, auf dem sie saß. Neben mir waren Hildegard und Klaus auf der einen Seite, auf der anderen die alte Ostpreußin, immer noch mit ihrem halb vergammelten Schinken. Auf wundersame Weise hatte sie ihn mit auf die Flucht gerettet. Die Frau war mir unheimlich und ich ekelte mich vor dem stinkenden Stück Fleisch, an das sie sich klammerte. Ich fror entsetzlich, war müde und fühlte mich elend in dem Gedränge. Wie lange sollte das gehen? Was sollte nur werden?

Mir links gegenüber saß Nachbarin Kagel auf ihrem Lager, den Oberkörper gegen die Wand gelehnt, die Beine angewinkelt, und nickte hin und wieder ein. Abwechselnd holte sie eines ihrer Kinder zu sich unter die Decke, um es zu wärmen. Alle paar Stunden stand sie auf und gab ihrem Säugling zu trinken: ein Fläschchen mit Wasser, das die Erwachsenen unter ihren Kleiderschichten an den Bauch gehalten und weitergereicht hatten, bis es etwas angewärmt war.

Meine Geschwister und die kleineren Kinder der Nachbarin spielten Abzählreime, »Ene, mene, muh und raus bist du«, und gaben sich Rätsel auf: »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist blau.« Das beruhigte mich.

Da bremste der Zug und kam zum Stehen. »Gülzow, wir sind jetzt in Gülzow«, rief ein Mann durch ein Megafon. »Alle Wagen werden mit Brot und Wasser versorgt.« Als ein Korb mit geschnittenem Graubrot über die Wagenbrüstung gereicht wurde, setzte ein wildes Geschiebe und Gerangel ein. Jetzt musste jeder zusehen, dass er etwas abbekam. Trotz der Appelle meiner Mutter kamen viele der Wageninsassen zu kurz, ich auch. Aber es war mir nicht wichtig. Ich verspürte keinen Hunger. Ich hatte Angst und war froh, als der Kampf um das Brot vorbei war.

»Ob unsere Silvia mit den Eltern und den Kindern noch in den Zug gekommen ist?« Eine mollige Frau mit rundem Gesicht und bekümmertem Blick sorgte sich um ihre Schwester. »Mein Gott, das war ja so schrecklich. Schlimmer als die Tiere. Wenn sie es nur überlebt haben!« Betrübt dachten andere an ihre Nachbarn, die sich nicht zum Weggang aufraffen hatten können, an die alten Eltern, die keine Kraft mehr gehabt hatten, aufzubrechen. »Was wohl aus ihnen geworden ist?« »Die Tiere, wer wird sich nur um die Tiere kümmern!« »Ob der Russe schon da ist?« »Ich darf gar nicht dran denken!« »Ach, unser schönes Städtchen!« Kaum einer der Erwachsenen, der nicht kummervoll an die Verwandten, an zu Hause dachte.

Angst kroch in mir hoch, während ich zuhörte. Vater ging mir durch den Kopf. Er musste vor vier Monaten in den Krieg. Als Brückenbaupionier wurde er nach Graudenz an der Weichsel beordert. Bis dahin war er wegen so genannter kriegswichtiger Tätigkeit vom Wehrdienst befreit gewesen. Er war für den Güterverkehr in Greifenberg verantwortlich. Jahrelang leitete er Züge mit verplombten Waggons weiter an die Ostfront – bis er selber hinmusste.

An Weihnachten hatte er Urlaub erhalten, zwei Tage nur. Er kam mittags und musste am übernächsten Morgen wieder weg. Ich erschrak, als ich ihn zur Tür hereintreten sah. Er war immer schon schlank und hager gewesen. Jetzt war er abgemagert und ausgezehrt.

Die Wehrmachtsuniform hing an seinen eckigen Schultern. Seine Wangen waren eingefallen, die blauen Augen lagen tief in den Höhlen. Er sah traurig aus, müde, gehetzt und krank. Er litt damals unter heftigen Rheumaschüben, die seine Knieund Fußgelenke dick anschwellen ließen. Mutter und er redeten die ganze Nacht hindurch, auch am nächsten Morgen noch. Wir Kinder durften nicht in die Stube. Ich hörte ihre gedämpften Stimmen – sie klangen eindringlich, ernst –, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten.

