Das Monopol im 21. Jahrhundert - Hans-Jürgen Jakobs - E-Book
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Das Monopol im 21. Jahrhundert E-Book

Hans-Jürgen Jakobs

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Beschreibung

Gazprom, Google und der Fluch der Abhängigkeit: Warum Monopole so gefährlich sind
Nach dem Bestseller "Wem gehört die Welt", die neue packende Recherche des renommierten Wirtschaftsjournalisten


Gazprom, Google, Blackrock, USA, China und Russland: Konzerne und Staaten mit übergroßer Marktmacht greifen tief in unser Leben ein. Der Monopolismus mit seiner Herrschaft über Rohstoffe und Kapital, Energie, Nahrungsmittel und Daten droht den Wettbewerb abzuschaffen. Die Folgen sind weniger Innovation, höhere Preise, aber vor allem wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten. Unser Wohlstand, ja sogar unsere Freiheit sind in Gefahr, wie unsere Abhängigkeit vom russischem Gas aufs Dramatischste belegt. In seinem brandaktuellen, glänzend recherchierten und anschaulich illustrierten Buch beschreibt Hans-Jürgen Jakobs diesen gefährlichen Megatrend: Er analysiert die Ursachen, durchleuchtet die Zukunftsmärkte mit ihren Akteuren und gibt einen Ausblick, worauf wir uns wirtschaftlich und politisch einzustellen haben.

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Buch

Gazprom, Google und Blackrock, USA, China und Russland: Konzerne und Staaten mit übergroßer Marktmacht greifen tief in unser Leben ein. Der Monopolismus mit seiner Herrschaft über Rohstoffe und Kapital, Energie, Nahrungsmittel und Daten droht den Wettbewerb abzuschaffen. Die Folgen sind weniger Innovation, höhere Preise, vor allem aber wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten. Unser Wohlstand und sogar unsere Freiheit sind in Gefahr, wie unsere fatale Abhängigkeit vom russischem Gas aufs Dramatischste belegt. In seinem brandaktuellen, glänzend recherchierten Buch beschreibt Hans-Jürgen Jakobs diesen gefährlichen Megatrend: Er analysiert die Ursachen, durchleuchtet die Zukunftsmärkte mit ihren Akteuren und gibt einen Ausblick, worauf wir uns wirtschaftlich und politisch einzustellen haben.

Autor

Hans-Jürgen Jakobs, geboren 1956, ist Volkswirt und einer der renommierten Wirtschaftsjournalisten des Landes. Er arbeitete u. a. für den »Spiegel« und war Chef der Online-Ausgabe und der Wirtschaftsredaktion der »Süddeutschen Zeitung«. Seit 2013 ist er in verschiedenen Funktionen für die Verlagsgruppe Handelsblatt tätig, bis 2015 war er Chefredakteur, seit 2016 ist er Senior Editor des »Handelsblatts«. Seit 2018 ist er zudem Herausgeber des »Handelsblatt Morning Briefing«. 2016 erschien sein Bestseller »Wem gehört die Welt?«

Hans-Jürgen Jakobs

Das Monopol im 21. Jahrhundert

Wie private Unternehmen und staatliche Konzerne unseren Wohlstand zerstören

Deutsche Verlags-Anstalt

Zur besseren Lesbarkeit und um unnötige Längen zu vermeiden, wird in diesem Buch mitunter auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Stattdessen wird das generische Maskulinum verwendet, womit alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagmotiv: Pensiri/Shutterstock.com Infografiken: illuteam, Hamburg Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-28836-5V001www.dva.de

Für Leo

Motto

Die Großen fressen die Kleinen auf

William Shakespeare

Wettbewerb ist Nächstenliebe

Martin Walser

Wir müssen uns entscheiden. Wir können Demokratie haben oder aber Reichtum, konzentriert in den Händen einiger weniger – beides können wir nicht haben.

Louis Brandeis

Einleitung

Groß ist nicht groß genug – der Griff nach der absoluten Marktmacht

»Monopol« und »Monopolismus« sind hässliche Wörter. So hässlich, dass niemand in »Every«, jenem amerikanischen Digitalkonzern, den der amerikanische Autor Dave Eggers für seinen gleichnamigen Roman erfunden hat, solche Begriffe überhaupt jemals aussprechen darf. Sie sind tabu. In diesem Social-Fantasy-Roman ist allerdings für die meisten die Frage einer Monopolstellung von »Every« völlig irrelevant, solange der Monopolist den Menschen das bietet, was sie wollen: ein gutes und moralisch einwandfreies Leben. »Every«, dieses Monopol, das nicht so heißen darf, ist angelehnt an die tatsächlich existierenden Giganten der digitalen Neuzeit. Wir alle kennen sie gut und nutzen ihre Produkte täglich. Eggers’ Schöpfung ist eine Art Mischung aus Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft – jenen »Big Five«, die wir kurzerhand »Gafam« nennen.

»Monopol«: Das bedeutungsschwere Wort aus dem Altgriechischen, zusammengesetzt aus »monos« (allein) und »polein« (verkaufen), geht angeblich auf Aristoteles zurück. Im ersten deutschsprachigen Lexikon Mitte des 18. Jahrhunderts wird »Monopol« als »alleinige Verkauffungsfreyheit« definiert. Als Chance einer Person, eine Ware ganz allein verkaufen zu können. Daraus wird dann geschlossen: »Und heissen so denn diejenigen, welche dergleichen Freyheiten haben, Monopolisten.« Für den liberalen Wirtschaftstheoretiker und Eisenbahnpionier Friedrich List allerdings war »Monopol« schon im 19. Jahrhundert ein »verrufenes und gebrandmarktes Wort«.

In diesem Buch wird der Begriff »Monopol« nicht strikt als Synonym für »Alleinanbieter« verwendet, so etwas kommt sehr selten vor, sondern für Unternehmen, die sich extrem hoher Marktanteile erfreuen und somit eine bestimmende Wirkung haben. Davon ist auszugehen, wenn ein Konzern rund 40 Prozent eines Marktes beherrscht oder drei Konzerne auf 60 Prozent kommen.

Mit dermaßen »alleiniger Verkauffungsfreyheit« ausgestattet, sehen sich die Chefs der »Big Five« selbstredend nicht. Sie sehen sich vielmehr an der Spitze von erfolgreichen Firmen, die, umringt von konkurrierenden Diensten, klassische Unternehmertugenden verwirklichen und dabei die Welt demokratischer und besser machen. In Eggers’ Roman – Utopie oder Dystopie? – wird daher auch lieber verniedlichend von »menschenfreundlicher Marktbeherrschung« geredet. Aber hat nicht der »Newspeak«, der »Neusprech«, schon bei George Orwell in »1984« den Übergang in totalitäre Zeiten markiert?

Bis vor wenigen Jahren hielten wir Monopole mehr oder weniger für eine Erscheinung aus der längst überwundenen frühkapitalistischen Sodom-und-Gomorrha-Welt des 19. Jahrhunderts, als noch alles erlaubt war, als die Räuber der sich entwickelnden Märkte – sei es für Kohle, Stahl, Eisenbahnen, Maschinen – immer räuberischer wurden, sodass man sie in den USA wahlweise »Räuberbarone« oder auch »Raubritter« nannte, so wie einst die adligen Plünderer in ihren Burgen am Mittelrhein, die von den Schiffern Zoll abpressten. Es waren vier Investoren, die in den Vereinigten Staaten am Anfang über die erste transkontinentale Zugstrecke verfügten und mit den formal selbständigen Firmen Central Pacific und Southern Pacific auch die wichtigsten Eisenbahngesellschaften kontrollierten, ehe die beiden dann offiziell fusionierten.

Aber im Laufe der Zeit schien es sich, dank der sozialen Bewegungen und der Kartellpolitik, nur noch um Gruselmärchen aus der Entstehungszeit eines dynamisch-exzessiven Wirtschaftssystems zu handeln, das uns – systemisch gezähmt – vor allem in den Jahrzehnten nach 1945 Wohlstand und Wohlfahrt, Güterreichtum und Gesundheit, Luxus und Lebensqualität gebracht hat. Das Mittelstand geschaffen hat und eine Mittelschicht, die heute das Ideal der »emerging markets« sind, der wirtschaftlich aufstrebenden Länder.

Viele der Monopole, mit denen unsere Vorfahren zu tun hatten, haben wir in Deutschland tatsächlich der Reihe nach abgeschafft: das Postmonopol, das Branntweinmonopol, das Zündwarenmonopol, das Feuerversicherungsmonopol, das Kehrmonopol bestimmter Schornsteinfeger, das Glücksspielmonopol. Auf regionaler Ebene sind unter öffentlicher Regie noch Monopole zur Trinkwasserversorgung und zur Abwasserentsorgung anzutreffen. Und das Gewaltmonopol des Staates zur Durchsetzung des Rechts besteht verständlicherweise fort.

Ist es da nicht leicht einzusehen, dass man sich bei der deutschen Monopolkommission, einem seit 1973 existierenden ständigen Beratergremium der Bundesregierung, vorsichtig gefragt hat, ob man den Namen nicht vielleicht ändern sollte. So etwas wie »Wettbewerbskommission« läge nahe, oder vielleicht »Vielfaltskommission«, irgendein schöner Begriff, der auch zu »Every« in Dave Eggers’ Roman gut passen würde.

Alles, bloß nicht »Monopol«, dieses hässliche, verrufene Wort! Es lässt uns schaudern und gruseln. Genauso wie die Bezeichnung »Quasimonopol«, die für große Oligopole üblich geworden ist – so nennt man die wenigen Anbieter, die mit hohen Marktanteilen ein Geschäft beherrschen. Gerade solche Quasimonopole neigen zur Bildung von Kartellen, in denen Preise, Produktionsmengen, technische Standards oder Marketingmethoden abgesprochen werden.

Das Wort »Monopol« deutet auf ungebührliche Alleinherrschaft, auf wirtschaftliche Übermacht. Auf Raffkes im Konzerntower. Auf Diktatoren der Märkte, die wir einst doch bei den »vielen« in guten Händen sahen: den vielen Unternehmern, den vielen Produzenten, den vielen Händlern, den vielen Geldverleihern, den vielen Investoren. Vielfalt erschien uns als Garant des Wettbewerbs, jenes Motors der Marktwirtschaft, der uns in Deutschland nach 1945 unaufhörlich als vorbildlich gepriesen wurde. Wettbewerb, das war Lektion eins der »Reeducation«: Freie Unternehmer treffen auf freie Konsumenten, ein freies Angebot auf eine freie Nachfrage, und das alles bei flexiblen, also wahrhaft freien Preisen. Das ist das Erbe Ludwig Erhards.

