Das Netzwerk der Gefühle - Jobst Finke - E-Book

Das Netzwerk der Gefühle E-Book

Jobst Finke

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Beschreibung

Angst, Trauer, Wut, Scham, Schuld: Diese oft als überwältigend erlebten Gefühle sind häufig Anlass, therapeutische Hilfe zu suchen. Dieses Buch eröffnet einen neuen Weg, den empathischen Zugang zu Klientinnen und Klienten zu erweitern. Es macht Erscheinungsbild, Funktion und Vernetzung der fünf Grundregungen transparent und analysiert die Wechselwirkungen emotionaler Anteile bei häufigen psychischen Störungsbildern. So können auch unterschwellige Gefühle identifiziert und in ihrem Zusammenspiel mit Bedürfnissen, Fantasien und Erinnerungen erfasst werden. Zahlreiche Formulierungsbeispiele zeigen, wie man Klientinnen und Klienten darin unterstützt, emotionale Spannungen bewusst wahrzunehmen, zu regulieren und für eigene Bedürfnisse und Selbstentfaltung fruchtbar zu machen.

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Personzentrierte Beratung & Therapie; Band 18Herausgegeben von der Gesellschaft für Person-zentrierte Psychotherapie und Beratung e.V., Köln

Jobst Finke

Das Netzwerk der Gefühle

Personzentrierte Emotionspsychologie in Psychotherapie und Beratung

Ernst Reinhardt Verlag München

Dr. med. Jobst Finke, Essen, ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie und Psychiatrie, Gesprächspsychotherapeut und tiefenpsychologischer Psychotherapeut. Er ist in der Ausbildung für tiefenpsychologisch fundierte und personzentrierte Psychotherapie tätig.

Von Jobst Finke ebenfalls im Ernst Reinhardt Verlag erschienen: „Personzentrierte Psychotherapie und Beratung. Störungstheorie – Beziehungskonzepte – Therapietechnik“ (ISBN 978-3-497-02896-2) und „Träume, Märchen, Imaginationen. Personzentrierte Psychotherapie und Beratung mit Bildern und Symbolen“ (ISBN 978-3-497-02974-7)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03152-8 (Print)

ISBN 978-3-497-61864-4 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61865-1 (EPUB)

ISSN 1860-5486

 

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Hohenschäftlarn

Covermotiv: © bittedankeschön / Adobe Stock

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

1Emotionszentrierter Ansatz

1.1Personzentrierte Erkenntnishaltung

1.2Bedeutung der Gefühle in der Personzentrierten Therapie

1.3Was sind Gefühle?

1.4Funktionen und Dysfunktionen der Gefühle

1.5Konzept von Inkongruenz und Abwehr

1.5.1Therapietheoretische und –praktische Konsequenzen des Inkongruenz-Abwehr-Modells

