Das Mädchen, das nicht weinen durfte - Khadra Sufi - E-Book

Das Mädchen, das nicht weinen durfte E-Book

Khadra Sufi

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Beschreibung

Eine Afrikanerin erzählt ihre deutsch-deutsche Lebensgeschichte



Khadra Sufi wird 1980 in Somalia geboren. Ihre ersten Lebensjahre verbringt sie im Jemen, in Sambia und Saudi-Arabien, bis die Familie 1983 in das damalige Ost-Berlin zieht. Als Diplomatentochter hat Khadra in der ehemaligen DDR nicht nur weiterhin Zugang zur westlichen Welt, sondern alles, was sich ein kleines Mädchen nur wünschen kann: Große Villen mit Hauspersonal sind ihr Zuhause, sie begleitet ihren Vater auf Dienstreisen in fremde Länder und in die Botschaften dieser Welt. Im Alter von acht Jahren reist Khadra zum ersten Mal seit ihrer Geburt in ihre Heimat: Die fremde Kultur und Armut Somalias vor Augen, genießt sie anfangs noch den Luxus einer deutschen Privatschule. Mit Ausbruch des Bürgerkriegs wird die Diplomatenfamilie sämtlicher Privilegien beraubt. Von den Aufständischen quer durchs Land verfolgt, gelingt ihr 1990 die Flucht über Kenia nach Ägypten, ein Jahr später landet die Familie in einem Asylantenheim bei Bonn. Der Verlust des Ansehens, der Absturz in die Armut und das Leben kurz vor der Abschiebung zermürben Khadras Eltern. Als die Familie nach London zieht, beschließt Khadra, in Deutschland zu bleiben. Sie ist 16 Jahre, mittellos und wohnt in einer umgebauten Garage. Ein Rückschlag jagt den anderen, doch Khadra gibt nicht auf. Sie kämpft dafür, wieder nach oben zu kommen – dorthin, wo sie einst war. Und sie wird belohnt: Aus der Garage ist wieder ein schickes Appartement geworden …

