Das Magische und Heilige des Waldes - Wolf E. Matzker - E-Book

Das Magische und Heilige des Waldes E-Book

Wolf E. Matzker

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Beschreibung

Das neue Waldbuch von Wolf E. Matzker ist eine Art Gesamtkunstwerk: Poesie, Philosophie, spirituelle Lebensform in und mit der Natur, Fotos, Zeichnungen, Gemälde und Aquarelle. Der Leser kann sich inspirieren lassen, wie er selbst eine Spiritualität des Waldes leben möchte. Einige Kapitel sind ganz neu, so eines über das Waldsterben im Harz, der im Jahre 2016 noch relativ intakt war, und eines über den magischen Elfenkamm bei Bad Harzburg. Der naturbelassene, wilde Wald ist eine Gegenwelt zur alles dominierenden Zivilisation. Der Autor untersucht die Frage, wie man heute eine neue und freie Spiritualität der Natur leben kann. Das Buch enthält 30 ganzseitige Farbseiten und viele weitere ästhetische Illustrationen.

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Inhaltsverzeichnis:

Das Romantische, das Heilige und das Magische

Mein Traum vom Wald

Die Farbe Grün

Der heilige Raum der Göttin

Ferne Wälder

Der Wald in der Nähe

Der Wald in Gemälden

Wälder der Kindheit

Wälder der Heide

Wälder am Meer

Urwald Sababurg

Wälder in den Alpen

Wälder im Harz

Waldeinsamkeit

Walderfahrungen

Runen und Wald

Waldschmerz

Rieseneichen

Das Urwüchsige

Elfenkammweg

Rituale im Wald

1. Das Romantische, das Heilige und das Magische

Der Ausruf „oh schöner, grüner Wald“ findet sich in einem Gedicht von Eichendorff. Der Satz drückt eine sehr tief empfundene Bewunderung und Wertschätzung des Waldes aus, die für Eichendorff und die Zeit der Romantik typisch ist. Der Wald ist ein sakraler Raum, der echte und wahre Werte vermittelt, die zeitlos, die ewig sind.

Joseph von Eichendorff

Abschied

O Täler weit, o Höhen,

O schöner, grüner Wald,

Du meiner Lust und Wehen

Andächt´ger Aufenthalt!

Da draußen, stets betrogen,

Saust die geschäft´ge Welt,

Schlag noch einmal die Bogen

Um mich, du grünes Zelt!

Wenn es beginnt zu tagen,

Die Erde dampft und blinkt,

Die Vögel lustig schlagen,

Daß dir dein Herz erklingt:

Da mag vergehn, verwehen

Das trübe Erdenleid,

Da sollst du auferstehen

In junger Herrlichkeit!

Da steht im Wald geschrieben

Ein stilles, ernstes Wort

Von rechtem Tun und Lieben,

Und was des Menschen Hort.

Ich habe treu gelesen

Die Worte, schlicht und wahr,

Und durch mein ganzes Wesen

Ward´s unaussprechlich klar.

Bald werd ich dich verlassen,

Fremd in der Fremde gehn,

Auf buntbewegten Gassen

Des Lebens Schauspiel sehn;

Und mitten in dem Leben

Wird deines Ernsts Gewalt

Mich Einsamen erheben,

So wird mein Herz nicht alt.

Man sollte niemals ein Gedicht einmal schnell durchlesen, sondern ein zweites Mal, ein drittes Mal. Und man sollte bei einzelnen Zeilen verweilen, sie wirken lassen, ihnen nachsinnen, um sie in ihrer Tiefe zu erfassen. Man sollte auch die Entwicklung innerhalb eines Gedichts beachten.

Langsamkeit ist angesagt, Entschleunigung und Verweilen. Nur so erfasst man dieses Gedicht. Nur so erfasst man auch den Wald.

Natur war für Eichendorff und andere Romantiker nicht nur Umwelt draußen, sondern eben ein sakraler Raum, wo man den Kontakt und die Verbundenheit mit dem Göttlichen suchte und erfahren wollte. Sein bzw. ihr romantisches Verhältnis zum Wald war von Verehrung geprägt. (Vgl. dazu mein Buch Naturverehrung, in welchem ich Gedichte interpretiert habe.)

*

Was ist das eigentlich, das Heilige des Waldes? Das Magische?