Am Morgen frühstückten wir gemeinsam, wir redeten wenig, Belangloses. Eine schicksalhafte Schwere lag über allem. Mittags besuchten wir mit der ganzen Familie Vaters Eltern. Das Haus war voll. Viele von Vaters Geschwistern waren gekommen. Auch hier war die Stimmung traurig, niedergedrückt. »Wollen wir uns nicht auf der Treppe am Hauseingang aufstellen? Ich mache von uns allen ein Foto«, schlug Großvater vor, aber niemand wollte so recht. Wir blieben bis nach dem Abendessen, dann fuhr uns Onkel Willi, Vaters Bruder, mit seinem Taxi nach Hause. Er war kriegsversehrt, hatte ein Holzbein, und war deshalb vom Kriegsdienst freigestellt.

Nachts konnte ich nicht schlafen. Wieder hörte ich meine Eltern miteinander reden, stundenlang, leise, bekümmert. Am nächsten Morgen verabschiedete Vater sich von uns allen. Als er sich zu mir herunterbeugte, schluckte ich. Ich sah in sein Gesicht, dann auf meine Hände, dann wieder in sein Gesicht und hörte mich fragen, wann er wiederkäme. »Ich weiß es nicht«, sagte er, nahm meine Hand und legte sie in seine. Ich nickte und schluckte, bis sich die Tränen nicht mehr herunterschlucken ließen und mir aus den Augen stürzten. Traurig blickte er mich an. Dann richtete er sich langsam auf, drückte meine Hand noch einmal ganz fest und wandte sich zur Tür. Verschwommen sah ich ihn hinausgehen.

Eine Ewigkeit lag das zurück. Und nun stand ich hier, in diesem ruckeligen Zug, eingepfercht zwischen meinen Geschwistern, den Nachbarskindern und der alten Frau, die nach ihren Töchtern jammerte. Eine unheilvolle Trauer überfiel mich. Ich hatte kein Zuhause mehr. Wohin fuhren wir? Wie würde es weitergehen? Ich hörte das Jammern der Menschen um mich herum, sah das Leid in ihren Augen und fürchtete mich. Keiner von ihnen konnte mich beschützen. Sie hatten Angst und waren hilflos wie ich.

Mutter war stark, doch, wie immer, weit weg von mir, distanziert. Sie sorgte für Ordnung im Wagen, kümmerte sich aber wenig um mich und meine Geschwister. Das kannte ich und es war für mich nicht ungewöhnlich. Besonders umsorgt hatte sie uns nie. Überraschend war für mich, wie beherzt und fest sie hier auftrat. Sie strahlte Entschlossenheit aus und wurde respektiert. Was sie sagte, hatte Gewicht. Viele im Wagen hörten auf sie. So hatte ich sie zu Hause nie erlebt. Ich staunte und empfand Anerkennung für sie, ihre Stärke gab mir Halt und tröstete mich. Gleichzeitig war ich vorsichtig und misstrauisch. Sie war so unnahbar, sie war mir fremd.

Ich erinnerte mich an die erste Zugfahrt in meinem Leben, im Spätsommer 1936. Tante Lieschen, Mutters große Schwester, war aus Berlin zu Besuch gekommen. Ich kannte diese Frau nicht. Ich war noch klein, erst knapp zwei Jahre alt, und erinnere mich nur bruchstückhaft an diesen Tag, doch diese Bruchstücke sind mir deutlich im Gedächtnis geblieben. Mutter packte irgendwann einige meiner Spielsachen in einen Beutel, zog mir ein anderes Kleid und meine roten Spangenschuhe an und frisierte meine Haare. »Du machst heute eine große Reise«, sagte sie zu mir. Dann nahm sie mich auf den Arm, drückte meiner Tante den Beutel und eine Tasche in die Hand und wir drei gingen aus dem Haus. Ich war unruhig und alarmiert. Etwas sollte mit mir geschehen, das spürte ich. Etwas Bedrohliches. Ich fürchtete mich, quengelte. Doch Mutter hielt mich fest im Arm und marschierte neben ihrer Schwester weiter.

