Otfried Preußler - Tilman Spreckelsen - E-Book

Otfried Preußler E-Book

Tilman Spreckelsen

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Beschreibung

Die erste vollständige Biografie von Otfried Preußler: tiefe Einblicke in Leben und Werk des großen Geschichtenerzählers. 

Wussten Sie, dass Otfried Preußler eine Geschichte plante, in der die kleine Hexe auf den Räuber Hotzenplotz treffen sollte? Und dass Michael Ende gerne bei Familie Preußler zu Besuch war? Immerhin hatten Preußler und Ende ein großes gemeinsames Interesse: Zauberei und Hexenkünste. Nach intensiven Recherchen gibt Tilman Spreckelsen tiefe Einblicke in Leben und Werk des bekannten Kinderbuchautors. Er überrascht mit völlig neuen Erkenntnissen, zeigt berührende Ausschnitte aus dem Privatleben Otfried Preußlers und lässt die Entstehung der bekannten Klassiker lebendig werden. Eine Biografie, die sich ebenso informativ wie unterhaltsam liest. So nah sind Leser*innen dem berühmten Autor bisher nicht gekommen! 

  • Die einzige Biografie von Otfried Preußler, die sein ganzes Leben und sein Gesamtwerk in den Blick nimmt
  • Überraschende und faszinierende Erkenntnisse und Analysen vom Preußler-Experten Tilman Spreckelsen
  • Eine Hommage und intensive Auseinandersetzung mit dem bekannten Schriftsteller

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Das Buch

Wussten Sie, dass Otfried Preußler eine Geschichte plante, in der die kleine Hexe auf den Räuber Hotzenplotz treffen sollte? Und dass Michael Ende gerne bei Familie Preußler zu Besuch war?

Nach intensiven Recherchen gibt Tilman Spreckelsen tiefe Einblicke in Leben und Werk des bekannten Kinderbuchautors. Er überrascht mit völlig neuen Erkenntnissen, zeigt berührende Ausschnitte aus dem Privatleben Otfried Preußlers und lässt die Entstehung der bekannten Klassiker lebendig werden. Das liest sich ebenso informativ wie unterhaltsam.

Exklusiv zum 100. Geburtstag: die erste vollständige Biografie des Bestsellerautors

Editorische Vorbemerkung: Zitate aus unveröffentlichten Texten wurden behutsam redigiert und der Neuen Rechtschreibung angepasst.

Der Autor

© Stefan Gelberg

Tilman Spreckelsen, Jahrgang 1967, ist Literaturredakteur der FAZ und dort unter anderem für Kinder- und Jugendliteratur zuständig. Er hat bereits zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays veröffentlicht, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Für die Jubiläumsausgabe von Otfried Preußlers »Krabat« schrieb er das Nachwort.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Dem Andenken meiner Mutter Christa Spreckelsen(1933‒2022)

1

Prolog

Wenn Kasperls Großmutter die Kinderbuchbühne betritt, dann ist der Räuber Hotzenplotz nicht weit. Kaum etwas ist so tief in der Lesebiografie ganzer Generationen verankert wie das Bild der patenten Frau, die ihre Kaffeemühle dreht oder Würste brät und gleich darauf von Hotzenplotz überfallen wird. Dass die Großmutter in Ohnmacht fällt, gehört dazu, und auch, dass der Autor Otfried Preußler im Hintergrund listig die Fäden zieht, damit das Ganze gut ausgeht. Kasperl und sein Freund Seppel übernehmen die Jagd auf den bei aller kriminellen Energie doch eher schlichten Räuber; der Wachtmeister Dimpfelmoser tut das, was ein Polizist im Kasperltheater eben tun muss – und am Ende landet der Räuber im Spritzenhaus.

Schaut man etwas genauer hin, dann geht die Sache weniger glatt. Hotzenplotz und Dimpfelmoser offenbaren eine erstaunliche Verwandtschaft im Aussehen wie in den Lebensansichten, sie sind sich buchstäblich zum Verwechseln ähnlich. Und dann ist da noch die Sache mit dem Bett in Großmutters Haus, in das sich der nur mit seiner Unterwäsche bekleidete Dimpfelmoser flüchtet, ohne dass irgendjemand etwas dabei findet, schon gar nicht die Großmutter. Sie alle gehören in der Vorstellung des Autors zusammen, der Räuber, der Wachtmeister und die Großmutter, nicht nur als einzelne klassische Protagonisten auf der Bühne des Kasperltheaters, sondern als Teil einer Welt, die ohne einen von ihnen nicht komplett wäre.

Drei Bände mit Hotzenplotz-Geschichten hat Otfried Preußler millionenfach in alle Welt geschickt, bis nach Japan kam der Räuber mit dem charakteristischen Aussehen, das ihm der Illustrator Franz Josef Tripp verliehen hat. Ein weiteres Abenteuer um Kasperls Großmutter hat Preußler nur für sich geschrieben, es findet sich im unveröffentlichten Nachlass. Darin schickt er Kasperl und Seppel vor, um einen Giftzwerg zu bekämpfen, der seiner Umgebung allen Lebensmut nimmt und die Großmutter zum Weinen bringt. Für sie kämpft Kasperl – und für den schwer getroffenen Autor selbst, der diesen Giftzwerg nach dem Muster seiner Gegner modelliert hat.

Gegner? In Preußlers Anfängen als Kinderbuchautor überlagerte sein Werk alles andere, auch die Biografie des Autors; von seinen Gegnern wissen die meisten seiner Leser heute nichts. Seit den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erschien in rascher Folge Buch um Buch, die meisten von ihnen wurden bald zu modernen Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur: Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst, drei Bände Räuber Hotzenplotz, das Jugendbuch Die Abenteuer des starken Wanja und als Krönung der unvergängliche Krabat – all das ist die Frucht von gut fünfzehn Jahren, in denen Preußler außerdem Hörspiel- und Theaterfassungen nach vielen seiner Werke schuf und überdies als engagierter Lehrer und Schulleiter arbeitete.

