Das Moran Phänomen - Perry Payne - E-Book

Das Moran Phänomen E-Book

Perry Payne

0,0

Beschreibung

Ungewöhnliche Dinge passieren im verschlafenen Städtchen Moran in Wyoming. Immer mehr Menschen sterben auf mysteriöse Weise. Als Ursache stellen sich winzige, tödliche Blasen heraus, die sich zu einer undurchdringlichen Barriere um die Bergregion ausbreiten.In wenigen Tagen werden die Einwohner völlig eingeschlossen. Die Angst wächst und verändert die Menschen. Thriller / ca 362 Seiten / erscheint am 01.10.2021 / ISBN: 978-erhältlich als Taschenbuch und eBook Mitreißend, emotional und überaus spannend. Der erfolgreiche Thriller von 2016 erscheint endlich in einer komplett überarbeiteten und erweiterten Version. Erlebe jetzt die Geschichte von Dan und seinen Freunden, Sydney und den Einwohnern des verschlafenen Städtchens Moran am Eingangstor der Rocky Mountains. Jetzt noch intensiver, spannender, mit komplett neuen Dialogen und zahlreichen zusätzlichen Details. Ein Thriller, der unter die Haut geht und in Erinnerung bleibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 445

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle glorreichen Ideen und Veränderungen im Leben

haben den Ursprung im simplen Gedanken.

Die Ewigkeit verliert sich im Nichts.

Das Einzige, was bleibt, ist die Stille der Hoffnung.

Perry Payne

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

FLUCHT NACH KANADA

MOONDANCE

DER TANKWAGEN

AM SNAKE RIVER

BLASEN ÜBER DEM

STROMAUSFALL

WACKELELVIS

VERSCHWUNDENES AUTO

HELIKOPTER

GEFESSELT

NACHRICHTEN

MEINE KARTOFFELN

KALTER MORGEN

GESTÄNDNIS

GIRLANDEN AUS GELD

WACHEN

KELLER

DIE ÖFFNUNG

TANZ DES TODES

PSYCHE

SKYS THEORIE

CAROLIN

GEFANGEN

HOFFNUNG

RETTUNGSAKTION

KUSS IN HANDSCHELLEN

ALIENS?

AM BUFFALO FORK

NAGEL IM HERZEN

DAS ALTE RADIO

MELINDAS LETZTER BERICHT

MORAN VERSINKT

EPILOG

WAS DANACH GESCHAH

1 PROLOG

Mein Name ist Dan. Nur Dan, sonst nichts.

Manchmal frage ich mich, wo die Prioritäten im Leben liegen, wie Recht definiert wird, wo das Glück anfängt und die Sehnsucht aufhört.

Aber beginnen wir diese Geschichte von vorne: Ich bin in der Gosse aufgewachsen und hatte nicht das, was die meisten Menschen ein erfülltes Leben nennen würden. Doch was ist schon perfekt und was ist richtig oder falsch?

Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Damals, mit zehn Jahren, betrat ich das erste Mal ein richtiges Kino. Dieser Besuch faszinierte mich enorm, dirigierte meine Gedanken zu einem wundervollen Traum und brachte mir zwei glorreiche Ziele für das Leben. Denn was ist das Leben ohne großartige Ziele? Mir gab es jedenfalls Inhalt und Ansporn.

Heute bin ich einundzwanzig und - ich muss es mir eingestehen - keines von diesen Zielen hat sich bisher erfüllt. Weder ist mein Handabdruck auf dem Hollywood Boulevard eingelassen, noch habe ich es geschafft, eine liebe Frau an meiner Seite zu haben und eine Familie zu gründen. Denn beide Ziele sind verdammt schwer zu erreichen. Immerhin weiß ich jetzt, dass ein Vorhaben und der ernsthafte und starke Wille, es durchzusetzen, nicht immer genügen. Das Schicksal hat wohl stets ein Wörtchen mitzureden.

Noch weiß ich nicht, wo es mich hinführt, aber ich sehe in den Abgrund und auf das Chaos der verlorenen Welt und mir wird das Ende meiner Tage bewusst und wie viel Zeit ich verschwendet habe mit Dingen, die der Bedeutsamkeit des Lebens nie gerecht werden könnten.

Es ist kalt und der Wind pfeift mir um die Ohren. Ich sehe, wie die Welt versinkt, und erkenne eiskalte Herzen der Menschen, die ich noch vor wenigen Tagen meine Freunde genannt habe.

Lange kann ich mich nicht mehr halten. Der kalte Stahl schmerzt an meinen Händen und der Untergang engt den Sendemast weiter ein. Es gibt kaum noch Raum, der für das Fortbestehen geeignet ist, und kaum noch Hoffnung. Deswegen möchte ich am Ende sagen, wie dankbar ich bin und dass nichts umsonst war, auch wenn sich die Situation anders darstellt. Sie fügt sich nahtlos in mein kaputtes Leben ein. Und genau das sollte wohl meine Bestimmung sein. Von Anfang an. Denn ich bin nur Dan. Sonst nichts.

2 FLUCHT NACH KANADA

Wie klebriger Baumharz an den Fingern hatten sich die vergangenen elf Stunden dahingezogen, nur dass der in die Jahre gekommene dunkelgrüne Ninety Eight Regency mit den auffällig verrosteten Kotflügeln nicht ansatzweise so angenehm nach Tannenzweigen duftete. Der Schweiß der vier jungen Männer, Rauch und das alte Leder vermischten sich in der Hitze und dem engen Raum.

Bei vierunddreißig Grad und strahlend blauem Himmel hatte die Sonne den Zenit überschritten und fiel langsam hinter die hohen Berge der Rocky Mountains ab. Die Klimaanlage brummte leise vor sich hin. Sie funktionierte wie ein Weckradio mit schlechtem DAB Empfang und sprang meist in Linkskurven an und blockierte bei Geschwindigkeiten von über fünfzig Meilen pro Stunde. In den geschlossenen Fenstern verfingen sich in den Schlieren immer wieder vereinzelte Sonnenstrahlen, blitzten auf und blendeten beharrlich mal den einen und mal den anderen Passagier.

Zudem hatte sich die verbrauchte Luft mit billigem Parfüm und - seit der letzten Stunde - mit den Ausdünstungen von Kuhmist gemischt.

Die jungen Männer rasten auf ihrem letzten Weg durch die USA in ein neues Leben. Sie waren erschöpft und schliefen oder dösten. Die bewegten Gespräche waren seit Denver verstummt, nachdem der Alkohol seine berauschende Wirkung gegen eine erhebliche Bettschwere eingetauscht hatte.

Das war auch der Zeitpunkt gewesen, an dem ihnen bewusst geworden war, wozu sie Raul und der Rausch des Kokains getrieben hatte. In der vergangenen Nacht hatten sie getanzt, Leute angepöbelt und Trinkspielchen gespielt. Während dieses obsessiven Spaßes hatten sie in unterschiedlichen Bars und Klubs in Wichita einiges mitgehen lassen oder wahllos und lauthals zerstört.

Zum Ende ihres ausufernden Trips hatten sie ein Casino, einen Geldtransporter und abschließend eine kleine Bankfiliale um ein paar Scheine erleichtert. Jerome erinnerte sich, wie Dan dem Typen von der Bank unbedingt Trinkgeld hatte geben wollen, weil dieser keine nennenswerten Sperenzien bei der Herausgabe des Geldes gemacht hatte.

Dan gähnte laut und sah aus dem Seitenfenster. Jerome umklammerte das dünne Lenkrad mit dem eingearbeiteten Nussholzimitat, sah vor sich den ewig geraden Highway dreiunddreißig Richtung Jackson und musste unwillkürlich grinsen. Alle paar Meilen klopfte er gegen die Tankanzeige, um die Nadel auf den aktuellen Stand springen zu lassen.

»Das nervt«, sagte Kid heiser, der in seinem schicken hellblauen Hemd neben ihm saß. Mit halb geschlossenen Augen klappte er lax die Sonnenblende herunter und begann den Schmutz unter den Fingernägeln herauszupulen, eine schwarze Masse, die scheinbar immer wieder zu ihm zurückkehrte, wenn er nicht hinsah oder eine Weile nicht daran dachte.

»Wir müssen tanken«, sagte Jerome, der schlanke, groß gewachsene Mann Anfang zwanzig. »Die Anzeige steht auf Reserve.«

Auf der Rückbank rührte sich träge Dan. »Ich brauche ein Bett«, krächzte er. Neben ihm schlief Raul, der Älteste von ihnen.