Dann waren wir plötzlich am Bahnhof. Ich kannte das Gelände und die Gebäude, mein Vater arbeitete dort. Viele Menschen standen auf der Plattform und warteten. Da rollte ein Zug in den Bahnhof, vorneweg eine zischende, Dampf ausstoßende, schwarze Lokomotive. »Das ist eure Bahn«, sagte Mutter und drückte mich meiner Tante in den Arm. Ein schneidender Stich durchfuhr mich. »Nein! Nein! Nein!« Ich schrie aus Leibeskräften, heulte, brüllte, strampelte, schlug mit Händen und Füßen auf die Frau ein, die mich festhielt und etwas sagte, das ich nicht verstand. »Mutti! Mutti! Nimm mich!«, gellte ich verzweifelt und streckte die Arme nach ihr aus. Doch sie holte mich nicht zurück. »Renate, nun beruhige dich doch«, sagte sie zu mir. »Das ist Tante Lieschen. Die tut dir doch nichts! Die macht mit dir eine große Reise und nimmt dich mit nach Berlin. Du wirst sehen, dort hast du es ganz schön. Jetzt hör auf zu weinen und sei brav.« Die Leute auf dem Bahnsteig und im Waggon starrten mich an. Sie beäugten Mutter und die Tante, die beide versuchten, mich zu trösten und zu beschwichtigen. Die Tante hielt mich fest umklammert und stieg mit mir in den Zug. Im Zugabteil öffnete sie mit einer Hand das Fenster, mit der anderen hielt sie mich fest. »Die beruhigt sich schon«, hörte ich Mutter sagen. Da rollte der Zug langsam los. Ich bäumte mich gegen die Fensterscheibe, weinte, schluchzte, schrie verzweifelt und sah, wie meine Mutter auf dem Bahnsteig immer kleiner wurde, bis sie nicht mehr zu sehen war. Meine Tante wollte mich in den Arm nehmen, doch ich stieß sie weg und kauerte mich wimmernd auf die Bank. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch weinte und wie lange die Fahrt dauerte. Irgendwann muss ich vor Erschöpfung eingeschlafen sein.

Meine Eltern hatten mich an Mutters Schwester und ihren Mann Leo weggegeben. Deren Kinder, eine Tochter und ein Sohn, waren erwachsen und aus dem Haus. Zudem war Mutters und Tante Lieschens Vater, mein Großvater, vor kurzem gestorben. Nun sehnten sich die beiden Berliner nach einem Kind und fragten bei meinen Eltern an, ob sie mich in Pflege nehmen könnten. Und meine Eltern willigten ein, hatten sie doch bereits vier Töchter, eine fünf-, eine dreijährige, mich und ein Neugeborenes. So wurde ich mit knapp zwei Jahren aus unserer Familie in Greifenberg gerissen. Der erste schwere Verrat in meinem Leben.

Aus meinen Jahren in Berlin sind mir nur wenige Erinnerungen geblieben. Ich muss mich rasch bei Onkel Leo und Tante Lieschen eingelebt haben. Die beiden umsorgten und verwöhnten mich, ich war der Mittelpunkt in ihrem Leben. Besonders unbeschwert waren die Sommermonate. Dann wohnte ich mit ihnen in ihrer Laube in der Gartenkolonie »Schweizerland« in Berlin-Zehlendorf. Mein Onkel stellte mir im Garten ein kleines Planschbecken und einen Sandkasten auf. Dort spielte ich viel mit der Tochter der Gartennachbarn, einem zierlichen dunkelhaarigen Mädchen in meinem Alter. Wir waren dicke Freundinnen und tagtäglich zusammen. Ich lebte ein behütetes und doch freies Kinderleben bei den Verwandten in Berlin, hatte eine vertraute Gefährtin gleich nebenan und mehrere Spielkameraden in der Kolonie. Eines Tages waren meine Freundin und ihre Eltern plötzlich weg. Die Gartenlaube der Nachbarn war leer. Meine Tante behauptete, sie seien in den Ferien. Ich wusste, dass sie log, und war zornig. Auch Onkel Leo wollte mir nicht erklären, was mit meiner Freundin und ihren Eltern geschehen war. Viele Jahre später erfuhr ich, dass unsere Nachbarn Juden gewesen waren. Der Nazi-Terror war auch in die Idylle der Laubenkolonie eingedrungen.

1939 brach der Krieg aus. Onkel und Tante begannen, sich um meine Sicherheit zu sorgen. Sie fanden, die Hauptstadt sei zu gefährlich. Sie fürchteten Fliegerangriffe und beschlossen, mich wieder zu meiner Familie nach Greifenberg zurückzuschicken. Ich war das dritte Jahr in Berlin. Vollkommen abgenabelt von meinen Eltern und Geschwistern, zu denen nun noch ein Junge gekommen war: Klaus, der ersehnte Stammhalter, der 1938 geboren wurde. Ihn kannte ich überhaupt nicht. Die anderen, meine Eltern und meine Schwestern hatte ich fast vergessen. Meine Tante brachte mich in Berlin zum Bahnhof, hängte mir ein Schild um den Hals, auf dem mein Name und meine Adresse in Greifenberg standen, und redete mit dem Zugschaffner, der sich während der Fahrt um mich kümmerte. Dann wurde ich in den Zug gesetzt. An den Abschied von Berlin habe ich keinerlei Erinnerung mehr, ebenso wenig an die Fahrt. Als mich der Schaffner nach mehrstündiger Bahnfahrt aus dem Zug führte, stand eine Frau auf dem Bahnsteig, die mir lächelnd entgegentrat. »Ich bin deine Mutter«, sagte sie zu mir. Ich hätte sie nicht wieder erkannt, doch glaubte ich, mich dunkel an dieses Gesicht zu erinnern. Die Frau war mir fremd und ich misstraute ihr. Auch wenn sie behauptete, sie sei meine Mutter, misstraute ich ihr.