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Seitenzahl: 428

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Danksagung
Kapitel 1. - DER SCHLIMMSTE TAG MEINES LEBENS
Kapitel 2. - SCHWARZE OSSI IM WUNDERLAND
Mein Start ins Leben
Meine frühe Kindheitswelt
So schön wie Mama
Mit nichts aufzuwiegen: wahre Freundschaft
Meine Kindersorgen in diesen Jahren
Copyright
DANK
Mein zutiefst empfundener Dank geht an Hans-Jürgen Schäfer für seine wichtige Unterstützung. Er hat nicht nur mitgeholfen, dieses Buch zu schreiben, sondern stand mir auch jederzeit mit seinem journalistischen Know-how und seinem persönlichen Rat zur Seite.
Danke vor allem auch dafür, dass Du mir immer wieder Mut gemacht hast und an dieses Buch geglaubt hast - manchmal mehr als ich selbst.
1.
DER SCHLIMMSTE TAG MEINES LEBENS
Ich hatte mich schon so oft gefragt, was ich bloß tun würde, wenn das passiert: Wenn dieser Anruf kommt und diese Nachricht mich erreicht. Ich wusste, der Tag würde irgendwann kommen, und schon allein der Gedanke daran löste einen Schmerz in mir aus, der nicht zu ertragen war. Würde ich den Verstand verlieren? Würde ich mir ein Messer in mein Herz rammen, weil mein Leben ab diesem Tag keinen Sinn mehr haben würde? Oder schreiend zusammenbrechen?
Heute war es so weit. Der Tag war gekommen.
Heute, am 5. August 2005.
Seit ich ein Kind war, hatte ich jede Nacht zu Gott gebetet und war dankbar um jeden Tag, den mein Vater mir blieb. Das schlechte Gewissen trug ich während der letzten Jahre ständig in mir, seitdem meine Familie 1997 fortgegangen war. Ich hatte mich damals entschlossen, allein in Deutschland zu bleiben und meine Eltern und Geschwister ohne mich nach England ziehen zu lassen. Ich war 16 Jahre alt und hatte einen Plan: Es war an der Zeit, mein eigenes Leben zu beginnen und etwas zu erreichen. Ich wollte so viel Geld verdienen, dass ich ihnen das Leben wiedergeben konnte, das uns der Krieg genommen hatte. Ich wollte sie wieder glücklich sehen, ohne Sorgen, ohne die ständige Angst, wie es weitergehen würde. Sie sollten in ihren letzten Lebensjahren einfach zufrieden sein, so wie damals in unserer Villa in der DDR, vor unserer Rückkehr nach Somalia, die unser ganzes Leben verändern sollte.
Doch ich zahlte einen hohen Preis für die Entscheidung, allein hier in Deutschland zu bleiben. Es machte mir nichts aus, von ganz unten anzufangen, das war ich gewohnt. Ich war schon immer eine Kämpferin. Aber innerlich zermürbte mich das Wissen, dass meine Familie jetzt ohne mich zusehen musste, wie es weiterging: Schon wieder lebte sie nun in einem Land, das sie zwar kannte, aber nicht aus der hilflosen Position eines Flüchtlings, sondern als Diplomatenfamilie. Damals waren wir öfter in London gewesen, auf Geschäftsreisen oder um die zahlreichen Verwandten zu besuchen, die dort lebten. Jetzt ging meine Familie wieder dorthin, um die Heimat zu suchen, die es in Bonn nicht mehr gab.
Denn hier in Deutschland sah mein Vater keine Perspektive mehr für seine Familie. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben. Ich weiß noch, wie oft wir Anträge ausgefüllt hatten, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, die unbefristet war. Reichten zwei Bundesverdienstkreuze, damit ein ehemaliger Botschafter die deutsche Staatsangehörigkeit bekam? Nein. Ein Mann, der geholfen hatte, die Geiseln bei der Entführung der »Landshut« 1977 in Mogadischu zu befreien. Der Wischnewski am Flughafen empfangen und auf Schritt und Tritt begleitet hat, um die Verhandlungsgespräche zwischen ihm und dem damaligen somalischen Diktator Siad Barre zu übersetzen, war knapp 20 Jahre später in Deutschland ein Asylant wie jeder andere und zog nun weiter nach England. Für eine sechsköpfige Flüchtlingsfamilie aus Somalia gab es hier nichts, worauf sie hätte aufbauen können.
Und meinem Vater ging es mittlerweile schlecht, sehr schlecht. All die Jahre hatte er so viel durchgemacht. Sein Körper, der sein zerbrochenes Ich in sich trug, war schwach geworden. Wie viel Leid konnte dieser Mann noch ertragen? Er war so stark. Bis hierher hatte er seine Familie noch bringen können. Raus aus der lebensbedrohlichen Lage in Somalia, hinein in ein Leben ohne Geld, ohne Luxus, ohne Identität und ohne Perspektive. Wir waren Flüchtlinge, die zuvor nie auf Almosen angewiesen gewesen waren.
Wie oft hatte ich mir ansehen müssen, wie er diskriminiert wurde. Von seinem stolzen Gang war im Laufe der Jahre nicht viel übrig geblieben. Nur unsere Verwandten behandelten ihn immer noch mit Respekt. Sie wussten, was für ein ehrenwerter Mann er war, und küssten ihm zur Begrüßung die Hand. Aber in den Sozialämtern war er einer von vielen: ein Heimatloser, der wieder in der Schlange stand, um für seine Familie Kleidergeld zu beantragen. Ich hasste die Blicke, die sie ihm zuwarfen. Ich hasste es, wie sie manchmal mit ihm redeten.