1.5.2Abwehrkonzept und Abwehrmuster

1.6Schema, Komplex, Repräsentanz und Inneres Arbeitsmodell

1.7Abwehr und Bewältigung als Motor des emotionalen Prozesses

2Angst

2.1Erscheinungsbild der Angst

2.2Anlässe von Angst

2.2.1Verlust von physischer Integrität bzw. Angst vor physischer Vernichtung

2.2.2Verlust des Selbst

2.2.3Verlust von Sicherheit und Geborgenheit

2.2.4Verlust von Autonomie

2.2.5Verlust von Beachtung und Anerkennung

2.2.6Verlust von Sinn

2.3Funktionen der Angst

2.4Vernetzung der Angst im Erlebensprozess bei Agoraphobie

2.4.1Gefühle und Bedürfnisse im Erlebensumfeld von Angst

2.4.2Angst im Netzwerk der Gefühle bei Klienten mit Agoraphobie

2.5Therapiepraxis

2.5.1Beruhigen, informieren und Selbstvertrauen stärken

2.5.2Gefühle identifizieren, differenzieren und amplifizieren

2.5.3Abgewehrte Gefühle und Bedürfnisse evozieren und legalisieren

2.5.4Verzicht auf Vermeidung

3Ärger, Wut, Zorn und Hass

3.1Erscheinungsbild

3.1.1Gehemmter Ärger

3.1.2Unterdrückter Ärger

3.1.3Unterregulierter Ärger

3.2Anlass von Ärger, Wut und Zorn

3.3Funktionen des Ärgers

3.4Vernetzung von Ärgergefühlen im Erlebensprozess

3.4.1Gehemmter Ärger

3.4.2Unterdrückter Ärger

3.4.3Ärger als unterregulierte Aggressivität

3.5.4Hass

4Trauer und Depression

4.1Erscheinungsbild

4.2Anlass von Trauer und Depression

4.3Funktionen der Trauer

4.4Vernetzung der Trauer im Erlebensprozess

4.4.1Gefühle im Erlebensumfeld von Trauer

4.4.2Trauer und Depression im Netzwerk der Gefühle

4.2Therapiepraxis

4.2.1Explizite Gefühle identifizieren, differenzieren und amplifizieren

4.2.2Abgewehrte Bedürfnisse und Gefühle evozieren und legitimieren

4.2.3Trauerarbeit

5Scham

5.1Erscheinungsbild

5.2Anlass von Scham und Peinlichkeit

5.2.1Scham

5.2.2Peinlichkeit

5.3Funktionen der Scham

5.4Die Vernetzung der Scham im Erlebensprozess

5.4.1Gefühle im Erlebensumfeld von Scham

5.4.2Scham im Netzwerk der Gefühle

5.5Therapiepraxis

5.5.1Explizite Gefühle identifizieren, differenzieren und amplifizieren

5.5.2Abgewehrte Bedürfnisse und Gefühle evozieren und legitimieren

6Schuldgefühle

6.1Erscheinungsbild

6.2Anlass

6.3Funktionen der Schuldgefühle

6.4Vernetzung der Schuldgefühle im Erlebensprozess

6.4.1Gefühle im Umfeld von Schulderleben

6.4.2Schulderleben im Netzwerk der Gefühle

6.5Therapiepraxis

6.5.1Explizite Gefühle identifizieren, differenzieren und amplifizieren

6.5.2Abgewehrte Gefühle und Bedürfnisse evozieren und legitimieren

7Abwehr, Nichtbewusstes und empathisches Verstehen

7.1Abwehr und Nichtbewusstes

7.2Dialektik zwischen „naivem“ und „wissendem“ Verstehen

Literatur

Sachregister

Vorwort

Mit dieser Schrift sollen Berater und Beraterinnen sowie Therapeuten und Therapeutinnen Leitlinien für ein vertiefendes Verstehen ihrer Klienten bzw. Klientinnen vorgegeben werden. Einen privilegierten Zugang zum Prozess des Erlebens der Klientinnen und Klienten ermöglichen die Gefühle, wie Rogers in seiner klinischen Schrift von 1942 ausführte. Das Prozesshafte des Erlebens wiederum ergibt sich durch die abwehrbedingte Vernetzung der Gefühle. Um das deutlich zu machen, wird das Inkongruenz-Abwehr-Modell aus der störungstheoretischen Schrift von Rogers weiter ausdifferenziert. So wird dargestellt, wie in nichtbewussten, „unterschwelligen“ Erlebensprozessen ein Gefühl durch ein jeweils anderes abgewehrt und dadurch transformiert wird. Die Basis für ein vertieftes Verstehen besteht dann darin, diesen Transformationsprozess aufzuschlüsseln. Dabei werden Parallelen zu schematheoretischen Konzeptbildungen, z. B. der EFT, insofern deutlich, als gezeigt wird, dass dort wie hier der annähernd gleiche Sachverhalt beschrieben wird, wenn auch in jeweils unterschiedlicher Begrifflichkeit. Dies wird anschaulich gemacht anhand des Vorgehens bei verschiedenen Störungsbildern.

Um der Gender-Problematik in einer möglichst lesefreundlichen Form gerecht zu werden, wurden die männliche und die weibliche Form von Kapitel zu Kapitel abwechselnd verwendet. Bei „Klient/Klientin“ wurde hierauf weniger Wert gelegt.

Sehr herzlich möchte ich Frau Dipl.-Psych. Ulrike Landersdorfer vom Reinhardt-Verlag für viele Anregungen und weiterführende Hinweise sowie die freundliche Begleitung des Projektes danken.

1Emotionszentrierter Ansatz

1.1Personzentrierte Erkenntnishaltung

„Ich sehe, weil ich weiß“, so antwortete jüngst eine Fotografin auf die Frage, was sie zu ihren ausdrucksstarken und von so viel Einfühlung zeugenden Bildern befähige. Gut 250 Jahre früher hatte der Großmeister der Erkenntnistheorie, Kant (1787/1995, S. 101), den Sinn dieser Begründung der Fotografin in die Worte gefasst: „Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Denn erst, so könnte man diese Aussage erläutern, ein durch Begriffe repräsentiertes Wissen ermöglicht es, in der diffusen Flut der Erscheinungen die eigentlichen „Dinge“ auch wirklich zu sehen. Ansonsten sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Und auch die Intuition, auf die sich viele in diesem Zusammenhang gerne berufen, basiert auf einem impliziten Wissen, einem einst erworbenen Wissen, dessen man sich gar nicht mehr bewusst ist. Es gibt kein „unmittelbares“, kein voraussetzungsloses Verstehen. Auch bei der Empathie bzw. beim einfühlenden Verstehen („empathic understanding“) als zentrales Haltungs- und Handlungsmerkmal der Personzentrierten Therapie (PZT) ist der Therapeut/Berater auf Vorannahmen, auf ein vorgängiges Wissen, herrührend u. a. aus seiner Ausbildung, aber auch aus der eigenen Selbstbeobachtung und einer Alltagspsychologie, angewiesen, um das Erleben des Klienten in seinen verschiedenen Facetten verstehend erfassen zu können. Denn nach Rogers (1986/1991, S. 240) soll der Therapeut „nicht nur die Bedeutungen, deren sich der Klient bewusst ist, sondern auch jene, die gerade unterhalb der Schwelle des Bewusstseins liegen, klären“ können. Das einfühlende Verstehen ist also nicht nur ein „Verständnis-haben“ im Sinne eines fraglosen, zustimmenden Nachvollziehens der Gedanken und Gefühle des Klienten. Es will vielmehr auch ein Erahnen des möglichen inkongruenzbedingten Doppelsinns der Klientenaussagen sein. Diese Einsicht verweist auf die Hermeneutik bzw. auf Schleiermacher als Begründer einer Theorie des Verstehens, wonach die Aufgabe des Verstehenden darin besteht, „die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber. […] So müssen wir vieles zum Bewusstsein zu bringen suchen, was ihm [dem Redner] unbewusst bleiben kann, außer sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser wird.“ (Schleiermacher 1838/1977, S. 94; Ergänzung des Autors). Und das ist das Anliegen der Personzentrierten Therapie, dass der Klient reflektierend der Leser seines eigenen Erlebens wird. Auch das Konzept der „hermeneutischen Empathie“ will mit seinen „Verstehenshypothesen“ (Keil, 2018, S. 62f.) ein rein abbildendes, nacherlebendes Verstehen überschreiten. Dabei geht die Hermeneutik davon aus, dass das Entwerfen solcher Verstehenshypothesen als ein Erfassen von Sinnzusammenhängen an ein „Vorverständnis“ gebunden ist (Gadamer, 1975). Ein solches Vorwissen, solche Vorannahmen stellen das „Bezugssystems“ des Therapeuten dar, das beim „vorangehenden“, d. h. nicht nur nachbildenden, Verstehen (Rogers, 1991, S. 254) eine wesentliche Rolle spielt. Diese Vorannahmen sind eben sowohl alltagspsychologischer Natur, wie aber auch das Ergebnis der fachlichen Ausbildung und uns oft so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht mehr als ausdrückliche Vorannahmen oder auch „Vorurteile“ wahrnehmen. Aber die ohnehin gegebenen alltagspsychologischen Vorannahmen werden in der wissenschaftlichen Psychotherapie natürlich ergänzt werden durch solche, die sich auf die Persönlichkeits- und Störungstheorie des jeweiligen Verfahrens beziehen.