Die Rückkehr nach Greifenberg war der zweite große Bruch in meinem Leben. Weggegeben von den Menschen, bei denen es mir gut ging und denen ich vertraute, fand ich mich nun in einer Familie, die mir fremd war. Ich hatte keinen Platz in dieser Kinderschar, war plötzlich nicht mehr die einzige Kleine, sondern eine unter fünfen, die nicht einmal dazugehörte. Ich war Störenfried und fühlte mich abgelehnt. Nicht nur von den Geschwistern, die mich als Eindringling empfanden, auch von den Eltern, die nichts Rechtes mit mir anzufangen wussten. Zudem herrschte hier ein rauer, härterer Ton. In Berlin brauchte ich nicht zu arbeiten. Hier musste ich Gänse hüten, Wasser holen, den Nachttopf leeren, auf den kleinen Bruder aufpassen. Erledigte ich die Arbeiten nicht so, wie Mutter es von mir erwartete, rutschte ihr auch schnell mal die Hand aus. Ich war zutiefst verunsichert und fühlte mich ausgesetzt.

Zuflucht und Trost fand ich damals in der Natur. Ich musste jeden Tag die Gänse hüten, eine Arbeit, die mir schnell lieb wurde. Dann war ich mit mir und meinen Gedanken allein und Mutter aus dem Weg – und tat gleichzeitig auch noch etwas Nützliches. Draußen zwischen den Feldern wies mich niemand zurecht oder bedrängte mich. Dort hatte ich Frieden. Meistens trieb ich die Tiere mit einer Gerte unsere Straße, die Memelstraße, hinunter zum Ortsende. Von dort führte ein Sandweg in die Felder. Bereits auf dem Weg, auf dessen Mitte ein schmaler Streifen Gras wuchs, fingen die Gänse an zu zupfen. Langsam schlenderte ich mit den Tieren den Feldweg hinauf auf einen sanften Hügel. Ebereschen, Birken und riesige Holunderbüsche waren über dem Weg zu einem Dach zusammengewachsen, durch das die Sonne irrlichterte. Oben, auf der Anhöhe, setzte ich mich immer in eine Wiese und beobachtete die Gänse, die schnatternd am Wegrand grasten. Von hier hatte ich einen weiten Blick über die leicht gewellte Landschaft. Der warme feuchte Ostseewind strich über weite Kornmeere, über wogende Roggenfelder mit Klatschmohn und Kornblumen, über endlose Wiesen und Kartoffelfelder, die bis zum Horizont reichten. Dazwischen glitzerten hin und wieder Teiche und Seen. Silberweiden säumten den Lauf eines Baches. Die Gänse wanderten langsam weiter und verweilten oft lange auf einem brachliegenden Hügel, auf dem sie friedlich Löwenzahn und Quecke rupften. Ich legte mich in die Wiese. Fliegen summten, Ameisen krabbelten über meine Hände, um mich herum blühten lila Wiesenflockenblumen, weiße Margeriten, dunkler Spitzwegerich. Es roch nach Erde, nach Gras und nach Sommer. Über mir wölbte sich der Himmel oft in endlosem Blau. Ich beobachtete die Wolken, wie sie sich veränderten, wie sie sich trafen und wieder trennten. Schleierwolken wurden zu Schönwetterwolken, Quellwolken jagten Schäfchenwolken nach, verdeckten die Sonne und warfen große Schatten auf die Landschaft. Der Ostseewind trieb sie über den Himmel, ballte und verjagte sie, bis sie sich zu Dunst auflösten. Endlos konnte ich diesem Spiel der Wolken zusehen, die im Sonnenlicht weiß leuchteten. Ein Gefühl von Größe und Weite breitete sich in mir aus und trug mich weg. Ich lauschte den Grillen, beobachtete die Mücken, die über meinem Kopf tanzten, und fühlte mich aufgehoben und frei. Auf den Feldern unter dem freien Himmel fand ich Zuflucht. Hier lernte ich die Einsamkeit lieben, in der ich ungestört nachdenken und mir meine eigene Welt zurechtträumen konnte.