Auf einmal aber stellen wir fest, dass dieses System, das wir als »Marktwirtschaft« würdigen, dabei ist, sein zentrales Mittel, den Wettbewerb, auf der Sonderdeponie eines neuen Kapitalfeudalismus zu entsorgen. Der alte Motor läuft nicht mehr. Wie weit ist es gekommen, dass selbst ein US-Präsident, der sich als »stolzer Kapitalist« bezeichnet, öffentlich erklären muss: »Kapitalismus ohne Wettbewerb ist kein Kapitalismus, sondern Ausbeutung.« Joe Bidens Diktum aus dem Sommer 2021 ist die Notreaktion auf all die Ansagen, die wir seit einigen Jahren aus dem Silicon Valley und aus Seattle, den Verkündungsorten einer neuen digitalen Wirtschaftsreligion an der US-Westküste, gehört haben. Die Bündelung dieser Botschaften von gerade mal fünf Konzernen kann man getrost als die große Wirtschaftsideologie des 21. Jahrhunderts bezeichnen, als das neue Narrativ der Erfolgreichen: Dieser neue Ismus heißt nicht mehr Sozialismus oder Kapitalismus, sondern Monopolismus. Sein Motto: Wettbewerb ist etwas für »Verlierer«, für Ewiggestrige, für die Kleingeister der Vor-Fortschrittswelt, für die Verzagten aus der Vergangenheit. Und die war geprägt vom Analogen und vom Glauben an Pluralismus und lebendige Konkurrenz.

Entsprechend nennen sich die lautesten Propagandisten des Digital- und Plattformkapitalismus bezeichnenderweise »Evangelisten«. Das Logo des Apple-Konzerns, der angebissene grüne Apfel, ist für den Münchner Kardinal Reinhard Marx ein »sehr gezielt ausgesuchtes Symbol«: ein Hinweis auf das Paradies, auf die verbotene Frucht, von der Adam und Eva aßen – jene Frucht, die vom Baum der Erkenntnis stammt. Und Apple ist just jene Aktiengesellschaft, die am 3. Januar 2022 erstmals in der Geschichte der Konzerne mehr als drei Billionen US-Dollar wert war. Das war deutlich mehr als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Frankreichs oder des Vereinigten Königreichs und entspricht der Wirtschaftsleistung des gesamten afrikanischen Kontinents. Die neuen Monopolisten, wahre »Superstarfirmen«, haben nicht nur die Größe, sondern auch das Selbstverständnis von Staaten. Ihre gigantischen Börsenwerte ließen sie in Billionen-Dollar-Sphären schweben, weit herausgehoben über irdischere Unternehmen. Ihre Prosperität ist Folge von weit gefassten »Ökosystemen«, die nichts anderes sind als »Märkte in sich und für sich«. Das ist der neue Stil.

Dieses inständige Streben nach einem Monopol, dieser Griff nach der absoluten Marktmacht, durchaus verbunden mit politischer Macht, umweht ein besonderer Glaube, dessen knappes Mantra sich so resümieren lässt: »the bigger the better«, je größer, desto besser. Dieses Mantra hatte schon vor dem Aufstieg von Google & Co viele Gütermärkte erfasst. Es ist die Ideologie von einer ökonomischen Dominanz, die angeblich im Dienst der Allgemeinheit, ja der Menschheit, steht und nicht nur im Dienst irgendwelcher Milliardäre oder der Schar einiger Großaktionäre und kleinerer Follower, die so auch etwas abhaben wollen vom Run auf die Märkte.

Und so kommt es, dass ein Gespenst nicht nur in den USA umgeht, sondern auch in Europa und überall auf der Welt: das Gespenst des Monopolismus. Karl Marx und Friedrich Engels haben bekanntlich 1848 das »Gespenst des Kommunismus« als neue Kraft benannt, die den Regierungen und Mächten dieser Welt zusetzen würde, eine Bewegung von unten, die mit der Losung »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« angefeuert wurde. Die beiden Theoretiker sahen eine immer weiter fallende Profitrate und eine unaufhörlich steigendende Unternehmenskonzentration voraus. Was Lenin einige Jahrzehnte später dazu brachte, den Wandel von der Konkurrenz zum Monopol als »Imperialismus« zu etikettieren. Zum typischen Herrscher der Welt werde »nunmehr das Finanzkapital, das besonders beweglich und elastisch, national wie international besonders losgelöst ist, das sich besonders leicht konzentriert und bereits besonders stark konzentriert hat«. Buchstäblich einige hundert Milliardäre und Millionäre würden die Geschicke der ganzen Welt in ihren Händen halten.

Dieses alt-neue Gespenst des Monopolismus ist heute eine Bewegung von oben, die schiere »Größe« als Bestimmungsgrund entdeckt hat und so lange beständig nach »Skalierung« ruft, bis man am Ende dem Monopol möglichst nahegekommen ist: Groß ist nicht groß genug. »Skalierung« meint hier: Immer mehr Umsatz, um fixe Kosten besser zu stemmen, und das Ganze ohne zusätzliche Investitionen. Zur Not nimmt man auch ein Oligopol. Hauptsache Macht. Hauptsache, es lassen sich auf Dauer höhere Preise oktroyieren. Hauptsache, es lassen sich Absatz und Gewinn und Steigerungsraten genau planen. Hauptsache, man bleibt unter sich wie in einem »Club«, einem »Club« neuer Räuberbarone, die an die Stelle des Wettbewerbs den Planprofit gesetzt haben und die sich im Übrigen mit besonderer Vorliebe als Philanthropen inszenieren.

Diesen »Monopolismus« gibt es inzwischen weltweit in zwei Varianten. Im Westen hat er sich durch das Wirken von Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft metastasenartig ausgebreitet. Digitalisierung ist für sie Monopolisierung, in der Öffentlichkeit als angebliches Grundgesetz der Plattformökonomie verkauft. Und wer will nicht »digital« sein, weil so die Zukunft aussieht? Also verstärkte der Drang nach Größe aus dem Silicon Valley entscheidend die vorher in der kapitalistischen Wirtschaft des Westens zu beobachtende Marktkonzentration. Dieser Digital-Monopolismus erfasste erst Nachbarmärkte der Stammgeschäfte von »Gafam« und wird – wenn Politik und Wettbewerbsbehörden nicht einschreiten – alle Märkte erfassen, denn sie alle werden digitalisiert. Google & Co stehen wahlweise als Aufkäufer, Joint-Venture-Partner, Mitgesellschafter oder Lizenzgeber zur Verfügung. Das ist die westliche, private Variante des Monopolismus. Sie ist oft genug von Staaten durch Grundlagenforschung und Aufträge gefördert worden, vor allem durch das Militär.

Die östliche Variante des Monopolismus ist staatlich beziehungsweise verstaatlicht. So wie die USA die Heimat des Monopolismus im Westen sind, so steht China mit seinem Staatskapitalismus für die zweite Spielart des Monopolismus. Dort sind nach einer Reihe von Fusionen – unterstützt von der alles dominierenden Kommunistischen Partei – öffentliche Riesenunternehmen mit gigantischer Belegschaft entstanden, die auf die Weltmärkte drängen, die »State-owned Enterprises« (SOE).

Nach einer großen Reformwelle, 1978 vom legendären Parteiführer Deng Xiaoping initiiert, hatten es auch Privatunternehmen im chinesischen System zu Umsatz und Börsenbedeutung gebracht, allen voran die Digitalunternehmen Baidu, Alibaba und Tencent, »BAT« genannt. Inzwischen ist das chinesische Pendant zu »Gafam« jedoch vollends auf Parteilinie gebracht. Während sich im Westen ein Monopolist wie Amazon-Gründer Jeff Bezos mit Muskeloberkörper, bunter Badehose und Freundin stolz den Fotografen im Weihnachtsurlaub zeigte, war sein in Peking in Ungnade gefallener chinesischer Rivale Jack Ma kaum mehr in der Öffentlichkeit anzutreffen. Wochenlang wusste niemand, wo der Gründer von Alibaba überhaupt steckte. Dieser Staatsmonopolkapitalismus wird perfektioniert durch einen exklusiven Zugriff auf Roh- und Basisstoffe wie Seltene Erden oder Magnesium, zu deren Sicherung sich das chinesische System zudem etliche afrikanische und asiatische Länder über wirtschaftliche Knebelverträge und strategische Allianzen gewogen gemacht hat. Es ist eine höchst unbequeme Wahrheit: China herrscht über Vorprodukte für viele Industriegüter, auf die wir angewiesen sind. Das übertrifft die Bedeutung von Russland auf diesem Gebiet um Längen – die Monopolmacht des imperialistischen Staatsführers Wladimir Putin, die auf Gas und Öl gründet und die gesamte Bundesrepublik 2022 herausforderte.

Die Konfrontation des privaten, westlichen Monopolismus mit dem staatlichen, östlichen Monopolismus erklärt, warum die alten Idealmodelle vom Freihandel à la David Ricardo nicht mehr wie in der Blütezeit der Globalisierung in den 1990er-Jahren und in den 2000er-Jahren wertschöpfend funktionieren. Monopolismus droht zum Flächenbrand zu werden. Politische Motive überlagerten wirtschaftliche.

Jahr für Jahr haben wir erlebt, wie Rekorde bei Fusionen & Übernahmen (»Mergers & Acquisitions«) purzelten. Befeuert von irrsinnigen Mengen an Kapital, das in Zeiten von Null- oder Minuszinsen nun mal wenig bis nichts gekostet hat, lief und läuft die Operation »Amazonisierung« und die Operation »Marktkonzentration«: Immer weniger Unternehmen beherrschen immer mehr Märkte. Fusionsfieber und Übernahmerausch haben viele Akteure erfasst. Egal, ob bei Gütern oder bei Finanzen: Es sind oft ganz wenige Akteure, die das Geschäft beherrschen und die »Pricing Power« haben, die Möglichkeit, höhere Preise durchzusetzen. Und weil immer wieder neu Größe gegen Größe gesetzt wird, multipliziert sich die unerbittliche Logik des Monopolismus, angetrieben von den großen Finanzinvestoren.