In der personzentrierten Therapiepraxis spielen solche Vorannahmen eine das einfühlende Verstehen leitende Rolle. Wenn Rogers (1991, S. 254) den Prozess des therapeutischen Verstehens erörternd sagt, „gelegentlich gehe ich einen Schritt voran, wenn ich den Weg [des Verstehens] deutlicher sehe, auf dem wir uns befinden, …“. so impliziert dies den Anspruch, zumindest zeitweise den Klienten „besser zu verstehen, als er sich selbst versteht“. Hierzu befähigt wird der Therapeut gerade durch seine Rolle als der „außenstehende Andere“, der eben nicht befangen ist in dem „inneren Bezugssystem“ des Klienten, das nämlich auch bestimmt ist von einer „Wahrnehmungsverzerrung“ eigener Bedürfnisse und Intentionen (Rogers, 1959/2020, S. 36). Gleichzeitig wird der Therapeut zu diesem „besser Verstehen“ befähigt durch sein fachliches Wissen, das zumindest implizit seine empathische Praxis leitet. Der Therapeut überschreitet hier also das Bezugssystem des Klienten, indem er auch aus seinem eigenen, einem theoriegeleiteten Bezugssystem bzw. Vorverständnis zu verstehen sucht. Das führt dazu, dass ein rein nacherlebendes, reproduktives Verstehen ergänzt wird durch ein über den offensichtlichen Sinn hinausgehendes, produktives Verstehen. In der PZT beruhen diese Vorannahmen u. a. auf entwicklungspsychologischen Annahmen im Rahmen von Erörterungen der „Bewertungsbedingungen“, denen der Klient früher in seinem Elternhaus ausgesetzt war (Rogers, 1959/2020, S. 59), sodass dieser die elterlichen Bewertungen „introjizierte“(Rogers, 1959/2020, S. 42f.). Durch solche Introjektionen ist sein Selbstkonzept und damit die Art seiner möglichen Inkongruenz und auch seine Abwehr geprägt worden (Rogers, 1959/2020, S. 35, 62f.). Als ein Ergebnis könnte sich ein „Introjekt“ in Form eines überstrengen „inneren Kritikers“ (Gendlin, 1996) herausgebildet haben, der dem Klienten fast jede unbeschwerte Lebensfreude verbietet und ihn mit leicht aktivierbaren Schuldgefühlen bestraft.

Im Zentrum der personzentrierten Störungstheorie steht eben das Inkongruenzmodell und seine Implikationen. Zu den letzteren gehört die Vorstellung der Diskrepanz oder gar eines Widerspruchs zwischen dem Selbstkonzept einerseits und der „organismischen Erfahrungen“ andererseits, vor allem auch jener, die der „nichtbewussten organismischen Existenz“ zuzurechnen sind und die nach Rogers als „riesige Pyramide“ einer nur kleinen „Spitze“ als der Ort des Gewahrseins gegenübersteht (Rogers, 1980/1981, S. 78). Jene nichtbewusste organismische Existenz ist der große Bereich von z. T. nichtbewussten Bedürfnissen, Motiven, Fantasien und Gefühlen, die mit dem Selbstkonzept als zumindest partiell unvereinbar erlebt und eben deshalb vom Bewusstsein bzw. dem „Gewahrsein“ ausgeschlossen sind (Rogers, 1959/2020, S. 35). Sobald solche Bedürfnisse und Gefühle dennoch „am Rand des Gewahrseins“ (Rogers, 1959/2020, S. 36f.) auftauchen, werden sie abgewehrt und verdrängt, also an der Gewahrwerdung gehindert (Rogers 1961/1973, S. 331). Das Konzept der Abwehr und damit auch das des Nichtbewussten sind somit Aspekte des Inkongruenzmodells (Galliker, 2021). Dieses Abwehrkonzept impliziert auch die Vorstellung, dass ein Gefühl jeweils von einem anderen Gefühl abgewehrt werden kann. Angst z. B. kann durch Wut abgewehrt werden, insofern der sich Ängstigende plötzlich von einem Gefühl der Empörung ergriffen wird und nun „wutentbrannt“ dem Angreifer gegenübertritt. Die Abwehr von Gefühlen durch ein jeweils anderes Gefühl und ihre dadurch bedingte Transformation macht den prozesshaften Charakter der Gefühle gerade unter dem Eindruck der Therapie deutlich (Rogers, 1961/1973b, S. 130f.). – Übrigens soll im Folgenden bei dem von Rogers gebrauchten Begriff „experience of the organism“ (Rogers, 1959, S. 203/2020, S. 27f.) „experience“ nicht mit „Erfahrung“, sondern mit „Erleben“ übersetzt werden, da im Deutschen „Erfahrung“ i. d. R. das Ergebnis reflektierter Wahrnehmung impliziert, während hier in den entsprechenden Zusammenhängen meist ein unmittelbares, präreflexives Spüren und Erfühlen gemeint ist (Stumm, 2021).