Der Zug ruckte und riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte auf Mutter, die aufgestanden war und sich über den Kinderwagen beugte. »Hat es denn getrunken?«, fragte sie die Nachbarin, die sorgenvoll blickte und mit den Schultern zuckte. »Kaum«, sagte sie.

»Es wird mit jeder Stunde schwächer. Wenn wir doch etwas schneller vorankämen.« Doch unser Fortkommen blieb schleppend. Der Zug fuhr immer nur kurze Strecken und hielt dann wieder stundenlang im Wald. Tagsüber strahlte die Sonne, die Nächte waren mondklar und über uns funkelten die Sterne. Es war eisig kalt, der kälteste Winter seit Jahrzehnten, so erfuhr ich später. Wir schliefen nicht. Wer sitzen konnte, nickte manchmal kurz ein. Einmal schneite es. Ich fing mit den Händen den Schnee ein und leckte ihn auf. Ich hatte Durst. Manche pinkelten in einen Becher und tranken den eigenen Urin.

»Die Alte hat doch noch den Schinken«, sagte eines Tages eine Frau zu unserer Mutter. »Der wird jetzt aufgeteilt.« »Richtig, der wird aufgeteilt«, stimmte ihr eine andere bei.

Die beiden versuchten, mit der Ostpreußin zu reden. Und als sie sahen, dass sie nicht reagierte, entrissen sie ihr das von Maden zerfressene Stück Speck. Die alte Frau schrie hysterisch, rief wieder nach ihren Töchtern und beruhigte sich erst, als ihr ein Mann eine Decke in die Hand drückte. »Hier hast du deinen Schinken«, sagte er. Wimmernd umklammerte sie das wollene Bündel und kauerte sich zusammen. Sie tat mir Leid.

Etwa einen Meter hinter mir saß ein altes Ehepaar. Die Frau redete manchmal wirres Zeug, lauschte ihrer eigenen Stimme, schaukelte mit dem Kopf und verstummte dann so abrupt, wie sie angefangen hatte zu reden. Ich beobachtete sie immer wieder und sah plötzlich, dass ihr Mann seltsam zur Seite hing. Der Kopf war ihm auf die Schulter gefallen. Der Mund stand ihm offen und seine Lippen waren bläulichweiß angelaufen. Sein Gesicht war wächsern und seine Augen starrten ins Leere. Ich erschrak. Der Mann war tot.

Diesen Ausdruck, diesen Blick hatte ich schon einmal gesehen. Im Sommer 1941. Ich hütete unsere Gänse auf einer sanften Anhöhe hinter dem Ortsende von Greifenberg. Zwischen Kornfeldern und Wiesen zupften die Tiere am Wegrand Gras. Ich musste darauf achten, dass sie nicht in den Feldern grasten. Da fiel mit einem Mal ein ratterndes rauchendes Flugzeug vom Himmel, stürzte in einen Eichenbaum und krachte durch die Äste auf die Wiese. Ich rannte hin, es war ganz nah. In den Trümmern einer Eindeckermaschine saß regungslos ein junger Mann mit Lederhelm, blutüberströmt. Sein Blick war leer. Neugierig und gebannt stand ich vor diesem seltsamen Wesen, das vom Himmel gestürzt war. Ich sah den Mann wie in hellem Licht, abwesend, nicht erreichbar. Er brauchte Hilfe, das war mir klar, und im selben Moment hörte ich schon Erwachsene herbeilaufen. Atemlos kamen sie an und schoben mich zur Seite.

»Kind, geh weg. Das ist nichts für dich!« Zwischen dem aufgeregten Menschenauflauf sah ich, wie zwei Männer den Piloten aus den Trümmern zerrten und auf die Wiese legten. Dann fassten sie ihn unter den Armen und an den Beinen und trugen ihn in den Ort. Dieses Gesicht des Piloten habe ich nicht mehr vergessen. Der Mann war nicht tot, er war verletzt und stand unter Schock, aber sein Ausdruck war derselbe wie der des Toten in unserem Wagen.

Ich rempelte die Frau an, die vor mir saß, und deutete auf den Toten. »Um Himmels willen, der ist tot«, murmelte sie und schlug ein Kreuzzeichen vor der Brust. Rasch bemerkten alle Übrigen im Wagen, was passiert war, und blickten ängstlich auf die Leiche. Der Tod fuhr mit uns. Natürlich wollte niemand neben dem Leichnam sitzen. Schließlich schafften ihn einige Frauen in eine Ecke, denn wir waren im Wagen eingeschlossen und mussten warten, bis der Zug hielt und jemand die Tür entriegelte.