Das Nordseekind - Tilman Spreckelsen - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Nordseekind E-Book

Tilman Spreckelsen

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Theodor Storm und eine Serie rätselhafter Morde 

Husum 1845: Der Anwalt Theodor Storm bekommt Besuch von einer fremden Frau. Sie erzählt von einem lange zurückliegenden Mordfall und einem damals entführten dreijährigen Mädchen und behauptet, dieses Kind zu sein. Da sie daher Erbin eines Vermögens auf der Nordseehalbinsel Eiderstedt wäre, kommt die Fremde denjenigen in die Quere, die damals den Familienbesitz geerbt haben. Als dann eine Mordserie Husum erschüttert, beginnt Theodor Storm seine Ermittlungen auf den alten Höfen Eiderstedts – und er und sein Schreiber kommen einem mysteriösen Geheimbund auf die Spur. 

Ein Kriminalroman mit besonderem Personal – wunderbar erzählt und präzise recherchiert

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 254

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über das Buch

Der junge Theodor Storm hat in Husum eine Anwaltskanzlei eröffnet, doch die Geschäfte laufen schlecht. Sein Schreiber Peter Söt fürchtet schon, sich nach einer anderen Beschäftigung umsehen zu müssen. Als ein ärmlich gekleidetes Paar vor seiner Tür steht, ahnt Storm sogleich, dass die beiden ihm kein Geld, sondern jede Menge Ärger eintragen werden. Enna, die Frau, behauptet, als kleines Kind von drei Jahren entführt worden zu sein. Im Wahrheit sei sie die Erbin eines großen Vermögens und wolle nun zu ihrem Recht gelangen. Storm weist die Frau mit ihrem Begleiter ab, doch dann beginnt eine Mordserie, wie Husum sie noch nie gesehen hat. Und Enna scheint eine Menge damit zu tun zu haben. Theodor Storm und sein Schreiber Peter Söt können nicht anders – sie müssen sich der Sache annehmen.

Über Tilman Spreckelsen

Tilman Spreckelsen, Jahrgang 1967, hat Germanistik und Geschichte studiert und ist Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bisher sind vier Kriminalromane mit dem Ermittler Theodor Storm erschienen. Sein Werk wurde mit dem Theodor-Storm-Preis ausgezeichnet.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Tilman Spreckelsen

Das Nordseekind

Theodor Storm ermittelt

Historischer Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Personen

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Nachwort

Impressum

Wer von diesem spannenden Roman begeistert ist, liest auch ...

Personen

Hartmut Brinkmann, Amtshaussekretär im Schloss vor Husum

Simon Brodersen, Diener in Friedrichstadt

Johann Friedrich Dircksen, Pfarrer in Westerhever

Constanze Esmarch, Verlobte Storms, zu Besuch in Husum

Friedrich Feddersen, Propst von Eiderstedt in Garding

Hannibal Hitscher, Stadtphysicus in Husum

Jan Jacob Jens, Bauer bei Garding

Reinhard von Kaup, Bürgermeister von Husum

Hans von Krogh, Amtmann des dänischen Königs in Husum, Oberstaller von Eiderstedt

Hinrich Lehmann, Kellner in Rendsburg

Enna Lorenzen, Köchin in Rendsburg

Anna Lena van Ovens, Erbin in Friedrichstadt

Katharina van Ovens, Witwe in Friedrichstadt

Peter Söt, Theodor Storms Schreiber in Husum

Johann Casimir Storm, Rechtsanwalt in Husum

Theodor Storm, Rechtsanwalt in Husum

Wieb und Marten Wolf, Wirtschafter auf dem Staatshof bei Koldenbüttel

Eins

»Ich kann nur einzelnes sagen; nur was geschehen, nicht wie es geschehen ist; ich weiß nicht, wie es zu Ende ging und ob es eine Tat war oder nur ein Ereignis, wodurch das Ende herbeigeführt wurde. Aber wie es die Erinnerung mir tropfenweise hergibt, so will ich es erzählen.«

Theodor Storm, »Auf dem Staatshof«

»Du kommst jetzt mit, habe ich gesagt.«

»Du hast mir gar nichts zu sagen.«

Der Morgen war hell und der Himmel über Husum klar und weit. Die Luft war mild, über der Marienkirche krächzten die Dohlen beinahe zärtlich, als wollten auch sie den Frühling begrüßen, und in den Gärten blühten Krokusse und Tulpen.

Die Stimmen hörte ich schon von Weitem – und nicht nur ich. Als ich von der Hohlen Gasse in die Großstraße einbog, konnte ich das lauthals streitende Paar auch sehen. Sie standen vor Werners Weinstube, neugierig angestarrt von den Husumern, die vorbeiliefen oder stehen blieben.