Deren weltweiter Anführer Blackrock aus New York verwaltete 2021 ein kaum vorstellbares Vermögen von rund zehn Billionen Dollar, das von Larry Fink und seinen Leuten vornehmlich in Firmen investiert wird. So ist Blackrock bei vielen namhaften Konzernen weitaus größter Aktionär. Zum Vergleich: Das BIP der 27 EU-Staaten betrug 2020 rund 13,3 Billionen Euro. Weit entfernt ist Blackrock davon nicht mehr. Noch mehr Konzentration bedeutet aus Sicht von großen Investoren vor allem eines: noch mehr Anlagesicherheit. Das unterstützt Konzentrationsprozesse. »Fressen oder gefressen werden«, ist das Motto. Oder, wenn man es im gängigen binären Code ausdrücken will: null oder eins. Zero or one. Alles oder nichts.

Die Corona-Pandemie hat die Starken weiter gestärkt und die Schwachen geschwächt. Sie hat vor allem in der Unternehmenswelt einen großen Beschleuniger angeworfen, den Turbo der Veränderung. Wer jetzt keine digitale Kompetenz hat, findet keinen Partner mehr. Wer sich jetzt nicht Daten sichert, bleibt zurück. Und wem jetzt die Stoffe oder die Energie fehlen, aus denen die Träume der Zukunft sind, bleibt nicht »souverän«. Der neue Monopolismus lebt davon, Abhängigkeiten zu schaffen. Seine Gewinnmargen zeigen Abhängigkeitsgrade an. Wer über Daten, Kapital und Rohstoffe herrscht, herrscht über die Welt. Alle drei Basiskategorien sind weitgehend monopolisiert und zum hohen Grad auch politisiert. Das ist die Crux des derzeitigen Wirtschaftssystems.

Das fortwährende Schaffen neuer Monopole im 21. Jahrhundert und die Verklärung von »Big is better« durch die größten Profiteure ist meines Erachtens der gefährlichste Megatrend, der derzeit überall zu beobachten ist. Der Monopolismus ist eine globale Gefahr, so etwas wie die Schweinegrippe der Weltwirtschaft.

Wenn wir das oft bemühte Bild von der elektronisch zusammengewachsenen Welt des »global village« bemühen, das der Medientheoretiker Marshall McLuhan 1962 entworfen hat, dann wird dieses globale Dorf von nur wenigen »Trusts« in ihren schmucken, postmodernen Gebäuden beherrscht, die wie selbstverständlich über all das verfügen, was zu einer Weltherrschaft nötig ist: Algorithmen, Kapital, Rohstoffe, aber auch Patente, Lizenzen, Nutzungsrechte, Zulassungen, Einfluss auf die Legislative. Bürokratie ist der beste Helfer der neuen Monopole. Alle Macht kommt bei ihnen nicht mehr aus den Gewehrläufen, wie noch bei Mao Tse-tung. Sie kommt heute aus dicken Vertragswerken.

Der 24. Februar 2022, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, hat den Monopolismus nicht gestoppt, wohl aber die Nebenbedingungen entscheidend verändert. Der Überfall ist eine Zäsur, so wie das am 11. September 2001 in New York der Fall war, erst recht in Verbindung mit der noch nicht beendeten Corona-Pandemie. Zur neuen Realität gehören verschärfte geoökonomische Konflikte zwischen den USA, China und Europa, gestörte Lieferketten, drastisch erhöhte Rohstoffkosten, eine hohe Inflation, nach vielen Jahren wieder steigende Zinsen, einbrechende Börsenkurse. Wie früher, auf dem Höhepunkt des fossilen Zeitalters, war auf einmal wieder ein Ölkonzern (der Staatsmonopolist Saudi Aramco) das wertvollste Unternehmen der Welt. Die Techgiganten erlitten einen kleinen Rückschlag, mehr nicht. Sie bleiben trotzdem für die Zukunft zuständig.

Ob der Monopolismus die ganze Vorherrschaft auf Dauer bekommt, ist eine politische, eine gesellschaftliche Frage. Wenn alle Gewalt nicht mehr vom Volk ausgeht, sondern von nur erwählten, nicht gewählten Konzernchefs, die sich Myriaden von Lobbyisten, Beratern und Anwälten zur Beeinflussung und auch Manipulation der Öffentlichkeit leisten können, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Volk und Volksvertreter eines Tages revoltieren. Die Massierung wirtschaftlicher Macht fordert politische Macht heraus. Monopolismus sägt, wenn wir ehrlich sind, an den Fundamenten eines freiheitlichen Systems, dessen Repräsentanten ihren Bürgerinnen und Bürgern die Verheißung – manchmal auch nur die Illusion – verkaufen, es käme bei dem, was geschieht, auf ihren Willen an.

Was aber, wenn in Wahrheit die Bannerträger des Monopolismus entscheiden, in welche Richtung sich die Gesellschaft weiterentwickelt? Was, wenn sie aus einem immer weiter greifenden Zugriff auf immer persönlichere Daten neue Geschäftsmodelle entstehen lassen und ein sich selbst optimierender »Überwachungskapitalismus« folgt, wie ihn die renommierte US-Professorin Shoshana Zuboff registriert? Ein Spiegelbild zum staatlichen »Überwachungskapitalismus« Pekinger Art?

Zugespitzt formuliert: Es läuft das Entscheidungsmatch um die Macht. In China hat das Monopol der Kommunistischen Partei das aufstrebende Monopol der Datenkapitalisten gezähmt und an die Kandare genommen, ehe irgendjemand an »Konterrevolution« denken konnte, also an die Entwertung des Zentralismus der Partei. In den USA und in Europa gibt es ein solches Monopol einer Partei nicht. Hier quälen sich Präsidenten, Kanzler, Minister, Kommissare, Richter, Kartellbeamte und Experten in immer neuen Runden dem Versuch einer Bändigung der Monopolisten, vielleicht auch Zerschlagung, entgegen. Gesetzesverfahren und Prozesse sind angelaufen. Kartellpolitik als Notwehr. Und gegen das russische Gasmonopol hilft auf einmal nur die Teilverstaatlichung eines Riesenkonzerns, von Uniper in Düsseldorf.

Wird es aber gelingen, der »Marktwirtschaft« ihren Wettbewerb wiederzugeben? Werden die Wettbewerbshüter wirklich das deformierte System neu kalibrieren können? Oder kommen sie, wie immer, Jahre zu spät mit ihren Maßnahmen? Anders gefragt: Sind die Gafams und Blackrocks dieser Welt längst »too big to fail«, als dass man sie ohne zu große, gefährliche Kollateralschäden zerschlagen könnte? Und was ist eigentlich mit den Monopolen auf den Rohstoffmärkten, die wie im Fall des russischen Konzerns Gazprom für eine brutale, kriegerische Macht- und Interessenspolitik genutzt werden? Wie wird sich der Westen gegen die Rohstoffmonopolmacht China wehren, wenn sie nach Hongkong auch Taiwan beansprucht?

Ja, »Monopol« und »Monopolismus« sind hässliche Wörter. Trotzdem ist das Monopol in der Geschichte häufig eine populäre Wirtschaftsform gewesen, zum Beispiel bei den Königen in der Übergangszeit zwischen Feudalismus und Industriekapitalismus. Sie verfügten über Handelsmonopole, sei es für bestimmte Waren, sei es für bestimmte Länder und Regionen. Bekanntestes Beispiel: die 1600 unter Königin Elisabeth I. gegründete Englische Ostindien-Kompanie für die Länder am Indischen und Pazifischen Ozean. Rund um die eigenen Kolonien der alten europäischen Großstaaten wiederum gab es Kolonialmonopole, die voll und ganz merkantile Ziele erfüllten: Auf Kosten anderer sollte die eigene Wohlfahrt gestaltet werden. Es waren liberale Ökonomen wie Adam Smith, die gegen dieses System revoltierten. Für die Klassiker des freien Wirtschaftens war der Gleichgewichtspreis auf Märkten, der sich im Falle freier Konkurrenz bildet, ein »natürlicher Preis«. Monopole führen dementsprechend zu »unnatürlichen Preisen«. Friedrich Engels zog daraus die Schlussfolgerung: »Das Monopol war das Feldgeschrei der Merkantilisten, die Konkurrenz der Schlachtruf der liberalen Ökonomen.«

Heute ist das Monopol wieder Realität auf den Märkten, und noch immer – glücklicherweise – »Konkurrenz« der Schlachtruf liberaler Ökonomen. Der historische Rückblick für die westlichen Staaten lädt zu einer anderen Theorie der Dialektik ein: Aus den Monopolen der vorindustriellen Zeit wurde die Konkurrenz der ersten industriellen Marktwirtschaft, aus der die neuen Monopole des Industriekapitalismus (Standard Oil & Co) erwuchsen, nach deren politischer Beseitigung wiederum erneut Konkurrenz entstand – aus der schließlich die Monopole der Neuzeit entstanden, manche sind in Kalifornien zuhause. Die neuere Wirtschaftsgeschichte ist eine Geschichte des Kampfs zwischen Monopol und Konkurrenz. Mal hat der eine, mal der andere gesiegt. Und in Zukunft?

Ich fürchte, es wird nicht so sein wie beim ersten bekannten Monopol der Weltgeschichte, dass daraus Positives für die Menschheit erwächst. Der erste strategische Alleinverkäufer war im antiken Griechenland Thales von Milet. Der Philosoph schloss klugerweise aus aufkommenden Winden, dass seiner zuvor unter extremer Trockenheit leidenden Heimat eine heftige Regenzeit bevorstehe – und damit eine überaus reiche Olivenernte. Also kratzte er alles verfügbare Geld zusammen und kaufte – zum Erstaunen seiner Mitbürger – alle Ölmühlen und Ölpressen in der Gegend auf, derer er habhaft wurde. Als dann tatsächlich die Winde kamen und die Olivenernte außergewöhnlich gut ausfiel, war der Bedarf nach Pressen und Mühlen riesig – Thales nutzte sein Monopol von Milet. Dank des schönen Monopolgewinns konnte er fortan einer beruflichen Tätigkeit entsagen und sich ganz auf wissenschaftliche Studien konzentrieren. Ihm verdanken wir Grundlegendes in Philosophie und Mathematik.

Für die Monopole des 21. Jahrhunderts ist ein ähnliches Happyend nicht zu erwarten. Und weil ich selbst auch nicht an ein glückliches Ende der Geschichte von immer mehr Macht und immer weniger Auswahl glaube, habe ich mich entschlossen, meinem Buch »Wem gehört die Welt? Die Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus« von 2016 ein zweites Buch an die Seite zu stellen. Mit Leserinnen und Lesern hatte ich immer wieder über Monopolfragen diskutiert, was mir einen gewissen Informationsbedarf aufzeigte. Am häufigsten wollten sie wissen, ob die Demokratie bei so viel Wirtschaftsmacht überhaupt noch etwas zu melden habe.