Nun lebte meine Familie also in England. Im Sommer 1997 kam mein Vater ein letztes Mal zurück, um unsere Wohnung aufzulösen, in der ich noch allein lebte. Eines Abends, ich schlief schon in meinem Zimmer, öffnete er plötzlich die Tür: Er bekam kaum Luft und brach gleich darauf zusammen. In Panik rief ich einen Krankenwagen. Der Notarzt maß seinen Blutdruck, der besorgniserregend hoch war. Erst im Krankenhaus war mein Vater wieder ansprechbar. Nach einiger Zeit kam eine Ärztin ins Zimmer, verschlafen blickte sie mich an, nicht ihn. Es wirkte so, als würde sie ihm die deutsche Sprache nicht zutrauen. Und so, als hätten wir ihr leichtfertig den Schlaf geraubt, sagte sie zu uns: »Beim nächsten Mal nehmen Sie sich bitte ein Taxi, denn so ein Krankenwageneinsatz ist sehr teuer und wirklich nur für Notfälle gedacht.« Ich kochte innerlich und schwieg. »Wir behalten ihn zur Beobachtung ein paar Tage hier.«
Monate später brach mein Vater in London erneut zusammen. Dort stellte man dann endlich fest, dass seine Nieren mittlerweile völlig funktionslos waren und sein Blut nicht mehr reinigen konnten. Seitdem hing sein Leben an Dialysemaschinen. Jedes Mal, wenn ich ihn nach der Blutwäsche anrief, hörte er sich schwächer an, ich konnte ihn kaum verstehen. Es brach mir das Herz, aber ich schluckte meinen Schmerz und meine Tränen hinunter, denn ich wollte ihn nicht traurig machen. Er sollte sich auf mich verlassen können und ich wollte ihm von meiner Stärke etwas abgeben, so wie damals im Krieg.
Während damals die Bomben um uns herum eingeschlagen waren, zählten wir die Stunden, bis auch wir unter den Trümmern liegen würden. Das einstürzende Nachbarhaus hatte einen solchen Lärm gemacht, dass mir das Blut spürbar durch den ganzen Körper schoss. In dieser Nacht hatte ich mit dem Leben abgeschlossen. Ich erreichte den Punkt, an dem jede noch so geringe Hoffnung mich verlassen hatte. Um mich herum hörte ich die lauten Gebete der fremden Menschen, die sich mit uns in diesem dunklen Keller versteckt hielten und sich bereit machten, ihrem Schöpfer gegenüberzutreten. Sie flehten zu Gott, dass er ihnen all ihre Sünden vergeben möge, denn auch sie spürten, dass ihr Leben in jeder Sekunde vorbei sein konnte. Trotz dieser alles verschlingenden Angst, die ich in jeder Faser meines Körpers spürte, habe ich es damals geschafft, stark und gefasst zu wirken. Die Angst in den Gesichtern meiner Familie werde ich nie vergessen …
2.
SCHWARZE OSSI IM WUNDERLAND
Eine schwarze Stoffdecke, gemustert mit orientalischen Symbolen in Gold und Bronze, wie sie typisch waren für die Gewänder der Frauen in Somalia, ist das Erste, woran ich mich aus meiner Zeit in Ostberlin erinnern kann.
Es war frühmorgens und noch dunkel draußen. Meine Ayeya, was auf Somalisch »Oma« bedeutet, hatte in diese Decke einige Stoffe eingewickelt, die sie jetzt in ihren Schrank einsortierte. Wir waren gerade angekommen. Wir kamen aus Sanaa im Jemen, wohin wir, kurz nachdem ich in Mogadischu geboren worden war, über die Zwischenstation Sambia gezogen waren. Ich war drei Jahre alt und sollte nun bereits das vierte Land kennenlernen.
Nach der Ankunft in unserer Botschaftsvilla im Stadtteil Pankow saß ich auf dem Boden zwischen dem ganzen Gepäck mit der Stoffdecke meiner Oma und versuchte, diese Decke mit einem Löffel durchzuschneiden, was nicht klappen wollte. Ich rutschte immer wieder mit dem Löffel ab, und durch die Reibung des Metalls an dem billigen Gemisch aus Baumwolle und Polyester bekam ich eine Gänsehaut. Irgendwann war ich so wütend, dass ich den Löffel wegwarf und anfing zu weinen. Ich war wohl von der langen Reise völlig übermüdet, und meine Ayeya steckte mich ins Bett.
Unser neues Zuhause in Ostberlin war eine große beigefarbene Flachdach-Villa. Das Grundstück war von einem dunkelgrünen, halbhohen Stahlzaun umgeben. Über die Zufahrt fuhr man direkt hinunter in die Garage unter dem Haus, wo unsere drei Autos parkten. Mein Vater ließ sich und uns aber fast immer mit dem Mercedes chauffieren, an dem vorn die hellblaue Flagge mit dem weißen Stern im Fahrtwind wehte, die uns als somalische Diplomaten auswies. Das Haus war umgeben von einem großen Rasen und prächtigen Bäumen, dahinter befand sich ein kleiner Hang, steil und lang genug, um im Winter wunderbar mit dem Schlitten runterzurutschen. Aber es war auch ein schöner Platz, um sich im Sommer aufzuhalten, wenn überall Blumen in leuchtenden Farben blühten. Es war der Lieblingsort unserer Nanny. Sie hieß Hilde und trug immer einen blauen Kittel. Sie war etwa Ende 30, hatte rotbraunes, gewelltes, kurzes Haar und eine raue, derbe Art, an die ich mich nie so richtig gewöhnen konnte.
»Mädchen«, rief sie mich, statt mich bei meinem Namen zu nennen, »krümle nicht so mit dem Brot herum.« Wenn ich Hilde im ganzen Haus nicht fand, wusste ich, wo sie war. Sie hatte sich eine Matte auf den Hang gelegt und sonnte sich mit ihrer Tochter Sabrina, die ein bisschen älter war als ich und oft nach Schulschluss zu uns kam, um hier ihre Mutter zu besuchen.
Auch der hintere Teil des Grundstücks war durch den Zaun vom Nachbargrundstück getrennt. Man konnte hinübersehen in diesen Garten. Unser Nachbar war ein kleiner Mann, der immer grüne Arbeitskleidung und eine Mütze trug. Oft habe ich ihn fleißig in seinem Garten arbeiten sehen, und obwohl wir sogar Gärtner hatten, war sein Garten viel schöner als unserer. Es standen viele Birnbäume darin, ganz nah am Zaun, und wenn ich mich unbeobachtet fühlte, kletterte ich auf den Zaun und pflückte mir die saftigsten Birnen ab. Natürlich hatte ich Angst, erwischt zu werden, denn der Nachbar guckte immer so grimmig und lächelte mich nie an.