Bisher hatten sie auf der gesamten Strecke von Wichita lediglich einmal anhalten müssen, damit Dan seinen Mageninhalt ins Freie bringen konnte, wobei die anderen diese Pause genutzt hatten, um ihre Blasen zu entleeren. Dort schnupperten sie ein wenig von der würzigen Landluft und reckten ihre müden Knochen in die Höhe. Bei dieser Rast trat Kid in einen Kuhfladen und brachte den bäuerlichen Duft in den Wagen, was eine Meile später zu einer Rangelei geführt hatte und dazu, dass Kid jetzt nur noch einen Schuh besaß. Der andere lag in Ogden, irgendwo zwischen einer schäbigen Wetterstation und dem Radiostudio UGF.

»Weiß jemand, wer den Bullen erschossen hat?«, fragte Jerome.

»Jedenfalls niemand von uns«, sagte Kid und versuchte tiefer in seinem trägen Verstand und den blassen Erinnerungen zu kramen. Er rieb sich die schmerzende Stirn. »Dan war doch im Bullys. Also kann er es nicht gewesen sein. Und da er die Knarre besaß, war es folglich keiner von uns.«

»Hab niemanden umgelegt«, kam es leise von der Hinterbank.

»Die werden uns das trotzdem anhängen.«

»Scheiß drauf, Boss«, sagte Kid zu Jerome. »Wir machen uns unsichtbar und mit der Kohle im Kofferraum brauchen wir niemandem Rechenschaft ablegen. Sollen sie erzählen, was sie wollen.«

»Noch sind wir nicht über die Grenze«, gab Jerome müde wieder.

»Nein, aber ich freue mich darauf, als ob heute Abend Bescherung wäre.«

»Du glaubst an den Weihnachtsmann? Hab ich´s mir gleich gedacht«, sagte Dan aufgeweckt, sah ihn dabei nicht einmal an und rubbelte emsig an einem unschönen Fleck auf seiner Jeans.

»Klar, Mann. Auch wenn ich als Kind nur ein einziges Mal unter einem leuchtenden Tannenbaum meine Geschenke auspacken durfte. Ich habe ein paar Jahre Weihnachten nachzuholen, und damit verdammt viele Geschenke.«

»Einmal?« Jetzt hob Dan den Kopf und sah ihn verdutzt an, dann lachte er laut los und sang: »Kid glaubt an den Weihnachtsmann.«

»Halt die Fresse«, erwiderte der.

»Selber«, entgegnete Dan verhalten und ergänzte: »Wenn du den Opi mit dem roten Umhang siehst, kannst du ihn gleich zum mir schicken. Bisher stand ich auch nicht auf seiner Besuchsliste. Scheiß Penner.« Seine Augen irrten in die Leere und der Verstand kramte in Bildern der Erinnerungen. »Obwohl ...« Er überlegte. »Einmal war ich mit Onkel Dumont im Superstore. Dort gab es einen fett gefressenen Weihnachtsmann. Wie ein König saß er in einer wunderschönen glitzernden Kulisse mit rotem Samt und künstlichem Schnee. Dumont brachte mich zu ihm auf den Schoß und ich flüsterte ihm meinen Wunsch ins Ohr.«

Kid drehte sich nach hinten. »Und, was hast du dir gewünscht?«

»Ich glaube, ich habe mir eine richtige Pizza bestellt.«

Kids Mundwinkel schoben sich in die Breite. »Der Weihnachtsmann ist doch kein Pizzabote, Alter.«

»Hey, ich war fünf oder so.« Unschuldig zuckte Dan mit den Schultern.

»Und hast du deine Pizza bekommen?«, fragte Kid grinsend.

»Ja, hab ich. Zwei Tage später, am Heiligen Abend sind wir das erste Mal in ein richtiges Pizzahaus gegangen.«

»Tolle Geschichte«, sagte Kid gelangweilt.

»Ach, leck mich doch. Ich fand es jedenfalls gut.« Dan nahm einen Block und einen Bleistift aus seiner Tasche, überblätterte die beschriebenen Seiten und begann mit seinen Notizen.

»Jetzt erwartet uns alle der Weihnachtsmann. Diesmal wird er nicht knausrig sein und schenkt uns ein neues Leben«, sagte Jerome und sah kurz von der Fahrbahn weg nach hinten. Raul hatte die Augen geschlossen und atmete tief. Er bekam nichts von allem mit.

»Tschüss, Amerika.« Wie ein Sieger reckte er seine Faust zur Frontscheibe und umschloss anschließend wieder das Lenkrad.

»Liegen wir im Zeitplan?«, fragte Kid.

»Etwa zehn Stunden bis zur Grenze«, sagte Dan beiläufig und steckte sich einen Joint an. Er blies die Nebelschwaden vor, die sich wie ein ruhender Cirrus Wolkenschleier unter die Wagendecke legte und auf seine Weise die ermattete Gemütslage ausdrückte.

»Hey Amigo, mach den Joint aus«, sagte Jerome und versank in Gedanken auf der leeren und absolut geraden Straße nach den Bergen bei Petticoat Peak. Die Felder waren kahl und die Sicht weit. Jerome mimte zu gerne den Spanier mit seinem falschen Akzent, den er manchmal vergaß, und behauptete, dass er den lieben langen Tag Siesta machen und Kastagnetten spielen könnte (was, nebenbei gesagt, niemand bei ihm je gesehen oder gehört hatte). Er schwärmte von einer Finca am Fuße der Sierra Nevada, von der heißen Sonne, seinen Kochkünsten und ließ nichts auf seine Mama kommen. Was gäbe er dafür, Carlos zu heißen, doch niemand täte ihm den Gefallen, ihn so anzusprechen. Jedenfalls erinnerte er sich immer wieder gerne an die guten alten Zeiten und die einzig erfolgreichen Jahre in seinem Leben, die aufgehört hatten, als es am schönsten gewesen war. Damals hatte er auf dem College als Kapitän der Lancaster Palms im großen Spiel gegen die L.A. Raiders antreten sollen. Mit seinem speziellen Cutters, den beinahe niemand zu schlagen bekam, war er der Held der Schule gewesen. Doch vor dem wichtigen Spiel vor zehn Jahren war er vom College verwiesen worden.

»Idioten«, fauchte er bei diesen Erinnerungen. Die anderen im Wagen reagierten nicht und er verlor sich wieder in der Vergangenheit. Nach dem College hatte er mal hier und mal da gejobbt und einiges ausprobiert, nur um festzustellen, wie anstrengend Arbeit sein konnte und wie ungeeignet sie für ihn war, um vernünftig Kohle zu verdienen und über die Runden zu kommen. Daraufhin machte er sich mit einem eigenen Unternehmen selbstständig und schraubte parkenden Autos die Räder ab, knackte sie auf und räumte sie leer. Nur wenige Monate später klaute er die kompletten Autos. An einem dieser Tage, an dem es mal wieder nicht so richtig lief, rettete Raul ihn vor den Bullen. Das war vor genau drei Tagen gewesen.

Jerome schluckte, als er aus seinen Erinnerungen in die Realität auftauchte. Der Asphalt flirrte in der heißen Luft, und der wunderschöne Herbsttag hätte genausogut das perfekte Wetter während eines Sommerurlaubs in der Karibik sein können. Nun spielte es keine Rolle mehr, welche Strapazen er hinter sich hatte. Weder in seinem vergangenen Leben noch in den letzten beiden Tagen. Er war verdammt reich. Und das konnte längst nicht jeder auf dieser Welt von sich behaupten.

Jerome blickte in den Rückspiegel. Weit und breit waren keine Bullen, kein Helikopter und keine Straßensperren zu sehen. Vor ihnen lagen das weite Land, die Freiheit und eine glückliche Zukunft.

Auch wenn ihm diese Tatsache fast zu einfach vorkam und sein unbehagliches Gefühl blieb, atmete er entspannt durch, lehnte seinen Kopf gegen die Kopfstützen und hielt das Lenkrad locker mit einer Hand am unteren Ende. Entweder hatten es die Bullen noch immer nicht geschnallt oder sie waren schlicht zu dämlich für ihren Job. Er grinste wie auf der Urlaubsreise kurz vor dem Ziel. Und mit jeder weiteren Stunde und jeder Meile fühlte es sich sicherer an.