In dieser knappen Skizze der personzentrierten Störungstheorie deutet sich hinsichtlich unseres Themas die konzeptuelle Nähe zu anderen Verfahren an. Dies betrifft einmal, wie z. T. schon aus der verwendeten Begrifflichkeit hervorgeht, die Psychoanalyse (PA) bzw. die Tiefenpsychologie (TP). Denn das Inkongruenz- und das Abwehrkonzept weisen auf Parallelen zum tiefenpsychologischen Konzept des innerpsychischen, unbewussten Konfliktes (Mentzos, 1991) und einer „Tiefenhermeneutik“ (Habermas, 1968) als therapeutischer Bearbeitungsmodus hin. Inhaltliche Korrespondenzen bestehen aber auch zu den schematheoretisch orientierten Ansätzen (Schematherapie, Emotionsbezogene Psychotherapie und Emotionsfokussierte Therapie (EFT), s. u.), sofern es in deren Beschreibungen um den gleichen Sachverhalt geht, nämlich den der Transformationen und Verknüpfungen von Emotionen durch nichtbewusste Abwehrvorgänge; man kann letztere auch schematheoretisch lesen, s. u. Jedoch wird dort zu deren Beschreibung eine andere Begrifflichkeit benutzt. So ist statt von „Abwehr“ meist von „Bewältigung“ oder „Vermeidung“ die Rede. Sofern diese als Aspekte eines Schemas angesehen werden, gelten sie auch als außerhalb des Gewahrseins operierend. Durch das Konzept der Abwehr bzw. der Bewältigung/Vermeidung eines Gefühls durch ein anderes kommt es bei diesen Ansätzen auch zu der Vorstellung des prozessualen Charakters von Gefühlen. Bei diesen Gegenüberstellungen bzw. Vergleichen der einzelnen Verfahren soll es übrigens nur um diesen „emotions- zentrierten“ Aspekt der jeweiligen Theoriebildung gehen und es sollen nur die hier bestehenden Ähnlichkeiten, weniger der hier auch vorliegenden Unterschiede erörtert werden. Auch in therapeutischer Hinsicht bestehen insofern Parallelen zwischen den einzelnen Ansätzen, als jeweils die Beachtung der Abwehr bzw. Bewältigung/Vermeidung von Emotionen und damit ihre Transformation im Zentrum der Aufmerksamkeit und der Bearbeitung steht. Solche Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Verfahren hinsichtlich einiger Merkmale sollten insofern nicht verwunderlich sein, als Therapeuten vor die gleiche Aufgabe gestellt sind und sich außerdem bei deren Lösung auch gegenseitig inspirieren. So ließ sich Rogers, wie schon angedeutet, beim Entwurf seiner Störungstheorie offensichtlich von der Psychoanalyse inspirieren (Rogers’ erste klinische Tätigkeit nach dem Studium war im psychoanalytisch geführten Institute of Child Guidance, New York; Rogers, 1959/2020, S. 15). Gleichzeitig wurde z. B. der Psychoanalytiker Kohut (1959/1971) ebenso offensichtlich von der personzentrierten Therapietheorie angeregt zu seinem Entwurf der „Selbstpsychologie“, in der Begriffe wie Empathie, Alter-Ego-Beziehung bzw. –Übertragung, Selbst und Selbstobjekt zentral sind. Die von Rogers beschriebene Rolle des Therapeuten als „Alter-Ego“ wird bei Kohut zu der Funktion eines „Selbstobjektes“ für den Klienten, d. h. das jeweils gleiche Beziehungskonzept wird also bei Rogers als Aufgabe und Angebot des Therapeuten, bei Kohut dazu reziprok als Erwartung und Bedürfnis des Klienten beschrieben (Rogers, 1951/1973a, S. 52f.; Kohut, 1989, S. 275f.).

Im Blick auf die Schematherapie einschließlich der EFT ist wiederum zu sagen, dass sich schemaanaloge Konzeptionen im Sinne der Annahme unbewusster, stereotyp sich wiederholender Erlebens- und Verhaltensmuster schon in der frühen Psychoanalyse finden (Kap. 1.6). In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass sich Greenberg, Mitbegründer der Schematherapie, von Rogers und dessen Inkongruenz- und Abwehr-Modell insofern absetzt, als ihm diese Konzepte zu „strukturell“, d. h. zu statisch und zu wenig prozesshaft angelegt seien (Greenberg, 2011, S. 37f., 56). Diese Kritik bezieht sich z. B. auch auf das „Selbst“, das nicht als Struktur, sondern als Prozess sich ständig wiederholender Konstruktionen zu konzipieren sei. Diese Argumentation erscheint allzu dichotomisch, zumindest sofern der strukturelle Aspekt völlig ausgeschlossen werden soll. Zwar hat auch diese Schrift das zentrale Anliegen, das Prozesshafte zu betonen, z. B. das Erleben als Prozess einer dynamischen Abfolge von verschiedenen Gefühlen darzustellen. Dennoch wird hier auch so etwas wie „Struktur“, also etwas für eine gewisse Dauer annähernd Gleichbleibendes bei der Beschreibung einer Persönlichkeit, eine Rolle spielen. Bei der vorliegenden Darstellung wird eine um Klarheit, Übersichtlichkeit und Prägnanz bemühte Didaktik angestrebt, bei der sehr subtile Ausdifferenzierungen nicht immer vollumfänglich berücksichtigt werden. Für das, was hier gezeigt werden soll, wäre diese Komplexitätsreduktion auch ohne Belang.