Der Mensch hinter den Büchern wurde lange Zeit nicht fassbar. Zwar hat Preußler oft Auskunft über einzelne Texte und ihre Entstehung gegeben, aber wie stark sehr viele von ihnen mit der Kindheit des Autors zusammenhängen, mit den Geschichten und Sagen seiner böhmischen Heimat, hat er erst vergleichsweise spät ausführlich erzählt und wichtige Texte dazu an entlegenem Ort veröffentlicht. Vieles blieb zudem komplett unveröffentlicht, Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke, ein Romanfragment und dergleichen mehr. Dazu kommt ein umfangreicher privater Briefwechsel mit Weggefährten, berühmten und unberühmten, der besonders die literarischen Anfänge Preußlers nach dem Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Nicht zu vergessen zahlreiche Reiseberichte aus der Sowjetunion, Rumänien, der DDR und vor allem der Tschechoslowakei, die von der Neugierde des lange Zeit als Kriegsgefangener Inhaftierten auf die Welt sprechen, vom Drang, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, ebenso wie von lang zurückliegenden Verletzungen.

Preußlers Leben umspannt knapp neunzig Jahre. Es reicht von der Kindheit im deutschsprachigen nordböhmischen Reichenberg über die Jahre als Soldat im Zweiten Weltkrieg, die Kriegsgefangenschaft im sowjetischen Tatarstan, den Neuanfang als Heimatvertriebener im bayerischen Rosenheim und die Schriftstellerlaufbahn, die ihm unfassbare Erfolge und schlimme Kränkungen einbrachte bis hin zur Zurückgezogenheit des Alters in einer Seniorenresidenz am Chiemsee. Er arbeitete hart daran, den Rückstand aufzuholen, den er als Spätheimkehrer in der Bundesrepublik 1949 denjenigen gegenüber hatte, die sich seit 1945 in der neuen Gesellschaft hatten einrichten können. Er wollte frei sein für das Schreiben und verfasste doch viele seiner bedeutendsten Werke schon vor der Frühpensionierung 1970.

Erst danach aber wandte er sich intensiv der eigenen Vergangenheit zu, schrieb mit der 1978 veröffentlichten Flucht nach Ägypten ein großartiges Werk voll leiser Melancholie zum verpassten Zusammenleben der Deutschen und Tschechen in seiner nordböhmischen Heimat. Es folgten weitere Werke zum Thema, die er veröffentlichte, und größere Konvolute zu seinen Kriegserlebnissen, die er für sich behielt.

In dieser Zeit nahm Preußler aktiv Kontakt zu alten Freunden aus Reichenberg und Kriegskameraden auf. Am fruchtbarsten ist der Briefwechsel mit dem Freund Herbert Löwit, der in Reichenberg in Preußlers Nachbarschaft wohnte, bevor die Familie des Autors ein Haus in einem anderen Stadtteil baute. Dass diese beiden Lebensläufe nach einer Pause von knapp fünfzig Jahren überhaupt wieder miteinander in Berührung kamen, grenzt an ein Wunder. Denn die Umstände, unter denen der Kontakt der Sandkastenfreunde Preußler und Löwit 1938 abriss, waren dramatisch. Und wenn es beiden bis dahin noch nicht bewusst gewesen sein sollte, dass sie im Konflikt, der damals ganz Europa erfasste, auf verschiedenen Seiten standen, dann brachten die Ereignisse im Sommer 1938 in dieser Hinsicht vollständige Klarheit. Während Preußlers Vater den »Anschluss« ans Deutsche Reich öffentlich bejubelte, musste die Familie des jüdischen Kommunisten Löwit eilig fliehen, sie entkam glücklicherweise nach England.

In einem Interview mit der tschechischen Tageszeitung Lidové Noviny sagte Preußler, befragt, ob die Familie bei der Vertreibung aus Reichenberg Erinnerungsstücke mitnehmen konnte, es hätte sich nichts aus seiner Kinderzeit erhalten, »nicht einmal eine Fotografie. (...) Erst viel später erhielt ich von einem jüdischen Mitschüler, der im Jahr 1938 mit seiner Familie emigriert war und heute in England lebt, ein paar Bilder aus unserer gemeinsamen Kinderzeit.«1 Dass und wie sehr diese Bilder Preußlers Erinnerung beförderten, zeigt der Briefwechsel mit dem Freund aus Kindertagen, der offensichtlich mithilft, die Schleusen zu Preußlers Erinnerungen zu öffnen, oder ihn dazu motiviert, diese Erinnerungen aufzuschreiben.

Sie alle beleuchten einen weltberühmten Autor, der Züge offenbart, die man den veröffentlichten Kinderbüchern auf den ersten Blick nicht ablesen würde.

Und auf den zweiten Blick? Was verbindet den Kleinen Wassermann mit den Jugenderinnerungen Preußlers, was hat Krabat mit den Erlebnissen Preußlers im Nationalsozialismus zu tun, wie passt der feste Entschluss des Autors, nach dem Krieg nie wieder eine Waffe anzufassen, mit den Abenteuern des starken Wanja zusammen?

Die Frage nach dem Zusammenhang von Leben und Werk ist der Leitgedanke dieses Buches. Und so wie sie für jeden Autor und jede Autorin neu zu beantworten ist, so richtet sie sich auch in diesem Fall an den besonderen Quellen aus, die hierfür zur Verfügung stehen. Viele von ihnen sind bislang unbekannt, einige sind Schätze, die es verdient hätten, gehoben und ediert zu werden. Der Maler und Zeichner Preußler wäre zu entdecken, der Lyriker, der Reiseautor, der Verfasser von zahlreichen Radiofeatures und vieles mehr.