Der Mann trug einen schäbigen blauen Umhang, darunter eine verblichene Lederhose, die einmal gelb gewesen war. Es sah aus, als hätte er seine Kleidung von einem vornehmen Herrn geschenkt bekommen, als sie schon lange aus der Mode gekommen war, und trug sie nun, um selbst vornehm zu wirken. Die Frau, deutlich jünger als ihr Begleiter, hatte ein einfaches Kleid an, das ihr zu eng war. Sie war klein und stämmig und stieß dem Mann immer wieder mit der flachen Hand vor die Brust.

Dass ihrem Streit so viele zusahen, schien sie nicht zu bemerken. Die Husumer gingen neugierig, ärgerlich oder peinlich berührt vorüber, manche blieben auch stehen, um zu verfolgen, was das laute Paar noch anstellen würde. Ich sah den Schreiber Clausen, der seit Ewigkeiten für den alten Advocaten Johann Casimir Storm arbeitete, wie er die beiden entsetzt anstarrte und schnell hinter der Marienkirche verschwand, während Jens Overbeck, der in der Krämergasse im Geschäft von Ingwer Woldsen Gewürze und Liköre aus weiter Ferne verkaufte, so tat, als interessiere ihn das Spektakel nicht weiter, und dabei nur umso genauer hinschaute.

»Ich mein’ doch nur«, sagte der Mann jetzt etwas leiser.

»Du hast hier auch nichts zu meinen.«

Inzwischen war ich dem zänkischen Paar näher gekommen. Das Geschrei interessierte mich nicht, ich wollte so schnell wie möglich zu Theodor Storms Kanzlei, wo ich als Schreiber angestellt war.

»Aber wir sind extra hierhergereist …«, fing der Mann wieder an.

»Was?«, schrie die Frau plötzlich und drehte sich zu Griet um, der Magd von Fischhändler Quedens, die hinter ihr stehen geblieben war, um den Streit besser zu verfolgen. Die Frau starrte Griet wütend an, und die murmelte etwas Unverständliches und ging rasch weiter. Die Frau wandte sich wieder ihrem Gefährten zu.

»Dass ich dich mitgenommen habe, heißt nicht, dass du mir was vorschreiben kannst.«

»Natürlich nicht, Enna.« Er verstummte und sah wie ein geprügelter Hund an ihr vorbei.

Sein Blick blieb an mir hängen.

»Können Sie uns vielleicht sagen, wo wir den Herrn Advocaten Storm finden?«, fragte er unvermittelt.

Enna schnaubte wütend.

»Welchen?«, fragte ich. »Den alten oder den jungen?«

Der Mann wirkte ratlos. »Vielleicht den alten Storm?«

»Warten Sie«, sagte ich, erleichtert darüber, dass Theodor Storm und damit auch ich von diesem anstrengenden Paar verschont bleiben würden, »seinen Schreiber habe ich eben gesehen, der kann Sie gleich mit ins Kontor von Johann Casimir Storm nehmen.« Ich sah mich rasch nach Clausen um, aber der tauchte nicht mehr auf. Ich wollte dem Mann gerade den Weg beschreiben, da sagte Enna finster: »Den jungen.«

»Der alte Herr Rechtsanwalt hat sicher die größere Erfahrung, nicht wahr?«, sagte Ennas Begleiter beflissen, an mich gewandt. Dass das keine gute Idee war, konnte ich mir selbst nach so kurzer Bekanntschaft mit Enna denken.

»Den jungen!«, sagte sie noch einmal. Mit Nachdruck.

Der Mann im blauen Mantel seufzte.

»Also?«

»Kommen Sie mit mir«, sagte ich, »aber ich weiß nicht, ob der Herr Advocat Zeit für Sie hat.«

Enna lächelte grimmig, als ob diese Frage für sie längst entschieden war.

Theodor Storm hatte vor knapp zwei Jahren, im Frühjahr 1843, in seiner Heimatstadt Husum eine eigene Rechtsanwaltskanzlei eröffnet, nachdem er vorher ein halbes Jahr für seinen Vater gearbeitet hatte. Es hieß, dass der alte Johann Casimir Storm, der alle und jeden in Husum kannte, seinen Sohn noch immer großzügig unterstützte.

Theodor Storm hatte mich als Schreiber eingestellt und behalten, obwohl ich als Wildfremder in die Stadt gekommen war und ihm dann bald Gründe genug geliefert hatte, mich zu entlassen. Vielleicht schätzte er mich für das, was wir in den beiden Jahren zusammen durchgemacht hatten. Oder es war ihm einfach zu mühselig, sich einen neuen Schreiber zu suchen. Wahrscheinlich beides. Und da er noch immer wenig Klienten hatte, schon gar nicht solche, die ihn anständig bezahlten, war es sowieso ungewiss, wie lange er sich noch einen eigenen Schreiber leisten würde.