Der blonde Dan saß mit seinen verstrubbelten Haaren (wovon eine dicke Strähne bis auf die Nasenspitze reichte) und dem seit Tagen gleichen verschlissenen und fleckigen Shirt hinter Jerome. Er war der Kleinste von ihnen und inhalierte genüsslich seinen Joint.

»Lass den Scheiß.«

Jeromes Einwand versank im Nebel des bunten Einhorns.

Dan grinste und zog einen Geldschein aus der Jeans, hielt ihn gegen das Licht und wendete ihn hin und her. Das war bisher sein größter Schein und sein erstes selbst verdientes Geld. Zufrieden legte er den Schein hinten in seinen Block, strich sanft darüber und nahm den Bleistift.

»Was schreibst du die ganze Zeit, Amigo?«

»Nichts.« Dan sah kurz auf.

Jerome griff hinter sich und verlor kurzfristig die Straße aus den Augen. Er schnappte sich den Block und schnellte nach vorne.

»Hey Alter, gib das her«, zischte Dan und schlug gegen die vordere Lehne.

»Was schreibst du da für einen Scheiß?«, wollte Jerome wissen und überflog ein paar Worte.

»Nichts. Gib mir den Block.«

Doch Jerome hielt den Block gegen das Lenkrad und begann laut und wahllos daraus vorzulesen: »Die vier Cowboys schritten mit erhobenem Haupt in die Bank von Onkel Sam.«

Er sah kurz auf die Straße, und da er noch in der Spur war, las er weiter: »Die Sonne blendete sie stärker als sonst, als ob sie ihnen absichtlich den Überblick nehmen wollte. Jemand sagte: Haltet ein, ihr Recken ...« Er sah zu Kid, dann nach hinten. »Was ist das für ein Mist? Sind wir das? Sind wir die vier Cowboys?«

»Jetzt gib das zurück oder ich ziehe dir eins über. Das meine ich ernst, Alter.«

Jerome blätterte bis zum Ende und las: »Mit ihrer Beute ritten sie gen Norden in die abgelegenen Berge. Es stand ihnen ein neues, gewaltiges Abenteuer bevor, bei dem sie kein Geld mehr brauchen würden. Sie mussten einfach nur am Leben bleiben. Ende.«

Dan schob sich zwischen den Sitzen nach vorn und riss ihm das Notizbuch aus den Händen. »Idiot. Das geht dich nichts an.«

Lennis, the Kid, auf dem Beifahrersitz sagte: »Ich finde das gar nicht so übel. Hast du mehr davon?«

»Vielleicht.« Dan lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Seit er Humphrey Bogart das erste Mal auf der großen Leinwand gesehen hatte, war er ein großer Kinofan und wünschte sich nichts sehnlicher, als eines Tages selbst auf einer Bühne zu stehen. Er wollte vor eintausend Leuten den Satz sagen: «Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen.» Und: «Küss mich, küss mich, als wäre es das letzte Mal.»

Was gäbe er dafür - und was tat er alles für seinen Traum. Er lernte die Stücke auswendig und versuchte seine Filmzitate in normale Unterhaltungen einzubauen. Doch die meisten würdigten es nicht, wenn er zu Beispiel sagte: «Jemand sollte unserem kleinen Freund sagen, dass sich enge Mäntel und Pistolen nicht vertragen.»

Hin und wieder hatte Dan die Schule besucht. Zumindest anfangs, als sie nervig gewesen war, bis er feststellte, dass es warm und unterhaltsam sein konnte. Mit zwölf begriff er, dass die Schule ein Ort war, an dem man andere dazu bringen konnte, ihm sein Pausenbrot und das Taschengeld abzudrücken. Aber nicht nur das. Dan interessierte sich für so manches Thema in den Unterrichtsstunden, sofern die Lehrer das Passende erzählten. So kam es, dass er einerseits einer der besten Schüler war und andererseits ihn die Lehrer völlig falsch einschätzten. In dieser Zeit zog er sich einiges an Wissen und allerhand materielle Dinge heraus. Doch als die Schulleitung herausfand, dass er weder Eltern noch eine Wohnung hatte, sollte er nach Winfield in ein Heim abgeschoben werden. Dazu kam es nicht. Wie er es immer getan hatte, war Dan am selben Abend untergetaucht und für die meisten Leute unsichtbar geworden.

Seinen Notizblock und den Bleistift hatte er stets griffbereit, damit er, wann immer ihm ein genialer Einfall kam, seine Sehnsüchte und Gedanken aufschreiben konnte, um vielleicht einmal einen Spruch auf Papier zu bringen, der eines Tages über die großen Leinwände dieser Welt zu den Leuten getragen werden würde. Natürlich wusste er sehr gut, dass diese Träume, solange sie Träume blieben, nicht seinen Bauch füllen würden. Und vermutlich auch sonst nicht. Aber er fühlte etwas Großartiges, wenn ihn einer der seltenen einträglichen Gedanken überkam. Für ihn gab es nichts Beständigeres in seinem Leben, als die Gedanken auf das Papier zu bringen und seinen großen Zielen zu folgen. An manchen Tagen, vielleicht wenn es regnete oder wenn sein Magen die Geräusche der vorüberziehenden Autos zu übertönen versuchte, hatte er doch etwas, worauf er sich freuen konnte. Dann spielte der Tau auf seinen Wangen am Morgen keine große Rolle mehr, wenn er wieder in der Gosse in einer schäbigen Ecke aufgewacht war. In seinem bisherigen Leben hatte er abwechselnd zwischen Müllcontainern und Luxusappartements gewohnt, ganz wie es das Schicksal vorgesehen hatte. Er nahm, was er kriegen konnte, genau wie die Zehndollarnote, die ihm Raul vor drei Tagen vor die Nase gehalten hatte. Dan hatte nicht gefragt und nach dem Geld geschnappt. Und nun saß er hier im Wagen und betrachtete ausgeglichen Benjamin Franklin auf der Einhundertdollarnote.

»Eines Tages werde ich mein eigenes Geld machen. Dann seht ihr mein Gesicht jeden Tag beim Bezahlen«, sagte er und sah abwechselnd zu Kid und Jerome.

»Mach den Joint aus, hab ich gesagt. Dein Gehirn beginnt sich bereits zu zersetzen«, schnaubte Jerome genervt.

»Was hast du gegen eigenes Geld, Mann?«

»Das will ich dir gerne erklären.« Jerome drehte sich kurz nach hinten, um Dans Augen zu sehen. Was er dort zu sehen bekam, hatte er bereits geahnt. Noch immer hatten die Drogen Dan fest im Griff. Rasch richtete Jerome seinen Blick wieder auf die schnurgerade Straße. Wir haben es bald geschafft, dachte er und seine Mundwinkel schoben sich in die Breite.

»Ich finde meine Idee nicht schlecht. Mein eigenes Geld. Dann kann ich Gebühren verlangen, für jede Transaktion«, sagte Dan begeistert.

»Hör mir mal zu.« Jerome sprach laut gegen die Frontscheibe. »Du kannst dir von deinem Anteil eine fette Braut kaufen, dazu ein schönes Apartment und eine geile Karre vor der Tür. Aber du kannst damit kein eigenes Geld machen. Alter, dann bräuchtest du einhunderttausend Mal so viel. Und einen eigenen Staat dazu.«

Kid korrigierte ihn: »Geile Braut und fette Karre.«

»Sag ich doch, Amigo.«

»Nein, Idiot. Du hast fette Braut gesagt. Wer verdammt noch mal will eine fette Braut?« Kid schlug sich gegen die Stirn.

»Ach, leck mich.« Jeromes Kopfschmerzen machten ihm zu schaffen. Er wollte nur noch diese Sache hinter sich bringen und von vorne beginnen. Nicht jeder bekommt so eine Chance. Nicht jeder. Aber ich, dachte er und kramte in seiner Jackentasche nach Schmerztabletten. Er fand den Blister zwischen geknülltem Papier und irgendwelchem Durcheinander in seiner Innentasche und zog mit ihm einen Strafzettel heraus, wobei die Tabletten auf sein Bein und zwischen das heillose Chaos in den Fußraum fielen. Er zerknüllte den Strafzettel vom Police Department Fernley, den er aus Spaß von irgendeinem Auto vor einem Casino mitgenommen hatte, und warf ihn gereizt zwischen seine Beine.

Jerome beugte sich hinunter, hielt eine Hand weiter am Lenkrad und wühlte zwischen den leeren Pappbechern, Tüten, Dosen und gebrauchten Fast Food Schachteln mit den Essensresten und fuhr mit der flachen Hand über den einst plüschigen Bodenbelag. Die Tabletten waren nicht auffindbar, also ließ er das Lenkrad los und tauchte vollständig unter das Armaturenbrett ab.