Von den anderen Deutschen war ich es gewohnt, dass sie immer ganz entzückt waren, wenn sie mich sahen: »Du süßes kleines Negerkind!«, riefen sie dann. Oder: »Oh, schau mal, wie süß! Und guck mal, die Haare! Darf ich da mal reingreifen …?« Dann strichen sie mir vorsichtig über das krause Haar. Sie waren ganz erstaunt, wie borstig es war.
»Die Haare fühlen sich ja ganz fest an, wie harter Schaumstoff. Kann man die überhaupt kämmen?« Nein, konnte man nicht, zumindest nicht ohne dass es unerträglich ziepte. Für Aufsehen sorgte es auch, wenn Wassertropfen von unserem Afro einfach abperlten. Ich verstand die Verwunderung der Leute nicht, denn ich hatte nie das Gefühl, anders zu sein. Aber ich spürte, dass sie es nicht böse meinten. Obwohl wir gar nicht so dunkelhäutig waren, sah man uns unsere Wurzeln natürlich an. Unsere Vorfahren waren keine Afrikaner, sondern stammten von der arabischen Halbinsel aus dem Oman, nordöstlich von Somalia.
Ich hatte jedenfalls geglaubt, dass wir unserem grimmigen Nachbarn vielleicht zu fremd und anders waren. An meinem fünften Geburtstag ging ich nachmittags in den Garten, als er außer Sichtweite war, und kletterte auf den Zaun, um mir eine Birne zu pflücken. Ich streckte meinen ganzen Körper und meine Hand aus, aber ich kam trotzdem nicht an die Birne, ein paar Zentimeter fehlten noch. Mittlerweile war ich fast mit den Zehenspitzen auf dem Zaun und musste aufpassen, nicht abzurutschen. Ich war so konzentriert, dass ich zu spät bemerkte, dass der Nachbar direkt auf mich zulief, und er schien mir noch grimmiger als sonst. Ich erstarrte: »Oh nein, jetzt versohlt der mir bestimmt den Hintern!« Ich blickte ihm direkt in seine kühlen, blauen Augen. Er verzog immer noch keine Miene und lief weiter auf mich zu. Eine Sekunde lang überlegte ich noch, ob ich einfach wegrennen sollte, aber irgendwie kam ich nicht weg, es war zu spät.
Plötzlich packten mich seine kräftigen Hände unter meinen Armen. Ich war panisch vor Angst, konnte aber weder schreien noch mich wehren. »Jetzt ist es vorbei! Der zieht mich rüber in seinen Garten und gräbt mir ein Loch, direkt neben den Birnbäumen!« Noch während ich das dachte, hob er mich mit einem Ruck hoch in die Luft:
»Da oben, die sind reif, pflück dir eine, na los!«
Ich konnte gar nichts sagen, schaute ihn nur mit großen Augen an, dann pflückte ich mir eine Birne, die grün, an einer Seite zartrot und ganz fest war, so wie ich sie liebte. Sicher setzte er mich wieder auf dem Boden ab - in unseren Garten, der Zaun trennte uns wieder.
»Wenn du noch mal eine willst, dann ruf mich.«
Er sprach sehr betont und fuchtelte unterstützend mit den Händen, als ob er glaubte, dass ich kein Deutsch sprechen könnte. Ich starrte ihn noch etwas verwirrt an, dann drehte er sich um und lief zurück in sein Haus.
Wir hatten auch einen prächtigen Baum in unserem Garten, wenn auch keinen mit Obst. Als Jassar, ein sehr guter Freund unserer Familie, einmal zu Besuch war, ging er eines Morgens zu diesem Baum und suchte sich sorgfältig einen schmalen Ast aus, den er abbrach. Er kaute ein wenig an einem Ende des Astes herum, bis es sich öffnete und borstig wurde. Dann putzte er sich damit die Zähne, so wie es in Somalia üblich war.
Als Mama das vom Fenster aus sah, fing sie an zu lachen. Ich hab sie nicht oft ausgelassen lachen sehen. Ich liebe ihr Lachen, es klingt so herzhaft und kräftig, tief und voll aus dem Bauch heraus. Wenn sie lacht, blitzt eine große Lücke zwischen ihren starken Schneidezähnen hervor, sie wirft den Kopf in den Nacken und klatscht in die Hände. Freudig erregt rannte sie barfuß auf ihren kleinen Füßen hinaus zum Baum, um sich auch einen Ast abzubrechen. Jassar suchte ihr einen passenden aus, dann standen sie beide auf dem Rasen, kauten auf ihren Ästen herum und stellten fest, dass es in Somalia Knospen, Wurzeln und Zweige gab, auf denen man besser herumkauen und sich so die Zähne putzen konnte. Diese hier im Garten waren zu feucht und zerfielen auf der Zunge, die somalischen hingegen stammen vom Zahnbürstenbaum, der in Afrika und Indien vorkommt und dessen Äste viel trockener und deshalb fester sind.
Ich kannte nur Zahnbürsten und wurde neugierig, wie so ein Ast wohl schmecken würde. Jassar brach mir ein kleines Stück ab, das ich in meinen Mund steckte und an dem ich zaghaft knabberte. Es schmeckte bitter und war zu hart für mich, denn ich hatte nicht so stabile Zähne wie meine Mutter. Sie konnte mit ihren Vorderzähnen den Kronkorken von einer Flasche schnippen, schneller als andere es mit dem Öffner konnten. Das hatte sie von meinem Opa geerbt.
Jassar war der beste Freund meines Bruders Farid und ein enger Vertrauter unserer Familie. Ich liebte ihn sehr, weil er immer so witzig war und mich zum Lachen brachte. Außerdem verbrachte er seine Zeit lieber mit uns Kindern, alberte mit uns herum, statt mit den Erwachsenen steife Gespräche zu führen. Wenn er mit Mama oder Papa sprach, war er sehr vernünftig für einen jungen Mann, aber mit uns Kindern war auch Jassar Kind. Ich war deshalb sehr traurig, als sein Besuch in Ostberlin vorbei war und er wieder zurück nach Somalia ging.