Der Weg dorthin führt über die Kinder- und Jugendbücher des Autors. Er führt über die Stationen seiner Biografie wie Stephanskirchen bei Rosenheim, wo Preußler nach dem Krieg eine neue Heimat fand. Und er führt über das ehemalige Reichenberg und heutige Liberec in Böhmen, den Ort, an dem alles anfing.

2

Jugend, Krieg und Gefangenschaft

Ein Sonntagmorgen im Keller der Reichenberger Sparkasse: Der Kurator des Heimatmuseums, der Hilfslehrer Josef Syrowatka, der seinen Familiennamen später in »Preußler« ändern wird, schließt die Tür auf, hinter der die drei Räume der »Heimatschutzstätte« untergebracht sind. Bei ihm ist sein kleiner Sohn Otfried; er geht noch nicht in die Schule, kennt aber die Sammlung schon in- und auswendig.

Den Geruch der Ausstellungsstücke, der Möbel, Bilder, Kleider und Geräte, kann sich der Sohn noch viele Jahrzehnte später in Erinnerung rufen, er weiß, wo die Lichtschalter der Räume sind und welche Exponate wo untergebracht sind. Manche machen ihn glücklich, andere jagen ihm Furcht ein. Er ängstigt sich, wenn er an der Vitrine vorbeikommt, in der die Eisenspitze liegt, mit der 1759 eine Kindsmörderin öffentlich gepfählt wurde, zumal ihr Kieferknochen gleich daneben gezeigt wird, und er liebt die Weihnachtskrippen, die der Vater beim Rundgang erleuchtet, sodass »die bethlehemitischen Landschaften samt ihrer Hunderten von bunt bemalten Flachfiguren Licht, Farbe und Schatten« erhalten, ganz so, »als wiederhole sich da noch einmal im Kleinen das Wunder des ersten Schöpfungstages«.2 Der Kurator setzt einen geheimen Mechanismus in Gang, und vor den Augen des Sohnes »schwangen die Holzknechte ihre Äxte, andere sägten an einem Baumstamm herum, der Fischer hob und senkte die Angel, Waschfrauen schweiften am Bach die Wäsche, Spinnerinnen ließen die Räder surren, auf den Schafgängen zogen Hirten mit Hund und Herde dahin, Kaufmannszüge rollten mit Sack und Pack des Weges, von Marktweibern mit Buckelkörben und Milchkannen gefolgt«. Es bleibt nicht bei dem Anblick der ländlichen Szenerie, die nahtlos in das biblische Jerusalem übergeht, das Räderwerk bedient auch eine akustische Untermalung mit Flöten und Schalmeien. Für den Sohn jedenfalls bedeutet der Anblick der Krippe »jedes Mal aufs Neue ein Gefühl der Seligkeit ohnegleichen«.

Man kann sich leicht vorstellen, mit welchen Augen das Kind auf seinen allmächtigen Vater blickt, Herr über diese Wunder seit langer Zeit. Josef Syrowatka übernahm sein Amt nach dem Tod des Gründers dieses Heimatmuseums, der im Oktober 1922 gestorben war. Der Sohn Otfried kam dann ein Jahr später zur Welt. Die Ausstellung selbst ist nur wenig älter. Seit ihrer Gründung 1915 war sie in zwei Räumen des Rathauses zu sehen, wanderte kurz darauf zwei Straßen weiter eben in den Keller der Sparkasse in der Schlossgasse und 1935 dann in ein städtisches Gebäude in der Wiener Straße, wo auch die Musikschule untergebracht war. Wieder zwei Jahre später hinterließ ein Reichenberger dem Museum sein altes Wohnhaus in der Kranichgasse, sodass die mittlerweile »Heimathort« getaufte Sammlung endlich großzügig präsentiert werden konnte.

In einer schmalen Broschüre, die Syrowatka 1940 zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Museums verfasste, wird eine bunte Mischung aus Alltagsgegenständen und Kunstwerken aufgelistet, natürlich die eindrucksvollen Krippen, aber auch zahlreiche Bilder des heimischen Malers Jakob Ginzel (1792‒1862), Kupfergeschirr, Modelle bedeutender Häuser der Stadt und schließlich Werkzeuge zur Textilherstellung, für die Reichenberg und seine Umgebung seit Langem bekannt war und für die sich, wie Syrowatka schreibt, auch Adolf Hitler interessierte: »Als am 2. Dezember 1938 unser Führer Reichenberg besuchte, verweilte er längere Zeit auch vor dem Webstuhl und anderen Dingen aus dem Heimathort und ließ sich davon mancherlei erzählen. Das war wohl der schönste Augenblick für die Sammlung.«3

An jenem Sonntag aber, gut zehn Jahre zuvor, widmet sich Syrowatka wie immer seinen Museumsgästen. Damals ist er der Einzige, der ehrenamtlich über die Sammlung wacht, sodass die Öffnungszeiten auf den Sonntagvormittag beschränkt sein müssen, mehr Zeit hat der umtriebige Hilfslehrer nicht. Der Sohn ist fasziniert von den »großartig erzählten« Geschichten seines Vaters für die Besucher, »und sicherlich«, so schreibt er aus dem Abstand vieler Jahrzehnte, »haben Vaters Erzählungen entscheidend mit dazu beigetragen, dass ich für Geschichte und Volkskunde meiner nordböhmischen Heimat noch immer eine besondere Schwäche habe«.