Kid griff in einer Reaktion, die ihn vermutlich selbst verwunderte, völlig spontan ins Lenkrad und schrie: »Was treibst du da? Willst du uns umbringen? Komm hoch und sieh auf die Straße, verdammt noch mal.«

»En cien años todos calvos«, kam es gepresst von unten.

»Was heißt das, Mann? Du bist kein beschissener Spanier. Rede wie ein normaler Mensch und komm hoch.«

Das Auto machte keine Probleme und hielt die Spur auch ohne Jerome.

»Nichts ist für die Ewigkeit, sagte Mama.« Jerome tastete unter dem Sitz nach den Tabletten.

»Was soll das bedeuten? Nimm das Lenkrad und scheiß auf deine Mama.« Kid wurde wütend.

Jerome schnellte hoch und sah ihn angriffslustig an. »Du beleidigst meine Mama? Ja? Willst du, dass ich dich töte?«

Dan mischte sich ein: »Er meint es nicht so. Sieh auf die Straße, Alter, und beruhige dich.«

Lennis, the Kid war mit seinen fünfzehn der Jüngste unter ihnen. Vor knapp zwei Jahren hatte ihn Jerome in einer Bar aufgegabelt, in der er zugekifft, ausgeraubt und halb nackt neben seiner eigenen Scheiße um ein vollgekotztes Klo gelegen hatte. Ein paar Kerle hatten ihm irgendein Zeug gespritzt und ihn anschließend zusammengeschlagen, weil er nicht bezahlen konnte. Seitdem hing er an der Nadel, probierte Crack, LSD und Crystal Meth. Wahrscheinlich hatte er alles andere auch schon probiert. In den kommenden Jahren war er der Realität entflohen, lebte in seiner eigenen chaotischen und ebenso unbrauchbaren Welt. Erst mit Jeromes Hilfe war er vor fünf Monaten von den harten Drogen losgekommen. Aber bis dahin hatte ihm das Leben zugesetzt. Wenn er auf Droge war, konnte er der beste Kumpel der Welt sein, und wenn er es übertrieben hatte, war die Welt sein einziger und letzter Freund. Und vielleicht das bunte Einhorn. Genau genommen wartete Kid weder auf den Weihnachtsmann noch auf irgendwelche anderen Geschenke vom Leben. Denn das kannte er als brutal, hart und schmutzig, und nur der Stärkste oder Schnellste konnte siegen.

Am Vorabend und an den actionreichen zwei Tagen hatte Raul ihn ursprünglich nicht dabei haben wollen, aber Jerome hatte darauf bestanden und genau aus diesem Grund saß er heute auf dem Beifahrersitz des Ninety Eight Regency.

Die Sträucher und Bäume trieben vorüber wie während einer sich ewig drehenden Karussellfahrt. Sie schienen stets die gleiche kahle Landschaft zu zeigen, die gleichen Bäume, Felder und hölzerne Lichtmasten. Nur die wenigen Autos, die ihnen entgegenkamen, und die beeindruckenden Gipfel der Rocky Mountains am Horizont veränderten sich langsam in diesem Bild.

Eintönig dröhnte der Motor, und der Nebel im Wagen hatte sich weitestgehend verzogen, da zerschnitt für einen winzigen Moment ein schwarzer Punkt den grellen Schein der Sonne. Zuerst bemerkte es Lennis. Er beugte sich vor, suchte am Himmel danach und zeigte mit dem Finger nach oben. »Was ist das?«

In der Größe eines Aktenkoffers fiel aus dem makellosen Himmel ein schwarzer Klumpen herunter.

Jerome bekam davon nichts mit. Er kramte wieder nach den Tabletten und überließ das Auto sich selbst.

Etwa dreißig Meter vor ihnen knallte das Ding mitten auf die Straße und schleuderte einen schwarzen Schwall nach allen Seiten, der sich wie eine Nebelwolke sanft niederließ.

Kid schrie, drückte sich in die Rückenlehne und versuchte zu bremsen, als ob er selbst der Fahrer wäre, und trat ins Leere, was ihm einen Schockblitz durch den Körper trieb.

Dan war mit seiner Einhundertdollarnote beschäftigt, drehte sie im Gegenlicht und betrachtete die Wasserzeichen und die Zahlenkombination darauf. Kid griff mit beiden Händen ans Steuer und schrie »Jerome! Verdammt, Jerome!«, riss es zu weit herum, verlor die Spur und driftete in Schlangenlinie auf die gegenüberliegende Fahrbahnhälfte und zurück. Das alte Auto schaukelte sich auf wie ein Schiff bei einem aufkommenden Sturm in den Fluten. Ihn durchfuhr ein Krampf in der Brust und er zuckte schmerzvoll zusammen, ließ das Steuer los, zog die Knie an den Bauch und krächzte: »Brems!«

Jerome schnellte hoch, griff fest das Steuer und korrigierte die Fahrt, während er gleichzeitig heftig auf die Bremse trat. Das Auto wippte mit quietschenden Reifen und die Schwerkraft schleuderte den schlafenden Raul von der Rückbank und drückte ihn gegen die Lehne des Vordersitzes.

Dan verlor seinen Geldschein und stemmte sich gegen die Lehne vor ihm.

Schaukelnd und schräg zur Fahrbahn kam der Ninety Eight zum Stehen. Der Motor würgte ab und zischend stieg feiner heißer Dunst aus dem Kühler.

»Verdammt! Was war das?«, schrie Kid.

Raul stöhnte und tauchte langsam auf.

Alle vier reckten ihre Köpfe über das Armaturenbrett.

Vor ihnen lag ein schwarzer Klumpen auf dem Asphalt. Jerome öffnete als Erstes die Wagentür. Weiße Nebelschwaden entflohen aus dem Wageninneren in die Freiheit.

Er inhalierte die klare Bergluft und kreiste die Schultern, um sich nach der langen Fahrt ein wenig zu lockern. Sein Blick war auf das schwarze Etwas gerichtet. Langsam ging er um das Auto herum und sah fragend zu Lennis, der ebenso ausgestiegen war und ihm ungläubig folgte.

Dan schälte sich aus dem Wagen und pustete eine schwarze Flaumfeder davon, die vor seinem Gesicht schwebte.

Auch Raul stieg aus und lief zu den anderen, die um einen zerschmetterten Vogel standen. Federn und eine klebrige Masse hatten sich über einen Umkreis von drei Metern verteilt.

»Das ist ein verdammter Rabe«, stellte Jerome fest. Auch wenn die Überreste kaum danach aussahen, erkannte er ihn an den typisch schwarzen Federn und dem großen Schnabel.

Eine Weile standen die vier um den toten Vogel herum. Raul war mit Ende dreißig der Älteste von ihnen, hatte einen langen Ziegenbart und versuchte nach seinem schweren Einschnitt im Leben, die Haare nach seinem Idol Robert Trujillo wachsen zu lassen. Sie waren auf dem besten Wege, lang, borstig und ungepflegt zu werden.

Er trug einen edlen dunkelgrauen Blazer, der nicht wie von der Stange aussah, und darunter ein weißes T-Shirt mit grauen Streifen und unschönen Flecken. Seinen Freunden hatte er nicht viel von sich und seiner Vergangenheit erzählt. Vermutlich ahnten sie, dass er vor diesem Raubzug ein hohes Tier gewesen war und mächtig Kohle eingefahren hatte. Jedenfalls hatte er in Südidaho studiert und ein Leben geführt, das er nicht sonderlich gemocht hatte. Seine Ausbildung und seine Karriere stellte er nie in den Vordergrund, verbesserte niemanden von der kleinen Gang oder drängte sich an die Spitze, auch wenn er es war, der alles genaustens geplant hatte.

»Es ist nur ein Rabe. Lasst uns weiterfahren«, sagte er und deutete zum Wagen.

»Sei kein unbeteiligter Zuschauer. Denn denen passiert immer etwas. Bogart«, warf Dan ein Filmzitat ein, das er an dieser Stelle für angebracht hielt.

Unruhig schaute Jerome zu beiden Richtungen der Straße. Niemand war unterwegs. Dann drehte er mit seiner Schuhspitze den toten Vogel auf den Rücken. Die Konsistenz erinnerte ihn an einen feuchten Scheuerlappen.