In Zentrum dieser Schrift steht die Erörterung so genannter negativer Gefühle wie Angst, Ärger und Wut, Trauer und Depressivität, Scham- und Schuldempfinden. Diese Begrenzung der Auswahl rechtfertigt sich durch den Umstand, dass diese Gefühle bei vielen psychischen Störungen eine Rolle spielen oder selbst unmittelbar den Klienten veranlassen, eine Beratung bzw. Therapie aufzusuchen. Es dürften also die Gefühle sein, die therapiepraktisch von größter Bedeutung sind. Dabei sollen hier diese Gefühle u. a. auch in ihrem Zusammenhang mit Abwehrfunktionen möglichst systematisch dargestellt werden. Das damit verbundene emotionspsychologische Wissen kann dem personzentrierten Therapeuten/Berater beim Einfühlenden Verstehen insofern eine bedeutsame Hilfe sein, als es auf den funktionalen Zusammenhang verschiedener Gefühle verweist. Dadurch soll deutlich werden, wie gewissermaßen ein Gefühl aus einem anderen hervorgeht, also welche Zusammenhänge zwischen Gefühlen sich oft herausbilden. Dieses Wissen um eben solche Zusammenhänge ermöglicht es, Vorannahmen über die emotionsfunktionale „Nachbarschaft“ eines vom Klienten genannten Gefühls mit jeweils anderen Gefühlen und mit diesen verbundenen Kognitionen und Motiven zu entwickeln, was für ein vertiefendes Verstehen im Sinne einer „Tiefenreflektion“ (Mearns et al., 2016, S. 109) von Bedeutung ist. Wenn z. B. der Klient explizit oder implizit ein ihn gerade bestimmendes Gefühl anspricht, so kann der Therapeut aufgrund seines „Vorwissens“ sich eine „Verstehenshypothese“ (Keil, 2018) über jene Gefühle, Intentionen und Vorstellungen bilden, die im Bedeutungshof dieses Gefühls liegen könnten. Wegen vielfältiger „Nachbarschaften“ und Zusammenhänge von verschiedenen Gefühlen können wir auch von einem „Netzwerk“ der Gefühle sprechen. Es handelt sich dabei oft um Gefühle, die dem Klienten selbst u. U. kaum oder nur undeutlich bewusst sind. Der Bezug auf solches „Vorwissen“ bzw. „Vorverständnis“ erleichtert ein Arbeiten auf der Ebene, auf der die Empathie über ein rein nachbildendes, nacherlebendes Verstehen hinausgeführt wird zu einem Sinn-erfassenden, produktiven Verstehen (Finke, 2019).

Ein solch sinnerfassendes Verstehen kann auch nötig sein, um die eigene konstruktive Haltung aufrechtzuhalten. In der Psychotherapie kann bekanntlich der einfühlsame, bejahende Blick auf den Klienten nicht selten durch das persönliche eigene Betroffensein in einer therapeutischen Beziehung erschwert sein. Nehmen wir das Beispiel eines narzisstisch gestörten Klienten, der seinen Therapeuten ebenso subtil wie nachhaltig entwertet und dessen Verstehensangebote von der ersten Stunde an konsequent kritisiert. Das kann den emotionalen Rückzug oder gar die Verärgerung oder Verbitterung des Therapeuten zur Folge haben. Hier kann aber der Rückbezug auf das Störungswissen, besonders auch auf die biografischen Aspekte dieses Wissens, hilfreich sein und den empathisch verstehenden Zugang zum Klienten erleichtern bzw. wieder herstellen. Vor dem Hintergrund seines Störungswissens kann der Therapeut sich nämlich vergegenwärtigen, dass z. B. dieser Klient seine geheimen Versagensängste und Selbstwertzweifel durch eine phantasmatische Selbsterhöhung abwehrt. Das vom Klienten gezeigte Überlegenheitsgefühl (auch gegenüber dem Therapeuten) ist das Ergebnis einer Abwehr. Abgewehrt wurden geheime „Minderwertigkeitsgefühle“, Versagensängste oder Insuffizienzscham. Diese Einsicht kann es dem Therapeuten erleichtern, mit den möglichen Entwertungen seiner Person durch solche Klienten gelassener umzugehen. Ein Störungswissen ermöglicht auch sich vorzustellen, durch welche elterlichen „Bewertungsbedingungen“ (Rogers, 1959/2020, S. 50) und ihre entsprechenden Entwertungen des jungen Klienten dieses (narzisstische) Muster, mit eigenen Ängsten und Beschämungen umzugehen (nämlich diese auf einen anderen zu „projizieren“, s. u.), entstanden ist. Dem Therapeuten wird es so möglich, aus dem herablassenden, abweisenden Verhalten eine verborgene Hilfesuche heraushören zu können, eine Hilfe- und Kontaktsuche, die nur in einer völligen Verkehrung des eigentlichen Anliegens ihren Ausdruck finden kann. Natürlich kann der Therapeut bei solcher Art einer „hermeneutischen Empathie“ (Keil, 2018, S. 62f.) sich auch irren. Deshalb muss er seine wissensbasierte Weise des Verstehens immer für mögliche Korrekturen offenhalten und sein Vorverständnis immer wieder überprüfen und u. U. neu justieren.

1.2Bedeutung der Gefühle in der Personzentrierten Therapie

Als ein Ziel der Personzentrierten Psychotherapie (PZT) sah Rogers „die Bewusstmachung von Erfahrungen, deren der Klient sich bisher nicht bewusst war“ (Rogers, 1951/1973a, S. 143). Rogers führt dazu aus, dass hierbei aber nicht primär eine Art von Wissensvermittlung eine besondere Rolle spielt, sondern die Änderung des Erlebens des Klienten bedeutsam ist, um überhaupt für dieses neue Wissen (über sich selbst) empfänglich zu sein. Dazu muss der Klient seine Gefühle als bedeutsame Aspekte des Erlebens zunächst intensiv erleben, um sodann reflektierend über sie zu sprechen. Durch ersteres würde das Selbstkonzept so beeinflusst, um in der Lage zu sein, z. B. mit dem Selbstideal primär wenig vereinbare Einsichten anerkennen zu können. „Die Veränderung im Selbst geht der Wiederentdeckung von geleugnetem oder unterdrückten Material eher voraus, als dass sie ihr folgt“, so beschrieb Rogers (1951/1973a, S. 144) diesen Zusammenhang. Daraus folgt, dass die PZT schon insofern ein erlebenaktivierendes Verfahren ist, als sie eben im emotionalen Erleben die zentrale Basis der Änderung von Einstellungen, Überzeugungen und Bewertungen sieht. Das wiederum bedeutet, dass Gefühle als Elemente wie als Ausdruck des Erlebens und dessen Änderung im Fokus der therapeutischen Arbeit stehen müssen.