Ich spürte die Blicke der Husumer in unseren Rücken, als wir die Großstraße überquerten. Die Geschichte würde in kürzester Zeit die Runde machen – zwei Fremde ohne einen Funken Anstand und Benehmen, die unter allen Husumern natürlich wieder ausgerechnet beim jungen Storm landeten. Aber der war dafür ja anfällig, siehe auch seinen dubiosen Schreiber, also mich. So in etwa.

Gegenüber von Werners Weinstube, die Storm eifrig besuchte, um dort mit Freunden Karten zu spielen, hatte er beim Versicherungsmakler Schmidt zwei Zimmer gemietet. Im einen wohnte er, im anderen befand sich die Kanzlei. Das Haus war alt, vor zweihundert Jahren schon hatte hier der Bürgermeister Dankwerth gelebt, der Chronist der Gegend im siebzehnten Jahrhundert. Jetzt war das Haus unübersehbar in die Jahre gekommen, nachts knarrte und knackte das trockene Holz, als ob der frühere Bewohner nach dem Rechten sehen wollte, in seinen Räumen und in der ganzen Stadt. Flüchtig fragte ich mich, in welchem Zustand ich heute früh das Arbeitszimmer antreffen würde. Und Storm, der vielleicht gerade nicht mit Klienten rechnete.

Vor dem Haus hatte Storm Rosen unter den Fenstern gepflanzt. Enna und ihr Begleiter hatten keine Augen für die Knospen, so angespannt wie sie waren. Auch den zierlichen Giebel von Werners Weinstube hatten sie in ihrem Streit wohl nicht einmal bemerkt.

Ich zog den Glockenstrang im Eingang, um uns anzukündigen. Dann ging ich durch den schmalen Gang, klopfte laut an die seitliche Tür zum Kontor, wartete etwas und öffnete.

Storm saß auf dem Sofa, sehr dicht neben ihm Constanze Esmarch, seine Cousine aus Segeberg und seit etwas über einem Jahr auch seine Verlobte. Sie nestelte an dem Tuch, das sie vor der Brust trug. Fast schien es mir, als ob sie rot geworden wäre. Vor einem knappen Jahr war sie zu einem ausgedehnten Besuch nach Husum gekommen und wohnte bei Storms Eltern in dem großen alten Haus in der Hohlen Gasse. Mit Theodor allein sein konnte sie dort kaum.

»Peter Söt! Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Storm. Immerhin schien er mir die Störung nicht übelzunehmen.

»Theodor hat mir gerade von Ihrer Reise im letzten Herbst nach Köthen erzählt, Herr Söt«, sagte Constanze. »Tatsächlich mit der Eisenbahn! Ich gäbe wer weiß was drum, auch mal damit zu fahren. Stimmt es, dass einem schwindlig wird, wenn man unterwegs aus dem Fenster sieht?«

»Nur während der Fahrt, Constanze, auf dem Bahnhof geht es noch so gerade«, sagte Theodor.

Sie lächelte nachsichtig. Inzwischen kannte ich sie seit über einem Jahr und glaubte, dass sie sich von ihrem Verlobten weder von etwas abhalten noch etwas verbieten lassen würde, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hatte.

Um Storms Beine strich der alte Angorakater seines Vermieters. Als Storm hier eingezogen war, hatte sich auch der Kater in Kontor und Wohnstube eingerichtet. Storm verwöhnte ihn, und der Kater suchte seine Nähe. Von Constanze ließ er sich nicht streicheln, er schien eifersüchtig auf sie zu sein.

»Sie sind der Advocat Storm?« Enna war entschlossen in die Stube getreten und schaute mit finsteren Blicken auf die Berge von Papieren, Mappen und Büchern auf dem Boden und den Regalen im Kontor. Mein Schreibpult in der Ecke neben der Tür war noch einigermaßen frei davon, worum ich ständig mit Storm kämpfen musste.

»Ja«, sagte Storm, der die beiden erst jetzt richtig wahrzunehmen schien. »Mit wem habe ich …«

»Enna Lorenzen. Und das ist Hinrich Lehmann, mein Begleiter.«

»Begleiter, aha«, sagte Storm.

»Wir sind zu Ihnen …«

»Von woher?«

»Bitte?«

»Von woher Sie zu mir gekommen sind? Wo sind Sie zu Hause?«

»Genau darum geht es mir ja«, sagte Storms Besucherin. »Hören Sie doch zu!«

Im hellen Sonnenschein, der durch die Fenster drang und die kleinsten Staubteilchen in der Luft hervortreten ließ, sahen die beiden Besucher noch fadenscheiniger aus als zuvor. Storm hatte viel Verständnis für Klienten, die sich eigentlich keinen Anwalt leisten konnten, die auf seine Hilfe zählten, wenn sie sich gegen Unrecht zur Wehr setzen mussten. Nur traten die mittellosen Witwen, die wegen Diebstahl von ein paar dürren Ästen angeklagt wurden, oder die Dienstmädchen, die schwanger und dann sitzengelassen wurden, Storm gegenüber ganz anders auf. Jedenfalls nicht so, als sei er ihr Eigentum, ein Bediensteter, der gehorchen müsse und keine Fragen stellen dürfe.