Mein Start ins Leben

Meine Geburt soll sehr schwierig gewesen sein, beinahe hätte ich es nicht geschafft und meine Mutter auch nicht. Ich war eine Spätgeburt, ich kam viel zu spät, so spät sogar, dass die Ärzte in der Klinik in Somalia nicht mehr wussten, wie sie mich auf die Welt holen sollten.
»Ich wollte nicht raus, weil ich ahnte, was für ein Leben mich erwartet«, flachste ich mit meinem Halbbruder Karim, als der mir davon erzählte. Was im Krankenhaus fehlte, war ein Medikament, das die Wehen einleiten konnte. Karim ist zwanzig Jahre älter als ich und der einzige Sohn, den mein Vater mit seiner ersten Frau hatte. Karim arbeitete damals als Referent im somalischen Konsulat in Hamburg, und über einen Freund bekam er die Medizin im dortigen Bundeswehrkrankenhaus, mit Lufthansa gelangte sie dann gerade noch rechtzeitig in die Klinik, erzählte man mir später.
Dazu muss man aber wissen, dass Somalis, wenn sie Geschichten erzählen (und das tun sie gerne), diese ausschmücken und auch mal etwas hinzudichten. Die folgende Geschichte wurde vor allem von meiner Mutter und meinen Tanten erzählt: »Als Baby haben wir dich einmal nach dem Baden abgetrocknet und dann auf dem Wickeltisch am Fenster liegen lassen, weil wir das Fläschchen holen wollten. Als wir zurückkamen, saß ein Pavian, so eine riesige Affen-Mama, auf dem Fensterbrett und griff nach dir. Was haben wir geschrien, als sie mit dir davonrannte und wir sie quer durchs Dorf verfolgten, bis Frau Pavian dich endlich fallen ließ. Total verkratzt haben wir dich im Sand gefunden.« Und dann lachten sie laut.
Ich hab diese Geschichten immer wieder gern gehört und tue es heute noch. Nachdenklich macht mich hingegen diese Story: Als Baby hatte ich Kindergelbsucht und es ging mir sehr schlecht. Frauke Obländer, die mit ihrem Mann Manfred später noch einmal mein Leben retten sollte, war bei uns in Mogadischu zu Besuch, sah im Flur die gestapelten Kartons mit Babynahrung und war entsetzt: »Ihr dürft Khadra auf keinen Fall mehr damit füttern! Dieses Zeug ist in Deutschland längst verboten, weil es viel zu viel Eiweiß enthält und Kindergelbsucht auslösen kann!«, ermahnte sie meine Eltern, mit denen die Obländers gut befreundet waren. »Mich wundert, dass die das noch nach Somalia verkaufen dürfen.«
Ich war ein kleines Mädchen mit einem kurzen, pechschwarzen Afro, fast genauso dunklen, großen, runden Augen, Pausbäckchen und vollen Lippen. Mein Mund wirkte noch größer, wenn ich Bonbons, Lollis oder Schokolade in ihn reinstopfte - was ich dauernd tat. Ich war ein Pummelchen mit dünnen Beinen und dickem Bauch, wie wir Kinder ihn alle hatten.
Fremden gegenüber war ich schüchtern. Fühlte ich mich aber in Sicherheit innerhalb der Familie, war ich sehr neugierig und löcherte die Erwachsenen mit meinen Fragen: »Papa, warum gähnt man? Welche Sprache sprechen Vögel? Warum ist der Himmel blau?« Mir zu antworten war wirklich nicht einfach, aber egal, was ich fragte, mein Vater wusste immer etwas Originelles als Erklärung, das mich zufriedenstellte.
Neben Karim habe ich noch zwei Brüder: Farid, der zehn Jahre älter ist, und Jamal, der ein Jahr jünger ist als ich. Nanna, meine Schwester, kam noch ein Jahr später, sodass meine Mutter mit uns dreien sozusagen dauerschwanger gewesen war. Chuchu, meine zweite Schwester, kam als Nesthäkchen erst acht Jahre nach mir auf die Welt, da war mein Vater schon über 50. Wie alt genau, wusste er selbst nicht. Angeblich wurde er 1933 geboren, so stand es zumindest in seinem Pass, aber zu dieser Zeit waren Geburtsurkunden in Somalia nicht üblich. Meine Mutter war deutlich jünger als er, laut Ausweis war sie 1955 geboren.
Das Geburtsdatum spielte in der somalischen Kultur keine Rolle, es gab auch keine Geburtsurkunden. Wozu auch? Die Menschen hatten ganz andere Probleme. Es war eine Seltenheit, wenn jemand lesen oder schreiben konnte. Nur weil mein Vater ein gebildeter Mann war und die Geburtsdaten seiner Kinder für das Diplomatenleben in anderen Ländern wissen musste, kennen wir Kinder unsere genauen Geburtstage. Wenn man meine Mutter danach fragt, antwortet sie etwas wie: »Es war im Morgengrauen, gegen Ende des Jahres.«
Das ist auch der Grund dafür, dass viele Menschen aus Entwicklungsländern in ihren Pässen Schnapszahlen als Geburtsdaten angeben, wie etwa den 05.05.1955 oder den 06.06.1966. Wenn sie schon irgendein Geburtsdatum in den Pass eintragen müssen, dann wenigstens eines, das man sich leicht merken kann, für den Fall, dass jemals weitere bürokratische Fragen das Leben kreuzen sollten.