Deshalb beschreibe und analysiere ich im Folgenden, was die Wirtschaftswissenschaftler zum Monopolismus sagen, wie es überhaupt zu neuen Monopolen gekommen ist, warum »Gafam« so mächtig wurde, auf welchen Einzelmärkten die Konzentration besonders groß ist und was das mit den Preisen macht, was ETFs mit Wettbewerb zu tun haben, warum Wladimir Putin Deutschland so täuschen konnte, wie Chinas Strategie im Einzelnen aussieht, wie sich die Wettbewerbsbehörden weltweit aufstellen. Und schließlich versuche ich Antworten auf die Frage zu finden, was Politiker, aber auch wir Bürger und Konsumenten, dafür tun können, um den Monopolismus in die Schranken zu verweisen, um die vielen Oligopole und Monopole wieder zurückzudrängen – auf dass unsere Welt im 21. Jahrhundert bei der Verteilung des Wohlstands gerechter werde.

*

Doch bevor wir uns, ganz sachlich, den Ökonomen und ihrer Sicht auf die Realität zuwenden, wollen wir uns in einem Szenario, in einer »Auto-Fiktion«, einmal vor Augen halten, wie die Welt der Automobilität für uns im Jahre 2035 aussehen könnte, wollen wir einen Wirtschaftszweig spekulativ durchleuchten, der für Deutschland nach 1945 eine der entscheidenden Grundlagen unseres Wohlstandes war und immer noch ist. Wir erleben alte Märkte und neue Monopole.

KAPITEL 1

Der Automarkt im Jahr 2035 – ein Szenario1

China und die neue Ära des Automobils / Der Kampf um die Batterie der Zukunft / Das Silicon Valley im Cockpit / Und was wird aus Volkswagen? / Der Systemwettbewerb und seine Monopole

Hunderttausend Chinesen jubeln auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Blumen und Bäumchen schmücken den Ort. Überall sind rote Fahnen mit Hammer-und Sichel-Motiv zu sehen. Es ist der 1. Juli 2035, ein schöner Sommertag. Staatspräsident Xi Jinping hält eine seiner großen Reden, die sein Volk nun schon seit 23 Jahren kennt. Ein Rückenleiden schwächt ihn heute zwar ein wenig, aber für sein Volk ist er nach wie vor ein starker Führer, der den »Changbizi« erfolgreich ihre Grenzen aufgezeigt hat, den ein wenig spöttisch so genannten »Langnasen« aus dem Westen.

Diesmal geht es vordergründig weniger um Politik als 14 Jahre zuvor bei einer ähnlichen Veranstaltung. Damals, am 1. Juli 2021, hielt Xi just an diesem Platz seine Ansprache zum 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas. Zu dieser Gelegenheit sprach er von der »Wiedergeburt der chinesischen Nation«, die ohne den Führungsanspruch der KP undenkbar sei. Diesmal jedoch geht es vor allem um die Wirtschaft und um Hightech, um die Leistungen des Landes bei der Eroberung von Zukunftsmärkten und um die Modernisierung von Arbeit und Leben. »Der Wiederaufstieg des chinesischen Volkes liegt schon lange hinter uns«, ruft das Staatsoberhaupt vom erhöhten Rednerpult aus, »jetzt sind wir auf dem Gipfel, und wir werden ihn nicht mehr verlassen«.

Lange anhaltendes Klatschen. Der Mann im grauen Mao-Anzug am Mikrofon lächelt. Rufe aus der Menge: »Hoch lebe Xi!« Und: »Hoch lebe die Partei!«

Die aufwendige, kleinteilige Aufgabe der Parteiführung hat der 82-jährige Redner längst Jüngeren überlassen. Er hatte die Kommunisten früh darauf eingeschworen, dass »Xi-Jinping-Ideen zum Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära« die Basis einer geistigen und wirtschaftspolitischen Weiterentwicklung sein sollten, so wie früher die »Mao-Bibel« des legendären Ersten Vorsitzenden Mao Tse-tung ein Fundament gelegt hatte. Xi, den Kommentatoren im westlichen Ausland oft »Mao II.« nennen, ist noch immer »Kern der Kommunistischen Partei in China«, seine Gedanken sind nach wie vor »Essenz der chinesischen Kultur«, seine Führung ist von entscheidender Bedeutung für die »große Verjüngung der chinesischen Nation«. Der Westen ist in diesem Weltbild noch immer die Verkörperung von Dekadenz. Kein Wunder, dass Xi all die Jahre im Amt blieb und die traditionelle Begrenzung der Amtszeit auf maximal eine Dekade schon lange, seit 2022, Geschichte ist. Sein langjähriger russischer Bündnispartner Wladimir Putin, an den sich Jüngere gar nicht mehr so richtig erinnern, hatte es zuvor ähnlich gehalten. Autokraten lernen am besten von anderen Autokraten, wie sie ihr System aufrechterhalten.

»Wir haben die Zukunft im Geiste unserer Partei genau geplant«, sagt Xi Jinping mit erhobener Stimme vor dem Hintergrund der Verbotenen Stadt: »Heute kann ich Vollzug melden – China bestimmt die technologischen Standards des 21. Jahrhunderts.« Immerhin schon vor 15 Jahren habe man – flankierend zur Initiative »Made in China 2025« – den Mut zum großen Plan »China Standards 2035« gehabt. Der Welt sollte damals schon klar werden, wie ernst es das Land meine mit Hightech-Innovationen, und so sei es ja auch gekommen. Die Volksrepublik sei maßgebend beim 7G-Internet, beim Internet der Dinge und in der Künstlichen Intelligenz. »Industrie 4.0« sei früher ein exklusives Markenzeichen des starken deutschen Mittelstands gewesen, längst sei man hier aber auf Augenhöhe. Besonders freue ihn, erläutert Xi, dass all diese Qualitäten in einer Branche zusammenflössen, »die schon immer für viele in der Welt besonders wichtig war: in der Automobilindustrie«. Sie galt und gilt in West und Ost als Symbol materieller Freiheit, als rollender Wohlstandsindikator.

Xi Jinping hebt, das Mao-Mausoleum fest im Blick, erneut seine Stimme: »Wir haben den Monopolen des Westens erfolgreich unsere eigene Kraft gegenübergestellt. Wir haben eine ganze Branche, die der elektrischen Mobilität, definiert und gestaltet. Wir schufen die neue Infrastruktur.« Und dann zitiert der ewige Präsident, der natürlich weiterhin oberster Befehlshaber des Militärs geblieben ist, schließlich noch Mao selbst: »Das Volk, und nur das Volk, ist die Kraft, die Weltgeschichte macht.«

Die Hunderttausend auf dem Platz des Himmlischen Friedens klatschen rhythmisch. Sie rufen wieder: »Hoch lebe Xi!« Auf der Ehrentribüne sind alle aufgestanden. Auch sie heben die Arme hin in Richtung des Redners. Ola Källenius macht da keine Ausnahme, der 66-jährige Aufsichtsratsvorsitzende des Automobilkonzerns Mercedes-Geely. Seit 1993 ist der Schwede in dem heute chinesischen Beteiligungsunternehmen aktiv, das Anfang der 1990er-Jahre zu Beginn der Hyperglobalisierung noch ein rein deutsches Symbol war und sogar zu den zehn wertvollsten Konzernen der Welt gehörte. Dieses Vorgängerunternehmen namens Daimler-Benz hatte sich als »integrierter Technologiekonzern« mit Flugzeugen, Bahntechnik, Rüstung und AEG verstanden. Die darauffolgenden Jahre der Irrungen und Wirrungen, der häufigen Strategiewechsel, hatten dann die chinesischen Strategen rund um Xi vor rund 15 Jahren beendet – zunächst mit einem sanften Einstieg, dann mit immer häufigeren konkreten Kooperationsprojekten. Die Chinesen hatten früh die Notwendigkeit erkannt, für ihre Zukunftspläne im globalen Automobilmarkt eine strahlende deutsche Marke ins Feld zu führen, ein Symbol für Wertarbeit, und da waren sie auf Mercedes gestoßen. Natürlich wären auch BMW und Volkswagen mit Audi interessant gewesen, aber die beiden »Targets« waren 2020 nun mal nicht verfügbar. Das lag an ihren Ankeraktionären. Bei VW verhinderte das Bundesland Niedersachsen mit seiner Veto-Macht, bei BMW die Industriellendynastie Quandt einen qualifizierten Einstieg Chinas. Bei Mercedes aber war das ganz anders. Viele internationale institutionelle Investoren, darunter der global mächtigste Finanzkonzern Blackrock und das Emirat Kuwait, teilten sich die Aktien. Die frühere Schutzmacht Deutsche Bank hatte den eisernen Griff über den prestigereichen Autokonzern schon in den 2000er-Jahren gelöst.

So waren die chinesischen Auto-Aktionäre Geely und BAIC, die anfänglich jeweils zehn Prozent hielten, mit der Zeit im Gesellschafterkreis immer wichtiger geworden, zumal auch noch chinesische Finanzinvestoren eifrig Mercedesaktien nachkauften. Der offene Börsenkapitalismus der freien Welt kannte keine »Chinesische Mauer«. Und der 1958 gegründete Staatskonzern BAIC aus Peking brachte selbst operativ als Automobilhersteller zwar nicht viel auf die Reihe, er war aber nun einmal der bewährte 51-Prozent-Partner von Daimler in China. Dieses Joint Venture hatte zwischen 2020 und 2021 jeweils mehr als 21 Milliarden Euro Umsatz und den beiden Gesellschaftern schöne Gewinne erbracht. Diese Allianz wurde gestärkt, nachdem Geely-Gründer Li Shufu ein nennenswertes Aktenpaket einem chinesischen Staatsfonds abgetreten hatte. Der Unternehmer legte viel Wert auf ein tadelloses, gesichtswahrendes Verhältnis zu Staatspräsident Xi, den er in einer Volvo-Fabrik in Belgien herzlich empfangen hatte.