In „Die nicht-direktive Beratung“ führt Rogers(1942/1992, S. 124f.) aus, dass der Therapeut/Berater zwar die Äußerung des Klienten jeweils spiegeln soll, aber so, dass er hier weniger auf den sachlichen Inhalt als vielmehr auf das diese Äußerung begleitende Gefühl zentrieren soll. Es müsse um ein Herausarbeiten des emotionalen Gehalts der Klientenaussage gehen. Denn „diese neuere Therapie bemüht sich, so direkt wie möglich im Bereich der Gefühle und Emotionen zu wirken und versucht, nicht auf einem intellektuellen Wege zu einer emotionalen Reorganisation zu gelangen“ (Rogers, 1942/1992, S. 37; Ergänzung des Autors). Deswegen käme es darauf an, „nicht nur den Inhalt des Gesagten, sondern auch die ausgedrückten Gefühle zu erfassen und in erster Linie auf sie einzugehen“ (Rogers, 1942/1992, S. 131). Denn durch das Aufgreifen der Gefühle bzw. der „emotionalen Einstellungen“ könne er am besten Zugang zum Erleben des Klienten, zu seiner „inneren Welt“, wie Rogers später sagen wird (Rogers, 1977, S. 20), finden. Dabei sei der Berater am wirkungsvollsten, „wenn er hilft, das Gefühl bewusst ins Bild zu rücken, ohne Partei zu ergreifen. Hier ist es besonders wichtig, dass er seine Funktion als die eines Spiegels begreift, der dem Klienten sein wirkliches Ich zeigt“ (Rogers, 1942/1992, S. 133). Sodann führt Rogers aus, dass in der Therapie zwar in erster Linie „über die Gefühle gesprochen werden sollte, die der Klient ausgedrückt hat.“ Aber: „Das Erkennen solcher Einstellungen, über die der Klient noch nicht gesprochen hat, kann […] den Prozess der Therapie beschleunigen“ (Rogers, 1942/1992, S. 140). Hier mahnt Rogers jedoch auch besondere Behutsamkeit an, da das Ansprechen von noch kaum bewussten Gefühlen beim Klienten Widerstand (und natürlich auch das Erleben von Beschämung) auslösen kann. Das Ansprechen bzw. Spiegeln von explizit oder implizit ausgedrückten Gefühlen („reflecting of feelings“,Rogers, 1942/1992, S. 133, 185) solle dabei auch für die Beziehungen zwischen verschiedenen Gefühlen gelten. Von solchen Beziehungen zwischen verschiedenen Gefühlen wird im vorliegenden Buch ausführlich die Rede sein, denn das Klären dieser Beziehungen führt zur „inneren Welt“ des Klienten und zur Erhellung seines Selbstverständnisses. Rogers erörtert dann auch den therapeutischen Umgang mit negativen und widersprüchlichen Gefühlen. Zu ersteren sagt er, dass der Therapeut/Berater sich nicht scheuen sollte, auch negative, also z. B. traurige oder Selbstwert-Zweifel ausdrückende Gefühle aufzugreifen und der Versuchung zu widerstehen, in solchen Fällen voreilig tröstend, beschwichtigend oder das Negative bagatellisierend einzugreifen. Bei widersprüchlichen Gefühlen wäre es wichtig, die emotionale Ambivalenz so anzusprechen, dass der Klient sich mit ihr auseinandersetzen könne.

Später hat Rogers seinen Ansatz um die systematische Thematisierung der personzentrierten Haltungen bzw. Einstellungen erweitert, was u. a. bedeutete, dass er diesen Ansatz nicht mehr auf ein „reflecting of feelings“ reduziert sehen wollte. Denn er befürchtete, dass ein solches Spiegeln der Gefühle zu mechanistisch verstanden und zu emotional distanziert praktiziert werden könnte. Die Absicht, ein rein instrumentell verstandenes Spiegeln zu vermeiden, führte Rogers dazu, die Darstellung der Anwendungspraxis in Form eines Beschreibens von Mustern des therapeutischen Vorgehens zurückzustellen gegenüber der Darstellung personzentrierter Haltung. Auch die Spiegel-Metapher schien Rogers nun zu „kalt“, d. h. sie schien ihm zu wenig therapeutische Anteilnahme und Engagement nahezulegen. Der Berater/Therapeut solle eben dem Klienten nicht einfach nur ein Spiegel, sondern ein um Mit- und Einfühlen bemühter Begleiter sein (Rogers, 1951/1973a, S. 40f.). Jedoch sollte solch einfühlsames Verstehen sich weiterhin besonders im Erfassen und empathischen Ansprechen von Gefühlen zeigen ( Rogers, 1951/1973a, S. 426; Rogers, 1986). Reinhard Tausch (1970), der in den, 1960er Jahren die „client-centered therapy“ im deutschen Sprachraum einführte, hatte den therapiepraktischen Aspekt des Aufgreifens von Gefühlen durch die bekannte Formel „Verbalisierung persönlich-emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)“ darzustellen versucht. Mearns et al. (2016, S. 109) gingen insofern darüber hinaus, als hier auf der höchsten Rangskala des Einfühlenden Verstehens in Form einer „Tiefenreflektion“ auch ausdrücklich „unterschwellige Gefühle“, also nicht voll bewusste Gefühle, erfasst und angesprochen werden sollten, was allerdings, wie oben gesagt, schon Rogers angedacht hatte. Rice (1974) und auf der anderen Seite Greenberg (2011;Greenberg & Paivio, 1997) konzipierten beim therapeutischen Vorgehen auch ein Gefühle „evozierendes“ Element, wobei es sich um ein Herausfordern und Wachrufen bisher wenig oder nicht bewusster Gefühle handelt. Im Focusing von Gendlin wird die Aktivierung des Erlebens dadurch in ganz besonderer Weise betont, dass die Gefühle gewissermaßen in ihrem Urzustand angesprochen werden sollen, nämlich als ein körpernahes Empfinden und Spüren und ihrer verschiedenen Bedeutungsebenen noch vor jeder begrifflichen Fixierung und Kategorisierung (Gendlin, 1998, Deloch, 2019). Analog zum Prozessmodell Gendlins (2016) soll im Folgenden das Erleben als Prozess beschrieben werden, hier insofern, als gezeigt wird, wie durch Abwehr ein Gefühl aus einem anderen hervorgeht. Eine Prozesskonzeption widerspricht übrigens auch nach Gendlin nicht einer Betrachtung von Persönlichkeitsstrukturen, da letztere als sich ständig wiederholende Prozesse verstanden werden können (Gendlin, 2016; Lindenbauer, 2016).