»Sterben die neuerdings beim Fliegen?«, fragte Dan, sah in den Himmel und zog kräftig am Stummel seines Joints, den er achtlos auf den Asphalt fallen ließ. Die Kippe landete in einer feinen Blutspur, die von schwarzem Flaum bedeckt war. »Jedenfalls hat er den Scheiß hinter sich gebracht«, stöhnte Kid und hielt sich die Hand an die Brust.

Dan ging auf die Knie, schnappte den Vogel am Schnabel und richtete sich damit auf. Mit ausgestrecktem Arm hielt er den schwarzen Federklumpen von sich weg. »Ich finde, der Kleine sieht irgendwie traurig aus.«

Ein bisschen Blut tropfte aus dem schwarzen Haufen. Dan griente und stellte den Kopf schräg. »Cool. Sieht wie eine Mütze aus.« Er zog einen Flügel zur Seite und streifte sich lose Federn von den Fingern, die daran kleben geblieben waren.

»Wirf das Ding weg«, sagte Kid und trat zurück, als ihm der Vogel zu nahe kam. Sein Gesicht war verkniffen.

»Das geht nicht. Jetzt ist es mein Vogel. Immerhin bin ich der Erste, der ihn angefasst hat. Also darf ich ihn behalten.«

»Das trifft auch auf deine Scheiße zu«, sagte Jerome gereizt.

Kid stöhnte: »Vergiss es. Lass das Ding hier. Wir nehmen keinen toten Vogel mit.«

»Darf ich euch daran erinnern, dass wir möglichst nicht auffallen wollen? Wir stehen mitten auf der Bundesstraße«, mischte sich Raul ein. »Ich schlage vor weiterzufahren, als wäre nichts geschehen.« Er zeigte zum Wagen, dessen dunkelgrüne Farbe fast vollständig unter einer gleichmäßigen Schicht feinstem Straßenstaub lag.

»Weiß jemand, wo wir sind? Wie lange fahren wir noch?«, wollte Kid wissen, immer noch mit der Hand auf der Brust.

»Keine Ahnung.« Jerome zuckte mit den Schultern. »Irgendwo in Wyoming. Diese Straße war nicht auf der Karte. Vielleicht hätte ich in Idaho Falls nicht abbiegen dürfen?«

»Schon gut«, sagte Raul. »Den direkten Weg über Süddakota konnten wir nicht nehmen. Das wäre zu gefährlich gewesen. Wir haben darüber gesprochen.«

»Ja, die Bullen … Ich weiß«, ergänzte Jerome.

»Abseits der Zwanzig und auf den kleinen Straßen ist es friedlich«, sagte Raul und sah nervös zu beiden Richtungen des Highways.

Dan gähnte und reckte genüsslich seine Hände in den Himmel, wobei er den Federklumpen wie eine Handpuppe hielt und drehte. »Ein starker Kaffee wäre jetzt gut.«

»Kaffee klingt verdammt gut«, sagte Jerome und beobachtete Kid, wie er mit hängenden Schultern zum Straßenrand und den trockenen Büschen lief. »Hey, wo willst du hin?«, rief er hinüber.

Energielos drehte sich Kid zu ihm um, hob abwehrend die Hand und entgegnete knapp: »Ich muss pissen.«

»Irgendetwas stimmt nicht mit ihm«, meinte Jerome mehr für sich selbst, lief ihm nach und rief: »Was ist los, alter Knabe? Wir haben es bald geschafft. Halte durch.«

»Ja«, sagte Kid wortkarg und lief um den Busch herum.

Jerome holte ihn rasch ein. »Was ist los, Mann?«

»Sind wir jetzt Mädchen, dass wir gemeinsam pissen gehen?« Kid kniff die Augen zusammen und verzog sein Gesicht, als ob er schmerzen haben würde, und griff sich an die Brust.

»Du hast doch etwas. Was ist mit dir?«

Kid öffnete seinen Hosenstall und sah Jerome in die Augen. Dicht neben ihnen huschte hinter dem Busch eine Familie Wühlmäuse vorbei.

»Ich weiß nicht, was los ist, Mann. Seit vorhin, als der beknackte Vogel runterkam, hab ich ein echt fieses Stechen in der Brust, als ob es mich innerlich zerreißt.«

»Lass mal sehen.«

Der Strahl benetzte das trockene Gras. »Warte.«

»Hab wahrscheinlich einen beknackten Herzanfall wie so ein Wohlfahrtsempfänger am Ende seines Arbeitslebens, bevor er die erste Zahlung erhält«, stöhnte Kid gepresst.

»Was machst du dir nur für Gedanken? Wenn es wirklich so ein Herzding sein sollte, dann werden wir einem Arzt finden. Du hältst gefälligst durch.«

Kid schüttelte seine Hüfte und zog den Reißverschluss zu. »Ich halte nicht viel von Ärzten. Das wird schon werden.« Er drehte sich zu Jerome um. »Ich will die Elche sehen, Ahornsirup auf dem Sandwich, im Yukon Kanu fahren und in den Kneipen unendlich viel Kaffee schnorren. Das lass ich mir doch nicht entgehen.«

»Gut so, alter Junge. Aber wenn es im nächsten Kaff einen Doc gibt, soll er mal kurz drüber sehen. Ich will nicht, dass du kurz vor dem Ziel schlappmachst.«

Kid wischte sich über das Hosenbein und gemeinsam liefen sie zu den anderen zurück.

»Irgendwann bezahlt jeder seine Rechnung«, sagte Kid wehmütig und knickte kurz ein. Er hielt sich wieder die Brust.

»Überhaupt nichts wird bezahlt. Rede nicht so einen Unsinn. Wir haben es bis hierher geschafft und der Rest wird ein Spaziergang. Weißt du, heute Nacht recken wir unsere blanken Bäuche in die kanadische Sonne und lassen es uns gut gehen.«

»Okay, Mann«, sagte Kid, blieb stehen und sah in die majestätischen Berge. »Uns erwartet ein astreines Leben in Kanada.«

»Komm weiter. Im Auto kannst du dich ausruhen.« Jerome schob ihn voran.

»Weißt du, was mein Dad immer gesagt hat? Er sagte: Das Leben wird dich so richtig ficken. Wir sind die kleinen Leute. Und die kleinen Leute kassieren den ganz großen Scheiß. Und wenn du eines Tages denkst, eine Auszeit zu bekommen, ist es nur, um die Spannung für das Finale anzuheizen. Uns, so sagte er, uns, mein Sohn, lassen sie nie in Ruhe leben. Sie lassen uns nicht mal in Ruhe sterben. Wenn du in der falschen Familie oder am falschen Ort geboren wurdest, bist du vom Tag der Geburt an im Arsch.« Bei diesen Worten sah Kid zum Horizont zur mächtigen Bergkette.

»War dein Alter ein Philosoph? Was soll der Scheiß bedeuten? Jeder kann etwas aus seinem Leben machen. Sieh uns an. Sieh dich, Raul, Dan und mich an. Haben wir etwa nichts Geiles aus unserem Leben gezaubert?«

»Vielleicht, Jerome. Vielleicht denken wir das nur.« Er legte seinen Arm auf Jeromes Schultern, um sich zu stützen. »Ich schätze mal, das ist die Ruhe vor dem Sturm, die mein alter Herr meinte. Und wenn das stimmt, holt uns das verfickte Leben schneller ein, als uns lieb ist.«

»Was weiß dein Dad schon?«

»Ich spüre, dass er recht hat.« Er krampfte seine Hand auf Brusthöhe in das Hemd und klagte: »Das sind verdammte Schmerzen. Diesmal ist es kein Spaß.«

Jerome packte ihn fest an der Hüfte und hielt seinen Arm. »Halte durch, Mann.«

»Hast du etwas Crystal gegen die Schmerzen?«

»Hm ...« Jerome überlegte und sah zum Wagen, dann wieder in sein zerknautschtes Gesicht. »Fragen wir Dan.«

Jerome ließ Kid in die Polster des alten Wagens hinabgleiten, ging herum und stieg ein. Dan und Raul warteten schon auf der Rückbank.

»Was ist mit Kid?«, fragte Dan.

»Herzattacke«, antwortete Kid selbst.

»Mach keinen Mist, Alter.« Dan klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Dann fuhren sie eine ganze Weile schweigend über den Highway Neunundachtzig, der parallel zum Snake River verlief.