Nun war Mercedes-Geely, wie geplant, dank gelungener Elektrifizierung und einer großen Robotikkompetenz neben dem chinesischen Elektroauto-Pionier BYD (Build Your Dreams) zum Vorzeige-Unternehmen für den Aufstieg der Volksrepublik im Autogeschäft geworden. Aufsichtsratschef Källenius selbst verwies in Interviews immer wieder darauf, dass seinerzeit mit dem Einstieg des chinesischen Staatskonzerns BAIC als Großaktionär eine entscheidende Brücke gebaut worden sei. Anfangs habe man das anders gesehen, schließlich habe der damalige Ministerpräsident Winfried Kretschmann in einem gemeinsamen »Handelsblatt«-Interview zur Frage einer chinesischen Übernahme von Mercedes verfügt: »Das würden wir gar nicht zulassen.«

Er verwies dabei auf das verschärfte deutsche Außenwirtschaftsgesetz, zudem hatte sich der Stuttgarter Konzern einige »poison pills«, einige Giftpillen, für den Fall weiterer Aktienzukäufe von Geely und BAIC einfallen lassen. Mit der Zeit aber setzte sich die Einsicht durch, dass man in China fast 40 Prozent des Gesamtumsatzes mache, über mehr Anteile im Joint Venture mit BAIC noch besser verdiene könne und, überhaupt, China doch nicht Russland sei. Heute weist Chefaufseher Källenius daraufhin, dass man durch die Kooperation mit dem Staatskonzern stets frühzeitig genug erfahren habe, welche nächsten Schritte die Regierung in Peking zur Förderung von smarter Elektromobilität plane. China sei der Schrittmacher gewesen. »Von entscheidender Bedeutung war, dass der chinesische Staat Fortschritte in der Batterietechnologie und in der Auto-Software als prioritär definiert hat. China förderte so bewusst alles, was der Wertschöpfung bei Stromautos dient«, hatte Källenius schon früh verdeutlicht.

In Peking genoss der Manager stets hohes Ansehen. Für die Kommunistische Partei bedeutete der Siegeszug der »New Energy Vehicles« (NEV) die Chance, den Auto-, ja den Mobilitätsmarkt generell, maßgeblich zu bestimmen und zu prägen. Beizeiten hatte Källenius formuliert: »Ich freue mich über das Engagement aller langfristig orientierten Aktionäre, die unsere Strategie unterstützen.« Und China war ein sehr langfristig denkender Shareholder. Niemand dachte in längeren Zyklen als die chinesische Führung, die sich nicht andauernd zur Wiederwahl stellen muss.

Källenius war cool geblieben, als sich am alten Firmenstandort Stuttgart und in der Regierungshauptstadt Berlin die Bedenken häuften, hier werde ein traditionelles deutsches Unternehmen mehrheitlich an einen anderen Wirtschaftsblock verkauft. Die Botschaft des CEO war, nach langem Hin und Her: Angesichts des Klimawandels geht es längst nicht mehr um Ideologie, sondern nur noch um die möglichst rasche Bewältigung der damit verbundenen digitalen und ökologischen Herausforderungen! Hierfür brauchen wir die Besten! Källenius half auch, die Wogen zu glätten, als in der westlichen Politik und Gesellschaft vor einigen Jahren der letztendlich freiwillige Betritt Taiwans zum Hauptland China über Monate hinweg problematisiert worden war. Klar, es gab Proteste wie seinerzeit in Hongkong. Aber es war andererseits eben auch kein zweiter Fall Ukraine, dessen Südosten sich Russland einverleibt und so de facto einen neuen westukrainischen Staat geschaffen hatte. Denn zur Wahrheit rund um die Insel, die früher »Formosa« hieß, gehörte ja auch, dass es lange vor der finalen Integration immer mehr chinesisch-taiwanesische Gemeinschaftsprojekte gegeben hatte. Sie brachten beide Länder und Wirtschaftssysteme einander näher. Da gab es etwa den Pakt zwischen dem weltweit größten Chip-Produzenten Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) und dem Pekinger Internetkonzern Baidu oder die Allianz zwischen der taiwanesischen Foxconn Technology Group und dem Huawei-Konzern aus Shenzhen, der in dieser Rolle eines präferierten Partners den US-Konzern Apple abgelöst hatte.

»China ist summa summarum gut durch den Kalten Krieg gekommen, der 2022 nach der Invasion der Ukraine durch den chinesischen Partner Russland entstanden war«, heißt es in der Studie einer bekannten Unternehmensberatung von 2034. Der chinesische Staatskapitalismus habe sich in der zweiten Phase der Globalisierung, einer »Welt-Regionen-Ökonomie«, äußerst bewährt, schreiben die Autoren weiter. Und sie erwähnen, dass frühere Studien von McKinsey zum Thema Elektroauto immer noch aktuell seien: »Die in China hergestellten Modelle überflügeln internationale Autobauer an zwei Fronten: Bei Bedienung und Kundenerlebnis (durch bessere Vernetzung) und bei der Batterietechnik.«

Es sei nun einmal, analysieren Experten, die Partei- und Staatsführung in Peking selbst gewesen, die das Konzept der »dual circulation« entworfen und durchgehalten habe. »Dual circulation« unterschied zwischen der unbedingt zu fördernden Binnenwirtschaft und der rein unter Nützlichkeitserwägungen betrachteten Außenwirtschaft. Man trieb nur dort Handel mit dem Ausland oder beschloss internationale Direktinvestitionen, wo es »Made in China 2025« oder »China Standards 2035« diente. Gleichzeitig formte man für alle Branchen gigantische Staatskolosse, die als Groß-Oligopolisten daran arbeiteten, dereinst Monopolist zu werden. Diese Methode der Marktbeherrschung habe der chinesische Staatskapitalismus vom westlichen Finanzkapitalismus abgeschaut und in Perfektion adaptiert, so eine Studie der Weltbank. Und man hatte gelernt, wie kapitalistische »Raider« einst Konzerne gekapert hatten, und sich so über heimliche Aktienkäufe die faktische Sperrminorität bei Mercedes gesichert.

In der Schlüsselindustrie des Automobilbaus waren es neben Mercedes-Geely und dem Pionier BYD vor allem zwei Firmen, die den Ruhm des Landes und damit auch den des Führers Xi Jinping in der weltweit dominant gewordenen Elektromobilität mehrten: die Batteriezellenfirma Contemporary Amperex Technology (CATL) und der Technologiekonzern Baidu. »Wir haben früh erkannt, wo die Wertschöpfung moderner Autos nach dem Ende der Verbrennerära liegt – und konsequent darauf gesetzt«, offenbarte ein Vertrauter Xi Jinpings aus der Planungskommission in einem »Handelsblatt«-Interview kurz vor den vielen Feiern zu »China Standards 2035«.

Gerade Deutschland hatte bei der Expansion eine besondere Bedeutung gehabt. Hier, am Erfurter Autobahnkreuz in Thüringen, eröffneteCATL, damals schon mit Abstand weltgrößter Hersteller von Lithium-Ionen-Batteriezellen, im Spätsommer 2022 eine imposante Fabrik, die in Europa ihresgleichen suchte. Unter Anleitung der chinesischen Besitzer und dank eines anfänglichen Investments von 1,8 Milliarden Euro zementierte die Firma ihre monopolartige Vormachtstellung. Niemand konnte mehr mit den Akkus aus der chinesischen Hemisphäre mithalten. Bezeichnenderweise nutzteCATLim thüringischen Arnstadt Gebäude, die einst der Bonner Solarzellenhersteller Solarworld gebraucht hatte. Hier zog jetzt die Europazentrale der Chinesen ein. Solarworld war ein hoffnungsvolles Unternehmen des ersten Photovoltaik-Booms der 2000er-Jahre gewesen, dessen unkonventioneller Gründer Frank Asbeck sogar Opel in Rüsselsheim kaufen wollte, um daraus den ersten grünen Autohersteller zu machen. Zusammen mit Firmen wie Q-Cells war Deutschland immerhin einmal Weltmarktführer. Doch dann hatte China mit viel Kapital, industriepolitischer Emphase und importierten deutschen Maschinen eine eigene Photovoltaikindustrie aus dem Boden gestampft. Wie andere Solarfirmen auch wurde Asbecks Geschöpf am Ende Opfer einer chinesischen Dumpingpreispolitik, die durch Subventionen des Staates China möglich geworden war. Da ließ sich nichts mehr verdienen. Die vielen Solar-Start-ups verschwanden. Dieses Muster wiederholte sich mehr oder weniger bei Batteriezellen.

Bei seinem Thüringer Erfolg profitierte Pionier CATL stark von seinen guten Beziehungen zu chinesischen Rohstofflieferanten, die sich strategisch ein Angebotsmonopol verschafft hatten, etwa für Seltene Erden und Lithium. Peking hatte das organisiert und arrangiert. Um den Standort in Thüringen herum breiteten sich rasch Zulieferbetriebe aus, die für ein Batterie-Cluster sorgten. Heute, 2035, liegt der Weltmarktanteil von CATL bei eindrucksvollen 60 Prozent, eine deutliche Steigerung gegenüber der Quote von 32,6 Prozent in 2021. Der Branchenzweite dagegen, LG Energy Solution aus Südkorea, hielt seinen Weltmarktanteil dagegen konstant bei rund 20 Prozent. Damit hat das Unternehmen CATL aus dem südostchinesischen Tee-Anbaugebiet rund um die Stadt Ningde global eine Bedeutung erzielt, die 2022 nur im Heimatmarkt zu erleben gewesen war. Auch mit Hilfe deutscher Ingenieure hatte CATL einen sehr hohen technologischen Standard bei Batterien erreicht, dem Herz der E-Autos.

Und es war ausgerechnet der amerikanische Elektroauto-Pionier Elon Musk, der mit Großaufträgen dem chinesischen Partner zu einer neuen Wucht im Markt verhalf. Musk zog für seine Tesla-Modelle »3« und »Y« ein Werk in Schanghai hoch. Ohne den Plattformbetreiber aus denUSA, der die Methoden des Silicon Valley und des digitalen Kapitalismus einfach auf den Automarkt übertrug, wäre der Erfolg vonCATLalso nicht denkbar gewesen. Diese Kooperation setzte Standards. Auch Volkswagen aus Wolfsburg und der Münchener AutobauerBMWorderten beim chinesischen Produzenten, der sogar »Official Partner« vonBMWMotorsport wurde. Sie alle überzeugte, dass die Zellchemie mit Lithium-Eisenphosphat widerstandsfähiger und billiger war als andere Zellen (etwa derNMC- oderNCA-Technik), die in der Vergangenheit in teure Elektrovehikel verbaut worden waren.