Das Beispiel des Vaters wirkt schon damals ansteckend. Jedenfalls fängt der Sohn, bestens vertraut mit dem Inventar, auf einmal an, seinerseits die erwachsenen Besucher durch einen Teil der Ausstellung zu führen und überspielt »alle plötzlich auftretenden Lücken mit kühnen Zusätzen aus der eigenen Fantasie. Dabei geriet ich in immer größeren Eifer«, offenbar auch, weil sich die Gäste über den redseligen Jungen im Vorschulalter so amüsieren. Schließlich öffnet das Kind einen alten Kleiderschrank und führt vor, was die Menschen früher getragen hätten, bis der Vater die Darbietung abrupt beendet und den Jungen, der gerade die Funktionsweise eines Parapluis erläutert, vor aller Augen übers Knie legt, da sich, wie er den Zuschauern erklärt, »solche Regenschirme ganz hervorragend« dazu eigneten, »um vorwitzigen kleinen Jungen ein paar hintendrauf zu geben«. Ob er die Ankündigung scherzhaft meint oder sie wahr macht, lässt der Text offen.

Es ist bezeichnend für das enge Verhältnis zwischen Vater und Sohn, dass diese Geschichte damit noch nicht zu Ende ist. Denn auf die öffentliche Zurechtweisung und die Anordnung, den geplünderten Kleiderschrank wieder einzuräumen, folgt auf dem Heimweg noch »ganz unerwarteterweise« der gemeinsame Besuch in der Konditorei Sieber. Die Hinwendung zum Vater, die Bewunderung für dessen Wissen, der Drang, es ihm als Erzähler gleichzutun – all das hat die Bestrafung überdauert. Und auch die Vertrautheit mit dem, was der »Heimathort« dem Kind über Reichenberg und seine Umgebung vermittelt, ist durch die öffentliche Bloßstellung des »vorwitzigen kleinen Jungen« nicht belastet worden. Allerdings dürfte schon dem Kind klar gewesen sein, wie sehr der Vater in der Beschäftigung mit der Region und ihrer Geschichte aufging – und auch wie sehr es ihn treffen musste, als ihm das, was er als sein Lebenswerk ansah, schließlich vollständig verloren ging.

Das war am Ende eines grauenhaften Kriegs, den Hitler angezettelt hatte und bei dem Millionen von Menschen ermordet wurden. Otfried Preußler, der sich im Frühling 1945 schon seit einem Dreivierteljahr in russischer Kriegsgefangenschaft befand, war kein Augenzeuge der Ereignisse, die auf den Einzug der Sowjetarmee in die Stadt folgten. Später erfuhr er vom Leid und der Vertreibung der deutschen Reichenberger und auch von den Zerstörungen im Heimatmuseum, in der sechstausend Bände umfassenden Preußler’schen Hausbibliothek und im Konvolut der handschriftlichen Aufzeichnungen seines Vaters.4 Wenigstens vom Inventar des »Heimathorts« scheint einiges gerettet worden zu sein. Bei einem späteren Besuch in Reichenberg, das nun wieder den tschechischen Namen Liberec trägt, registriert Otfried Preußler, dass im Nordböhmischen Gewerbemuseum ein Teil der Bestände übernommen worden ist – »dort konnten wir zahlreiche, aus dem Heimathort stammende Exponate wiederentdecken. Was jedoch aus den beiden großen Weihnachtskrippen geworden ist, die meinem Vater so lieb und teuer gewesen sind, ließ sich nicht ermitteln.«5

Reichenberg gehörte in der frühen Neuzeit zum Herzogtum Friedland im Norden des Königreichs Böhmen, aus dem 1918 zusammen mit anderen Teilen des Habsburgerreiches die Tschechoslowakei hervorging. Laut Pierers Konversationslexikon (7. Auflage, 1892) lebten 1890 in Reichenberg, dem »Mittelpunkt der nordböhmischen Tuchmanufaktur und überhaupt eine der bedeutendsten Fabrikstädte Österreichs«, 30.890 Menschen; außerdem seien 38 Dörfer im Umkreis der Stadt mit Weberei und Spinnerei beschäftigt. Zwei Jahre nach Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik (ČSR) war Reichenberg dann auf knapp 35.000 Einwohner angewachsen. Die Stadt war zum Ausbildungszentrum für die Region und zum Bahnknotenpunkt mit Verbindungen nach Zittau und Dresden, Görlitz und Berlin, nach Eger und nach Prag geworden.

In einer hinreißenden Kindheitserinnerung beschreibt Preußler, wie er an der Hand seines Großvaters Josef Tscherwenka (1857‒1930), dem Vater seiner Mutter, mit der elektrischen Straßenbahn zum Bahnhof fuhr, um dort von der Eisenbahnbrücke aus, die sich über alle Gleise spannte, den ankommenden und abfahrenden Dampflokomotiven zuzusehen, dem geschäftigen Treiben der Reisenden, Bahnbediensteten und Gepäckträger. Und wenn dem Kind ein Kohlebröckchen ins Auge flog, hatte der fürsorgliche Großvater ein Taschentuch zur Hand, um das Teilchen zu entfernen.6

Tatsächlich scheint die Liebe zu Eisenbahnen den Großvater und seinen Enkel verbunden zu haben. Wenn jedes Jahr im Advent in der Schlossergasse der Besitzer des Eisenwarengeschäfts, ein Herr Müller, als weltliches Gegenstück zu den in anderen Schaufenstern gezeigten traditionellen Krippen eine Miniatureisenbahn aufbaute, war es Josef Tscherwenka, der den kleinen Otfried mitnahm, um das Wunder mit Schranken, Brücken, Tunneln, Miniaturfiguren und sogar einem auf- und untergehenden künstlichen Mond im Schein der Gaslaternen zu bestaunen. Enttäuschend sei einzig gewesen, dass es nie zu einem Eisenbahnunfall kam. »Noch heute weiß ich den Großvater hinter mir, wenn ich an die Auslage vom Herrn Müller im Schlossergassel zurückdenke. Bekleidet ist er mit dunklem Überzieher und schwarzem Hut; die linke Hand liegt auf meiner Schulter, mit den gekrümmten Fingern der Rechten deutet er dahin und dorthin. Zwei große freundliche Zauberer hatten sich da miteinander verbündet, der Schlossermeister Müller und der Steueroberverwalter i. R. Tscherwenka.«7