Dan zeigte Kid einen Selbstgedrehten aus Haschisch. »Etwas anderes hab ich nicht. Du solltest noch etwas warten.«

»Bevor ich mir das Zeug reinziehe?« Kid wirkte erstaunt.

»Nein«, sagte Dan lang gezogen und schüttelte kindisch in schneller Folge mit dem Kopf. »Mit dem Abkratzen. Ich meine, wir müssen den Plan zu Ende bringen. Wenn du jetzt stirbst, stirbst du als ein Niemand, der sein Leben lang pleite war.« Er setzte sich den toten schwarzen Vogel auf den Kopf, drehte den Schnabel nach vorne und breitete die Federn über seine Ohren aus. Dazu zündete er feierlich den Joint an und reichte ihn Kid. Sich selbst brannte er auch eine an.

Raul schlug Dan die Kippe aus dem Mund. »Hör mit dem Kiffen auf. Wir müssen langsam wieder einen klaren Kopf bekommen.«

Kid lehnte sich zurück und inhalierte. »Was wollt ihr mit eurem Anteil machen?«

Niemand antwortete auf der Stelle.

Dan suchte auf dem Boden nach seinem Joint und die anderen schienen zu überlegen. Als Dan wieder auftauchte, sagte er: »Ich mache es so, wie es Jerome gesagt hat. Haus, geile Karre und eine scharfe Braut mit großen Titten.«

»Hey. Hab ich was von Titten gesagt?« Jerome zeigte sich bestürzt.

»Klar hast du das.« Dan setzte sich aufrecht und zog sich an der Fahrerlehne vor.

»Ja, hast du, Mann. Ich glaube, du hast sie sogar beschrieben«, bestätigte Kid beiläufig.

»Was ist mit euch los? Sehe ich so aus, als ob ich Titten beschreibe?«

Dan lehnte sich nach vorn und beäugte ihn von Nahem. »Irgendwie schon«, sagte Dan, nickte und lehnte sich wieder zurück. Er malte eine Rundung mit beiden Händen vor sich in die Luft: »Und genau so will ich sie haben. Große pralle Dinger. Und wenn ich darunterliege, werde ich denken, im Glockenturm von Pater Alessandro zu beten.« Breit grinsend verschränkte er seine Arme vor der Brust.

Kid sagte gequält: »Machst du immer alles, was Jerome sagt? Hast du kein eigenes Gehirn?«

Dan rammte ihn von hinten an die Schulter, was Kid ein Stück nach vorne warf. »Au, Idiot. Aber du? Du hast ein Gehirn oder was?«

»Oh mein Gott«, sagte Jerome und griff sich bedeutsam an die Stirn. »Wie im Kindergarten.«

Raul versuchte, die Situation zu beruhigen: »Wir brauchen dringend eine Pause.«

Dan steckte sich den Joint wieder in den Mund und Raul schlug ihn sofort herunter.

Dan wurde wütend und zeigte auf Kid. »Und der darf kiffen oder was?«

»Er hat Schmerzen. Lass ihn.«

»Hey, Mann. Ich hab auch Schmerzen«, schrie Dan.

»Sitzen die zufällig im Kopf?«, sagte Kid und grinste verstört.

»Du kannst mich mal. Ihr alle könnt mich.« Er nahm den Joint aus seinem Schoß und ließ ihn, vorbei am Tower und der Kopflehne von Jerome, wie ein kleines Flugzeug zu seinen Lippen fliegen, wo er die Punktlandung mit seinem Feuerzeug feierte. Raul war wieder zur Stelle und schlug sie ihm mit schneller Armbewegung aus dem Mund.

Dan drückte sich in die Ecke der Rückbank, stellte einen Fuß zwischen sie und war bereit, ihn damit abzuwehren. Er brüllte los: »Wenn du das noch einmal machst, trete ich dir in die Fresse. Hast du das kapiert?«

Raul beeindruckte die Drohung kaum. Er sah auf seiner Seite zum Fenster hinaus.

Jerome sagte: »Kriegt euch wieder ein.« Er schaltete das winzige Radio ein, das neben dem Lenkrad saß und vom Schaltknauf der Lenkradschaltung schlecht zu erreichen war. Zum Fahrgeräusch und dem donnernden Motor gesellte sich lautes Rauschen, bis er mit dem silbernen Rädchen einen einigermaßen deutlichen Sender gefunden hatte. Hier spielten sie einen Song der Scorpions, anschließend Great White und einen Song von Europe. Irgendwann dazwischen sagte Jerome: »Ich werde mir einen Job suchen und eine Frau. Vielleicht reicht die Kohle für den Start in ein normales Leben.«

»Ich weiß, was für dich normal heißt, Mister Amigo«, stöhnte Kid schwach.

»Nein, ich meine es ernst.«

»Ich kann mir dich nicht als Familienvater mit festem Job, Hypothek und dem ganzen Spießerkram vorstellen«, sagte Dan.

»Warum nicht, Leute?«

»Das ist das erste Mal, dass du von einem geregelten Leben sprichst, Boss«, sagte Raul. »Wenigstens einer, der sich Gedanken macht. Nehmt euch ein Beispiel.«

»Ja, verdammt. Was soll falsch daran sein? Irgendwann werden wir alt und sollten eine gute Basis haben«, bekräftigte Jerome.

»Altsein bedeutet nicht, spießig zu werden. Wer sagt, dass du mit neunzig nicht noch ein paar Karren knacken kannst?«, sagte Dan und blies eine weiße Wolke vor.

»Leute! Niemand von uns kann ewig so weitermachen. Wer will schon erschossen werden oder sein restliches Leben im Knast verbringen? Und auf Dauer ist der Shit auch nicht all zu toll für den Verstand«, sagte Raul.

Kid warf ein: »Was bei Dan bereits zu merken ist.«

»Halt dein Maul«, kam von der Hinterbank.

»Wir haben jetzt so viel Kohle, dass wir so viele Partys feiern können, wie wir wollen. Warum sollten wir ausgerechnet jetzt enthaltsam werden? Das wäre pure Verschwendung«, sagte Kid.

Raul erklärte es sanft: »Jeder kann mit seinem Geld machen, was er will. Wenn du der Meinung bist, dass du eine halbe Million Dollar in Drogen umsetzen willst ... Bitte, dann tue es. Nur lass dich dabei nicht übers Ohr hauen und komm nach einem halben Jahr angekrochen, um nach Geld zu fragen.«

Dan sah Raul prüfend an. »Du bist der Einzige von uns, der aus eigener Erfahrung weiß, was ein geregeltes Leben bedeutet. Stimmt doch?«

Raul nickte. »Vermutlich, ja.«

»Erzählst du uns, warum du dein früheres tolles Leben mit Haus und Familie hinter dir gelassen hast?«, fragte Kid und drehte sich nach hinten, um ihm in die Augen zu sehen.

Raul brummte und bevor er etwas sagen konnte, mischte sich Jerome ein: »Mann, sieh es als einmalige Chance, aus der Gosse zu kommen. Du kannst nebenbei immer noch irgendwelche Karren knacken oder Opis überfallen, wenn du es nicht lassen kannst. Aber es gibt auch ein anderes Leben. Eins mit Würde und Anstand.«

»Würde und Anstand? Das ich nicht lache. Ich hab ja immer wieder davon gehört, dass Geld die Leute verändert. Aber das?« Dan schüttelte den Kopf und lachte kurz und laut, dann hüpfte er sitzend, sodass das Leder und die alten Schraubenfedern unter ihm zu quietschen begannen. »Unser Jerome mit schreiendem Balg auf dem Arm und Milch statt Bier und Whiskey.«

Raul wandte sich an Kid: »Was stellst du mit dem Geld an?«

Kid sah an sich hinab und hielt noch immer seine Hand auf die schmerzende Stelle. Dann sah er sich seinen Zeigefinger an, dessen Kuppe feucht und rot verschmiert war. Er rieb mit dem Daumen darüber und verteilte langsam das Blut darauf, bis er auf seinem hellblauen Hemd auf Höhe des Herzens den Ursprung fand. Jerome sah ihn von der Seite an und erkannte das Problem. »Herzinfarkte bluten nicht, Alter.«

Langsam nickte Kid. »Stimmt.«

Dan beugte sich nach vorn und lehnte sich neugierig über den Sitz, um es mit eigenen Augen zu sehen. »Dich hat etwas Fieses gestochen.«

»Nicht, dass ich wüsste.« Kid knöpfte sein Hemd auf, schob es zur Seite und verschmierte das Blut. Darunter befand sich eine winzige Wunde, kleiner als ein Stecknadelkopf, auf der sich sofort wieder ein winziger Tropfen bildete.