Man könnte sagen, dass man es selbst spüren und erfahren muss. Das ist sicher richtig, aber es ist natürlich keine genaue Erklärung. Wir möchten als Menschen immer Erklärungen haben, selbst dann, wenn wir wissen, dass man es eigentlich gar nicht erklären kann.

Heilig ist etwas, wenn es in uns, in unserem Herzen, in unserem Geist und in unserer Seele höhere Vorstellungen erweckt. Wir können einfache Adjektive wie wunderbar, großartig, herrlich, zauberhaft, magisch und schön verwenden. Etwas berührt uns tief im Inneren. Vielleicht denken wir an einen Gott, eine Göttin oder allgemein an das Göttliche, aber das müssen wir nicht, denn Gemüt und Seele sind wichtiger und tiefer als unsere Gedanken.

Es ist größer und gewaltiger als wir selbst es sind. Wir hingegen sind klein, wir wollen nur ein Teil von dem Größeren und Universellem sein. Mehr nicht. Wir wollen nicht beherrschen, wir wollen nichts besitzen. Es genügt, dass wir da sind. Im Wald. Es reicht uns völlig in einem großen, schönen und alten Wald zu sein!

Wir nennen es „heilig“, wenn wir es verehren können und wollen, weil es so wunderschön und großartig ist. Wir müssen uns das nicht vornehmen, es ergibt sich von selbst, wenn wir ein offenes Herz haben.

Man hat nach meinen Erfahrungen eine gewisse Scheu, wenn man sich dem Heiligen nähert. Automatisch ist man vorsichtig, behutsam und bittet die Naturgeister um Erlaubnis, den Ort betreten zu dürfen.

Von Magie würde ich sprechen wollen, wenn wir besondere Urkräfte der schöpferischen Erde spüren, die sich in einem besonderen Baum oder Waldstück ausdrücken. Die Magie will sich nicht von der Erde entfernen, wie man es oft beim Heiligen finden kann, sondern sie will sich der Erde tiefer und intensiver annähern, sich ihr widmen und sogar hingeben.

Wie alles, so sind auch das Magische und das Heilige der Vergänglichkeit unterworfen. Im endlosen schöpferischen Prozess der Natur kann es immer wieder neu und anders entstehen.

2. Mein Traum vom Wald

Bevor ich vom Meer und von den Bergen wusste, habe ich vom Wald geträumt. Bereits als kleines Kind, also mit drei, vier Jahren, war ich gerne im Wald. Bereits als kleines Kind hätte ich gerne im Wald gewohnt. In einem Forsthaus! Unser Wohnhaus, in dem meine Eltern und ich eine Wohnung im ersten Stockwerk (mehr gab es nicht) hatten, war für mich nicht sonderlich interessant. Auch nicht der Sandkasten oder der Garten, an den ich mich nicht erinnern kann. Vermutlich bot er nichts. An andere Gärten kann ich mich nämlich sehr wohl erinnern.

Aber der Wald war aufregend! Dort gab es große, mächtige Baumwesen. Dort gab es eine Welt voller Geheimnisse. Aber ich wollte sie nicht lösen, eher wollte ich sie erleben, in sie eintauchen und in ihnen verschwinden. Das war eine kindliche Form von Mystik. Ein Kind hat dafür keinen Namen, keine klugen Begriffe. Später hat man dann vielleicht Begriffe, aber kein Erlebnis mehr, jedenfalls keines, das die Seele ganz und gar erfüllt. Dafür wurde man zu oft verletzt und verwundet, gehasst und abgewiesen. Jeder kennt das.

Am Ende ist das „innere Kind“ tot. Oder es hat sich nur zurückgezogen und versteckt. Wenn es tot ist, dann ist man vielleicht schon eine tote Seele. Wenn das „innere Kind“ noch da sein sollte, dann ist nicht alles verloren. Man kann in den Wald gehen und es rufen und suchen.

Psychologen haben viele Bücher über das „innere Kind“ geschrieben. Man schreibt oft Bücher über das Verlorene. Der Wald der Kindheit ist ein verlorenes Paradies. Aber es ist nicht für immer verloren. Es gibt noch Wälder, es gibt auch noch wilde und geheimnisvolle Wälder, zumindest Waldregionen.