Dank neuerer Forschungen zu den Vorfahren Otfried Preußlers8 kann man sich ein durch Dokumente gestütztes Bild des Familienstammbaums machen, das naturgemäß konturierter wird, je näher uns die Personen in zeitlicher Hinsicht sind. Die Reihe führt chronologisch zurück bis ins siebzehnte Jahrhundert und räumlich in die heutige Slowakei, die Steiermark und ins südböhmische Oberplan, den Heimatort Adalbert Stifters. Unter den Vorfahren sind Handwerker, Jäger, Gärtner im Dienst der Fürsten zu Schwarzenberg, Richter, Müller, Gutsverwalter, Bauern oder Fuhrleute.

Otfried Preußlers Großvater Josef Tscherwenka (oder: Czerwenka) war seit 1896 mit Ernestine Kilian aus Krummau verheiratet. Der Steueroberverwalter arbeitete von 1908 an bis zu seiner Pensionierung 1917 in Reichenberg, und sein Enkel Otfried, der ihn nur wenige Jahre bewusst erlebte, erinnerte sich später an lange gemeinsame Spaziergänge im Wald auf der Suche nach Pilzen, was er selbst dann bis ins Alter nach der Methode des Großvaters (Pilze rausdrehen statt abschneiden und die besten Plätze schön geheim halten!) praktizierte.9 Josef Syrowatka sen. (1856‒1913), der andere Großvater, ließ sich 1887 als Schneider in Reichenberg nieder, seine Frau Dorothea (1869‒1949), geborene Jires, stammt aus dem Ort Jivina im mittelböhmischen Bezirk Münchengrätz. Von dieser Großmutter berichtet ihr dankbarer Enkel oft: zum Beispiel 1985 in der Erzählung Zwei Krücken zu viel aus dem Band Der Engel mit der Pudelmütze, in der sie als gutmütige Unterstützerin eines herumziehenden Handwerkers erscheint, oder 1978 in Die Flucht nach Ägypten, wo sie als elfjähriges Mädchen auftritt und mit der Jungfrau Maria mitten im Winter in den Wald geht, um für ihren todkranken Bruder Pepíček Erdbeeren zu suchen.

Das schönste Bild aber entwirft Preußler von ihr in dem autobiografischen Text Ein Buch, das es nicht gegeben hat. Er berichtet darin von dem außergewöhnlichen Talent der Großmutter als Geschichtenerzählerin, erwähnt den Schatz aus regionalen Sagen, über den auch sie frei verfügte und dem sie jeweils ein neues Gesicht zu geben wusste, und fügt schließlich einen merkwürdigen Zug an: Großmutter Dora, »eine bescheidene Frau, der es mitunter vor ihrer eigenen Fantasie ein wenig bange geworden sein mag«, habe steif und fest behauptet, alles von ihr Erzählte finde sich wortwörtlich in einem alten dicken Buch, das sie in ihrem Besitz habe.

Großmutter Dora, 1930

Anfangs, schreibt Preußler, hätten sein vier Jahre jüngerer Bruder Wolfhart und er dies so hingenommen, später seien sie »hellhörig« geworden: »War es nicht merkwürdig, dass Großmutter, sobald wir sie um die Wiederholung einer Geschichte baten, die uns vor drei, vier Wochen besonders gefallen hatte, diese Geschichte zwar in der Regel wie damals beginnen ließ – dass sie ihr überm Erzählen aber entglitt, einen völlig veränderten Verlauf nahm?« Die Bitte ihrer Enkel jedenfalls, das alte Buch einmal einsehen zu dürfen, kontert die Großmutter listig und fantasievoll – mal ist es verliehen, mal einfach nicht aufzufinden, mal beim Buchbinder. Preußler aber erinnert sich dankbar an die Frau, von der er gelernt habe, »wie man Kindern Geschichten erzählt«.

Syrowatka und Tscherwenka – die Großeltern Otfried Preußlers trugen von beiden Seiten her Namen, die eher tschechisch als deutsch anmuten. Als die Sudetengebiete bereits drei Jahre lang zum Deutschen Reich gehörten, beantragte Josef Syrowatka, den Familiennamen – für seine Frau, die beiden Söhne und sich selbst – in »Preußler« zu ändern, was mit Wirkung zum 16. Dezember 1941 auch geschah. Der Hilfslehrer konnte sich dabei auf den Mädchennamen »Praizler« seiner Großmutter Agnes (1831 – nach 1891) berufen. Eine nähere Verwandtschaft zu den vielen Glasmachern im Gebiet des Isergebirges namens Preisler, Preußler oder dergleichen, die Otfried Preußler und sein Vater gern behaupteten, hat sich dagegen nicht belegen lassen.10

Preußlers Mutter Ernestine Syrowatka, Jahrgang 1897, war Lehrerin, die ihren Beruf von 1926 an aber nicht mehr ausübte. Sie starb 1982 und überlebte damit ihren Sohn Wolfhart um etwas mehr als ein Jahr. Nach ihrem Tod, schreibt Preußler, habe er aus dem umfangreichen Nachlass der Mutter eine Reihe von autobiografischen Schriften geborgen, darunter »Erinnerungen an ihre Kinderzeit und an die Sommerferien in Ferdinandsthal«, außerdem die von ihr verfassten Geschichten und Gedichte, »wie sie teils für den Familiengebrauch entstanden und teils in Zeitschriften veröffentlicht worden sind«.11