»Ein Hornissenstich«, war sich Dan sicher.

»Unsinn. Hast du etwa eine Hornisse im Wagen gesehen?«

»Wo soll denn sonst das Loch herkommen, Alter?«

»Woher soll ich das wissen? Sehe ich aus wie ein scheiß Medizinmann?«, keifte Kid zurück.

Raul kratzte sich am Hinterkopf: »Ihr kifft eindeutig zu viel. Der eine fängt an zu bluten, der andere ...«

Dan sah ihn böse an. »Was? Was macht der andere?«

Raul winkte ab. »Vergiss es.« Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und überschlug die Beine.

»Wir bringen ihn zu einem Doc, gleich in der nächsten Gemeinde. Das sieht ernst aus«, schlug Jerome vor.

»Und wenn die Bullen unsere Daten haben?«, warf Dan ein.

»Das müssen wir riskieren«, sagte Jerome und deutete mit der flachen Hand auf die Wunde. »Niemand fängt einfach so an zu bluten. Ihm geht es nicht gut und wir werden etwas unternehmen.«

Raul beugte sich vor und legte seine Hände auf die Rücklehne. »Wir helfen dir.«

»Geht schon. Ich will euch keine Last sein und das Risiko ist zu groß. Lasst uns einfach über die Grenze fahren.«

»Er sagt immer: geht schon. Hat Kid jemals etwas anderes von sich gegeben? Na? Hat er?«, warf Jerome ein und niemand konnte dem widersprechen.

»Wisst ihr ...«, sagte Jerome, »... ich hatte mir mal einen Schiefer in den großen Zeh eingezogen. Der war so winzig, dass ich eine Lupe brauchte, um ihn zu entdecken. Und ich dachte: Scheiß auf den winzigen Dreck. Der ist so klein, der kann mir nichts. Für´n Arsch, Leute. Das Zeug hat mich fast gekillt. Nach einer Woche war mein Zeh so dick wie meine Faust, sag ich euch.« Er ballte seine Hand und hielt sie nach oben, dass sie alle Blicke einfing.

»Echt, Mann?« Dan ballte ebenso seine Hand zur Faust und betrachtete sie. Dann drehte er seinen Kopf langsam zu Kid und sagte: »Siehst du? Ein fuck Schiefer will dich killen.«

Erschöpft schob ihn Kid nach hinten weg. »Zieh dir deinen verdammten Joint rein. Dann hältst du wenigstens die Fresse.«

»Keine gute Idee, Jungs. Bullen auf ein Uhr«, sagte Jerome streng. »Macht auf der Stelle die Kippen aus.«

Kid setzte sich aufrecht und zog sein Hemd vorn zusammen. Mit einer Hand verdeckte er die blutverschmierte Stelle, warf den Joint auf den Boden und trat ihn aus.

Dan kurbelte das Seitenfenster zur Hälfte herunter, nahm einen letzten Zug und entsorgte seinen Joint durch den Spalt. Dann versuchte er, die stickige Luft nach draußen zu wedeln, ohne jedoch zu merken, wie nutzlos seine Handbewegung gegen den lauen Fahrtwind war.

»Verdammte Scheiße. Sie haben uns«, jammerte Dan.

»Jetzt wird es lustig.« Raul griente und Dan sah ihn fassungslos an. »Was wird lustig? Bist du bescheuert? Ich geh nicht in den Knast. Das kannst du vergessen.«

»Die Auszeit ist vorbei«, sagte Kid leise. »Ich habe es immer gewusst.«

»Bleibt ruhig, Leute. Und bitte: Haltet in Gottes Namen einfach die Fresse und lasst mich das machen! Hast du mich verstanden, Kid?« Dann sah er nach hinten: »Dan? Hast du das kapiert?«

Der saß gekrümmt auf der Rückbank und schüttelte den Kopf. »Ich geh nicht in den Knast. Das sage ich euch. Die haben Dumont auf dem Gewissen. Lieber knall ich die Bullen ab.«

»Dumont, der dich als Baby in der Dellrose Street in Wichita gefunden hat?« Jerome nahm den Fuß vom Gaspedal und erinnerte sich an seine Geschichte.

»Dann hast du nicht mal an den Titten deiner Mum genuckelt?«, stellte Kid fest.

»Wie es aussieht, nicht«, sagte Dan garstig.

»Weswegen haben die eigentlich deinen Ziehvater eingesperrt?«, fragte Jerome. »Was hat er angestellt?«

»Nichts hat er getan. Das war ein lausiger Taschendiebstahl. Dafür haben sie ihn ins Federal Prison Camp in Kansas gesteckt, wo er sich angeblich das Leben genommen hat. Doch ich weiß es besser. Im FPC nehmen sich Leute nicht das Leben, es wird ihnen genommen.« Dan kramte nach der Waffe im Fußraum.

Ein Cop war zu sehen. Er wirkte teilnahmslos und lehnte mit ausgestreckten Beinen und verschränkten Armen an seinem Wagen und sah in ihre Richtung.

»Behaltet einfach die Nerven«, sagte Raul.

Jerome hielt die Geschwindigkeit.

»Dumont war ein feiner Kerl. Er war meine Familie«, sagte Dan und fand den Colt unter Jeromes Sitz. Das daran klebende Nacho entfernte er, ließ es fallen und leckte den Ketchup am Lauf ab, verzog das Gesicht und spuckte neben Rauls traditionelle schwarze Captoe Oxford Schuhe. Der zog angeekelt seine Füße zurück und schnappte nach dem Lauf.

»Steck die Waffe weg«, fauchte er und schob sie mit der flachen Hand beiseite.

»Niemals, ich knall die Bullen ab.«

»Gib das her.« Raul hielt ihm die flache Hand entgegen.

»Vergiss es. Bevor ich in den Knast gehe, sterbe ich lieber.«

Die beiden rangelten um den Colt.

Jerome brüllte: »Dan! Leg die Knarre weg. Das sieht nicht wie eine Straßensperre aus. Verhaltet euch unauffällig.«

Unkontrolliert kreiste die Waffe durch den Wagen. Dan und Raul hatten sie jeweils mit beiden Händen umklammert. Kid zog den Kopf ein, es folgte ein klirrender, dumpfer Schlag, der die Männer gleichzeitig zusammenzucken ließ.

Dan ließ vom Colt ab und schützte sich reflexartig mit dem Arm über dem Kopf. Jerome riss das Steuer herum. Kid knallte gegen die Kopfstütze und Raul schrie vor Entsetzen.

Die Frontscheibe war über die gesamte Fläche gesprungen und hatte sich mit schwarzen Federn verdunkelt. Kleine Glasrauten bröckelten auf das Armaturenbrett. Jerome konnte die Fahrbahn nicht mehr erkennen und stieg hart auf die Eisen. Der dunkelgrüne Ninety Eight Regency kam schaukelnd zum Stehen.

Ein großer schwarzer Schnabel hatte sich durch das Glas gebohrt und die aufgerissenen Augen eines Raben starrten vorwurfsvoll ins Wageninnere, als ob sie jeden Einzelnen abmahnen wollten oder ins Reich der Toten einladen würden. Ein Tropfen Blut bildete sich am spitzen Ende des Schnabels und drohte auf den Drehknopf des Radios zu fallen.

Dan atmete hörbar ein und murmelte: »Da liegt ein verdammter Rabe auf unserer Scheibe. Oder bilde ich mir das ein?«

Der Tropfen füllte sich langsam und begann sich zu lösen.

»Schon wieder so ein Vieh«, sagte Jerome in dem Moment, als die Fahrertür aufsprang. Die schwache Lampe am Türholm schaltete sich ein.

Flink warf Dan seine makabre Kopfbedeckung neben sich auf die Rückbank und reckte den Rücken durch. Er wollte eine gute Figur machen und mit breitem Grinsen unschuldig aussehen.

Ein Officer steckte seinen Kopf, auf dem ein großer Cowboyhut saß, in den Wagen und fragte: »Ist Ihnen etwas passiert?«

Dans Nervosität steigerte sich. Ein Cop! Ein Cop auf einem halben Meter Abstand. Der Typ würde ihn entlarven, würde das Geld im Kofferraum riechen und die Reste des Joints. Vielleicht sah er ihm sogar an, was er angestellt hatte? Bullen wurden schließlich in solchen Dingen ausgebildet. Nur war Dan viel zu abgebrüht für die Bullen. Dieser alte Herr würde nicht seinen Angstschweiß in die Nase bekommen, sondern notfalls die neun Millimeter in den Kopf. Sein Finger tastete nach dem Abzug, während der Colt hinter dem Sitz nach unten gerichtet auf den Boden zeigte.