Meine frühe Kindheitswelt

Jeden Morgen versuchte ich immer wieder aufs Neue, den Kindergarten zu schwänzen. Mit aller Kraft versuchte ich mich dagegen zu wehren, wenn unser Chauffeur Food Adde uns ins Auto zerrte. Sein Name bedeutet so viel wie »Weiße Pfote«. Wir nannten ihn so, weil er einen großen, pechschwarzen Afro hatte, in dem vorn über seiner Stirn ein breiter weißer Streifen war. Er hatte morgens den Auftrag, uns in den Kindergarten zu bringen, und das versuchte er auch, obwohl es wirklich nervenaufreibend war. Wir wären viel lieber zu Hause geblieben und hätten in dem Wald gespielt, der gleich nebenan lag. Wir liebten diesen Wald, er hatte etwas Märchenhaftes. Dort fand man Pilze und leckere Beeren, und es gab viele gute Verstecke, wo man beim Spielen nie gefunden wurde. Dieser Märchenwald war unser Traumziel.
Meine Geschwister Jamal und Nanna stellten sich bei den morgendlichen Fluchtversuchen besonders raffiniert an. Sie rannten kurz vorm Auto einfach in verschiedene Richtungen davon und der arme Food Adde wusste gar nicht, wen er zuerst wieder einfangen sollte. Ich aber legte mich lieber mit ihm an, mit Fäusten und Beinen schlug ich schreiend um mich und dachte, ich könne ihn so besiegen. Aber am Ende war ich meist die Einzige, die in den Kindergarten gefahren wurde, während die beiden Kleinen immer noch in irgendwelchen Verstecken hockten und sich ins Fäustchen lachten.
Irgendwann gewöhnte ich mich schließlich an den Kindergarten. Wir hatten zwei Betreuerinnen, eine von ihnen mochte ich ganz besonders. Sie hieß Sabine und hatte eine Vokuhila-Frisur: Vorn standen ihre kurzen, blonden Haare stachelig hoch und hinten ließ sie sie zu einem langen, dünnen Schwänzchen wachsen. Sie trug immer eine verwaschene, enge, hellblaue Karotten-Jeans, die ihr ein wenig zu kurz war, deshalb blitzen ihre bunten Socken darunter hervor. Dazu trug sie entweder einen grauen Strickpulli oder einen bunten, wild gemusterten Pullover. Ihr großer Busen wölbte sich deutlich unter den weit geschnittenen Pullis. Obwohl Sabine noch sehr jung war, hatte sie dadurch etwas Mütterliches an sich. Ich mochte sie sehr. Sie machte uns Pfefferminztee und las aus Hänsel und Gretel vor. Bevor wir unseren Mittagsschlaf hielten, gab sie jedem einen Gutenachtkuss.
»Schlaf gut und träum was Schönes«, flüsterte sie uns ins Ohr und strich uns über die Wange. Am Mittagstisch sagte sie mir oft, dass ich meinen Kopf nicht auf meine Hand stützen solle, und als ich sie fragte, warum, erklärte sie mir, dass mein Kopf viel zu schwer für meine kleine Hand sei. Noch heute muss ich an sie denken, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich den Kopf auf die Hand stütze.
Sie brachte uns auch Schritt für Schritt bei, wie man Schnürsenkel bindet. Ich kann mich noch daran erinnern, wie schwierig ich das fand, ich dachte, ich würde es nie lernen. Aber immer, wenn ich es nicht schaffte, kam sie zu mir und band mir den Schuh zu. Sie hat es mir immer wieder geduldig erklärt, bis ich es verstanden hatte. Als ich es dann endlich selbst konnte, bin ich mit meinem Schuh nachmittags durch unsere Villa gerannt und suchte jemanden, dem ich es vorführen konnte. Mama war die Einzige, die im Haus war. Sie saß allein auf der großen Eckcouch im Wohnzimmer und war in Gedanken versunken. Ich war so stolz auf das Erlernte und völlig aufgedreht, aber während ich es ihr zeigte, merkte ich, dass sie mich teilnahmslos ansah. »Vielleicht ist es doch nicht so etwas Besonderes, Schuhe binden zu können«, dachte ich damals. Erst Wochen später bekam ich die Anerkennung, die ich mir erhofft hatte. »Khadra, kannst du mir bitte die Schuhe zumachen?«, fragte mich da Mama, die es selbst nie gelernt hatte. Aus diesem Grund trägt sie noch heute keine Schuhe mit Schnürsenkeln, sondern immer welche mit Klettverschluss.
Mein Vater war geschäftlich viel unterwegs und eines Tages nahm er mich mit nach Moskau. Es war das kälteste Land, das ich jemals besucht hatte. Wir fuhren zum Roten Platz, auf dem Hunderte von Tauben waren. Dort konnte man Plastiktütchen mit Bohnen kaufen, um die Vögel zu füttern. Sie waren sehr gierig und ich zog meine Hand schnell weg, damit sie mich nicht in die Finger hackten. Ein Mann neben mir legte sich das Futter auf den Kopf und die Tauben pickten es von seiner Halbglatze. Das sah witzig aus, also schüttete ich mir eine Handvoll Bohnen aufs Haar, aber was dann passierte, fand ich zuerst gar nicht komisch. Die Tauben stürzten sich auf mich, rissen an meinen Haaren und hackten mir mit ihren spitzen Schnäbeln in die Kopfhaut. Ich warf die Tüte mit dem Futter hinter mich und rannte quer über den Platz ins nächste Gebäude. Mein Vater konnte sich nicht mehr halten vor Lachen, was mich zunächst ärgerte, aber dann steckte er mich doch damit an.
Am letzten Abend vor unserem Rückflug nahm er mich mit in ein riesiges Einkaufszentrum. Ich durfte mir etwas aussuchen, und meine Wahl fiel auf einen schwarzen Motorradhelm: Er war viel zu groß für mich, und wir besaßen auch gar kein Motorrad, aber ich wollte ihn unbedingt haben. »Wenn du ihn willst, bekommst du ihn«, sagte Papa nur. Auf der Rückfahrt ins Hotel setzte er sich wie immer auf den Beifahrersitz. Ich setzte mich auf seinen Schoß, zog den Helm gleich über und tat so, als ob ich auf einem Motorrad säße. Als wir durch einen Tunnel fuhren und die Lichter sich auf meinem Helm spiegelten, kam ich mir vor wie David Hasselhoff als »Knight Rider« in seinem sprechenden Auto K. I. T. T.