Dass Storm sich nicht so behandeln lassen würde, sah ich ihm an. Enna wohl auch.

»Wahrscheinlich denken Sie, dass ich Sie nicht bezahlen kann, Herr Advocat. Aber ich bin reich. Ich besitze neunzig Höfe in Eiderstedt. Eigentlich.«

Eine Verrückte. Storm würde wohl ein ernstes Wort mit mir reden, gleich nachdem er die beiden im hohen Bogen aus dem Kontor geworfen haben würde.

»Neunzig Höfe?« Storm hob die Augenbrauen. Er schien eher amüsiert als zornig. Aber Constanze hing ernsthaft an Ennas Lippen.

Die Frau stockte. Dann setzte sie wieder an.

»Man hat sie mir gestohlen. Vor langer Zeit. Und Sie sollen mir helfen, sie zurückzubekommen.«

Zwei

»Ich drückte mich neben ihm in die andere Ecke, aber er begann noch nicht. ›Ich weiß nicht recht‹, sagte er, sich mit der Hand über die Stirn fahrend, ›wo ich mein schweres Bekenntnis ansetzen soll, nicht recht, wie früh das Leid begonnen hat.‹«

Theodor Storm, »Ein Bekenntnis«

»Also glaubst du ihr, Theodor?«

Enna Lorenzen und Hinrich Lehmann hatten Storms Kanzlei mittags wieder verlassen. Lehmann sagte, sie seien jetzt in ihrem Quartier – ein Schubser von Enna, und er verschluckte die genaue Adresse, wie es schien – und würden am Nachmittag noch einmal vorsprechen. Bis dahin hofften sie auf einen günstigen Bescheid des Herrn Advocaten. Dann hatte er seine finstere Begleiterin durch die Tür gezogen. Dass ich heute früh keine Akten kopieren würde und auch keine Notenblätter für den Chor, den Storm leitete und der ihm oft mehr Freude bereitete als sein eigentlicher Beruf, war mir nach Ennas Besuch klar. Und auch, dass Constanze sich nicht von der Sache fernhalten lassen würde.

»Ich glaube erstmal gar nichts, Constanze.«

»Und dieser schreckliche Mord – kannst du dich daran erinnern?«

»Ich war damals selbst noch ein Kind, natürlich hat es mich beschäftigt, aber die Einzelheiten hat man damals vor mir verborgen. Mein Vater müsste sie allerdings kennen. Wenn es sich wirklich so zugetragen hat, wie Enna sagt.«

Constanze und ich hatten nie davon gehört.

Ennas Geschichte ging so: Sie war in Kiel aufgewachsen, als Tochter eines Schumachers und seiner Frau, die aus Itzehoe dorthin gezogen waren, als Enna vielleicht zwei Jahre alt war. So hatten es die beiden ihr immer erzählt. Sie wurde älter und lernte das Kochen im Rendsburger Gasthof »Zur Krone«. Von dort kannte sie auch ihren Begleiter Lehmann. Ihr Vater starb früh, ihre Mutter kränkelte, und als es ernst um sie stand, ließ sie ihre Tochter zu sich nach Kiel rufen. Sie enthüllte ihr, dass sie nicht das leibliche Kind des Ehepaares sei. Eines Abends hätte vor der Schuhmacherwerkstatt des Vaters in Itzehoe ein Korb mit einem schlafenden Kleinkind gestanden. Darin zwischen den Kissen fünf Goldmünzen und ein Brief. Sie sollten sich um das Mädchen kümmern, hieß es in dem Schreiben. Dafür würden sie jedes Jahr dieselbe Summe bekommen. Solange es dem Kind gut ging.

Storm hatte für Enna und Lehmann zwei Stühle freigeräumt, er saß weiter zurückgelehnt auf dem Sofa, die Arme vor der Brust verschränkt, und hörte sich alles an, ein Lächeln auf den Lippen.

Jetzt unterbrach er sie.

»Haben Sie das Geld – diese Goldstücke – je gesehen?«

»Nein«, sagte sie.

»Wie schade!«

»Geld war bei uns immer knapp. Und wenn mein Vater mal was bekommen hat, dann hat er es eher zum Krugwirt getragen, als es für Mutter und mich auszugeben.«

Storm nickte ihr zu, und sie erzählte weiter.

»Ich habe dann meine Mutter gefragt, wer meine richtigen Eltern sind.«

»Und?« Constanze sog ersichtlich jedes Wort dieser Geschichte in sich auf, während Storm sich dazu zwang, ein ernstes Gesicht zu machen. Was offenbar auch Enna auffiel, die sich nun ganz an Constanze wandte.