Als der Bulle ihn ansah, sagte Dan rasch: »Alles klar, Mann, Sir, Officer. Alles klar. War nur ein fuck Rabe.«

Der Bulle zog friedlich den Kopf aus dem Wagen und kratzte sich unter dem Arm.

Langsam legte Dan die Knarre ab, öffnete seine Tür und setzte einen Fuß auf die Straße. Der Bulle rafft es nicht. Heute bin ich jedenfalls nicht der größte Idiot, dachte er, während er ihn nicht aus den Augen verlor.

Auch Jerome stieg aus und stellte sich neben den Bullen, der sich der Frontscheibe widmete.

Der Bulle mit dem Sheriffstern auf dem hellbraunen Uniformhemd schien alleine zu sein. Er kratzte sich wieder unter dem Arm, dicht bei den Achseln, und nahm seinen Cowboyhut ab, strich sich durch die kurzen grauen Haare und zog seine Hose hoch.

Wie im Wilden Westen, dachte Jerome und machte sich für eine kleine Theatervorstellung bereit. In Gedanken legte er sich zurecht, wer sie waren, was sie hier machten und wie lange sie bleiben wollten. Außerdem hoffte er inständig, dass die anderen nichts sagten, damit es keine Unstimmigkeiten gab.

Der Officer drehte sich zu ihm. »Seit einigen Tagen stürzen diese Viecher vom Himmel.«

»Jepp, das ist schon der zweite, der runterkommt«, sagte Dan.

Der Wagen wippte leicht, als Raul auf der anderen Seite ausstieg. Mit der Hand schützte er seine Augen vor dem Licht der grellen Sonne und lief vorne um das Auto herum. Die Herbstluft war trocken und heiß.

Der Officer war um die sechzig, füllig, schien schwerfällig zu sein und stellte gegenwärtig keine Gefahr dar.

»Heute Morgen hatten wir zwei ähnliche Fälle auf dem Highway. So viel ist das ganze letzte Jahr nicht in Moran passiert.«

Jerome nahm den Faden auf: »Was ist genau passiert, Officer?«

»Kendra Johnson wurde fast von einem Vogel erschlagen und Gregory Clambert haben wir heute Morgen zusammengebrochen vor seinem Wagen gefunden. Zunächst dachten wir an eine Schussverletzung.« Er zeigte an seinen üppigen Bauch. »Hier rein und hinten raus.« Sein Finger schnellte vom Rücken zurück, bis er den Arm ganz durchgestreckt hatte. »Aber für einen Durchschuss war die Wunde zu klein. Es ist ein Rätsel.«

Dan sagte: »Wie bei Kid. Der hat auch so einen Schuss abbekommen.«

Jerome verdrehte die Augen und versuchte, die Situation zu retten: »War vermutlich nur eine Herzattacke.«

»Ist das der Mann dort im Wagen? Gehen Sie zur Seite. Ich sehe mir das an.«

»Das ist nicht nötig. Wirklich. Wir kommen zurecht.«

»Schon gut. Ich will nur sehen, ob es das Gleiche ist.«

Der untersetzte Sheriff ging um den Wagen, öffnete die Beifahrertür und sagte zu Kid: »Können Sie aussteigen, Sir?«

Kid quälte sich hinaus und sprach gepresst: »Geht schon. Mir geht es gut, Sir.«

Während Dan sich dem Vogel auf der Windschutzscheibe widmete, sah sich der Sheriff Kids Wunde an.

»Genauso sah es bei Gregory aus. Genau das Gleiche«, murmelte er und begutachtete ihn von hinten. Wie vermutet war auf seinem Rücken ein blutiger Fleck, der ihm als feine rote Linie das Hemd bis fast zur Hüfte versaut hatte. Dann stellte er sich an seine Seite, ging leicht in die Hocke und lehnte sich zurück. In Augenhöhe mit den Wunden zeichnete er eine gedachte Linie durch Kids Körper. »Kerzengerade durch.«

Er reckte die Arme in beide Richtungen auseinander. »Vorne rein, hinten raus. Oder anders herum. Wie bei Gregory. Setzen Sie sich wieder. Wir haben in Moran einen Doc. Der soll sich das ansehen.« Er zog den Kopf aus dem Wagen und sprach Jerome an: »Wo wollen Sie hin?«

»Nos encanta la naturaleza ... Sind auf der Durchreise, Mister, wollten nur ein wenig Bergluft schnuppern und dann einen Freund in Buffalo besuchen.« Puh, das war geschafft und kam fast zu perfekt raus. Der Cop würde es doch gefressen haben und nicht nachfragen oder Schwierigkeiten machen?

»Das ist eine wunderbare Gegend für den Urlaub. Sie sollten ein paar Tage bleiben, während der Doc ihren Freund zusammenflickt.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Kann mich heute Nachmittag einer von Ihnen zu der Stelle führen, wo es das erste Mal passiert ist?«

Spontan meldete sich Dan: »Ich kann das machen. Ich zeige ihnen die fuck Stelle, wo der erste Adler runtergeknallt ist.«

Jerome verbesserte ihn: »Ein Rabe. Das war ein Rabe, genau wie hier.«

Der Sheriff ließ seinen Blick über den Wagen schweifen, lief einmal um ihn herum und betrachtete letztlich die zerstörte Scheibe.

Wenn er jetzt den Kofferraum öffnet oder den Joint riecht, ist es vorbei, dachte Dan. Er wurde nervös, ging zur Wagentür und setzte sich auf die Rückbank, wo er langsam nach dem Revolver griff.

Was wäre, wenn der Sheriff nur den Idioten spielte, weil er alleine war und nach der bestmöglichen Situation suchte, um das Kräfteverhältnis auszugleichen? Vielleicht ahnte er etwas, weil er sich wieder die Hose ein Stück hochzog, seine Hand ans Halfter legte und das Band an der Waffe löste.

Dan entsicherte. Seine Nervosität steigerte sich.

Der verdammte Bulle wusste etwas.

Jerome trat zurück und konnte die Panik in Dans Augen erkennen.

Der Sheriff zog seine Waffe, hob mit dem vorderen Lauf den Raben von der Scheibe und trug ihn, weit von sich haltend, zum Straßenrand.

Die Anspannung löste sich. Jerome atmete erleichtert durch, Dan sicherte die Waffe und Kid entspannte sich wieder.

»Der weiß nichts«, hauchte Jerome den anderen zu. »Bleibt entspannt.«

»Ich begleite Sie bis nach Moran. Dort wird sich Carter um seine Verletzung kümmern«, sagte der Sheriff vom Straßenrand aus, schob seine Waffe ins Halfter zurück und deutete mit dem Finger auf Kid.

»Carter? Ist das der Doc?«, fragte Jerome nach.

»Genau, ihm gehören das Diner und die Zapfsäule davor. Nebenbei ist er unser Doc. Mit ein wenig Glück hat er sogar eine neue Frontscheibe auf dem Hof. So könnt ihr schließlich nicht fahren.«

»Was, der Doc repariert unsere Scheibe?« Jerome wunderte sich.

Der Sheriff nickte. »Ist ein begabter Mann. Wenn er in Pension geht, sieht es düster in Moran aus. Ich kann nur hoffen, dass er uns noch eine Weile erhalten bleibt. Ist schließlich nicht mehr der Jüngste.« Er machte eine Geste, die zum Aufbruch einlud. »Steigen Sie ein und folgen Sie mir. Moran liegt knapp drei Meilen weiter die Neunundachtzig rauf.«

»Bien, Señor«, sagte Jerome und wartete, bis sich der Sheriff in den blankpolierten, aber in die Tage gekommenen Chevrolet SUV geschoben hatte. Auf der cremefarbenen Seitentür standen mit goldenen Lettern Sheriff sowie eine verblasste sechsstellige Nummer.

Die Türen des alten Regency knallten nacheinander zu.

»Siehst du«, sagte Jerome. »Der weiß nicht, wer wir sind. Also reißt euch ein paar Stunden zusammen. Und bevor irgendjemand irgendwelche Fragen stellen kann, verschwinden wir in aller Herrgottsfrühe.« Er startete den Wagen und fuhr dem Sheriff hinterher.