Seine Mutter sei, schreibt er an den Jugendfreund Herbert Löwit nach ihrem Tod, immer schlank geblieben, »mit schlohweißem Haar, bis ins hohe Alter hinein außerordentlich streng und von großer Selbstdisziplin«.12 Ihr, der Lehrerin, die seine Hausaufgaben überwachte und sie dabei schwieriger und interessanter machte, verdanke er »die Sorgfalt im Umgang mit der deutschen Sprache«.13

Ihr Mann, Josef Syrowatka, war ebenfalls Lehrer, schon bevor er am Ersten Weltkrieg teilnahm – einen »leidenschaftlichen Pädagogen«14 nennt ihn sein Sohn Otfried. Nach einer Verwundung, in deren Folge ein Bein um acht Zentimeter kürzer wurde und er lebenslang hinken sollte, arbeitete Syrowatka im Kriegsarchiv in Wien, wo zu Beginn des Krieges unter anderem auch Stefan Zweig beschäftigt war, und im Frieden wieder als Lehrer in seiner Heimatstadt. In Reichenberg wirkte er zudem als Heimatforscher, der sich das Isergebirge und dessen Umgebung erwanderte, die lokalen, vor allem mündlich überlieferten Sagen sammelte und schriftlich festhielt. In seinem Nachlass fand der Sohn zahlreiche publizierte Texte und einige überbordende Konvolute mit Stoffsammlungen zu autobiografisch grundierten Romanen; ein anderes Buch sollte vom Maler Ginzel erzählen, dessen Bilder Syrowatka in seinem Heimatmuseum ausstellte. Und er gab von 1925 bis zur Einstellung 1938 im Verlag des Deutschen Landes-Lehrervereins in Böhmen die traditionsreiche Zeitschrift Deutsche Jugend heraus.15 Man wird ihren Einfluss auf das Werk Otfried Preußlers kaum hoch genug einschätzen können.

Sie erschien zehnmal jährlich und orientierte sich zunächst am Kalenderjahr, später am Schuljahr – nach der Umstellung im Sommer 1932 kam das erste Heft des Jahrgangs, der insgesamt für 15 tschechische Kronen zu haben war, jeweils im September heraus, das letzte im Juni. Auf den etwa zwanzig bis dreißig Seiten jeder Ausgabe fanden sich jahreszeitlich passende Geschichten und Gedichte von Autoren wie Adalbert Stifter, August Kopisch oder Johann Peter Hebel, einige wurden auch aktuellen Büchern lebender Autoren entnommen – der Schriftsteller Hans Watzlik, ein enger Freund Josef Syrowatkas und Nenn-Onkel Otfrieds, ist mit seinen Texten Stammgast in der Deutschen Jugend. Außerdem erschienen Bastelanleitungen, Rätsel, Laientheaterstücke, Reiseberichte, Reportagen über technische Innovationen und vieles mehr.

Eingeleitet wurde jede Ausgabe von einem Blatt auf besserem Papier, der Kunstbeilage mit der Reproduktion einer Zeichnung oder eines Gemäldes, das in der Regel vom Herausgeber – noch zeichnete er den Beitrag mit »J. S.«, Josef Syrowatka – in einem nebenstehenden Text erklärt wurde. Einzelne Ausgaben hatten nur ein einziges Thema, etwa 1928 ein Heft zu Albrecht Dürer mit Reproduktionen von dreißig Bildern des Malers oder 1932 das Heft zum Goethe-Jubiläum, über das die beim Erscheinen nicht einmal zehnjährigen Schulfreunde Otfried und Herbert noch ein halbes Jahrhundert später korrespondieren sollten. In den letzten Jahren ihres Bestehens wurden in der Zeitschrift zudem vermehrt Beiträge abgedruckt, die Verhältnisse im tschechoslowakischen Staat erklären, etwa im November 1936 die Bündnisse des Landes mit anderen europäischen Mächten oder im September 1936 mit Blick auf die Olympischen Spiele in Berlin vom Fackellauf über Prag und Teplitz Richtung Dresden berichten.

Die dünnen Heftchen, die sich an Kinder und Jugendliche richteten, wurden offenbar viel gelesen, einigermaßen unabhängig von politischen Überzeugungen der Eltern, von Herbert Löwit ebenso wie von Preußlers späterem Freund Heinrich Pleticha, auch er ein Sudetendeutscher, der dieser Zeitschrift im Alter einen liebevollen Aufsatz widmete. Und natürlich von Otfried Preußler selbst. Welchen Anteil er an der Arbeit seines Vaters nahm, verrät indirekt eine bestimmte Rubrik im Heft: Unter den Lesern, die dort lobend hervorgehoben werden, weil sie Lösungsvorschläge für die Rätsel der vorigen Ausgaben an den Schriftleiter Syrowatka in die Pestalozzistraße 18 geschickt haben, findet sich regelmäßig der Name seines Sohnes, des jungen Otfried.