Es handelt sich beiCATLum eine der erstaunlichen chinesischen Aufstiegsgeschichten. Vieles erinnert an die Goldrauschzeit im amerikanischen Westen rund um 1850. Auch damals wurden eher jene Leute reich, die Schaufeln zum Graben verkauften, als die Habenichtse, die mit dem schweren Gerät lange Zeit vergeblich nach Nuggets suchten, ehe sie aufgaben.CATLwar erst 2011 von Zeng Yuqun gegründet worden, der sich zeitweise auch Robin Zeng nannte und zuvor an der chinesischen Akademie der Wissenschaften seinen Doktor in Physik gemacht hatte. Politisch hatte sich der Aufsteiger beizeiten sehr gut vernetzt, er brachte sich als Mitglied des Nationalen Komitees der Politischen Beraterkonferenz des Chinesischen Volkes immer wieder in Grundsatzfragen ein. So forderte er energisch einen verstärkten Abbau der chinesischen Lithium-Ressourcen, um die Sicherheit der Angebotskette zu gewährleisten. Zudem sollten alle Behörden und Firmen des Landes in der Forschung und Entwicklung alles tun, um den wertvollen Rohstoff effizienter zu nutzen.

Der Staat versprach und leistete Hilfe. Bei der Feier von »China Standards 2035« sitzt Zeng (geboren im März 1968) für alle sichtbar direkt in der Reihe hinter Xi Jinping, ein klares Zeichen der Wertschätzung der Kommunistischen Partei für den fleißigen Unternehmer, der anders als Internet-Milliardäre vom Schlage eines Jack Ma von Alibaba nie die Bodenhaftung verloren und geglaubt hatte, er müsse auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos glamouröse Partys schmeißen und mit Staatspräsidenten Smalltalk machen.

Im Zuge der Entwicklung der Elektromobilität war Zeng logischerweise zum reichsten Chinesen aufgestiegen. Das verdankte er dem rasant gestiegenen Kurs der an der Börse von Shenzhen notierten CATL-Aktie. Die Marktkapitalisierung der Firma hatte schon im April 2022 bei beachtlichen 170 Milliarden Euro gelegen. Die guten deutschen Kunden VW und BMW – große Namen der traditionellen Autoindustrie – kamen zu diesem Zeitpunkt im Vergleich lediglich auf rund 100 Milliarden beziehungsweise knapp 50 Milliarden Euro. BMW wurde von Investoren sogar als »Blackberry der Automobilindustrie« gehänselt, da der bayerische Hersteller partout nicht von Verbrennermotoren lassen wollte, mit denen er so rentable Geschäfte machte.

Die Börse bewies in diesem Fall ein Gespür für die wirklichen Einflussgrößen im Zukunftsmarkt der E-Mobilität. Die früher so glorreichen deutschen Automarken, Vorzeigeunternehmen der Benzinära, wurden immer stärker abhängig von fernöstlicher Technologie. Nicht mehr die alte Hardware entschied, sondern Software und Batterie. Volkswagen versuchte noch, mit der Gründung eigener Batteriezellenwerke an sechs Standorten gegenzuhalten, zum Beispiel in Salzgitter oder im schwedischen Skellefteå. Aber permanent gab es Probleme mit der Lieferkette, etwa weil wieder einmal der Monopolbetrieb China Rare Earth Holdings einzelne Mineralien der Seltenen Erden spät oder gar nicht lieferte. VW half es nur wenig, mit chinesischen Partnern direkt Nickel und Kobalt zu organisieren, auch in Indonesien. Vor allem hatte man Tausende Softwarespezialisten in einer Firma namens Cariad zusammengeholt, die für alle Modelle Programme schreiben sollten, was dem festgelegten Produktionsplan nicht guttat. Der Marktstart vieler Autos verzögerte sich, teils um 24 Monate. Da nutzte auch ein mit dem Chip-Spezialisten Qualcomm verabredeter Pakt nichts.

Nach dem um Jahre vorgezogenen Abgang des VW-Chefs Herbert Diess – dem hohe Anlaufverluste und technologische Probleme bei der von ihm beschleunigten Transformation des Geschäfts schlecht bekamen – wurden die Ausbaupläne vom Aufsichtsrat deutlich zurückgestutzt. Porsche-Chef Oliver Blume übernahm als CEO. »Wir müssen die Welt nicht immer neu erfinden, sondern nutzen einfach gängige Industriestandards«, wurde ein Mitglied des Gremiums anonym zitiert: »Wir sind nicht Bill Gates! Und auch nicht Elon Musk!«

Im Rückblick war 2021 ein entscheidendes Jahr für diesen Wandel. Zu diesem Zeitpunkt schaffte das automobile Digitalunternehmen Tesla weltweit den Durchbruch, und in China waren erstmals 2,9 Millionen vollelektrische Autos verkauft worden, die auch keinen Ersatz-Benzinmotor als Hybridmodell mehr aufwiesen. Volkswagen aber registrierte ein bedenkliches Absatzminus von 14 Prozent im »Reich der Mitte«. Das hatte es noch nie gegeben. Der operative Gewinn hatte erheblich eingebüßt, sieben Jahre zuvor war fast das Doppelte aufgelaufen.Die neue Zeit hatte sich mit lauten Alarmzeichen angekündigt. Die Deutschen kamen mit ihren E-Autos bei den Chinesen einfach nicht an, und sie hatten zudem auch noch auf die falschen Chip-Lieferanten gesetzt. In der Zentrale in Wolfsburg wurde aufmerksam registriert, dass chinesische Marken plötzlich die Hälfte des Weltmarkts für elektrische Fahrzeuge ausmachten – und dass man vielleicht doch lieber rechtzeitig neue Märkte angehen sollte, etwa Indien oder südostasiatische Länder.

Die Beratungsfirma Jato hielt fest, dass die Chinesen sich den Markt durch die hohe Inlandsnachfrage nach ihren Produkten selbst gemacht hätten. »Die Elektrifizierung der Autoindustrie bietet den chinesischen Herstellern eine hervorragende Gelegenheit, endgültig die Weltarena zu betreten.« 58 Prozent der Absatzmärkte der E-Fahrzeuge lag damals in China, 27 Prozent in Europa, elf Prozent inUSA. Und noch eine weitere Zahlenreihe war interessant und deutete auf alles hin, was noch kommen sollte: Der chinesische HerstellerBYDlieferte in China 590 000 Fahrzeuge und dasUS-Unternehmen Tesla 470 000 aus (160 000 gingen in andere Märkte) – derIDvonVWhingegen nur 70 000 Exemplare. China holte sich die Globalisierung ins eigene Land.

So wie CATL den Batteriemarkt immer stärker beherrschte, so war Baidu mit der Zeit international zu einer Größe im Geschäft des autonomen Fahrens geworden, vor allem in Asien. Der vom Unternehmer Robin Li gegründete Digitalkonzern hatte sich früh mit Google aus den USA verglichen, schließlich hatten beide das Angebot für Suchmaschinen in ihren Märkten monopolisiert. Beide investierten in Künstliche Intelligenz, als die meisten Menschen davon noch gar nichts gehört hatten. Das führte im Fall von Baidu dazu, dass von 2021 an automatisierte »Robotaxis« ohne Lenkrad und Pedale durch Peking kurvten, während in der westlichen Hemisphäre Juristen, Politiker und Ethikkommissionen weiter über Haftungsprobleme diskutierten. Nach dem gelungenen Start wurde das Projekt auf viele andere Städte ausgedehnt. Eine eigene Plattform namens »Apollo« half beim Austausch der Erfahrungen von Entwicklern, Autoherstellern und IT-Experten. Noch stärker aber wirkte die enge strategische Partnerschaft mit dem chinesischen Konzern Geely und dem Staatskonzern BAIC, die beide, wie gesehen, bei Mercedes-Benz mitmischten und dort auch Geelys schwedische Tochter Volvo unterbrachten, einen weiteren Pionier der Elektromobilität.

So gelang es am Ende, Baidus Ziel zu verwirklichen, dass die eigenen Autos nicht nur selbständig fahren, sondern auch permanent lernen und sich selbst verbessern. Die eigene KI-Abteilung im Silicon Valley lieferte dem Baidu-Management immer wieder wichtige Patente. Und die Firma gewann nicht zuletzt durch gelungene Kooperationsprojekte mit chinesischen Partnern wie dem Autobauer BYD immer mehr an Einfluss.

Zum einen erwies es sich als günstig, dass chinesische Autofahrer ihr Fahrzeug ohnehin meist nur für Kurzstrecken nutzen, da für größere Strecken das exzellent ausgebaute Netz an Hochgeschwindigkeitszügen in China konkurrenzlos ist. In Metropolen aber sind Staus ein Alltagserlebnis. Und da konnte sich Baidu mit eigenen Entertainmentprogrammen, die in Verbindung mit Partnern aus der leistungsstarken chinesischen Film- und Gamingindustrie entstanden, in hohem Maße auszeichnen. Der Internetgigant eroberte das Cockpit. Als harter Gegner stellte sich dabei ausgerechnet der chinesische Telekommunikationsriese Huawei heraus. Die Firma hatte nach Strafmaßnahmen des einstigenUS-Präsidenten Donald Trump, der etwa die Lieferung wichtiger Chips aus denUSAfür Huawei untersagte, einen Strategiewechsel vorgenommen und sich stärker auf autonomes Fahren konzentriert. Zwar gab es Gespräche ausgerechnet mit Volkswagen über einen Verkauf der eigenen Sparte »Selbstfahrendes Auto«, doch die dienten wohl eher dazu, den Marktwert zu testen und die Strategie des deutschen Konzerns besser kennenzulernen.

Die eigene Innovationsleistung war ohnehin weltweit anerkannt, schließlich hielt Huawei rund 110000 Patente. In der Rangliste des Europäischen Patentamts hatte sich die von den Trump-Sanktionen getroffenen Chinesen beispielsweise 2021 mit 3 544 Patentanmeldungen den Spitzenplatz in Europa zurückerobert. Siemens als bestes deutsches Unternehmen in dieser Disziplin rangierte mit 1 720 Anmeldungen erst auf Rang fünf. Das Huawei-Prinzip beschrieb Yann Ménière, Chefökonom des Patentamts, bei dieser Gelegenheit so: »Chinesische Unternehmen zeigen eine hohe Innovationskraft gerade bei digitalen Technologien.«

So kam es, dass der einstige Smartphone-Spezialist Huawei heute, 2035, in China die Nummer zwei des Marktes für autonomes Fahren ist. Auch der weltgrößte Handyhersteller Xiaomi konnte dieses Geschäftsfeld nicht ignorieren. Die anfängliche Produktionsmenge von 300 000 in 2024 hat sich seitdem um mehr als das Doppelte gesteigert.