Der Traum vom Wald ist nicht etwa irreal, sondern er bezieht sich auf konkrete Wälder. Man muss nicht auf kluge Leute hören, die immer gerne alles als „irreal“ abtun, weil sie in einer toten Welt von Aufgaben, Akten, Strukturen, Organisationen etc. leben. Sollen sie doch, wenn sie nichts Besseres kennen und haben.

Der Wald ist eine lebendige Zauberwelt. Ein sensibles Kind merkt das sofort und fühlt deshalb dort zuhause. Es kennt keine Angst. Weder vor Schlangen noch vor Wölfen, schon gar nicht vor Räubern. Unbewusst erinnert es sich an Jahrtausende, als es im Wald lebte und nur den Wald kannte. Wenn es zum allerersten Mal im Wald ist, dann wird etwas im Bewusstsein angeschaltet – und bei manchen wird es niemals wieder ausgeschaltet. Keine Prügel, keine Diffamierung, kein kluges Gerede und kein Zynismus können das bewirken.

„Ich bin ein Teil des Waldes“, hat Wolf-Dieter Storl eines seiner Bücher betitelt. Das kann ich auch sagen. Man sagt dann als Kind nicht „Ich bin Hans“ oder „Ich bin Dieter“, nein, man sagt „Ich bin ein Teil des Waldes“. Man muss das natürlich nicht laut sagen. Die Eltern nennen einen beim Namen, den sie für gut gehalten haben, aber man selbst weiß, dass man ein ganz anderer ist. Man kommt aus dem Wald, und dahin will man zurück.

Ein Psychologe würde jetzt vielleicht von einem „Identitätsproblem“ sprechen. Wer aus dem Wald kommt, hat eine andere Identität, die man nicht mit den menschlich-sozialen Kategorien erfassen kann, weil der Wald eine andere Dimension ist. Wer eine Waldseele hat, kann nicht Hans oder Dieter heißen, wobei die beiden Vornamen nur zwei von vielen dummen Vornamen sind.

Der Traum vom Wald ist ein Traum vom grünen Paradies. Die Tatsache, dass sich das politisch nicht durchsetzen lässt und von den Geldmenschen grundsätzlich abgelehnt wird, weil sie nur an ihre Profite denken können und wollen, spricht nicht gegen den Traum. Ein Traum ist eine andere Form des Lebens. Man darf es nicht als irreales Konzept eines Phantasten abtun, weil es ja sehr wohl Realität sein kann, werden kann. Der Traum vom Wald ist eine andere Lebensphilosophie, nach der man den Wald vor allem in Ruhe lässt. Man lässt die Bäume und Pflanzen einfach wachsen. Da muss man gar nichts tun.

Die Liebe zu der Schönheit des Waldes ist der richtige Geist, von dem man erfüllt sein muss.

Wenn man ihn hat, dann ist es gut. Wenn man ihn nicht hat, dann gibt es pädagogische Programme. Joseph Cornell ist ein amerikanischer Erlebnispädagoge, mit dem ich mich schon vor vielen Jahren befasst habe. Soweit es möglich war, habe ich einiges in der Schule angewendet. Aber wenn Schüler nur gelangweilt sind, wenn sie sich etwas länger einem Baum widmen sollen, dann ist es eben aussichtslos. Die moderne Welt der Medien verbreitet „Geister“, die mit den Geistern des Waldes nichts zu tun haben. Die Stille des Waldes, die Langsamkeit, die Bescheidenheit, die vielen kleinen Dinge, das ist etwas anderes als die große action, zu der die Menschen permanent angestachelt werden. Dann besuchen sie höchstens den Kletter-Erlebnisgarten oder einen Baumwipfelpfad. Das ist dann wenigstens spektakulär.

Der Traum des Waldes geht in eine andere Richtung. Er geht in die Stille, in die Meditation, in die Suche nach einer Verbundenheit auf der Herzebene. Die liebende Verbundenheit mit den Pflanzen und Tieren ist eine andere Lebensform. Ein Mensch, der das lebt und erfährt, lebt in einer anderen Welt als der Großstadtmensch, der mit seinem Smartphone kommuniziert. Der Mensch des Waldes ist ein Naturmensch, ein Naturwesen.

Menschen der Erde und Menschen der Stadt – ich würde heute sagen, dass wir nichts miteinander zu tun haben. Wir leben in komplett verschiedenen Welten.