So schön wie Mama

Weil mein Vater so viel unterwegs war, fühlte sich meine Mutter oft allein. Sie ließ sich dann häufig vom Chauffeur nach Westberlin zum Einkaufen fahren. Dafür machte sie sich vorher besonders chic, was Stunden dauerte. Ich fuhr selten mit, weil Mama sich dann kaum mit mir beschäftigte und ich lieber bei meinem Papa war, wenn er denn da war. Nanna dagegen war Mamas größter Fan, auch beim »Ausgehen«. Sie hing schon an Mamas Rockzipfel, mit ihrer Barbie unterm Arm, wenn Mama in Richtung Auto ging. Sie wusste: Wenn sie mit ihr fährt, bekommt sie auch etwas gekauft. Mama kam stets mit Tüten voller schöner Kleider zurück, die sie gleich in ihren großen Schrank hing. Sie besaß unzählige Kleider: bodenlange, blaue, grüne, rote, bunte, mit Gold oder Strass verzierte … Der Schrank im Schlafzimmer meiner Eltern reichte über eine ganze Wand und war mit Spiegeln versehen.
Mama verwandelte sich in eine Diva, wenn sie mit Papa auf Empfänge ging. Oft bin ich zu ihrem Schrank geschlichen, um die Kleider anzuprobieren. Mir war klar, dass sie mir noch viel zu groß waren, aber ich bestaunte mich im Spiegel und konnte es kaum erwarten, bis sie mir endlich passen würden und ich auch so schön sein würde wie Mama.
Neben Mamas Bett stand ein Schminktisch mit zwei Schubladen und einem großen, runden Spiegel. Ich beobachtete sie, wenn sie davorsaß und sich mit einem Kajalstift ihre Augenlider nachzog, sodass ihre dunklen Augen noch ausdrucksvoller wirkten. Dann strich sie ihre vollen Lippen mit einem Lippenstift nach und presste sie zusammen. Sie hatte eine sehr helle Haut, feine, schlanke Handgelenke und schöne lange Finger. Sie sah aus wie eine Prinzessin. Vielleicht liebte sie deshalb auch Lady Di. Im Fernsehen schaute sie sich gern Berichte über das englische Königshaus an, klatschte begeistert in die Hände und rief laut »Ahhh!«, wenn sie Prinzessin Diana sah.
Abends kämmte sie ihre langen, schwarzen, leicht gewellten Haare, die ihr bis zum Po reichten. Ich hätte auch so gern Mamas Haare geerbt, aber stattdessen hatte ich meinem Papa die Afro-Matte zu verdanken, die mir schon als Kind zu schaffen machte. Man kam mit keinem Kamm durch diese Haare, deshalb versuchte ich diese Prozedur am liebsten zu umgehen. Manchmal beauftragte Mama unsere Haushälterinnen, sich an mich heranzuschleichen, um mich zu kämmen, während ich meinen Mittagsschlaf hielt, aber es ziepte so stark, dass ich sofort wach wurde und mich umdrehte oder weglief. Ich wollte mich nicht damit abfinden, dass ich so krauses Haar hatte, ich wollte auch eine schöne, wallende Mähne, also improvisierte ich eines Tages. Ich ging ins Badezimmer und suchte ein Handtuch. Ein lilafarbenes war das erste, was ich in die Finger bekam. Das legte ich mir um den Kopf und rannte durchs ganze Haus, so schnell, dass es hinter mir her wehte. Unsere Hausangestellten sahen mir ganz verdutzt nach, als ich an ihnen vorbeidüste. Ich rannte in den Garten und am Zaun entlang. Eine Frau lief gerade neben dem Zaun auf dem Bürgersteig und sah mich lächelnd an. »Aha, sie findet meine neuen Haare also auch schön!«, dachte ich.
Papa brachte mich eines Tages zum Friseur in der Nachbarschaft. Als wir den Laden betraten, sah mich die Friseurin ungläubig an, so als hätte sie noch nie einen Menschen mit krausem Haar gesehen. Es war eine junge Frau mit kurzen, blonden, dauergewellten Haaren. Papa ließ mich im Salon und sagte ihr, sie solle mir einen schönen Schnitt machen. Sie griff mir ratlos in die Haare und wusste nicht, was sie damit anstellen sollte. Mir passte das Ganze sowieso nicht, denn ich ließ am liebsten gar niemanden an meine Haare, ich hasste es, wenn jemand versuchte, mich zu frisieren. Und die Friseurin zuckte mit den Schultern:
»Wie soll ich’n da durchkommen?!« Sie drehte sich um und im Spiegel sah ich, wie sie nach hinten auf eine Schublade zusteuerte, in der sie herumkramte. Als ich sah, was sie in der Hand hielt, wollte ich wegrennen. Es war ein winziger roter Plastikkamm, seine Zacken waren so klein, dass man ihn zum Entlausen von Hamstern hätte benutzen können. Wie kam sie nur auf die Idee, damit meinen Afro bändigen zu wollen? Aber die Friseurin hatte offensichtlich noch mehr Angst als ich und tastete sich vorsichtig durch mein Haar.
»Aua, au!«, schrie ich immer wieder auf, bevor sie überhaupt richtig loslegen konnte. Da kam Papa wieder in den Salon. Er hatte mir ein Eis geholt, weil er schon ahnte, dass dieser Friseurbesuch nur mit einer Bestechungsaktion gelingen konnte. Doch die Friseurin und ich waren schon total entnervt. »Komm schon, Njunja! Sie will dir doch nur die Haare schön machen«, versuchte Papa mich zu beruhigen. Aber wir kamen nicht voran, entgeistert gab die Frau schließlich auf.
»Das macht keinen Sinn, wenn die Kleene nicht will …« - »Okay, okay«, erwiderte Papa und hielt mir seine Hand hin. »Komm, Njunja! Wir gehen wieder.« Erleichtert sprang ich aus dem Frisierstuhl, schnappte mir das Hörnchen, an dem schon das Vanilleeis herunterlief, schleckte es genüsslich ab und verschlang am Ende noch die Waffel. Ich hatte es mir verdient.
Njunja, das war nicht mein richtiger Name. Khadra ist arabisch und bedeutet »das Grün der Natur«. Njunja war mein Kosename, den Papa mir gegeben hatte, weil sich das erste Wort, das ich als Kind von mir gegeben hatte, so anhörte. Nanna rief er Ingaay, weil es sich so anhörte, wenn sie weinte: »Ingaaayyyyhhhhh!«