Die Deutsche Jugend-Jahrgänge wurden gebunden und gesammelt; da die meisten Beiträge nicht auf ein bestimmtes Jahr bezogen waren, konnten ältere Texte auch retrospektiv gelesen werden, sobald ein Kind das entsprechende Lesealter erreicht hatte. Und es ist verblüffend, welche Spuren die Zeitschrift im späteren Werk Preußlers hinterlassen hat. So antwortet er, befragt nach seinen frühesten Lektüre-Erinnerungen, er habe als ungefähr Fünfjähriger mit seinem Vater Illustrationen des in der Deutschen Jugend sehr präsenten Ludwig Richter betrachtet; mag sein, dass ihn die in der Zeitschrift recht häufigen biografischen Erzählungen zu Künstlern oder historischen Persönlichkeiten, von denen eine auch Ludwig Richter galt, zu seiner eigenen Richter-Novelle Überfahrt am Schreckenstein16 angeregt haben oder dass ihn der Abdruck des Andersen-Märchens Zwölf mit der Post zu Beginn des Zeitschriftenjahrgangs 1926 zu seiner fünfundzwanzig Jahre später entstandenen modernen Adaption für den Rundfunk inspiriert hat. Auch Preußlers bis heute unveröffentlichte Erzählung Der Spinnradlmacher, entstanden in den Fünfzigerjahren, geht bis in viele Details auf einen gleichnamigen Text aus der Deutschen Jugend (Februar 1934) zurück, verfasst vom nordböhmischen Lehrer und Heimatforscher Josef Blau (1872‒1960), dem Preußler nach dem Krieg einen liebevollen Radio-Essay gewidmet hat.

Aus der Redaktionstätigkeit seines Vaters konnte er jedenfalls lernen, wie man seine Texte thematisch auf den Jahresverlauf hin ausrichtet, etwa indem Naturerscheinungen oder Feste breiten Raum einnehmen – seine eigenen akustischen Kalenderblätter für den Kinderfunk der Fünfzigerjahre erinnern gerade in dieser Hinsicht an entsprechende Beiträge der Deutschen Jugend. Und er konnte dem Vater abschauen, welche Wege es gibt, um komplexe Themen für junge Leser aufzubereiten. Wie sehr er ihn dafür bewunderte, lässt sich an zahlreichen Texten Preußlers ablesen, besonders unverstellt in einer weiteren Kindheitserinnerung aus der zweiten Volksschulklasse: Der Siebenjährige streitet sich mit einem Mitschüler, der damit angibt, dass sein Vater Oberlehrer ist und außerdem Obmann beim Deutschen Landeslehrerverein. »Dafür ist mein Vater Schriftleiter bei der Deutschen Jugend«, sagt Otfried.17

Geboren wurde Otfried Syrowatka am 20. Oktober 1923 in Reichenberg, sein Geburtshaus stand in der Friedländer Straße.18 Vor ihm hatten die Eltern bereits am 5. Mai 1922 eine Tochter namens Liselotte bekommen, die am selben Tag starb; 1927 kommt noch sein Bruder Wolfhart zur Welt, nach Angaben von Familienmitgliedern ein begabter Klavierspieler und sensibler Mensch, der wie sein älterer Bruder Krieg und Gefangenschaft erleben sollte.

Mit seinen Eltern Josef und Erna Preußler, 1925

Die Brüder wuchsen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik auf, einem Staat, den es erst seit Herbst 1918 gab. Schon im Moment seiner Gründung hatten sich einige überwiegend deutschsprachige Regionen Böhmens für unabhängig erklärt, wogegen die neue, betont zentralistische Regierung in Prag militärisch vorging, sodass Spannungen innerhalb der Bevölkerung von Anfang an sichtbar wurden. In der ersten Volkszählung von 1921 wurden etwa zwei Drittel der Bürger als Tschechen und Slowaken erfasst, knapp 23 Prozent oder 3,12 Millionen als Deutsche.19

Im Alltag war der Staat sehr von Parallelstrukturen geprägt, in der Parteienlandschaft wie etwa auf der für die Bürger sehr wichtigen Ebene der Vereine gab es meist deutsche und tschechische sowie in manchen Bereichen auch jüdische. Unter den politisch eher linken Gruppen scheinen dagegen übergreifende Strukturen beliebt gewesen zu sein. Den separatistischen Tendenzen (die es auch in der Slowakei gab) zum Trotz schienen aber die Gegensätze zwischen den Volksgruppen – die in bestimmten Regionen gar nicht so einfach voneinander zu trennen waren – nicht unüberwindbar. »Die Bereitschaft zur politischen Zusammenarbeit mit Tschechen und Slowaken in einem Staat«, schreibt der Historiker Ralf Gebel, »war ein Weg, der in den Zwanzigerjahren von mehreren deutschen Parteien beschritten wurde.« Diese sogenannten aktivistischen Parteien konnten damals sogar »die Mehrheit der deutschen Wähler in der ČSR auf sich vereinigen« und beteiligten sich an der Regierung. »Erst die Weltwirtschaftskrise, der Aufstieg Hitlers und des Nationalsozialismus im übermächtigen Nachbarstaat Deutschland schufen zusammen mit Fehlern der tschechoslowakischen Regierung in der Minderheitenpolitik einen Sog, von dem schließlich alle innerstaatlichen Ausgleichsbemühungen zwischen Deutschen und Tschechen verschlungen wurden.«20

Auch Preußler sollte später der verpassten Chance eines Zusammenlebens von Deutschen, Tschechen und Slowaken hinterhertrauern – nach dem Vorbild Südtirols im italienischen Staat. Die Entwicklung dieser Region beobachte er »mit einer gewissen Wehmut«, sagte er im Jahr 2000: »Es hätte sicherlich die Chance gegeben, dass auch wir mit den Tschechen einen Modus Vivendi gefunden hätten, wie die Südtiroler es mit den Italienern getan haben, die ja im Grunde genommen dasselbe praktiziert haben wie die Tschechen bei uns.«21

Das gilt auch auf der privaten Ebene. Er habe, sagt Preußler, in Kindheit und Jugend keinen einzigen tschechischen Freund gehabt. »Es gab eine tschechische Minderheit von Beamtenkindern, Polizeibeamtenkindern und so, deren Väter gezielt mit den Familien ins ferndeutsche Gebiet versetzt worden waren. Mit denen hat man sich dann gerauft. Wir hatten so nebeneinander vorbeigelebt – es einfach nicht zur Kenntnis genommen.«

Hin und wieder werden in Preußlers Kindheitserinnerungen solche »Vergegnungen« beschrieben, etwa beim Besuch des Dorfs Jivina, der tschechischsprachigen Heimat von Großmutter Dora. Ihr Enkel trifft dort nicht nur einen Onkel Tonda, Namenspatron für jenen Mühlknappen im späteren Krabat und tschechischer Muttersprachler, sondern er rivalisiert auch mit einem einheimischen tschechischen Jungen – es geht darum, wer mehr von den gerade frisch gebackenen Hefeteilchen essen kann, was beide Kinder mit Magenschmerzen bezahlen.