Als Menschen wissen wir ja, dass die Hirsche oder die Wildschweine ihre eigene, andere Welt haben, in der sie leben. Das haben wir zu respektieren und ihre Welt schlichtweg in Ruhe zu lassen. Wir sind keine Hirsche und wir werden nie Hirsche sein. Die Differenz ist zu groß. Die Differenz zwischen Naturmenschen und Stadtmenschen ist mittlerweile auch so groß. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Das mag sich radikal oder resignativ anhören, aber es bleibt eine Tatsache, dass Mentalitäten und Lebensformen so weit auseinander driften können, dass man den Unterschied nicht mehr überbrücken kann. Ich denke, dass seit einigen Jahren der Unterschied so groß geworden ist, dass es keine Verbindung mehr gibt. Sicher, man könnte Verbindungen reaktivieren, noch ist das möglich. Aber von den meisten Stadtmenschen wird das gar nicht gewünscht. Die Naturmenschen bleiben lieber in ihrer natürlichen Welt und möchten nicht, dass ihre Welt in irgendeiner Weise gestört oder sogar zerstört wird, sei es durch Abholzung, Lärm oder Baumaßnamen aller Art.

Es gibt auch andere Unterschiede, die zu groß geworden sind. Beispielsweise der Unterschied zwischen Kopf- und Herzmenschen, oder der zwischen religiösen und atheistischen Menschen. So traurig es sein mag, es gibt dann leider keinen gemeinsamen Nenner mehr. Das Band ist zerrissen. Das sind einfach evolutionäre Tendenzen und Entwicklungen innerhalb einer Gattung. Die Wege trennen sich. Die einen bleiben zurück im Wald, die anderen wollen zum Mars fliegen.

In meiner Jugend habe ich Bücher von Erich Kloss gelesen. Seine Bücher werden heutzutage wohl nicht mehr gelesen. Der Traum vom Wald war damals kein Traum von einer nur harmonischen und idyllischen Waldnatur. Es ging auch um Jagd und Töten. Das wurde als eine Seite des Lebens akzeptiert. Die Förster waren sowohl Heger als auch Jäger. Es gab genug Hasen, Füchse, Fasane, Sauen, so dass man davon einige für den eigenen Bedarf schießen konnte.

Erich Kloss beschreibt in seinen Werken diese beiden Seiten. Ich weiß nicht mehr, wie ich das als Jugendlicher empfunden habe. War es normal, gehörte es zum Leben für mich? Wenn ich es heute lese, dann gefällt es mir weniger. Aber wir können das Töten nicht ausgrenzen, wir können es nur gestalten. Das sagt mir der Verstand. Ein schneller, tötender Schuss ist vielleicht ehrlicher zu nennen als das maschinelle Töten von Millionen von Tieren, die in Massenställen ohne irgendeine Freiheit produziert werden. Die Massentierhaltung ist gegenwärtig weltweit Realität. Eine sentimentale Kompensation ist da die Vorstellung von einer absolut schönen und harmonischen Waldnatur. Ein verständlicher Traum, aber leider einseitig, weil der Wald niemals eine reine Idylle sein wird.

Die neuen Wölfe und Luchse in Deutschlands Wäldern müssen jagen, um zu leben. Das heißt im Klartext, dass sie andere Lebewesen töten müssen. Wenn der Mensch eingreift, kann er auf der einen Seite Lebewesen hegen und pflegen, andererseits kann er sie töten und am Ende ergibt sich ein Gleichgewicht.

„Nicht nur die Eulen und Falken erfreuen sich seines Schutzes (gemeint ist Horst, der werdende Förster im Buch), nicht nur die seltenen Schwarzstörche, die Waldpolizei der Spechte und die trompetenden Kraniche im Moor. Er ist wie Förster Krone auch ein Freund der Verfemten und Verfolgten, sogar der Sperber und Habichte, wenn sie es nicht gar zu arg treiben.