1.3Was sind Gefühle?

Auf die Frage, wie Gefühle bzw. Emotionen zu definieren sind, gibt es vielfältige Antworten, die jeweils nur „Arbeitsdefinitionen“ darstellen (Otto et al., 2000), in denen in der Regel das wissenschaftstheoretische Vorverständnis der jeweiligen Forschungsrichtung zum Ausdruck kommt. So erscheint die Emotion als eines „der am schlechtesten definierten Konzepte“, dies u. a. auch wegen der schwierigen Abgrenzbarkeit von Emotion gegen andere Phänomene wie Kognition und Motivation (Schmidt-Atzert (1981, S. 25). Diese Schwierigkeit der Definition habe auch damit zu tun, dass Emotion keine eindeutiges, sondern ein vielgestaltiges Phänomen ist (Izard, 1981). Eine Folge dieser Schwierigkeiten zeigt sich schon darin, dass auch der Name für das besagte Phänomen umstritten ist, „Emotion“, „Gefühl“ oder „Affekt“, welcher ist passender?

Der Begriff „Affekt“ hat sich in der Psychoanalyse etabliert. Gegenüber „Gefühlen“ oder „Emotionen“ wird bei der Rede von „Affekten“ oft das stärker Impulshafte, Drängende, Eruptive betont, aber auch das körpernah Physiologische solcher „affektiven“ Regungen. Rogers (1959/2020, S. 28) spricht in der Regel von „Gefühlen“, und er scheint „Gefühl“ als den Oberbegriff zu sehen, der Kognitionen sowie Emotionen als physiologisch wirksame und messbare Basis umfasst. Der Neurowissenschaftler Damasio (2002) dagegen stellt den Emotionen als primär körperliche Reaktionen die Gefühle als mentale Ereignisse gegenüber (Lux, 2007), ohne hier eine hierarchisierende Zuordnung zu konstruieren. Das ist anders beim Mainstream der Emotionspsychologie. Hier wird oft ein Komponentenmodell der Emotion favorisiert, nach dem „Emotion“ als Oberbegriff fungiert, der z. B. die Komponenten Körperempfindung, Affekt und Stimmung (Schelp & Kemmler, 1988) oder Körperreaktionen, Ausdrucksverhalten und Gefühl (Otto et al., 2000) bzw. somatische, behaviorale, kognitive und gefühlshafte Komponenten (Lammers, 2011) zugerechnet werden. Für die folgenden Untersuchungen sind solche Differenzierungen nicht entscheidend, sodass hier Gefühl und Emotion als Synonyma behandelt werden. In phänomenologisch ausgerichteten Theorieansätzen ist der Begriff „Gefühl“ zentral bzw. wird dem der Emotion gleichgestellt, da das angesprochene Phänomen unmittelbar begegnet als das jeweils „Gefühlte“ (Demmerling & Landweer, 2007; Döring, 2009). Auch für die PZT ist eine therapeutische Zentrierung auf das subjektive Erleben, auf die unmittelbar sich zeigenden Gefühle der erste, entscheidende Schritt beim einfühlenden Verstehen. Und da schon Rogers fast immer von Gefühlen und nicht von Emotionen sprach, haben wir allen Grund, uns diesem Wortgebrauch anzuschließen, ohne die Gleichstellung mit dem Begriff „Emotion“ aufzugeben.

Bei Fragen der Begriffsbestimmung zeigt sich die starke Abhängigkeit aller emotionstheoretischen Aussagen von ihrer vorgängigen Definition (Mandl & Reiserer, 2000). Das betrifft auch den Begriff der Kognition, der z. T. sehr weit gefasst wird. In der Theorie von Lazarus (1991) scheinen Emotionen nur noch ein Epiphänomen von Kognitionen zu sein, insofern Emotionen nur eine Folge der (kognitiven) primären Einschätzung bzw. Bewertung einer Situation und der sekundären Einschätzung ihrer möglichen Bewältigung sind. Der Vorbehalt gegen diese kognitivistische Zuspitzung betonte die Möglichkeit einer unmittelbar gefühlshaften Bewertung (Zajonc, 1980; Izard, 1994). Dies kommt besonders zum Ausdruck in der „Feeling-Theorie“, die den Erlebensaspekt stark macht und darlegt, dass es auch präreflexive Gefühle gibt, die die Funktion von gefühlten Bedeutungen und emotional-intuitiven Bewertungen haben (Goschke & Bolte, 2002; Helm, 2009).