Besonders verwunderlich ist das nicht. Die Marktbedeutung folgte dem alten Branchenbonmot, wonach das moderne Auto nichts weiter als ein »Smartphone auf Rädern« sei. Und als sowohl Mercedes (sein Modell »Smart«) als auch BMW (den »Mini«) als auch Tesla (»Modell 2«) wichtige urbane, elektrifizierte Zukunftsautos in China herstellen ließen, wusste jeder: Das war das Fanal zur Verlagerung von Märkten. Die chinesischen Ingenieure hatten mittlerweile ein so hohes Produktionsniveau erreicht, dass deutsche Autokonzerne aus Kostengründen darauf verzichteten, hier nachzueifern. Die Konsequenzen waren aber auch klar: Volkswagen würde nicht länger mit den alten Konzepten 40 Prozent seines Absatzes in China machen können und Mercedes nicht 37 Prozent des Verkaufs seiner Limousinen und SUVs. Alles sortierte sich neu. Die »New Energy Vehicles« waren ein Umverteilungskatalysator – und haben den Monopolismus in diesem früher doch sehr zersplitterten Schlüsselmarkt der globalen Ökonomie forciert. Die Konglomerate und Ökosysteme, die das NEV-Geschäft ausmachen, sind immer größer und einflussreicher geworden.

Auf dem Platz des Himmlischen Friedens steigt die Dezibel-Zahl, als Staatspräsident Xi Jinping in der Zeremonie zum Planerfolg 2035 namentlich die heimische Autoindustrie in seiner Feierrede erwähnt. »China ist historisch immer sowohl Nutznießer als auch Beitragsleistender der Wirtschaftsglobalisierung gewesen«, sagt er, »aber gerade die Automobilindustrie zeigt, wie sehr sich die Rolle unseres Landes verändert hat.« Wichtige, vielleicht die wichtigsten Impulse seien aus China gekommen, und die chinesische Bevölkerung heiße weiter »Menschen aus allen Ländern mit offenen Armen willkommen, auf dem schnellen und bequemen Zug der chinesischen Entwicklung mitzufahren«.

»Schnell« war, dass die Volksrepublik schon 2016 begonnen hatte, mit Gesetzen und Normen den neuen Markt der Elektromobilität zu beeinflussen und zu fördern. Autoherstellern wurde zunächst vorgeschrieben, einen gewissen Produktionsanteil bei Stromautos zu realisieren. Fahrer solcher Pkw bekamen Lizenzen für Großstädte, die anderen mussten warten. Auch wurde populär, ein »Abo« auf Autos zu haben, anstatt sie komplett zu besitzen. Das machte flexibler. So kam es, dass plötzlich – auch in Verbindung mit einer überlegenen Ladetechnik – eigene Marken wie Nio oder der Wuling MiniEVpopulär wurden, ein kleines Billigauto, das überraschend 2021 die Verkaufslisten anführte. Und dann konnte man in den größeren Autos auf Innenstadtfahrten oder bei Ausflügen ins Grüne immer besser und komfortabler Unterhaltungsprogramme genießen oder sich digitalen Spielen zuwenden und dabei zu Speisen und Getränken aus dem Kühlschrank greifen, was die chinesischen Konsumenten sehr schätzten. Die deutschen Autokonzerne hatten in der Vergangenheit noch spezielle chinesische Wünsche, etwa nach einem höheren Radstand, schnell erfüllt. Die neuen Bedürfnisse nach technischer Funktionalität und digitalen Erlebniswelten aber überforderten sie zunächst.

Im oberen Segment des Autogeschäfts wiederum ließ die chinesische Firma Great Wall Motor den Markt durch seine Luxustochter Wey abschöpfen. Die deutschen Anbieter büßten auch hier ihre früher sehr hohen Marktanteile und Gewinne ein. Zwischen 30 und 50 Prozent der Konzernüberschüsse waren beiVW, Mercedes undBMWhier angefallen. Sie sollten solche Werte in China nie wieder erreichen, auch wenn ein Teil des Terrains mit der Zeit zurückgewonnen werden konnte. Das veränderte Produktionsniveau in China hatte selbst der stets kritischeADAC2021 in einer Bewertung des chinesischen E-Autobauers Aiways anerkennen müssen: »Der Aiways U5 beweist, dass Autos, die in China gebaut werden, schon lange nicht mehr billig im Sinne von qualitativ minderwertig sein müssen.«

Es zahlte sich für die politische Führung in Peking aus, dass sie die heimische Chip-Industrie stark gefördert hatte und mit der Semiconductor Manufacturing International Corporation (SMIC) ein veritabler Player erwachsen war. SMIC kam schon mehr als ein Jahrzehnt zuvor mit seinen branchenorientierten Spezialchips in China auf 40 Prozent Marktanteil und weltweit auf rund zehn Prozent. Als Aktionär von Baidu und BYD kommt dem Unternehmen ebenfalls eine bedeutende Stellung zu. Anders als im westlichen Kapitalismus, wo die einzelnen Datenchampions wie Amazon, Google oder Apple jeweils ein eigenes Ökosystem zur Ausbeutung gewachsener Strukturen errichtet hatten, war im Grunde die gesamte Autowirtschaft Chinas ein einziges Ökosystem geworden. Bei Mercedes wiederum war 2020 noch der US-Grafikkartenhersteller Nvidia nach harten Verhandlungen als Kooperationspartner gewonnen worden. Der Anbieter von Hochleistungschips, seit vielen Jahren eines der zehn wertvollsten Techunternehmen der Welt, setzte hier Revolutionäres durch: Er wurde auf einmal nicht mehr nur pauschal für Produkte und Lizenzen bezahlt, sondern auch zu 50 Prozent an anfallenden digitalen Einnahmen beteiligt.

Das enge chinesische Zusammenspiel der »Champions« bei Batteriezellen, Chips und beim Datenmanagement hat seit 2030 weltweit das Muster für optimales Vorgehen in der Automobilbranche vorgegeben. Es ist die Blaupause für Mobilität in der modernen Welt. Die politische und ökonomische Weltordnung ist bekanntlich durch den Kalten Krieg nach der Ukraineinvasion Wladimir Putins ökonomisch in zwei Blöcke geteilt: den demokratischen, rechtsstaatorientierten »Westen« mit den USA, Kanada, Europa, Australien, Japan und Südkorea sowie dem tendenziell autokratischen eurasischen Block mit China und Russland, dem Indien als assoziiertes Mitglied – trotz aller Grenzkonflikte mit China – nahesteht.

Dabei hatten sich Europas Probleme schon vor dem Ukrainekrieg abgezeichnet, nämlich 2021, im zweiten Jahr der Coronakrise mit seinen gestörten Lieferketten und Engpässen. Der Absatz war in den europäischen Ländern um zwei Prozent auf 11,8 Millionen Neufahrzeuge zurückgegangen, in Deutschland sogar um über zehn Prozent auf rund 2,62 Millionen Einheiten. China dagegen meldete erneut stolze Wachstumsraten: plus sieben Prozent auf 21,5 Millionen neuzugelassene Autos. Die Volksrepublik setzte verstärkt auf Exporte ihrer Marken nach Europa, die Elektromobilität ihrerseits auf dem heimischen Pioniermarkt bereits erprobt hatten – eine Strategie, die man angesichts der jahrelangen höchstprofitablen Verkaufsanstrengungen deutscher Autobauer in China niemanden zum Vorwurf hätte machen können.

So rollten sie alle in Deutschland und anderenEU-Staaten an, die einstige britische NobelmarkeMGvonSAICMotor, Nio, Aiways, Byton, Arcfox, Great Wall Motor, Polestar der Geely-Tochter Volvo. Über die Vorteile des globalisierten Handels hatten die Chinesen das meiste von den Deutschen gelernt, und sie hatten darüber hinaus eine staatliche Administration, die den eingeschlagenen Kurs der chinesischen Emanzipation rigoros unterstützte, solange dabei die Allmacht der Kommunistischen Partei geachtet wurde. »Der Sous-Chef eröffnet sein eigenes Restaurant«, brachte ein Analyst die Lage auf den Punkt. Die chinesische Autowelle erinnerte in vielem an die japanische Autowelle der 1970er- und 1980er-Jahre des 20. Jahrhunderts.

WasCATL, Baidu undSMICin der östlichen Hemisphäre vorexerzierten, wurde im westlichen Block ebenfalls Realität. Auch hier wuchsen Newcomer aus anderen Branchen zu bestimmenden Gesellschaftern des Autogeschäfts heran. Auch hier gab es einen eindeutigen Trend zu mehr Marktkonzentration und zur gestiegenen Macht einzelner Player. Gut, es fehlte nach wie vor ein eigener Batteriezellenfabrikant mit Durchschlagskraft. Aber gerade den Digital-Monopolisten war es unter dem Strich gelungen, das Übermaß an Macht aus ihren ursprünglichen Internetdomänen auf die neuen Märkte zu »hebeln«, wie Wettbewerbsökonomen das gerne nennen.

Da ist an erster Stelle Google mit seiner Holding Alphabet zu nennen, wie gesagt, es handelt sich um das westliche Pendant zu Baidu. Über die Alphabet-Tochter Waymo hatte der amerikanische Konzern selbstfahrende Autos zur Perfektion entwickelt. Bei jahrelangen Testfahrten im Sunshine State Kalifornien konnte Google am Ende die wenigsten Unfälle und Flops verzeichnen. Das überzeugte schließlich das Unternehmen Ford-Volkswagen, hervorgegangen aus einer deutsch-amerikanischen Fusion, die 2026 vollzogen wurde. Mit integriert wurde dabei die Shanghai Automotive Industry Corporation (SAIC), der langjährige nicht besonders innovative Partner von Volkswagen in China, der dort mit Alibaba verbunden blieb.