»Sie konnte es mir nicht sagen.«

»Ein Jammer«, sagte Storm fröhlich, und »Theodor!«, sagte Constanze.

»Ja, finde ich auch«, sagte Enna missmutig. »Aber immerhin stand in dem Brief noch mein richtiger Name: Elisabeth van Ovens.«

»Große Familie hier in der Gegend«, sagte Storm. »Und reich. Mein Vater … Bitte sprechen Sie weiter.«

Enna sah ihn misstrauisch an.

»Meine Mutter starb kurz darauf. Ich hab das dann alles ihm hier erzählt« – sie zeigte auf Lehmann, der zusammengesunken in seinem Stuhl gesessen hatte und sich nun ruckartig aufrichtete – »und er hat sich umgehört. Da war diese Geschichte mit Leonard van Ovens, der hier in der Nähe lebte. In Eiderstedt.«

»Leider kenne ich ihn nicht«, sagte Storm.

»Ist egal«, sagte Enna. »Der kam eines Tages nach Hause auf seinen schönen Hof – den Staatshof bei Koldenbüttel – und fand alles wie ausgestorben. Knechte und Mägde auf dem Feld, seine Mutter war an dem Tag zu Besuch irgendwo …«

»Friedrichstadt«, warf Lehmann ein. Enna bedachte ihn mit einem strengen Blick. Das war ihr Auftritt, er sollte sich raushalten.

»Ja, Friedrichstadt. Und in der guten Stube lag seine Frau in ihrem Blut.«

»O Gott«, sagte Constanze.

»Ich habe von der Sache gehört, glaube ich«, sagte Storm.

»Ermordet«, sagte Enna finster. »Aber da war noch was.«

Auch Storm hörte jetzt aufmerksam zu.

»Die Ovens hatten ein kleines Kind. Als der Mann sah, dass seiner Frau nicht mehr zu helfen war, suchte er seine Tochter im ganzen Haus. Sie war verschwunden.«

»Die Kleine hieß Elisabeth, nehme ich an?«, fragte Storm Enna etwas zu freundlich.

»Sie glauben mir nicht, stimmt’s?«

»Ich frage nur. Sie war ungefähr in Ihrem Alter und ist nie wieder aufgetaucht, ja?«

»Warum glauben Sie mir nicht?«, sagte Enna zu Storm. Und zu Constanze: »Glauben Sie mir denn?«

Bevor seine Verlobte antworten konnte, fragte Storm: »Was war das vorhin eigentlich mit den neunzig Höfen?«

Enna schnaubte, noch immer zornig, und Hinrich Lehmann nahm, wie es schien, all seinen Mut zusammen: »Wenn ich nach der Familie van Ovens gefragt habe, erzählten mir die Leute immer etwas von ungeheurem Reichtum. Neunzig Höfe in ganz Friesland hätten die, und früher einmal hätten sie sich vorgenommen, die Hundert vollzumachen. Es ist dann aber anders gekommen.«

Wir brauchten eine Moment, um das zu verdauen.

In der Stille hörten wir das Maunzen des Katers, der sich nicht genug beachtet fühlte. Hinrich lockte ihn zu sich und kraulte ihm den Kopf. Der Kater schnurrte zufrieden.

»Schön«, sagte Storm dann, »also nur neunzig Höfe. Und was wollen Sie jetzt tun?«

»Ich will mein Recht«, sagte Enna. »Was mir zusteht. Neunzig Höfe oder achtzig oder von mir aus zehn. Egal.«

»Verzeihen Sie die Frage«, sagte Storm: »Was macht sie eigentlich so sicher, dass Enna Lorenzen die verschwundene Elisabeth van Ovens ist? Können Sie sich an irgendetwas aus Ihrer Eiderstedter Kindheit erinnern? Hat jemand Sie als Elisabeth erkannt? Ihr Vater vielleicht? Der müsste doch eigentlich überglücklich sein, seine Tochter wieder in die Arme zu schließen.«

Enna presste die Lippen aufeinander und schwieg.

Hinrich räusperte sich.

»Leonard van Ovens ist schon seit neunzehn Jahren tot. Er hat sich bald nach dem Verlust seiner Frau und seiner Tochter erhängt. Im Dachstuhl.«

»Das tut mir leid«, sagte Storm.

»Vielleicht können Sie das verstehen«, fuhr Hinrich mit ruhiger Stimme fort, »falls Sie selbst Kinder haben.« Er schaute uns fragend an.

Ich nickte unwillkürlich.

»Ich nicht«, sagte Storm, »und ich weiß auch nicht, was das hier soll. Jedenfalls macht der Tod des Vaters Ihre Sache nicht einfacher. Dieser Brief aus dem Körbchen, in dem das Kind« – Enna fuhr auf – »Verzeihung: in dem Sie gefunden wurden – was ist mit dem?«

Storms Besucherin schüttelte den Kopf. Dann zog sie einen kleinen Stoffbeutel hervor, öffnete ihn, griff hinein und legte wortlos etwas auf den Tisch. Dabei verrutschte der rechte Ärmel des Kleids. Das Stück Haut, das wir kurz sahen, schien seltsam fleckig zu sein. Hastig zog Enna den Ärmel zurück.