Mit dem Begriff „Gefühl“ ist stärker das subjektive Fühlen und Spüren gemeint, was bedeutet, dass dieser Begriff auch die Perspektive der ersten Person, d. h. der unmittelbar erlebenden Person, impliziert (Uhlig, 1995). In der um Objektivität, Replizierbarkeit und Überprüfbarkeit der Aussagen bemühten Wissenschaft ist dagegen die Perspektive der dritten Person, d. h. des (experimentierenden) Beobachters, maßgebend, sodass eben der Begriff „Emotion“ in der wissenschaftlichen (positivistisch ausgerichteten) Psychologie gebräuchlicher ist. Zwar hat man versucht, auch hier die Ebene des subjektiven Erlebens durch Befragung von Versuchspersonen einzubeziehen. Aber dies ist schon eine sehr vermittelte Ebene, da die Versuchspersonen in den Fragebögen nur sagen können, wie sie vermutlich diese oder jene bloß vorgestellte Situation erleben würden.

Bei dem Versuch, die verschiedenen „gefühlshaften“ Phänomene differenzierend zu beschreiben, ist eine Einteilung üblich geworden, in der Gefühle im engeren Sinn von Stimmungen und von Einstellungen bzw. Haltungen sowie auch von körpernahen Empfindungen unterschieden werden. Demnach zeichnen sich Gefühle gegenüber Stimmungen durch eine kürzere Dauer aus. Außerdem haben sie meist einen konkreten Anlass (bzw. auslösenden Stimulus, wie es in der Verhaltenstherapie heißt) sowie einen fassbaren Bezugspunkt bzw. ein Ziel. Angst z. B. ist auf eine bestimmte Gefahrenquelle bzw. einen gefährlichen Gegenstand bezogen, sie ist also intentional. Insofern machen Gefühle auch eine bestimmte Aussage im Sinne von „gefühlten Bedeutungen“, wie etwa bei der Aussage „Diese Situation fühlt sich gefährlich an“. Sie haben also eine propositionale, d. h. Urteile bzw. Aussagen beinhaltende Struktur. Stimmungen dagegen fehlt oft sowohl ein klar benennbarer Anlass wie die Bezogenheit auf einen „Gegenstand“ und ein aussageförmiger Gehalt. Man weiß oft gar nicht so recht, warum man z. B. gerade melancholisch gestimmt ist. Außerdem sind Stimmungen meist weniger intensiv und „heftig“ als Gefühle. Jedoch nicht alle Phänomene, die gemeinhin als Gefühle klassifiziert werden, sind hinsichtlich der genannten Kriterien von der Stimmung so klar abgrenzbar wie die Angst. Dies kann z. B. bei der Freudigkeit bzw. Fröhlichkeit, aber auch der Traurigkeit der Fall sein, Gefühle, die nicht selten länger andauern und gelegentlich weder einen eindeutigen Anlass noch einen klaren Bezug zu einer bestimmten Erwartung haben können, d. h. sie können den Charakter von Stimmungen annehmen. Die genannten Differenzierungskriterien sind also keineswegs immer sehr trennscharf, schon, weil zumindest manche Gefühle sehr komplex sind; sie können wie aus mehreren Gefühlen zusammengesetzt erscheinen.- Über die Stimmung als Phänomen von längerer Dauer hinaus können emotionale Phänomene gewissermaßen auch chronisch werden, nämlich dann, wenn sie als Leitbild so in das Selbstkonzept, namentlich in das Selbstideal, integriert werden, dass sie zu einer grundsätzlichen Einstellung oder Haltung der Person werden. Genau dieses erwartet auch Rogers vom personzentrierten Therapeuten: Dass dieser nämlich auf der einen Seite die therapeutischen Kernmerkmale wie die gefühlshafte Einstellung von Achtung und Wertschätzung so verinnerlicht, dass sie zu einer Grundhaltung, sogar zu einer „Seinsweise“, zu einem „way of being“ werden (Rogers, 1977, S. 116). Auf der anderen Seite dieser Reihung affektiver Phänomene wäre das körperlich bzw. körpernahe Empfinden zu nennen, etwa ein Juckreiz oder der Schmerz bei körperlicher Verletzung. Ein solches Empfinden wird verglichen mit Gefühlen etwa der Angst oder der Trauer als relativ Ich-fern erlebt.

Gefühle unterscheiden sich von Kognitionen u. a. sehr durch das Ausmaß ihrer Kontrollierbarkeit, sofern diese bei Gefühlen eben deutlich geringer ist. Gefühle können wir anders als Gedanken kaum aktiv in Bewegung setzen, denn Gefühle widerfahren uns. Dieser Widerfahrnis-Charakter von Gefühlen hat zur Folge, dass wir über sie nur sehr begrenzt verfügen können. Die weitgehende Unverfügbarkeit von Gefühlen ist für die Therapie dann ein Problem, wenn eine bessere Regulierbarkeit, also Verfügbarkeit von Gefühlen als ein wichtiges Therapieziel erscheint, wie das z. B. bei Klienten mit der Neigung zu Impulsdurchbrüchen etwa in Form von „Wutanfällen“ im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung der Fall sein kann. Solche Fälle machen übrigens deutlich, dass die (wenn auch begrenzte) Regulierungsfähigkeit von Gefühlen offenbar schon in früher Kindheit durch Erfahrungs- und Modelllernen auf dem Hintergrund elterlicher Vorbildhaltungen und Empathie erworben wird.

Gefühle sind „naturgegeben“ nicht statisch, sondern dynamisch, sie bilden eine Abfolge von verschiedenen Erlebensmomenten. Gefühle haben also einen temporalen Charakter (Kochinka, 2004)