Google, selbst flankierend mit ein paar Prozent an dem Autoriesen Ford-Volkswagen beteiligt, stellte die Software, das auf Google Maps basierende Navigationssystem und das Datenmanagementsystem. Vorausgegangen war bei VW die Abwicklung der großen Softwaretochter Cariad, die am Ende die sehr hohen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Es war eben zu schwierig, alles auf einmal zu erreichen: Autotüren, die sich automatisch öffnen, wenn der Fahrer sich mit dem Handy nähert; die Playlist mit den Lieblingssongs zu präsentieren, die beim Losfahren automatisch erklingt; das aufploppende Arbeitsprogramm zu bieten, an dem man gerade noch zuhause gewerkelt hatte. Der »Cariad«-Gedanke hatte theoretisch etwas Bestechendes gehabt, man war aber in der Entwicklung schlicht ein paar Jahre zu spät. Man konnte eben doch nicht über Nacht zum Techkonzern mutieren. Der Angriff auf Tesla fiel in sich zusammen, auch weil McKinsey neun Milliarden Euro Mehrkosten diagnostiziert hatte und erklärte: »Die gesamte Modellpalette des Konzerns ab 2025 muss überprüft werden.«

Dafür half der Bau der neuen Fabrik »Trinity«, bei der sich der langjährige CEO Diess ganz an den Ideen seines Freund-Rivalen Musk orientiert hatte. Der VW-Mann hatte den Südafrikaner als »Technologie- und Innovationsvorreiter« über den grünen Klee gelobt. Der Ende 2015 als Chief Digital Officer von Apple geholte Johann Jungwirth (»JJ«) jedoch hatte in Wolfsburg mit seinen Visionen einer automatisierten mobilen Zukunftswelt schon bald keine Zuhörer mehr gefunden und war nach drei Jahren wieder weitergezogen.

Nun nutzte auch VW das Knowhow des Datenmonopolisten Google, der bereits über die Tochter Fitbit den Markt rund um Digital Health aufgerollt hatte und dafür kartellrechtlich im Stammgeschäft der Suchmaschinen ein paar Konzessionen hatte machen müssen. »Waymo« ist zu einem Markenbegriff der Ford-VW-Familie geworden. Die noch vor einigen Jahren stark beworbene Marke »ID« fristet dagegen ein Nischendasein im Gebrauchtwagenmarkt. Für den Google-Konzern Alphabet hatte sich unter dem Strich bezahlt gemacht, dass schon seit 2009 beim später so genannten Projekt »Waymo Driver« die eigenen selbstfahrenden Autos Millionen Testkilometer auf US-Straßen hinter sich gebracht hatten. Zunächst in Phoenix, Arizona, dann in San Francisco, fuhren Waymos Robotertaxis Passagiere zu ihren Zielen.

Im Markt der Nutzfahrzeuge wiederum war die Google-Schwester Waymo eine Allianz mit Daimler Truck eingegangen, einem abgespaltenen Teil des alten Daimler-Konzerns. Die Deutschen hatten sogar die Mehrheit an einer Roboterfirma – Torc Robotics – gekauft, doch die nötigen Sensoren, Rechner und Software-Angebote baute am Ende Waymo ins Fahrgestell der Lastwagen und Busse ein. »Wir verkaufen im Grund genommen das Chassis an Waymo und Alphabet«, konstatierte ein Daimler-Mann in einer Zeitschrift ein wenig ernüchtert. Mit zwei Jahren Verspätung waren die Lkw-Selbstfahrer 2031 auf den neuen speziellen »Platoon«-Spuren der Highways und Autobahnen gestartet.

Von den einst fünf amerikanischen Internetgiganten, die man als »Gafam« kannte, spielen im Automobilmarkt zudem noch Apple und Amazon jene gewichtige Rolle, die sie sich einst auch zugedacht hatten. Microsoft hatte frühere Versuche, abgespeckte Windows-Varianten in die Automobilelektronik zu bringen, nach einigen internen Diskussionen nicht wiederholt. Man fokussierte sich ganz auf das erreichte Monopol in der Bürokommunikation. Facebook wiederum ist nach der Trennung von WhatsApp und Instagram im Jahr 2026 ein Organisator der virtuellen Welt des Metaverse geworden, in der die einzige Beziehung zum Pkw-Markt derzeit darin besteht, virtuelle Autohäuser anzusiedeln. Es gibt immer wieder neue Gerüchte über eine Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens.

Von Apple hätte man auch nichts anderes als eine Expansion in den Markt der Mobilität erwartet. Der Konzern verfügte über alles, was man hierfür braucht: Geld, Software, Chips, Knowhow – und eine Top-Marke. Ein eigener Kartendienst bereitete den Start von Apple-Autos vor, die sich der Konzern von gestandenen Herstellern fertigen ließ. Die Ausdehnung des ohnehin vorhandenen eigenen Ökosystems war in derDNAdes Unternehmens angelegt, das machte seine Struktur aus – diese Verbindung von Hard- und Software, von iPhone und iOS-Betriebssystemen, von App Store und iWatch, von Mac-Computer und Apple Music sowie Apple Books. Schließlich war dieses Modell einer ökonomischen Grundaufstellung ja überhaupt erst der Grund gewesen, warum der Auto-Revolutionär Elon Musk trotz anfänglicher, wiederholter Produktionsschwierigkeiten mit Tesla den Angriff auf das alteingesessene Industrieestablishment gewagt hatte. Die Altvorderen hatten es sich in überschaubaren, nicht von allzu vielen Wettbewerbern aufgescheuchten Märkten bequem gemacht (siehe Abb. 1). Da kam die Volkswagen-Gruppe in Deutschland einst bei Neuzulassungen auf 37 Prozent,BMWauf zehn Prozent und Mercedes auf mehr als neun Prozent. Fast 60 Prozent des Marktes waren so vergeben. Und wenn es grundlegende Dinge zu regeln gab, etwa Probleme der Abgasreinigung, verständigten sich die drei Konzerne auf gemeinsame Normen. Das hatte Mercedes derEU-Kartellbehörde mitgeteilt. Die ordnete daraufhin Strafzahlungen über jeweils mehrere hundert Millionen Euro an, nur Mercedes musste aufgrund des Kronzeugenstatus kein Geld überweisen.

Elon Musk überrumpelte die scheinbar übermächtige Konkurrenz ganz einfach mit seinem eigenen, komplett neu gedachten System. Diese »Vertikalisierung« beinhaltete eigene Aluminium-Großpressen, selbst designte Chips, einen extrem beschleunigten Produktionsprozess in eigenen »Gigafactories«, leistungsstarke High Performance Controller als zentrale Steuereinheiten, eine eigene Batteriezellenproduktion sowie die Unterstützung für das Hochgeschwindigkeitsinternet über 2300 Satelliten, die für das eigene »Starlink« ins All geschossen worden waren. Musk galt optimistischen Wettbewerbsökonomen als Beweis, dass ein Pionier auch scheinbar vergebene Märkte neu gestalten und verändern kann. Es sei die größte Gefahr, dass mittelfristig in einer Wirtschaft die Innovationsdynamik erlahme und Trends verschlafen würden, erklärt im Gespräch der Düsseldorfer Ökonom Justus Haucap, der viele Jahre die Monopolkommission geleitet hatte: »Dass man es sich ein bisschen gemütlich einrichtet, so wie wir es in der deutschen Automobilindustrie erlebt haben. Wir werden vermutlich in diesem Markt künftig eine stärkere Marktkonzentration feststellen. Mal sehen, ob es irgendwelche reichen Spinner gibt, die in dieses Geschäft gehen wie einst Elon Musk. Wer hätte das gedacht: Da hat einer keine Ahnung vom Autobauen und räumt dann kräftig auf!«

Der Siegeszug von Tesla war aber auch ein Beweis dafür, wie Tech-Denken und Datenwissen neue Größen schafft und wie ein Software-Experte wie Musk zum neuen Tycoon werden kann. Alle Experten lobten das Betriebssystem, das er 2012 auf das Model »S« geladen hatte. Musk selbst wähnte sich so stark, dass er die Displays in seinen Autos nicht für Apple Car Play oder für Googles »Android Auto« freigab. Versicherungen, Strom und einen riesigen Batteriespeicher verkaufte er im Umfeld von Tesla auch noch – Plattformökonomie eben. Während bei etablierten deutschen Konzernen Juristen, Finanzexperten und Maschinenbauer den Ton angaben, bestimmte mit Elon Musk bei Tesla eine Person, die Software beherrscht.

Über die gesamten 2020er-Jahre hinweg hatte Tesla auf einzelnen Märkten neue Werke eröffnet und sich Neukunden gesichert. 2030 stand dann fest, dass Musk das selbst gesetzte Ziel von jährlich 20 Millionen verkauften Fahrzeugen locker um zehn Prozent übertroffen hatte. Der heute 64-Jährige hatte Xi Jinping zu dessen »China-Standard-2035«-Fete in einer wortreichen Erklärung abgesagt, die Begründung aber war nachvollziehbar: Er musste einer Sitzung im Zentralbankrat für Kryptowährungen beiwohnen.

Das Apple-Management hatte sich 2025 nach dem altersbedingten Rückzug des CEO Tim Cook mit erheblichen Investitionen auf den potenziellen Umsatzbringer Apple Car gestürzt. Die Angelegenheit »iCar« wurde das Lieblingsprojekt von Cooks Nachfolger Jeff Williams, der zuvor als Chief Operating Officer gewirkt hatte. Hier schien plötzlich genügend Expansionsspielraum für die iMarke vorhanden zu sein. Mit Apple Car hatte sich der Konzern bereits seit 2014 beschäftigt, das ganze Projekt hieß intern nicht ganz unbescheiden »Titan«, und es sah die österreichische Firma Magna als Auftragsfertiger sowie die südkoreanische LG als Batterielieferant vor. Die ersten drei Werke wurden für die Türkei, China und die USA geplant. Das war aber erst der Anfang eines weltumspannenden Netzwerks.

Jahrelang hatte Chefmanager Cook so viel Geld verdient, so viel Monopol- und Markenrendite eingefahren, dass ein echtes Gewinnverwendungsproblem entstanden war. In dieser »Notlage« entschied man sich mehrmals für den Rückkauf eigener Aktien, was einerseits den eigenen Aktienkurs liftete, andererseits optisch auch den Gewinn pro Aktie aufhübschte. Das Autogeschäft aber lockte endlich einmal mit »richtigen« unternehmerischen Herausforderungen. Was sind dagegen schon kleine, inkrementelle Verbesserungen des jeweils neuesten iPhone-Modells! Darüber hinaus stand mit General Motors ein branchenerfahrener Partner zur Verfügung, der noch nicht mit einer digitalen Verbindung versorgt war und in China als Partnerfirma beim E-Auto-Erfolg Wuling wertvolle Erfahrungen gesammelt hatte.