Mit nichts aufzuwiegen: wahre Freundschaft

Wenn mein Papa in der Botschaft war, war ich zwar zu Hause nie allein, aber ich fühlte mich so. Natürlich war meine Mutter da, meine Ayeya und die Haushaltshilfen, aber keiner beschäftigte sich wirklich mit uns Kindern. Wenn Papa dann endlich nach Hause kam, brachte er uns oft etwas mit, meist waren es Spielsachen, die er in Westberlin gekauft hatte, Legosteine, Rollschuhe, Autos, Barbie & Ken, kurz: einfach alles, was ein Kinderherz begehrt. Die Nachbarskinder waren deshalb oft bei uns. Die meisten von ihnen kannte ich gar nicht, aber es hatte sich schnell herumgesprochen, dass es bei uns viele Spielsachen gab, also kamen sie vorbei und spielten in unserem Hof vor der Garage. Ich freute mich, wenn so viele Kinder da waren, aber ich merkte auch, dass sie mich gar nicht beachteten. Sie sprachen nicht mit mir, ich hatte das Gefühl, einfach nicht dazuzugehören. Ich dachte, wenn ich ihnen vielleicht mehr Spielzeug schenken würde, würden sie mich mögen. Papa brachte sowieso immer so viel mit, also verteilte ich meine Spielsachen unter den Kindern.
Das Tor zu unserem Garten war nie abgeschlossen. Einmal waren besonders viele Kinder im Hof. Ich kannte nur einen von ihnen, meinen Freund Marcel, der einen Block weiter wohnte. Die Kinder tobten und kreischten herum. Irgendwann kam unser Chauffeur Food Adde angerannt: »Was ist denn nur los? Was macht ihr alle hier? Woher kommen die ganzen Kinder?« Er schaute mich mit großen Augen an, aber ich hatte ja selbst irgendwann den Überblick verloren. Food Adde schickte sie nach Hause und als alle weg waren, war es plötzlich wieder still. Da merkte ich erst, wie laut es vorher gewesen war. Ich war traurig. Ich wollte zu den anderen Kindern gehören, aber nun waren alle weg.
Mein einziger wirklicher Kindheitsfreund in dieser Zeit war Marcel. Oft trafen wir uns auf dem Spielplatz in unserer Straße. Er hatte kurzes braunes Haar, dünne Beine und trug meist Sandalen und kurze Hosen, weshalb seine Knie vom Spielen oft ganz rau waren. Er hatte noch drei jüngere Brüder, den Kleinsten fand ich total süß. Er hieß Micky und war ein richtiger Wonneproppen mit geröteten Hamsterbäckchen. Wenn er mich von unten mit seinen großen, treuen Augen anschaute, wollte ich ihn am liebsten umarmen und ihm einen dicken Schmatzer geben. Was mich davon abhielt, war seine ständig laufende Nase. Der Rotz war an der Oberlippe verkrustet und es lief immer neuer nach.
»Hey, Micky, komm mal her!«, rief Marcel, wenn er merkte, dass der Kleine versuchte, sich mit der Zunge die Nase abzuwischen. Dann nahm Marcel den Zipfel seines T-Shirts und wischte ihm das Gesicht sauber. Es gefiel mir, wie er sich um seinen jüngeren Bruder kümmerte, und auch deshalb mochte ich Marcel besonders gern. Ich hätte stundenlang mit ihm zusammen sein können, leider musste er immer zu ganz bestimmten Zeiten zu Hause sein.
»Ich muss um zwölf zum Mittagessen«, verabschiedete er sich dann. Oder: »Ich muss um sechs zum Abendbrot.« Oder: »Ich muss los, das Sandmännchen kommt gleich.« Und egal, was für ein spannendes Spiel wir gerade spielten: Wenn es Zeit war, rannte er los. Ich blickte ihm dann hinterher und beneidete ihn darum, dass da jemand auf ihn wartete. Mich rief nie jemand zum Essen, ich ging nach dem Spielen einfach irgendwann nach Hause und kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals gemeinsam zu Hause gegessen hätten.
Einmal spielten wir in Marcels Straße. Wir hockten über den schönen bunten Glasmurmeln, die ich mitgebracht hatte. Plötzlich hörten wir eine Glocke läuten und sahen auf. An einem Fenster im dritten Stock stand eine Frau mit langen braunen Haaren.
»Mittagessen ist fertig!«
»Ja, Mutti, ich komm hoch.« Marcel sprang auf und rannte los. Ich ärgerte mich, wie immer, wenn er mich plötzlich links liegen ließ, nachdem wir den ganzen Morgen miteinander gespielt hatten, und er war schon bis zum Eingang des Plattenbaus gelaufen, als seine Mutter noch mal rief.
»Bring doch deine Freundin mit, Marcel!« Dann drehte sie sich zu mir und wischte sich ihre langen Haare aus dem Gesicht. »Magst du mit uns zu Mittag essen?« Ich sagte nichts und nickte nur.
Schon oft hatte ich den Duft des leckeren Essens aus den Fenstern dieser Häuser gerochen und Marcel winkte mich zu sich. Ich sammelte meine Murmeln hastig ein und rannte zu ihm. Während er die Stufen aufstieg, drehte er sich ab und zu lächelnd zu mir um. Bisher hatten wir uns immer nur bei mir getroffen, er war wohl gespannt, wie es mir bei ihm gefallen würde. Micky öffnete uns angestrengt, weil der kleine Wonneproppen gerade mal an den Türgriff kam. Er strahlte uns mit seinen großen blaugrauen Augen an. Er sah heute besonders süß aus, weil er keinen angetrockneten Rotz unter der Nase hatte, doch bevor ich ihn in den Arm nehmen konnte, rannte er den Flur entlang zu seiner Mama. Er klammerte sich hinter ihr rechtes Bein, als sie im Türrahmen zur Küche stand. Langsam glitt mein Blick ihre kräftigen Beine empor. An ihren Schenkeln stockte ich. Ich wollte nicht weiter nach oben schauen, aber sie fing schon an, mit mir zu sprechen.
»Na?!«, hörte ich ihre Stimme. Ich wollte ihr ins Gesicht sehen, aber mein Blick blieb an ihrem Körper hängen. Bis auf eine kurze Hose war sie nackt. Ich hatte noch nie zuvor eine nackte Frau gesehen, denn meine Mutter bedeckte sich stets, wenn sie sich umzog oder aus dem Bad kam. Marcels Mutter hatte einen kleinen, weiblichen Bauch und einen großen Busen, der etwas herunterhing. Ein leises »Hallo« war das Einzige, was ich herausbrachte. Ich war verunsichert und schaute mich um. Marcel ging gerade in die Küche, setzte sich an einen kleinen, viereckigen Tisch, und Micky klammerte sich immer noch an das Bein seiner Mama, versuchte sich dort vor mir zu verstecken und lugte immer wieder ein bisschen hervor. Niemand außer mir schien die Situation ungewöhnlich zu finden.
»Komm, setz dich«, rief Marcel. Ich stand noch immer im Flur, als sich ein Kopf über der Sofalehne im Wohnzimmer erhob. Es war Marcels Vater, der ein Buch in der Hand hielt. Er richtete sich auf, um einen Blick auf mich zu werfen, und ich sah seinen behaarten Oberkörper.
»Hallo! Du bist die Nachbarin vom Diplomatenhaus drüben? Setz dich ruhig rüber auf meinen Platz, ich esse dann später.« Ich ging in die Küche. Marcel, Micky und ihre Mutter saßen schon. Ich setzte mich auf den freien Platz. In der Mitte des Tisches stand ein großer Kochtopf, Marcels Mutter nahm die Kelle und füllte uns einen lecker duftenden Eintopf in die Teller. Es war dieser Duft, den ich schon so oft in der Nase gehabt hatte, wenn ich draußen mit Marcel gespielt hatte, und es schmeckte auch genauso gut, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Beim gemeinsamen Spielen mit Marcel stellte sich schnell heraus, dass er der Sportlichere von uns beiden war. Dafür brachte ich immer das schönste Spielzeug und andere tolle Dinge mit. Einmal hatte Papa mir zum Beispiel Kirschen aus dem Westen mitgebracht, die ich so liebte. Ich wusste, dass sich Marcel auch darüber freuen würde, füllte sie deshalb in eine braune Papiertüte und nahm sie mit. Ich rannte zum Spielplatz und wartete auf Marcel. Es waren viele andere Kinder aus der Nachbarschaft dort, die ich nicht kannte und die mich auch nicht beachteten. Ich setzte mich auf eine Holzbank und wartete. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann kam er, mit Micky an der Hand, und ich grinste ihn an.
»Was is’n da drin?«, fragte er neugierig, denn er wusste, dass es etwas Besonderes sein musste. Ich hielt ihm die Tüte hin, er klappte das Papier auf und vergrub sein Gesicht darin.
»Boah, Kirschen!«, rief er. »Krieg ich welche? Bittööööö!« Seine Augen wurden größer und größer. Das tat er immer, wenn er etwas von mir haben wollte. Dabei bekam er von mir ohnehin immer alles, was er wollte. Ich dachte nämlich, er würde mich sicher weiterhin mögen, wenn ich ihm nur genug schenkte. Wahrscheinlich wäre das nicht nötig gewesen.
Die anderen Kinder auf dem Spielplatz hatten mitbekommen, welche Kostbarkeit sich in der Papiertüte befand, und kamen neugierig auf uns zu.
»Hast du Kirschen? Dürfen wir auch welche?« Ich griff hinein, holte eine Handvoll heraus und verteilte sie in die ausgestreckten Hände. Sobald jemand seine Kirschen aufgegessen hatte, streckte er seine Hand noch mal hin. Ich kam gar nicht mehr hinterher, genoss aber die plötzliche Aufmerksamkeit und freute mich über meine neuen Freunde. Doch dann befürchtete Marcel wohl, die anderen würden ihm noch alles wegessen.
»Ich habe eine Idee!«, rief er und zupfte mich an der Schulter. »Wir machen einen Wettkampf. Wir rennen von dieser Holzbank bis zu der da drüben und zurück. Wer als Erster wieder hier ist, bekommt eine Kirsche.« Davon waren alle begeistert.
»Auf die Plätze, fertig, los!«, rief Marcel. Wir rannten los. Acht Kinder im Wettkampf um jede einzelne Kirsche. Aber immer gewann Marcel, kein Wunder, er war der Größte und Schnellste. Eine Kirsche nach der anderen verschlang er, bis irgendwann fast keine mehr übrig war und wir alle aus der Puste waren von der Lauferei. Unsere Beine waren ganz verstaubt und die Füße, die in Sandalen steckten, waren dreckig. Aber ich war glücklich.

Meine Kindersorgen in diesen Jahren

Wenn Papa nach Hause kam, stürmte ich auf ihn zu und plapperte auf ihn ein, noch bevor er überhaupt seine Sachen ablegen konnte. Mit ihm sprach ich deutsch, so wie er es mir hier beigebracht hatte. Er selbst hatte diese Sprache Anfang der 1960er-Jahre als Student in Bonn gelernt, wo er später auch als erster Sekretär der somalischen Botschaft gearbeitet hatte.
Eines Nachmittags kam er nach Hause und brachte mir zwei rosafarbene Verpackungen mit. Darin waren Barbies.
»Hier Njunja, such dir eine aus, und die andere gibst du der Tochter von Hilde, ja?« Er lief an mir vorbei in sein Zimmer, wo er sich immer erst einmal bequemere Sachen anzog, sobald er
eISBN 978-3-641-04720-7
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