Mehr noch ist in den autobiografischen Texten die Rede von ausgedehnten Wanderungen mit dem Vater im deutschsprachigen Gebiet, oft auf den Spuren von Sagen und Legenden, die an bestimmte Orte im nahe gelegenen Isergebirge geknüpft waren und von Josef Preußler mitgeschrieben wurden, wenn sie ihm von den Einheimischen erzählt wurden: »Mein Vater hatte ein schmales Heft vor sich auf dem Tisch liegen, darin machte er sich Notizen, in seiner merkwürdigen Stenografie, die außer ihm niemand entziffern konnte.«22

Auf einer Wanderung im Riesengebirge, 1930

Einigen dieser Ausflüge hat Preußler eigene Erinnerungstexte gewidmet. Sein Vater hat ebenfalls zu einzelnen Orten publiziert, etwa in einem Beitrag im Sammelwerk Heimatkunde des Bezirks Reichenberg in Böhmen23 von 1931 und in einer Reihe von einzelnen Aufsätzen in heimatkundlichen Jahrbüchern. Dass sein Sohn bei diesen Gelegenheiten mit dem Sagenschatz der Region bekannt wurde, liegt auf der Hand. Auch die Bibliothek des Vaters, die den Kindern offenstand und von ihnen wohl eifrig genutzt wurde, enthielt Textsammlungen dieser Art.

Und schließlich waren da noch die Geschichten der Großmutter Dora, von denen zumindest einige ebenfalls an die umgebende Landschaft geknüpft waren, wie sich Preußler erinnert: »Vom Wassermann in der Iser erzählte sie dann, von schlauen Schneidern und dummen Teufeln, von Hexen und Hutzelweibern, vom Riesen Plampatsch, von echten und falschen Wahrsagern, von verwunschenen Schätzen im Walde, von Nachtgespenstern und Poltergeistern – und immer und immer wieder von unserem Lieblingshelden, dem kleinen Däumling.«24

Seine ersten Lebensjahre verbrachte Otfried Syrowatka in der Friedländer Straße (der heutigen Frydlantská). Seine Grundschulzeit über wohnte die Familie in einem Genossenschaftshaus in der Heinrich-Liebieg-Straße Nr. 11 (Husova), einer Ausfallstraße Richtung Nordosten in der Nähe des Reichenberger Stausees. Unter den Nachbarn war die Familie Löwit; auch Ottomar Effenberger, der zweite Geiger am Reichenberger Stadttheater, wohnte mit seiner Frau Minke nebenan, im selben Stockwerk wie die Löwits, deren Tochter Lotte sich eng mit Minke Effenberger anfreundete.

Der Name Effenberger gehörte zu den geläufigeren in Reichenberg. Ein Alfred Effenberger unterrichtete Otfried Syrowatka und Herbert Löwit im dreistöckigen Gebäude der Rudolfschule in der Schützengasse, Ecke Messegasse (5. Kvĕtna/Šamánkova), die die beiden Freunde von 1929 bis 1934 besuchten – Otfried, der zu Beginn des Schuljahrs noch fünf Jahre alt und damit eigentlich noch nicht schulreif war, musste eine besondere Eingangsprüfung ablegen. Besonders dieser Lehrer scheint bei seinen Schülern einen großen Eindruck hinterlassen zu haben. Wenn Preußler von seiner Kindheit spricht, leitet er das gern mit Sätzen ein wie »Als ich noch beim Lehrer Effenberger in die Rudolfschule ging«, und er beschreibt den rothaarigen Mann, der etwa im Alter von Josef Syrowatka war, als gerechten und geschickten Pädagogen.

Von der vierten Klasse an wurde Tschechisch als erste Fremdsprache unterrichtet, was »für die meisten von uns deutschen Kindern mit der schweren Hypothek belastet« war, »dass wir es zwangsweise lernen mussten«, weil es »auch für die Sudetendeutschen zur Staatssprache erklärt worden« war25.

Die gemeinsame Schulzeit spielt im späten Briefwechsel zwischen Preußler und Löwit eine große Rolle, Lehrer und Mitschüler werden besprochen und Informationen zu deren weiteren Schicksalen ausgetauscht. Die Freunde erinnern sich gegenseitig an besondere Unterrichtserfahrungen26, Schulausflüge und Laienspiele wie etwa eine Weihnachtsaufführung in der fünften Volksschulklasse – »ich bin mir sicher, dass Du das Theaterstück verfasst hattest«, schreibt Löwit, »ich war also Zeuge bei Deinem ersten literarischen Werk!«.27 Ein Foto dieser Aufführung schickt Löwit mit, es zeigt Otfried, der darin die Rolle des Nikolaus spielte, im Kreis von Mitschülern. In einem Aufsatz, der von solchen Aufführungen erzählt, erwähnt der Autor einmal mehr, wie wichtig die Zeitschrift seines Vaters für das Schulleben gewesen sei, denn die aufgeführten Stücke wurden oft der Deutschen Jugend entnommen.28