Wo kämen wir hin, denkt, er, wenn wir nur leben ließen, was uns nützt? Der Wald würde veröden an edlem Getier, und Eichelhäher und Krähen, Ratten und Mäuse, Elstern und Eichhörnchen würden noch mehr als bisher zur Plage werden. Mutter Natur wusste schon, was sie tat, als sie Habichte und Sperber schuf, die dreisten Strauchritter, die ungestüm und überraschend auftauchen und packen, was sie bezwingen können.“ (Im Tiefen Forst, S.177)

Heute würden wir von Ökologie sprechen. Man muss den ganzen Kreislauf sehen. Theoretisch leuchtet es jedem ein, aber so richtig ist dieses Denken noch längst nicht bei den Menschen angekommen, denn in Hinblick auf seine Ansprüche und Bedürfnisse will der Mensch nicht ökologisch denken und handeln. Noch meint er, eine Ausnahme zu sein, ein absoluter Beherrscher der Natur.

Früher war ein Förster vielleicht um Ausgleich bemüht, Hegen und Jagen im Gleichgewicht zu halten. Man sah dann die beiden Seiten des Waldes. Die schönen Dinge und Erlebnisse – und auf der anderen Seite die Jagd und das Töten. Erich Kloss beschreibt als naturalistischer Jungendbuchautor diese beiden Seiten der Wirklichkeit.

Wie gesagt, ich weiß nicht mehr, wie ich das als Jugendlicher empfunden habe. Ich wäre gern im Wald aufgewachsen. Aber meine Eltern lebten damals in einer Stadt am Meer, und in den Wald gingen wir für meinen Geschmack viel zu selten. „Da sind die Wege jetzt zu matschig“, so eine Ausrede meines Vaters. In meiner Verwandtschaft gab es auch keinen Förster, bei dem ich hätte lernen können. Konkretes Lernen anhand von Erlebnissen und Erfahrungen war bereits damals, um 1964, defizitär. Meine Eltern und meine Lehrer hielten theoretisches Lernen für wichtiger und sinnvoller. Heutzutage scheint man das Konkrete, so mein Eindruck, ganz aus dem Blick verloren zu haben. So verliert man sich in virtuellen und digitalisierten Welten.

Ich würde es als niemals wirklich auszugleichendes Defizit betrachten, wenn man in seiner Jugend nicht konkrete Erfahrungswelten kennengelernt hat, sei es nun der Wald oder der Bauernhof, eine Werkstatt oder ein Nutzgarten.

Bei meiner Mutter ist es mir eigentlich immer noch ein Rätsel, dass sie den Bauernhof und das Forsthaus gehasst hat. Sie hatte beides kennengelernt, nicht nur im damals so genannten „Pflichtjahr“. Warum war es für sie nur nervende Arbeit gewesen? Und mein Vater, der in Berlin, der NS-Hauptstadt, aufgewachsen war, hatte das konkrete Leben nicht vermisst und nicht gesucht, obgleich er die ersten Jahre nach dem Krieg auf dem Land gelebt hatte. Manche Menschen wollen wohl in Distanz zur Natur leben. Mal ein wenig am Sonntag im Wald spazieren gehen, wenn die Sonne scheint, aber mehr auch nicht.

Meine Eltern hätten mich auch für die Sommerferien zu einem Förster schicken können. Warum haben sie es nicht getan? Sie dachten wohl, das bisschen Heimatkunde und Biologie in der Schule würde schon ausreichen.

Wenn man nicht die ganze Realität in seiner Jugend erlebt, dann entwickelt man Träume, die falsch sein können. Der Traum vom Wald als reiner Idylle mag ein falscher Traum sein. Die heutige Jugend hat vielleicht nur noch virtuelle Träume. Sie träumt nicht vom Wald oder der fernen Wildnis in Arizona oder Alaska.

Man kann einen romantischen Traum vom Wald träumen. Dann ist der Wald nur ein schöner Ort, an dem es nichts Böses gibt. Oder man träumt davon, das Leben in seiner ganzen Bandbreite zu erfahren. Beide Seiten des Lebens kennenzulernen, die friedliche und die destruktive. Erich Kloss beschreibt im Zusammenhang mit dem Habicht mehrere Szenen, in denen zunächst Vögel friedlich und nichtsahnend ihr Leben führten. Plötzlich erschien dann der Habicht, um sie zu jagen und zu töten.

„Die Tauben ahnen nichts Böses. Sie geben sich ganz der Körnersuche hin und wissen nicht, was ihnen die Zukunft bringen wird. …. (S.189)

Der Habicht! Er strafft sich und wird zum Pfeil aus schimmernder Bronze. Blitzschnell saust er heran.So jagt der Tod.