»Darf ich?«, fragte Storm. Als kein Widerspruch kam, griff er nach dem kleinen silbernen Anhänger, hielt ihn dicht vor sein Auge und legte ihn nach einer Weile wieder zurück.

»Interessant«, sagte er. »Woher stammt das?«

Eine ovale Silberscheibe mit einem Relief, das eine Kriegerin in voller Rüstung mit langen wehenden Haaren zeigte. Sie stand auf einer Art Zugbrücke und hielt ein Schwert in die Luft.

»War im Körbchen, sagt meine Mutter. Sehen Sie sich mal die Rückseite an.«

Storm nahm den Anhänger zum zweiten Mal in die Hand und drehte ihn um. »E. v. O.«, las er vor. »Ich verstehe.«

In die Stille, die folgte, drang das Mittagsläuten der Marienkirche. Die Luft war stickig und heiß, ich wünschte, ich hätte ein Fenster aufmachen können, aber nach einem peinlichen Vorfall während eines vertraulichen Gespräches mit einem Klienten, der sich gegen eine Vaterschaftsklage wehrte, hatte Storm ein für alle Mal angeordnet, dass das Fenster unter keinen Umständen geöffnet werden durfte, wenn Mandanten im Kontor waren.

Dann waren die beiden gegangen. Wir hörten das kräftige Stampfen auf den alten Dielen, von dem ich annahm, dass es Enna war, und das leise Klappern von Lehmanns altmodischen Stiefeln.

»Du hast sie nicht gerade ermutigt, Theodor«, sagte Constanze, als wir sicher waren, dass Enna und ihr Begleiter uns nicht mehr hören konnten. »Wolltest du ihr nicht helfen, oder ist die Sache einfach zu verfahren?«

»Ach, Constanze!«, sagte Storm. »Das klingt doch alles wie ein melodramatischer Roman aus der Leihbücherei unserer Freundin Doris Stamp: ein vor der Haustür abgelegtes Kind, die jährlichen Goldstücke, ein Brief ohne Absender, ein geheimnisvolles Medaillon, ein reiches Erbe in Aussicht – ich bitte dich!«

»Hat sie das alles erfunden?«, fragte Constanze. »Oder hat ihr ihre Mutter einen Bären aufgebunden? Auf dem Sterbebett?«

»Das wohl nicht«, sagte Storm. »Aber wie auch immer: Der Fall ist völlig aussichtslos. Mit dem bisschen, was Enna in der Hand hat, wird sie niemand als die verschwundene Elisabeth anerkennen.«

»Das Medaillon?«

»Das sie Gott weiß woher haben könnte? Und das so passenderweise mit E. v. O. bezeichnet ist?«

»Du kannst der Sache doch mal nachgehen«, sagte Constanze, »egal, was am Ende dabei rauskommt. Oder hast du Angst um dein Honorar?«

»Da habe ich allerdings keine großen Hoffnungen«, sagte Storm.

»Oder hast du keine Zeit? Hast du gerade so viel andere Klienten?«

Constanze konnte manchmal ein bisschen gemein sein, und Storm überging ihre Frage.

Sie ließ nicht locker.

»Wenn dieser Leonard van Ovens tot ist, wem gehören die neunzig Höfe« – Storm schaute sie belustigt an – »diese Höfe, wie viel auch immer, dann jetzt?«

»Es gibt hier in der Gegend eigentlich nur noch eine alte Frau van Ovens, Katharina, soweit ich weiß, mit einer Enkelin: Anna Lena, siebzehn, blond, ein bisschen still, hast du sie schon kennengelernt? Bei einer Gesellschaft oder einem Ball hier in Husum?«

»Nein.«

»Katharina van Ovens lebt mit Anna Lena in Friedrichstadt, weil es ihnen auf dem Land inzwischen zu beschwerlich ist. Wie viel Vermögen da ist, weiß ich nicht. Aber mein Vater müsste einen Überblick haben. Soviel ich weiß, berät er die alte Ovens in allen geschäftlichen Angelegenheiten.«

»Diese Anna Lena auch?«, fragte Constanze.

»Noch nicht, glaube ich. Sie wird einmal alles erben, heißt es, als Letzte der van Ovens. Aber sie ist noch zu jung. Wenn die Alte stirbt, bevor Anna Lena volljährig ist …«

Storm brach ab.

»Dann?«

»Dann würde sicherlich mein Vater ihr Vormund. Er müsste sich für sie um den Besitz kümmern.«

»Und du müsstest dich mit ihm anlegen, wenn du Ennas Fall übernimmst.«

Storm seufzte. »Mit ihm und, wie es aussieht, mit halb Eiderstedt. Warum sollte ich die Sache also übernehmen?«

Ich verstand ihn gut. Auf diesen absurden Fall wollte ich mich auch nicht weiter einlassen als unbedingt nötig, er würde zu nichts führen, und so ließ ich sie reden und träumte an meinem Pult vor mich hin.

Vor einem halben Jahr hatten Bottilla, die als Dienstmädchen bei Storms Vermieter Schmidt gearbeitet hatte, und ich geheiratet, kurz vor der Geburt unserer Tochter Marie. Es war am Ende eine komplizierte Schwangerschaft gewesen, Bottilla erholte sich nur langsam davon und war noch immer ganz mit der kleinen Marie beschäftigt. Ihre Schwester Julie war von Mildstedt, dem nächsten Ort, vorübergehend zu uns nach Rödemis vor den Toren Husums gezogen, um zu helfen, und ich versuchte inzwischen, meine Zeit in Storms Kanzlei so kurz wie möglich zu halten. Wenn ich rechtzeitig nach Hause käme, dachte ich gerade, könnte ich abends mit Marie noch einen Ausflug zum Hafen machen.

Constanze lachte. »Warum? Weil du nichts von der Geschichte hältst, aber trotzdem neugierig bist und wissen willst, warum Enna überhaupt in dein Kontor gekommen ist. Ich seh’s dir an.«

»Also gut«, sagte Storm und streichelte nachlässig den Kater, der sich dichter an ihn drängte. »Es kann ja nichts schaden, wenn ich meinen Vater mal nach den van Ovens frage. Alles wird er mir nicht erzählen, er liebt ja seine Geheimnisse und auch die seiner Klienten …«

»Wirst du ihm denn etwas von Enna und Lehmann sagen?«

»Nach dem Auftritt vorhin wird er sowieso schon mehr über die beiden wissen, als ich ihm je erzählen würde«, sagte Storm. »Wir sind hier schließlich in Husum, und er ist der Herr Koogschreiber, der große Strippenzieher in Stadt und Umgebung.«

»Und er ist dein Vater, der alles für die Familie tun würde«, sagte Constanze.

»Sicher, das auch.«

Er stand auf.

»Wir gehen am besten gleich. Dann sind wir zurück, wenn Enna und ihr Hinrich Lehmann heute Nachmittag wieder kommen.«

»Brauchen Sie mich dazu, Herr Advocat?«, fragte ich. »Oder gibt es vielleicht hier etwas zu tun?«

Storm zögerte.

»Gib ihm schon frei, Theodor!«

»Wenn Sie nicht neugierig darauf sind, was die beiden sonst noch zu sagen haben, dann kommen Sie morgen zur gewohnten Zeit wieder, Söt. Und grüßen Sie die kleine Marie von mir.«

Für ihn waren Ennas Ansprüche kurios, für mich lästig, aber harmlos schienen sie uns am Ende beiden.

Wir sollten uns gründlich irren.

Drei

»So war er denn der Curator einer Menge von verwitweten Frauen und ledigen Jungfrauen geworden, welche nach der damaligen Gesetzgebung bei allen Rechtsgeschäften noch eines solchen Beistandes bedurften.«

Theodor Storm, »Carsten Curator«

Bottilla war dankbar für etwas Ruhe. Ich wickelte Marie in ihr Tuch, das ich am Körper tragen konnte, und lief mit ihr über die Brücke zum Hafen. Sie war sofort eingeschlafen. An dieser Stelle war das Becken der ewig verschlammten Husumer Au so breit ausgebaut, dass kleinere Schiffe hier landen konnten. Die größeren machten etwa zwei Kilometer weiter an ihrer Mündung fest.

Es war Hochwasser, die Au glänzte silbrig in der Sonne, auf den Wiesen an ihren Ufern saßen die Vögel und pickten zwischen den Gräsern herum. Auf den Weiden des Porrenkoogs nördlich der Au standen die Rinder und fraßen, manchmal brüllte ein Ochse von weit her, und ich schrak zusammen. Marie schlief weiter. Meine Ängstlichkeit hatte sie wohl nicht geerbt, dafür Bottillas Gelassenheit. Wenn sie später auch die Entschiedenheit ihrer Mutter hätte, so dachte ich, würde ich zu Hause nichts zu lachen haben.

Ich wünschte es ihr.

Auf dem Weg begegneten mir zwei Spaziergänger, ein Mann und eine Frau, er trug einen Hut, sie einen Sonnenschirm. Als sie näher herankamen, erkannte ich Hartmut Brinkmann, Storms Freund, der seit einem halben Jahr im Schloss als Sekretär des Verwalters Setzer arbeitete, und bei ihm Laura Setzer, eine der vielen Töchter des Verwalters, bei weitem die hübscheste. Brinkmann, großgewachsen und immer sehr gepflegt, schien sein Glück kaum fassen zu können. Er bemerkte mich kaum. Laura, die lebhaft auf ihn einredete, grüßte mich freundlich und rief mir im Vorübergehen auch einen Gruß an Storm zu.

Am Meer war es fast windstill, die Sonne brannte vom Himmel, ungewöhnlich für einen Märztag. Maries Nase bebte mit jedem Atemzug. Bald würde sie aufwachen, nach Milch verlangen und brüllen, wenn sie keine bekam. Wir mussten zurück.

Auf dem Rückweg fiel mir ein, was meine Mutter mir von meinen ersten Monaten erzählt hatte. Sie war als junge Magd schwanger geworden vom Bauern, bei dem sie arbeitete, und in seiner Kammer bald von einer anderen, noch jüngeren Magd ersetzt worden. Dass sie versucht hatte, das Kind loszuwerden, das da in ihrem Bauch heranwuchs, erzählte sie mir oft, wenn sie betrunken und rührselig war. Als ich dann auf der Welt war, konnte sie sich nicht um mich kümmern. Manchmal übernahmen das andere. Oder sie stopften mir ein Stückchen Tuch in den Mund, das mit Branntwein getränkt war. Einmal, sagte meine Mutter, sei ich fast daran erstickt. Sie habe zugesehen und sich nicht entschließen können einzugreifen, bis eine andere Magd herbeigerannt kam und mir das Tuch aus der Kehle zog. Der Bauer habe dann ein großes Theater deshalb gemacht. Von da an sei es mir auf dem Hof etwas besser ergangen, bis ich aus dem Kleinkindalter heraus war.

Am Nordufer der Au waren Gärten angelegt, so dass ich ein Stück durch die Wasserreihe gehen musste. An ihrer Einmündung zur Hohlen Gasse stieß ich auf den Stadtphysicus Hitscher. Er war breit, fast massig, hatte eine Stirnglatze und trug einen verfilzten roten Bart. Er war Junggeselle und konnte mit Kindern nichts anfangen. Nur manchmal beugte er sich zu ihnen hinunter und sagte kopfschüttelnd Sätze wie »Ach, du ahnst es nicht«. Was er damit meinte, blieb ein Rätsel.

»Ach, der Herr Söt!« Hitschers Stimme trug weit. »Sind Sie auch zum alten Storm bestellt? Es geht ja um Ihren Kollegen, hörte ich.«

»Ich verstehe nicht …« In diesem Moment merkte ich, dass Marie aufgewacht war. Hitscher redete ebenso laut weiter.

»Der alte Clausen. Liegt in den letzten Zügen, der Mann, hat es wohl schon hinter sich. Nun, wir sehen uns.«

Damit lief er an mir vorbei und grüßte noch mit einer Hand, die er über die Schulter hob. Marie greinte, ich sah noch, wie Hitscher auf die kleine Treppe zulief, die zur Eingangstür der Familie Storm in der Hohlen Gasse hinaufführte, dann beruhigte ich Marie notdürftig und schlug den Weg zum Hafen und weiter nach Rödemis ein.

Meine Hände zitterten vor Aufregung, als ich mit einiger Verspätung verstand, was Hitscher mir da gesagt hatte. Ich fragte mich, was Clausen, den ich am Morgen noch ganz gesund gesehen hatte, wenn auch vielleicht verärgert oder erschrocken über Enna und Lehmann, inzwischen passiert sein konnte, dass der Stadtphysicus, Arzt und Aufseher über die Gesundheit der Husumer in einem, herbeigerufen wurde. Ob der alte Storm seinen Sohn benachrichtig hatte? Wahrscheinlich nicht, und wahrscheinlich würde Theodor es erfahren wollen. Ob er in die Hohle Gasse kommen müsste und ob das wichtiger war, als den zweiten Besuch der verrückten Enna entgegenzunehmen, würde er selbst am besten wissen.

Marie schrie lauter. Ich hörte daraus kein Quengeln, eher ihre Verwunderung darüber, dass sie noch immer nichts zu trinken hatte, obwohl sie doch klar auf ihren Hunger hingewiesen hatte. Außerdem stank das Tuch. Beides – das Geschrei und den Geruch – legten die Husumer, an denen ich jetzt eilig vorbeilief, bestimmt mir zur Last, wenn ich ihre Blicke richtig deutete.

Ich kam verschwitzt in unserer kleinen Wohnung im zweiten Hinterhof eines Tischlers an. Der erste Hof grenzte an eine Scheune, in der Holz gelagert wurde, darauf folgte ein kleiner Garten und darauf ein zweites Haus mit zwei Räumen im Erdgeschoss und einem Speicher unterm Spitzdach. Eine Verwandte Bottillas hatte es uns vermittelt, und so lange, wie sie nichts verdiente, hätten wir uns kaum etwas Größeres leisten können.